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XII
Rückblick und Ausblick

 

Vom Wunder der Ekklesia, der Christusgemeinde, sind wir ausgegangen, zu ihm kehren wir zurück. Die Christusgemeinde ist das große Wunder der Geschichte, und die Geschichte ist der Beweis, daß „die Pforten der Hölle sie nicht überwinden können”. Das Wunder der Existenz der Christusgemeinde kann einem kaum überwältigender zum Erlebnis werden als wenn einem vergönnt ist, im Fernen Westen und im Fernen Osten und in vielen Ländern, die von Menschen anderer Rasse, Sprache und Kultur bewohnt werden, Brüder in Christus zu grüßen und sich mit ihnen in gemeinsamem Gebet zu dem einen Herrn zu stärken. Die Institutionen, die wir Kirchen heißen, haben durch bald zwei Jahrtausende hindurch die Schale gebildet, in der dieser kostbare Kern bewahrt wurde. Ohne diese Kirchen wäre wohl das meiste, dessen wir uns als Taten der christlichen Mission freuen, nicht geschehen. Über der Tatsache, daß sie so oft nicht nur schützende, sondern verbergende Hülle waren, dürfen wir das andere nicht übersehen, daß sie es waren, mit deren Hilfe der Herr der Gemeinde diese nicht nur bewahrte, sondern auch immer neu bildete. Die Institution Kirche hat sich trotz allem als das wirksamste „externum subsidium” der Christusgemeinschaft erwiesen, von jenen Tagen an, da der Kampf mit den Irrlehren und der Schwarmgeisterei der Gnosis die Ekklesia zur Schaffung des monarchischen Bischofsamtes und des kirchenrechtlichen Gefüges veranlaßte bis auf unsere Tage, wo im Kampf der Kirche gegen den Totalstaat Hitlers die lebendige Gemeinde Christi wieder einmal den Schutz und Halt

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erfuhr, den ihr die Kirche zu bieten vermochte. Es kann sich also niemals darum handeln, aus der Unterscheidung von Ekklesia und Kirche ein negatives Urteil oder gar eine feindliche Haltung gegen die Kirchen abzuleiten. Ein Mittel, das Gottes Vorsehung so lange und so gewaltig gebraucht hat, darf keiner auflösenden Kritik zum Opfer fallen.

Aber über dieser positiven Beziehung zwischen Ekklesia und Kirche darf nun freilich auch das andere nicht vergessen werden, daß die Kirche immer wieder und gerade dann, wenn sie auf ihre Identität mit der Christusgemeinde pochte und Christus und Kirche in einem Atemzug nannte, der Bildung und Bewahrung wahrer Ekklesia als eines der Haupthindernisse im Wege stand. Nicht die Christusfeind-schaft der ungläubigen Welt, sondern die falsche, klerikale, pfäffische Kirchlichkeit ist immer wieder der größte Feind der Christusbotschaft und der in Christus begründeten Bruderschaft gewesen. Das „Ecrasez l’Infâme!” ist nicht nur der Schrei des Christushasses des Aufklärungsrationalismus, sondern auch der durch die Kirche vergewaltigten Menschlichkeit und darum auch das nie zu überhörende Warnungszeichen Christi selbst an eine ihn um der Kirche willen verratende Christenheit.

Die Kirche ist eine geschichtlich entstandene Form, ein Gefäß der Ekklesia; nicht ihr, sondern der Ekklesia allein ist die Verheißung der Unüberwindbarkeit und der Dauer in die Ewigkeit hinein gegeben. Seit die Christenheit in der Reformationszeit zum erstenmal das Wesen der Ekklesia als etwas von dem Gefäß Kirche unterschiedenes und zum Teil dazu im Widerspruch stehendes erfaßt hat, sind immer neue Versuche unternommen worden, der Christusgemeinde die äußere Form zu geben, die ihrem Wesen entspricht. Es ist eine der wichtigsten Früchte der

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oekumenischen Bewegung, daß sie der Christenheit die Mannigfaltigkeit dieser Formen ebenso zum Bewußtsein brachte wie die Not ihrer Vielheit. Daß die Ekklesia eine ist und daß die Vielheit der Kirchen diese Einheit in Frage stellt, ist uns schmerzlich bewußt geworden; ob aber die Einheit der Ekklesia die Einheitsform einer Kirche verlangt, ist höchst fraglich. Wir haben gerade im oekumenischen Gespräch die relative Berechtigung all dieser verschiedenen Formen, den spezifischen Dienst, den jede von ihnen gerade vermöge ihrer besondern Art für die Erhaltung, für die Reinigung, für die Kräftigung und für die Ausbreitung der Ekklesia tut, kennen gelernt. In der neuesten Zeit haben wir lernen müssen, daß dieselbe providentia Dei, die das Werden von Kirche und Kirchen zuließ, neue Formen christlicher Gemeinschaft hat werden lassen, in denen mit Bewußtsein die Anlehnung an die klassisch-überlieferte Kirchenform vermieden wird. Wir müssen also offen sein für die Möglichkeit, daß es Gottes Wille sein könnte, das alte Kirchengefäß der Ekklesia einmal zu zerbrechen oder mindestens — wie es jetzt schon geschieht — durch ganz andere zu ergänzen. Daß wir diesem Gotteswillen nicht mit einer selbstsicheren Kirchlichkeit apriori widerstehen, ist das eine praktische Hauptanliegen dieses Buches.

Das zweite ist das folgende. Die Kirche hat während ihrer ganzen Geschichte dadurch, daß sie ihrem Wesen nach viel mehr ein Kollektiv als eine Gemeinschaft war, die Bildung wahrer Bruderschaft in Christus nicht nur vernachlässigt, sondern vielfach verhindert. Das aber ist gerade das Wesen der neutestamentlichen Ekklesia: die Einheit von Christusgemeinschaft im Glauben und Bruderschaft in der Liebe. In dieser Richtung gehen darum die Bestrebungen nach neuen Formen der Christusgemeinschaft in der jetzigen Zeit und werden es noch viel mehr tun in

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der Zukunft. Weil die Kirche fast zu allen Zeiten versäumt hat, wahre Bruderschaft in Christus zu bilden, darum ist, gleichsam als Mangelkrankheit, der neuzeitliche Kommunismus entstanden. Mit oder ohne die Kirchen, wenn nötig sogar gegen sie, wird Gott die Ekklesia zum Brudervolk werden lassen. Ob die Kirchen sich dieser Erkenntnis öffnen oder verschließen, davon wird es abhangen, ob sie eine Zukunft haben.