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Das katholische Kirchenrecht ist seit mindestens 50 Jahren in einer Krise. Die Rechtsverdrossenheit in der Kirche ist groß, der Überdruß an allem Institutionellen wächst stetig. Man empfindet es fast nur noch als Last und Beengung, kaum noch als Hilfe, Schutz und Lebens Weisung, was es ja doch eigentlich sein will und auch sein sollte.
Diese Rechtsverdrossenheit ist in der Christenheit nichts Neues. An ihr entzündete sich bereits die Reformation. Es war deshalb nicht von ungefähr, daß Luther am 10. Dezember 1520 vor dem Elstertor zu Wittenberg neben der Bannandrohungsbulle Leos X. auch die kirchlichen Rechtsbücher in die Flammen warf.1 Es blieb indes dem evangelischen Juristen und Professor für Rechtsgeschichte, Rudolph Sohm,2 vorbehalten, diese Rechtsverdrossenheit zu artikulieren. Mit großer Gestaltungskraft und Leidenschaft widmete er sein ganzes Leben jenem Problem, das wir heute mit dem Gegensatz zwischen Rechtskirche und Liebeskirche zu umschreiben pflegen.
Die Gedanken Sohms wirkten zunächst nur in der
1 „Das Bestürzende, das Revolutionäre war weniger das
Verbrennen der Bulle — man hätte sie übrigens beinahe mitzunehmen
vergessen — als vielmehr die Vernichtung der Rechtsbücher der
abendländischen Christenheit auf dem Wittenberger Schindanger:
Die Tradition war hingerichtet worden. Die ältesten Berichte, die
den Vorfall melden, und Luther selbst in seiner
Rechtfertigungsschrift zum Wittenberger Brandgericht erwähnen
bezeichnenderweise nur das Schicksal der Rechtsbücher, nicht das
der Bulle. Denn nicht um eine einzelne Bulle ging es; es war eine
Absage an die heilige Ordnung der katholischen Kirche, an deren
Rechtsinstanzen, die in Papst und Konzilien ihre Spitze hatten;
was sie für rechtens erklärt hatten, sollte nicht mehr gelten.
Maß aller Dinge sollte das Evangelium sein.” (H. Fuhrmann,
Einladung ins Mittelalter, München 21987, 208.)
2 Geboren am 29.10.1841 in Rostock, gestorben am 16.5.1917 in
Leipzig.
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protestantischen Kirche. Einzelne Versuche, dieser Gedankenwelt auch in der katholischen Kirche ein Recht zu verschaffen, wurden disziplinarisch gestoppt. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil strömten aber Sohms Anschauungen unaufhaltsam in die katholische Kirche ein und bestimmen heute — bewußt oder unbewußt — unser theologisches Klima. Eine theologische Grundlegung des Rechtes in der katholischen Kirche muß sich daher notwendigerweise mit Sohm auseinandersetzen.
Der erste Teil meiner Arbeit beschreibt also Sohms Auseinandersetzung mit dem Kirchenrecht. Wenn er etwas lang geraten zu sein scheint, so aus zwei Gründen. Zum einen muß man endlich wegkommen von der üblen Gewohnheit, Sohm in das viel zu schmale Prokrustesbett eines „adversarius” zu zwängen, um ihn dann leichthin mit ein paar Bemerkungen zu erledigen. Zum andern glaube ich, daß Sohm durchaus nicht nur ein Gegner des Kirchenrechts ist. In seinen Schriften (vor allem in seinem viel zu wenig beachteten „Altkatholischen Kirchenrecht”) bietet uns Sohm selbst viele Elemente zum Aufbau und zur Begründung des Kirchenrechts. Um das zu entdecken, muß man sich allerdings der Mühe unterziehen, ihm auch in einzelnen Gedankengängen zu folgen.
Im zweiten Teil des Buches beschreibe ich die Reaktionen der katholischen Theologen auf Sohm. Zunächst werden erste und vorläufige Stellungnahmen (Besprechungen, Artikel, kleinere Bücher) vorgeführt; nachher die Auseinandersetzung Hans Barions, Joseph Kleins und Werner Böckenfördes mit Rudolph Sohm. Dieser Teil ist vorläufig. Er hat nur den Sinn, auf die vielfältigen Themen, Aspekte und Hintergründe hinzuweisen, auf die ein fruchtbares Gespräch mit Sohm eingehen muß.
Das vorläufige Gespräch mit Sohm drängt natürlich weiter. Und so schließt sich der dritte Teil ganz von selbst an. Hier wird eine systematische (was freilich nicht heißen kann:
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abschließende) Antwort auf Sohm versucht. Ich lege zunächst eine bibeltheologische Grundlegung3 des Kirchenrechts vor, anschließend eine ekklesiologische4 bzw. sakramentale. Ich bin mir bewußt, daß mit diesen beiden Argumentationsketten Sohm nicht einfachhin widerlegt werden kann.5 Vielmehr soll es sich nur darum handeln, in das Dickicht der unübersehbar gewordenen Literatur und der Auseinandersetzungen mit Sohm „Schneisen zu schlagen”. Es geht darum, allererst wieder den festen Grund für das Kirchenrecht zu gewinnen. Freilich, was gesucht wird, ist ein geistliches Recht.6 Es hat ein ganz anderes Gesicht als das Recht dieser Welt. Damit zeigen sich im Akt der Grundlegung auch schon die Grenzen des kanonischen Rechts. Mögen sich diese Grenzen auch nicht von vornherein genau bestimmen lassen, sie sind dem hier gesuchten Ansatz doch immanent.
Sollte dem Autor eine Bitte an den Leser erlaubt sein, so wäre es die, den dritten Teil dieses Buches (systematische
3 Hier habe ich mich besonders anregen lassen von meinem
Mitbruder und Kollegen Johannes Mühlsteiger S.J., der in einer
ganzen Serie von Artikeln versucht hat, die biblischen Wurzeln
des Kirchenrechts aufzuspüren.
4 Hier folge ich der Bitte des Zweiten Vatikanischen Konzils,
wenn es im Dekret über die Ausbildung der Priester anordnet:
„Ebenso lenke man bei der Behandlung des kanonischen Rechtes . .
. den Blick auf das Mysterium der Kirche im Sinne der
Dogmatischen Konstitution ,Über die Kirche’, die von der Heiligen
Synode erlassen wurde” (LThK-Konzilskommentar II, Art. 16, S.
345).
5 Vielleicht macht es überhaupt keinen Sinn, Sohm nur widerlegen
zu wollen. Wäre es nicht angebrachter, ihm und seinen Gedanken
gegenüber eine Art performativer Interpretation bzw.
korrigierender Rezeption zu versuchen gemäß dem Schriftwort:
„Prüft alles, und behaltet das Gute!” (1 Thess 5, 21)? Ich meine,
es sei ein Gebot intellektueller Redlichkeit, alles, was in der
Meinung des Gegners an Wahrheitsgehalt enthalten ist, bis aufs
letzte anzuerkennen.
6 Vgl. dazu die tiefsinnige Abhandlung von G. May, Das geistliche
Wesen des kanonischen Rechts, in: AfkKR 130 (1961) 1-30; vgl.
auch R. Sebott, De ecclesia ut societate perfecta et de
differentia inter ius civile et ius canonicum, in: PerRMCL 69
(1980) 107-126.
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Auseinandersetzung mit Sohm) ja nicht für sich zu nehmen. Dieser Teil steht und fällt mit der Haltbarkeit des Vorherigen. Es gibt keine Gesamtinterpretation von Sohm, die nicht fortwährend ihr Recht an einer genauen Einzelinterpretation beweisen müßte. Sonst ist sie belangloses Gerede. Wie oft haben katholische Kirchenrechtler Sohm schon für tot erklärt und doch gilt noch immer Congars Mahnung: „Rudolph Sohm nous interroge encore”.7
Zum Schluß habe ich allen zu danken, die zum Erscheinen der vorliegenden Arbeit beigetragen haben, insbesondere Herrn Dipl. theol. Gerhard Höppler, der mit mir die Druckfahnen gelesen und der das Personenregister erstellt hat.
Frankfurt am Main
im April 1993
Reinhold Sebott S.J.
7 Y. Congar, R. Sohm nous interroge encore, in: Revue des sciences philosophiques et théologiques 57 (1973) 263-294.