VII
Die gottesdienstliche Existenz der Ekklesia

 

a) Gottesdienst und Alltagsleben.

Ekklesia ist, sowohl im profangriechischen wie im Sprachgebrauch des griechischen Alten Testamentes, die Versammlung, das versammelte Volk. So ist denn auch die neutestamentliche Ekklesia, nach ihrer primären Erscheinungsform, die gottesdienstlich versammelte Christusgemeinde, das gottesdienstlich versammelte Volk Gottes. Und doch wäre es unrichtig, zu sagen, die Ekklesia sei nur wirklich im Akt der Versammlung (1); damit wurden wir

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gerade eines ihrer wesentlichsten Merkmale verfehlen. Die Urchristen wußten sich als Glieder der Ekklesia auch außerhalb der gottesdienstlichen Versammlung, und sie verstanden ihr Leben als Gottesdienst auch dort, wo sie nicht kultisch versammelt waren, sondern wo jeder einzelne an seinem weltlichen Ort, im „Alltag”, in der Familie oder in der täglichen Berufsarbeit, sein Leben als ein „gottwohlgefälliges Opfer” 1) Christus, seinem Herrn darbrachte (2). Aber so viel ist richtig, daß ihre „gottesdienstliche” Versammlung zum gemeinsamen Hören des Wortes, zum gemeinschaftlichen Gebet und zur Feier des Mahles in besonderer Weise dazu diente, sich ihrer selbst als Ekklesia, als mit und durch Christus verbundenes Gottesvolk bewußt zu werden.

Mehr noch als das. Diese „gottesdienstlichen” Zusammenkünfte hatten gerade den einen Zweck, sich als Leib Christi „aufzuerbauen” (5). Diese Versammlungen waren erbaulich nicht in unserem abgeblaßten Sinne des Wortes, sondern im streng realen Sinn von Aufbau. In diesem Sinne geht allerdings der „kultische” Gottesdienst dem weltlichen voraus; denn nur hier ereignete sich das Zusammensein in Christus, das die Voraussetzung war für das Glied sein und sich als Glied bewähren jedes einzelnen in der Vereinzelung des weltlichen Berufslebens.

Es war aber nicht bloß dieses Zusammenkommen an sich, was diese Bedeutung für das Gliedwerden am Leibe Christi hatte, sondern es war gerade die Art und Weise dieses Zusammenkommens, die diesem realen Zweck der „Ein-gliederung” diente. Diese Zusammenkünfte waren nicht bloß — wie man das später nannte — ein coetus fidelium, ein Zusammenkommen und Beieinandersein, sondern sie waren


1) Röm. 12, 1.

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darauf angelegt, aus dem bloßen Zusammen ein Mit-einandersein und Mit-einandertun zu machen 2). Sie waren ein gemeinschaftliches Tun und ein gegenseitiges von einander Nehmen und einander Geben 3). Nur so verstehen wir auch die zentrale Bedeutung, die bei diesen Versammlungen die sogenannten Sakramente hatten (4).

Wir dürfen die Streitfrage der neutestamentlichen Exegeten unentschieden lassen, ob es zweierlei oder nur einerlei Art der Versammlung gab, nämlich ein Zusammenkommen bloß für die Lehre und das Gebet und eine andere, für die Mahlfeier, oder ob jede Zusammenkunft ohne weiteres auch die Mahlfeier in sich schloß (5); denn auch wenn das letztere der Fall sollte gewesen sein, mußte ja doch die Feier in zwei Teile geteilt sein, nämlich in einen solchen, an dem auch Ungläubige teilnehmen konnten, und den anderen, die Mahlfeier, an der selbstverständlich nur die Gläubigen Anteil hatten. Ob also diese, in der Sache liegende Zweiteilung auch eine Zweiheit von Gottesdiensten mit sich brachte oder nicht, ist schließlich nicht wichtig. Wichtig aber ist dies, daß auch der Verlauf einer Zusammenkunft — oder des Teils einer solchen —, die nur dem Wort und Gebet, nicht aber dem gemeinsamen Mahl gewidmet war, wie etwa Paulus 1. Kor. 14 sie schildert, von der Art war, daß das gemeinsame Tun entscheidend war. Ausdrücklich wird hervorgehoben, daß alle aktiv beteiligt waren. Was wir von der Struktur der Gemeinde als solcher bereits hörten, daß sie die Unterscheidung von Tätigen und Passiven, von Spendenden und Empfangenden nicht kennt, das zeigt sich nun wiederum bei der gottesdienstlichen Versammlung. Jeder gab seinen Beitrag, und eben deswegen durfte


2) 1. Kor. 14.
3) vgl. Luthers Formulierung: „mutuum colloquium et consolatio fratrum” (Schmalk. Art. III, IV.).

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niemand die Versammlung monopolisieren, damit alle an die Reihe kommen können 4). Darum kennt diese gottesdienstliche Versammlung nicht die Unterscheidung von Priestern und Laien; sie weiß sich als „Priesterschaft” 5), und rechnet jeden zu der „heiligen Priesterschaft” 6). Das gilt nicht erst von der paulinischen Gemeinde, sondern schon von der jerusalemischen, ersten Christengemeinde. Nicht nur ist die koinonia dort als ein besonderes Moment dieses Beieinanderseins neben Lehre, Gebet und Brotbrechen ausdrücklich hervorgehoben, sondern auch die Einstimmigkeit des gemeinsamen laut gesprochenen Gebetes wird unterstrichen 7).

Aber nun liegt in dieser „kultischen” Versammlung von Anfang an eine gewisse Spannung, über deren Charakter und Tragweite wir uns klar sein müssen. Dieses Zusammensein gipfelt in einem Akt, der einerseits das „Kultische” im Unterschied zum Profanen in unmißverständlicher Weise akzentuierte, der aber anderseits gerade das Alltägliche, das Mahl, — und zwar ein wirkliches Miteinanderessen 8) —, als besonderes Zeichen des Heiligen hatte. Das eminent „Kultische” ist also zugleich das eminent Alltägliche, Nichtkultische. Dieser Wille, den Gegensatz von profan und heilig, von Sonntagsgemeinschaft und Werktagswirklichkeit aufzuheben, zeigt sich nicht minder darin, daß das ganze Leben jedes einzelnen Gliedes vom selben Zentrum aus wie diese Mahlgemeinschaft, nämlich von der Beziehung zum Opfertode Christi her zum lebendigen Opfer und Gottesdienst geweiht wurde 9).

Man darf also wohl sagen, daß die Ekklesia diesen sonst in allen Religionen maßgebenden Unterschied, ja Gegensatz des Profanen und des Heiligen nicht anerkennt,


4) 1. Kor. 14, 31.
5) 1. Petr. 2, 9.
6) 1. Petr. 2, 5.
7) Apg. 4, 24.
8) 1. Kor. 11, 20 f.
9) Röm. 12, 2.

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sondern ihn gerade in ihrem „gottesdienstlichen” Mittelpunkt aufhebt. Das ganze Leben des Christen ist Gottesdienst, und in der Totalität seiner Existenz muß er sich darum als ein Glied am Leibe Christi bewähren. Ja, in der Urgemeinde von Jerusalem wurde eine ganz besonders eingreifende und auffallende Demonstration dieses Willens zur Aufhebung der Grenze zwischen weltlichem und gottesdienstlichem Leben gegeben durch die sogenannte Gütergemeinschaft, das heißt durch die Aufhebung der Grenze zwischen privater und gemeinschaftlicher Existenz am kritischen Punkt, in der Behauptung des privaten Eigentums. Zwar müssen wir jeden Gedanken an irgend etwas wie eine gesetzliche kommunistische Gütergemeinschaft fernhalten; denn es war in das freie Belieben jedes einzelnen gestellt, wie weil er darin gehen wollte. Aber schon die Tatsache dieses Versuchs zeigt den Willen und die Überzeugung von der innern Notwendigkeit der Überwindung jenes Urgegensatzes von profaner und sakraler Zone, von Sonntags- und Werktagsexistenz (6).

Und doch, die Spannung war da. Die Mahlfeier war, ehe sie den technischen Namen der „Agape” bekommen halle und zu dem ausgesprochen profanen oder weltlichen Akt einer Armenspeisung geworden und sich als solche von der Eucharistie losgelöst hatte, ein ausgesprochen gottesdienstlicher Akt; er war irgendwie von Anfang an das, was dann späterhin ein Sakrament genannt wurde, und hatte darum auch von allem Anfang an den Charakter des Esoterischen, des streng auf die Gemeinde der Gläubigen Beschränkten. Anderseits aber war der Charakter dieser Mahlfeier von einer solchen natürlichen Schlichtheit und so sehr an das Alltägliche, an das Miteinanderessen, wie es die Jünger mit ihrem Herrn täglich erlebt hatten, angelehnt, daß man in ihr gerade ein Zeichen verstehen kann dafür, daß man den

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Gedanken an irgend eine kultische Besonderheit nicht aufkommen lassen wollte. Die Mahlfeier war Alltag mitten im heiligen Geschehen und heiliges Geschehen mitten im Alltag.

Die Mahlfeier war für die Gemeinde in besonderer Weise heilig, gottesdienstlich, weil ja ihr Sinn die Gegenwart des Herrn im Essen des Brotes und im Trinken des Weines war. Sie war in besonderer Weise „Erbauung”, weil ja hier, wie nirgends sonst, die Gemeinde sich als Leib des Herrn erfuhr 10).

Ob von Anfang an die Beziehung auf das Todesleiden des Herrn deutlich bewußt war oder nicht, so war es doch undenkbar, daß nicht die Jüngergemeinde bei dieser Feier in besonderer Weise des letzten Mahls sollte gedacht haben, das der Herr mit ihnen nahm und das unmittelbar vor seiner Kreuzigung stattfand. Wohl aber müssen wir den anderen, unserer kirchlichen Tradition weithin entschwundenen Gedanken in den Vordergrund stellen, daß diese Feier bei den ersten Christen, jedenfalls in der urapostolischen Gemeinde von Jerusalem, mit der Erinnerung verbunden war, daß ihnen bei einer solchen Mahlfeier der Auferstandene erschienen war 11). Seine Gegenwart, noch mehr als sein Tod, die Überwindung des Todes durch die Auferstehung noch mehr als der versöhnende Charakter seines Todesleidens, stand dabei im Mittelpunkt. Darum brachen sie das Brot „mit Jubel” 12). So liegt der Gedanke nahe, daß bei der Mahlfeier mehr als irgendwo sonst die Gemeinde die lebendige Gegenwart des Auferstandenen in ihrer Mitte erlebte (7).

Gerade dann, wenn wir es so verstehen, ist das Heiligste auch wieder das Alltäglichste. Die Mahlfeier war ja nur die


10) 1. Kor. 10, 17.
11) So besonders Luk. 24, 13 ff. und 36 ff.
12) Apg. 2, 46 f.

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Wiederholung dessen, was die Jünger jeden Tag, wo sie mit dem Herrn zusammen waren, ganz real und einfach erlebt hatten; so wie sie mit ihm die staubigen Wege durch Galiläa gewandelt, mit ihm jeweils die staubigen Füße vor der Mahlzeit gewaschen hatten 13) (8), so hallen sie mit ihm das Brot gegessen, das er ihnen gebrochen und den Wein getrunken, den er gesegnet hatte. Was gab es Schlichteres, Unkultischeres, weniger Mysteriöses als gerade dies? Und eben dies war das Zentrum und der Höhepunkt ihres Gottesdienstes und die Form, in der sich das Höchste und Heiligste verwirklichte: die Selbstvergegenwärtigung des Herrn. Man muß beide Seiten sehen, die Alltäglichkeit und das Außergewöhnliche dieser Handlung, um die Ekklesia in ihrer Besonderheit zu verstehen und ebenso um zu verstehen, wie es geschehen konnte, daß ausgerechnet hier die Verschiebung von der Ekklesia zur Kirche stattfinden konnte.

 

b) Die Sakramente.

Die Mahlfeier ist, darüber kann kaum ein Zweifel bestehen, derjenige Teil oder diejenige Art des Gottesdienstes, zu der die Ungläubigen keinen Zutritt hatten. Sie ist das, was der Gottesdienst überhaupt ist, in ganz besonderem Maße, Erbauung, Aufbau des Leibes Christi. Sie ist darum in ganz besonderer Weise das, was die Gemeinde als solche konstituiert: Gemeinschaft in und durch Christus. Sie ist darum, was von ihr ausdrücklich gesagt wird: koinonia somatos Christu, gemeinschaftliche Anteilhabe am Leih Christi 14). Nicht in ihr allein, aber in ihr ganz besonders, konstituiert sich die Ekklesia als Christusgemeinschaft, wird sie also im prägnanten Sinn Ekklesia Christu (9). Hier


13) So Joh. 13,1 ff.
14) 1. Kor. 10, 16.

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ist ,,heiliger Materialismus” und „heiliger Sozialismus” in einem: Denn im Essen des Brotes und im Trinken des Weines geschieht es, daß Christus mitten unter ihnen ist und sie dadurch ein Leib werden. Hier also geschieht das „Mystische” — das miteinander Einswerden — und das „Magische” — das durch etwas Materielles vermittelte Anteilhaben an der geistigen Dynamis. Ist das, und in welchem Sinne ist das ein „Sakrament”? Ehe wir diese Frage beantworten, wenden wir uns der zweiten Heiligen Handlung zu, die von Anfang an in der Ekklesia geübt wurde, und die ebenfalls zum Sein der Gemeinde als solcher gehört, zur Taufe.

Wir fragen zunächst nicht nach ihrem geschichtlichen Ursprung, sondern gehen von der Tatsache aus, daß wir von der Ekklesia nur hören als von einer Gemeinschaft, die diesen Brauch übte und zwar als den Ritus, durch den man in die Gemeinde aufgenommen wurde. Von Paulus haben wir die maßgebende theologische Deutung der Taufe; doch wäre es sicher verkehrt zu meinen, daß die von ihm vorgetragenen Gedanken von Anfang an und bei allen als Voraussetzung des Getauftwerdens oder als Voraussetzung des Empfanges der Gabe, deren Mitteilung man an das Getauftwerden geknüpft wußte, vorhanden gewesen seien. Die Taufe ist nicht in erster Linie ein kognitiver, sondern ein kausativer Akt; durch die Taufe empfing man den Heiligen Geist (10). Die Taufhandlung gehört durchaus hinein in jenen Bereich des pneumatisch-dynamischen Geschehens, von dem wir oben (im V. Abschnitt) sprachen. Am Täufling geschah etwas, eben in jenem para-logischen, darum auch para-theologischen Sinn, das heißt in dem Sinne, daß dieses Geschehen nicht notwendigerweise an den Vollzug bestimmter theologischer Gedanken, wie Paulus sie ausführt, geknüpft war. Durch den Taufakt als

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solchen strömte etwas vom Heiligen Geist in den Täufling ein. Man mag diese Vorstellung magisch nennen — was ist damit anderes gesagt, als daß Gott sich dieser äußeren Handlung von Menschen bediente, um den Menschen an der Gabe Anteil zu geben, die als solche das Wesen der Ekklesia ausmachte? Ob nur Erwachsene getauft wurden oder auch Kinder, ja sogar Säuglinge, ist durchaus nebensächlich. Jedenfalls konnte sich sehr leicht von der Beschneidung des Alten Testaments, das heißt von dem Aufnahmeritus her, der durch die Taufe abgelöst wurde, und vom Gedanken des Bundes aus, der immer als ein nicht bloß auf einzelne Individuen, sondern auf ganze Familien sich beziehender gedacht war, mit Leichtigkeit eine solche Interpretation der Taufe nahe legen, die auch das Taufen von Kindern ermöglicht (11). Das Neue Testament läßt uns über diesen Punkt völlig im Ungewissen. Dagegen ist klar, daß zum Verständnis der Taufe, wie Paulus sie lehrt, noetische Akte gehören, deren nicht nur kein Säugling, sondern auch kein Kleinkind fähig ist. Nirgends sagt aber Paulus, daß diese Interpretation, dieses vertiefte Verständnis der Taufe die conditio sine qua non ihres Vollzuges oder auch ihrer Wirkung im Sinne der Geistmitteilung sei; wohl aber will die paulinische Belehrung sagen, daß der volle Sinn der Taufe sich nur dort verwirklichen könne, wo man seine Taufe im Sinne eines Mitsterbens mit Christus versteht und also an seinen Tod als den für uns geschehenen glaubt (12).

Diese beiden Handlungen, die die spätere Kirche Sakramente genannt hat, haben im neuen Testament mit einer kirchlichen Amtsordnung nichts zu tun. Kein Wort ist darüber gesagt, wer taufen oder wer nicht taufen dürfe, kein Wort über die Austeilung des Brotes und Weines beim Mahl. Und doch liegt hier, in diesen sogenannten Sakramenten, die Ansatzstelle für die spätere institutionelle

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Entwicklung, für die Kirchwerdung der Gemeinde Jesu Christi. Warum dies? Taufe und Abendmahl sind, so scheint es wenigstens, „Institutionen”. Die Frage, die sich uns angesichts dieser beiden Riten notwendig aufdrängt, ist die: Warum ist es nötig, daß man diesen Ritus der Taufe an sich geschehen läßt, um zur Gemeinde und damit zu der ihr gegebenen Heilsgabe zu gelangen? Warum ist es nötig, daß die Gemeinde diesen Ritus des Mahles vollzieht, um der vollen Gegenwart ihres Herrn teilhaftig und also im vollen Sinne Leib Christi zu werden?

Wir können ja nicht umhin, von Paulus her den tieferen Sinn dieser Handlungen, ihre Beziehung zum Zentrum des Glaubens zum stellvertretenden Kreuzestode des Herrn zu sehen. Die Taufe meint das, das Abendmahl meint das; aber warum bedarf es dieser besonderen Form einer rituellen Handlung? Hat man denn nicht das, was man durch diese besondern Handlungen hat, auch abgesehen von ihnen durch das Wort? Und wenn ja — warum dann diese Verdoppelung und warum die besondere Auszeichnung dieser Riten? Warum müssen sie sein? Hier scheint ein Punkt zu sein, wo der pneumatischen Freiheit der Gemeinde eine bestimmte Schranke gesetzt ist, wo in der Ekklesia ein Element vorhanden ist, das sich nicht, wie im übrigen ihr ganzes Wesen, aus dem Christusfaktum, wie es im Wort verkündet und im Glauben aufgenommen wird, verstehen läßt — ein schlechthin Positives, Gesetztes, etwas, dessen Begründung letzlich nur lauten kann: Es ist nun einmal so gesetzt, so geboten, so gegeben, — also eine Institution, deren Faktizität letztlich ihre einzige Begründung ist. Diese Handlungen müssen sein — so scheint es zunächst —, weil sie von Jesus selbst eingesetzt sind.

Augustin und in seiner Nachfolge die Reformatoren haben versucht, diese rein positivistische Antwort zu ergänzen

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durch eine sachliche Begründung, indem sie die Sakramente das Verbum visibile nannten und eine bedingte Notwendigkeit dieses besonderen modus der Mitteilung aus unserer sinnlichen Natur ableiteten. Das bloße Wort genügt nicht, wir bedürfen solcher versinnbildlichenden Handlung, der augenfälligen Zeichensprache. Diesem Argument läßt sich eine gewisse Berechtigung nicht absprechen; aber für sich allein vermag es nicht zu befriedigen, um so weniger, als im Neuen Testament selbst von einer solchen Begründung nicht die mindeste Spur zu finden ist. Es ist offenkundig ein Hinterhergedanke, eine theologisch-psychologische Rationalisierung von etwas schlechthin Gegebenen und insofern Irrationalen.

Ein anderer Gedanke dürfte uns an die neutestamentliche Wirklichkeit näher heranbringen.

Durch diese zwei Handlungen wird der einzelne au die konkrete, reale Gemeinde der Gläubigen in einer Weise gebunden, wie dies durch das verkündigte Wort nicht, oder doch nicht in so unmißverständlicher Weise geschieht. Die Verkündigung des Gotteswortes kann man hören, ohne zur Gemeinde zu gehören, ohne sich mit ihr zu identifizieren, ohne in der Gemeinde zu sein und an ihrem Leben Anteil zu nehmen. Die sogenannten Sakramente aber sind das Verbum communale, die Form des Wortes, durch die der einzelne realiter eingegliedert, ein-gemeindet wird. Dazu gehört, gleichsam als die andere Seite dieses einen, daß durch diese Handlungen, viel deutlicher als durch das gesprochene Wort, zum Ausdruck kommt, daß die Christusgemeinschaft in einem Handeln Gottes begründet ist, das sich in der realen, geschichtlichen Welt vollzieht, einem Handeln, zu dessen Vollzug Gott sich der Gemeinde bedient. Das Sakrament ist das Verbum activum. Die Christusgemeinschaft realisiert sich durch ein gemeinschaftliches

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Handeln der Gemeinde und in der Gemeinde. Dem entspricht auch die geschichtliche Tatsache, daß es diese sogenannten Sakramente waren, die je und je, mehr als irgend etwas anderes, einen Damm bildeten gegen den spiritualistischen Individualismus und so die Gemeinde als Gemeinde zusammenhielten.

Noch aber fehlt ein letztes Moment, durch das erst völlig der Schein einer bloß positiven Setzung, des „es muß nun einmal so sein, weil es so gesetzt ist”, beseitigt wird. Das Abendmahl, wie es die Urgemeinde feiert, ist nicht nur ein Gleichnis, eine gleichnishafte Abbildung des Heilsgeschehens in Christus, sondern es ist integrierender Bestandteil dieses Heilsgeschehens selbst. Das letzte Mahl, das Jesus mit seinen Jüngern gefeiert hat, ist Teil der Passionsgeschichte selbst, und zwar jener Teil, in dem Jesus die Jüngergemeinde als Gemeinde des neuen Bundes begründet hat 15). Es geschah im Blick auf den bevorstehenden Kreuzestod, daß Jesus den Jüngern das Brot brach und den Kelch reichte als Zeichen des in seinem Tod begründeten neuen Bundes. Die Heilandstat der Selbsthingabe und die Begründung der Christusgemeinde sind in ihm, nicht bloß gleichnishaft, sondern realiter verbunden. Freilich sind Brot und Wein nur Zeichen dessen, was gemeint war und faktisch geschah, denn noch ist ja Jesus selbst leiblich unter ihnen (13) 16); aber in und mit diesen Zeichen hat der Herr sich der Gemeinde gegeben und im Empfang dieser Zeichen hat die verstehend-glaubende Jüngergemeinde sich selbst, ihr Leben als Gemeinschaft mit Ihm und miteinander empfangen 17). Dieses letzte Mahl ist die Geburtsstunde der Gemeinde des Gekreuzigten. Es ist also nicht ein Als-Ob, sondern es ist heilsgeschichtliche Realität.


15) S.o. S. 27.
16) Mark. 14, 22 ff.
17) 1. Kor. 10, 16.

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Indem nun, nach dem Tod des Herrn, die Gemeinde dieses Mahl feiert, tut sie es nicht bloß in Erinnerung an ein damals Geschehenes, sondern zugleich in der Gewißheit, daß das damals Geschehene sich jetzt wiederholt; denn sie weiß, daß er selbst im Essen des Brotes und im Trinken des Weines bei ihr gegenwärtig ist und sie dadurch neubegründet wird als die Gemeinschaft, die gleichzeitig Christusgemeinschaft und Gemeinschaft miteinander ist. In eben diesem Gemeinschaftsakt geschieht realiter, immer neu, die Gemeindewerdung. Der darin eigentlich Handelnde ist der Herr. Sein Handeln ist seine Selbstvergegenwärtigung, und indem er sich selbst vergegenwärtigt, bindet er neu die Seinen an sich und verbindet er sie untereinander, indem er zu seinem Handeln ihr gemeinsames Tun gebraucht. Was in allem gottesdienstlichen Tun der Ekklesia geschieht, der Aufbau der Gemeinde, das geschieht hier in ganz besonderer Weise in dem Akt, der nur als Gemeinschaftsakt möglich ist und in dem der einzelne, immer neu, der Gemeinde einverleibt wird, indem er an Jesu Tod als seinem Heil Anteil bekommt (14). Nur ist es jetzt nicht mehr, wie damals, ein Abschiedsmahl, beladen mit all dem Schmerz und der Traurigkeit der Scheidestunde, sondern vor allem das Freudenmahl der mit dem Sieger über Sünde und Tod Vereinten; indem die Feiernden einerseits auf das Geschehene zurückblicken, schauen sie noch mehr auf das Geschehenwerdende voraus, auf jenes Mahl, auf das der Herr sie schon damals hingewiesen hat, auf das Freuden mahl der vollendeten Gemeinschaft jenseits der Todes grenze 18). Darum ist das Abendmahl alles andere als eine Institution: Es ist Gemeinschaftsakt im Vollzug, und zwar der Akt der in der Heilsgeschichte, im Vergangenen,


18) Marc 14, 25 und Parallelen.

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Gegenwärtigen und Zukünftigen begründeten Gemeinschaft in Christus. Es ist die Gestalt des gottesdienstlichen Zusammenseins und Zusammentuns, die aus der Christusgeschichte ihre besondere Prägung hat, insofern also der eigentliche, spezifisch christliche Gottesdienst, gottesdienstliche Auferbauung der Gemeinde Christi aus der Heilsgeschichte (15).

Wie steht es nun mit der Taufe? Daß auch sie als Akt realer — nicht bloß symbolischer — Ein-gemeindung, als in-corporatio, gemeint ist, ergab sich uns schon aus dem oben Gesagten. Der Unterschied gegenüber dem Abendmahl ist die Einmaligkeit. Während im Abendmahl betont ist, daß der einzelne immer neu incorporiert werden muß, betont die Taufe, daß diese Incorporation einmal erstmalig und ein für alle mal geschieht. Durch sie trennt sich der einzelne von der heidnischen Welt, durch sie bekennt er sich zur Gemeinde und die Gemeinde zu ihm, durch sie wird er Glied der Gemeinde. Aber noch bleibt die Frage: warum muß dieser Akt gerade in dieser Weise des Taufens und Getauftwerdens geschehen? Warum muß die Übertragung des Geistes gerade dieses äußern Mittels sich bedienen? Auch hier gelten genau dieselben Gesichtspunkte wie beim Abendmahl, nur daß hier die Beziehung zur Heilsgeschichte selbst nicht so auf der Hand liegt wie bei jenem. Und doch dürfen wir sagen: Auch die Taufe gehört, als das sich Taufenlassen Jesu vom Täufer Johannes, zur Christusgeschichte selbst. Denn jene Taufe war — so mußte es die Gemeinde vom Kreuz aus sehen — ein Akt der stellvertretenden Übernahme der Sünden der Welt 19). Jesus nahm die Sünde des Volkes auf sich und ließ die Reinigung an sich geschehen, als ob er ihrer bedürfte. Er identifizierte


19) Matth. 3, 15; Joh. 1, 31 ff.

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sich mit der Sünde der anderen (16). So verstanden ist die Taufe Jesu geradezu die Voraussetzung für die Heilsbedeutung seines Todes; denn nur kraft jener Identifikation ist sein Tod Heil für uns. Darum wird nunmehr auch die Taufe als Ritus der Aufnahme und des Eintritts in die Gemeinde mit der Heilsgeschichte verbunden, so wie Paulus es lehrt. Ob diese Erkenntnis im einzelnen Täufling schon vorhanden ist oder nicht, ist nicht entscheidend; entscheidend ist, daß ihr von der Gemeinde dieser Sinn gegeben ist — den sie selbst von Christus empfangen hat —, und daß die Gemeinde den einzelnen nur in diesem Sinne sich selbst inkorporieren kann. Man kann an der Gemeinde nur Anteil haben kraft dessen, was in der stellvertretenden Taufe Jesu geschah, und man kann an Jesus nur Anteil haben dadurch, daß man an der Gemeinde Anteil bekommt, ein Glied an ihr wird. Durch die Taufe wird der einzelne mit dem stellvertretend die Sünden des Volkes auf sich nehmenden Christus identifiziert und wird durch diese Identifikation mit seinem Tod ein Glied an seinem Leibe. Darum ist auch die Taufe keine „Institution”, nicht etwas „einfach nun einmal so Gesetztes”. Sie ist, in anderer Weise als das Abendmahl, aber im selben Sinne und aus dem seihen Grunde, realer Ein-bau in die Gemeinde, nicht bloßes Zeichen, sondern im zeichenhaften Akt reales Geschehen.

Wie wir uns keine gottesdienstliche Handlung denken können, in der alle notwendigen Momente: das gemeinschaftliche Tun, die Beziehung auf die Heilsgeschichte als Grund und die reale Verbundenheit mit Ihm und mit einander, so verbunden wären wie im Abendmahl, so können wir uns keine Form der Aufnahme in die Gemeinde denken, in der alle diese Momente der Buße, des Bekenntnisses und der in der Heilsgeschichte begründeten Gemeinschaft so verbunden wären wie in der Taufe. Jede Spur des bloß

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Gesetzten, nun einmal so Geforderten, ist verschwunden. In Taufe und Abendmahl vollzieht die Gemeinde ihre Gemeindewerdung.

Zum Schluß aber ist noch ein Wort, sozusagen in der entgegengesetzten Richtung, zu sagen. So innig die beiden sogenannten Sakramente mit dem Heilsgeschehen in Christus selbst verbunden sind, so sind sie doch nicht dieses selbst. Sie sind darum nicht im unbedingten Sinne „heilsnotwendig”. Mit der Behauptung ihrer unbedingten Heilsnotwendigkeit würden wir dem Zeugnis des Neuen Testamentes selbst widersprechen. Man kann vom Heil in Christus auch reden, ohne von diesen zwei Handlungen zu reden. Man kann an Christus und das Heil in ihm glauben, ohne an diesen Handlungen teilzuhaben. Die Gemeinde Jesu konstituiert sich nicht erst in ihnen; sie ist schon konstituiert. Diese zeichenhaften Handlungen sind ihr gegeben, um sich als das, was sie auch ohne diese ist, zu bewahren. Das „wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen” 20), gilt und ist Wirklichkeit, auch wo nicht Abendmahl gefeiert wird. Die Reformatoren haben darum den Sinn der Schrift richtig erfaßt, wenn sie diesen Sakramenten nur eine necessitas relativa, nicht eine necessitas absoluta zuerkannten, bei aller leidenschaftlichen Betonung ihrer höchsten Bedeutsamkeit. Das Kriterium der Christuszugehörigkeit ist nicht das Getauftsein und nicht die Teilnahme am Abendmahl, sondern ganz allein die Verbundenheit mit ihm durch den in der liebe sich wirksam erweisenden Glauben.

Die „Sakramente” sind wohl mit dem Wesen der Gemeinde aufs innigste verbunden — so innig, daß wir sagen können, die Gemeinde baut sich in ihnen auf —, aber sie


20) Matth. 18, 20.

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erzeugen die Gemeinde nicht. Sie sind der Gemeinde gegeben, aber die Gemeinde besteht nicht durch sie. Die Gemeinde besteht durch das Wort und den Geist Jesu Christi, die wir im Glauben empfangen. Darum sind sie nicht das Zentrum der neutestamentlichen Botschaft, sondern nur nahe bei diesem (17). Schon der zusammenfassende Begriff für diese beiden Handlungen fehlt im Neuen Testament. Es ist der Gemeinde noch nicht zum Bewußtsein gekommen, daß diese beiden, später Sakramente genannten Handlungen etwas Besonderes und Zusammengehöriges seien. Eine besondere Auszeichnung, wie sie im Begriff Sakrament liegt, ist ihnen gerade nicht verliehen. Dem entspricht ja auch das schlichte Nebeneinander der vier gottesdienstlichen Elemente in der jerusalemischen Urgemeinde 21): der Apostel Lehre, die Koinonia, das Brotbrechen und die Gebete. In derselben Richtung weist die Tatsache daß kein Wort darüber verloren wird, wer zur Ausübung dieser Handlungen berechtigt sei. Erst recht weiß das Neue Testament nichts von dem aus dem römischen Heidentum stammenden Wort Sacramentum, das leider auch von einigen der Reformatoren unbedenklich aus der kirchlichen Tradition übernommen wurde. Denn an dieses Wort, erst recht an den mit ihm gemeinten Oberbegriff knüpfen sich schon sehr früh die verhängnisvollen Entwicklungen au, die aus der Gemeinde Jesu die Kirche, die ja vor allem Sakramentskirche ist, gemacht haben.


21) Apg. 2, 42.