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Die Christusgemeinde und die Kirchen der Geschichte

 

Aus der Christusgemeinde, der Ekklesia des Neuen Testaments, ist durch einen langen Transformationsprozeß die Papstkirche geworden. Dieser Transformationsprozeß setzt bereits am Ende des apostolischen Zeitalters ein. Die altkatholische Kirche, die zunächst aus ihm hervorging, ist sich dieser Umbildung nicht bewußt geworden. Im Lauf der Geschichte aber erlitt jene kontinuierliche Entwicklung, deren Endresultat die römische Kirche ist, eine Reihe von Brüchen, aus denen nicht-römische Kirchen verschiedener Art entstanden. Wir können sie zunächst in zwei Hauptgruppen scheiden: solche die vor und solche die seil der entscheidenden Wende vom Alt- zum Neukatholizismus geschahen.

Der erste Bruch — abgesehen von kleinen Abspaltungen, die ohne größere Bedeutung für die gegenwärtige Situation sind (1) — ist die Trennung der Ostkirche von der Westkirche und die aus ihr hervorgehende griechisch-orthodoxe Kirche. 858 Schisma des Photius; 1054 definitiver Bruch zwischen der lateinischen und der griechischen Kirche. Da diese Trennung vor der entscheidenden Wende im Hochmittelalter geschah, ist die aus ihr hervorgehende, die griechisch-orthodoxe Kirche als diejenige zu betrachten, die den damals erreichten Stand der Kirchwerdung festhielt oder konservierte. Sie ist im wesentlichen die altkatholische Kirche, diejenige also, die jene „Entwicklung” vor der Wende zum neukatholischen, römischen Papsttum bejaht und als bloße Entfaltung, also nicht als Umbildung oder Transformation, betrachtet. Sie ist, als solche, der geschichtliche Beweis dafür, daß die logische Weiterentwicklung

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im Sinn der zu Ende geführten Kirchwerdung der Ekklesia, im Sinn des vollendeten sakramentalen Institutionalismus, keine notwendige war. Die altkatholische, griechisch-orthodoxe Kirche hat ihre Lebenskraft bewiesen; sie hat die Kraft zum Beharren bei dem damals, in der Mitte des elften Jahrhunderts erreichten Stand der Verkirchlichung während der folgenden neunhundert Jahre gehabt, in dieser Form der Kirchlichkeit den Völkern Osteuropas das Evangelium vermittelt und ihr Leben im Sinn des so verstandenen Evangeliums tiefgreifend zu formen vermocht. Alle Bemühungen Roms, diesen Bruch rückgängig zu machen, sind bisher gescheitert: die griechisch-orthodoxe Kirche ist sich ihrer tiefgreifenden Unterschiede gegenüber der römisch-katholischen, durch den Totalitarismus des Papsttums bestimmten Kirche bewußt und behauptet sich ihr gegenüber mit Leidenschaft als die wahre katholische Kirche. Geschichtlich betrachtet muß dieser Anspruch der griechisch-orthodoxen Kirche, nicht aus einer Revolution, sondern im Gegenteil aus Beharrung und Festhalten am Überlieferten entstanden zu sein, während die römische Kirche sich in revolutionärer Entwicklung vom Altkatholizismus entfernt habe, durchaus bejaht werden. Ja, man kann noch einen Schritt weiter gehen und sagen: Wenn auch die abendländische Kirche bei jenem Stand der Verkirchlichung beharrt hätte, der im Moment jener Trennung erreicht war, so wäre wahrscheinlich jener zweite Bruch, der noch viel tiefer ging als dieser erste, nämlich die Abspaltung der Kirchen der Reformation, niemals geschehen, auf jeden Fall nicht in der radikalen Weise, in der er tatsächlich erfolgte, nachdem und weil die Westkirche inzwischen zur neukatholisch-römischen Papstkirche sich weiterentwickelt hatte. Darum bleibt auch, trotz allen tiefgreifenden Differenzen, das Gespräch, ja sogar die

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Verständigung und Zusammenarbeit zwischen der altkatholischen, griechisch-orthodoxen Kirche und den Kirchen der Reformation möglich.

Nun aber hatte sich im Westen die altkatholische zur neukatholischen, zur römischen Papstkirche weitem entwickelt. Die griechisch-katholische Kirche hat nicht Unrecht, wenn sie in dieser Weiterentwicklung eine revolutionäre Umbildung sieht. Das ist sie in der Tat. Die Ostkirche übersieht aber dabei, daß diese westliche Weiterentwicklung kaum in höherem Maße eine Umbildung war als diejenige, die im Lauf der ersten tausend Jahre aus der Ekklesia des Neuen Testaments die altkatholische Kirche hatte hervor gehen lassen. Der Schritt von der altkatholischen Kirche des Jahres 1000 zur neukatholischen römischen Kirche von 1870 oder 1918 ist, gemessen an der Ekklesia des Neuen Testaments, kein größerer als der von der Urgemeinde zur altkatholischen Kirche des Jahres 1000. Sie sieht weiter nicht, daß diese Weiterbildung, die von der Mitte des 12. Jahrhunderts an geschah, trotz ihrem revolutionären Charakter in nichts anderem bestand als in dem konsequenten Zuendegehen des Weges, der mit dem ersten Clemens brief und mit den Briefen des Ignatius eingeschlagen war. Rückblickend darf und muß man wohl sagen, daß die Ostkirche auf dem Wege, der von der neutestamentlichen Ekklesia zur Papstkirche der Neuzeit führte, in der Mitte stehenblieb.

Mit diesem zweiten Schritt, mit der Entwicklung zum neukatholischen, römischen Papsttum, hatte aber die Entfremdung der Kirche von der Ekklesia des Neuen Testaments ein solches Maß gewonnen, daß eine radikale Protestbewegung im Sinn der Rückkehr zum Ursprung unvermeidlich war. Es kam die Reformation, zuerst diejenige Luthers, dann diejenige Calvins — die im wesentlichen

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schon gleichzeitig mit derjenigen Luthers bei Zwingli ihren Anfang genommen hatte —, und aus dieser doppelten Reformation gingen nun bestimmte Typen von Kirche hervor, die bis zum heutigen Tage in großen und lebenskräftigen Gestalten das Evangelium von Jesus Christus verkünden und das Leben ihrer Glieder im Sinn ihres Christusverständnisses bestimmen. Das Prinzip, das diesen kirchlichen Neubildungen zugrunde liegt, ist der Wille zur Rückkehr und zur Erneuerung des Ursprünglichen, reformatio, der Wille also, wieder die Ekklesia des Neuen Testaments zu werden. Aber dieser gewaltige Impuls der Wiederherstellung des Verlorengegangenen konnte auf verschiedene Weise interpretiert werden, und aus dieser verschiedenen Interpretation sind die verschiedenen nach-reformatorischen Kirchen und ebenso jene Gebilde, die von den Kirchen Sekten genannt werden und die sich selbst als „Gemeinden” oder „Gemeinschaften” bezeichnen, hervorgegangen. In gewissem Sinne bildet die lutherische Kirche eine Klasse für sich, während die Kirchen des Calvinismus und die Sekten zusammengehören (2).

Luthers Gegensatz war gegen die heilige Institution als solche, gegen das Verständnis der Gemeinde Christi als Kirche gerichtet. Er wollte im Grunde die Kirchwerdung der Ekklesia rückgängig machen (3). Darum setzte er am entscheidender! Punkt ein: beim „heiligen” Kirchenrecht. Die entscheidende Tat der Reformation Luthers war die Verbrennung des Corpus juris Canonici (10. Dezember 1520). Aus seinem Verständnis des Glaubens und des Heils als Rechtfertigung in Christus ergab sich mit Notwendigkeit die Ablehnung des sakramentalen Kirchenrechts. Bei der praktischen Ausgestaltung seiner Christusgemeinde aber erwies sich sowohl die Mitwirkung des Staates als auch die Benutzung von Rechtsformen als unumgänglich (4).

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Luther ließ es zu, daß die Landesfürsten die Kirche organisierten und daß sie ihr eine rechtliche Ordnung gaben; aber — damit rettete Luther seine Sicht der Ekklesia — dieses Recht ist, so meint er, rein weltlich, nicht heilig; es hat mit dem Heil als solchem nichts zu tun. Auch das nunmehr rechtlich geschaffene Amt, und wäre es auch ein Bischofsamt, ist kein Priesteramt und hat keinen sakramentalen Sinn; es ist eine für die Gemeinde notwendige, aber für den Glauben des einzelnen irrelevante weltlich rechtliche Institution (5).

Anders Calvin. Er versteht die Rückkehr zur neutestamentlichen Ekklesia nicht nur im Sinn des Glaubens des einzelnen, sondern zugleich im Sinn der Ordnung für die Gemeinde. Es gibt also für Calvin ein neutestamentliches heiliges Kirchenrecht, das man ebenso wiederherstellen kann und muß, wie man das neutestamentliche Verständnis des Christusglaubens wiederherstellen kann und muß, Darin, daß Calvin heiliges Kirchenrecht anerkennt — nämlich das im Neuen Testament vermeintlich vorliegende —, steht Calvin der altkatholischen Kirche näher als Luther, wie er denn ja überhaupt zu den alten Vätern der Kirche und ihrer Theologie ein engeres, positiveres Verhältnis hm als der Wittenberger Reformator.

Nun ergibt sich aber aus eben diesem Prinzip der möglichen und notwendigen Wiederherstellung der neutestamentlichen Ekklesia als Gestaltung der weitere Prozeß der nie aufhörenden Kirchenreformationen; denn das, was in jener Zeit „Sekte” genannt wurde, war im Grunde im bis anderes als ein Protest gegen die mangelnde Radikalität der Wiederherstellung der neutestamentlichen Ekklesia, das Bestreben, es mit der imitatio ecclesiae ernster zu nehmen als die „Landeskirchen”, sei es nun die lutherischen oder die zwinglisch-calvinistischen, es getan hatten. Die

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nie aufhörende Abspaltung von Sekten von der Kirche geht immer neu aus diesem Motiv hervor, der Ekklesia des Neuen Testaments näher zu kommen, ja ihr völlig und in allen Einzelheiten gleich zu sein. Dabei wurde das Entscheidende bald da, bald dort gesehen, wodurch nicht nur eine Vielzahl, sondern auch eine Vielfalt kirchlicher Gemeinschaften entstand, von denen jede das getreueste Abbild der neutestamentlichen Ekklesia zu sein behauptete und jetzt noch behauptet.

Jedoch ist nicht bloß die möglichste Annäherung an die neutestamentliche Ekklesia das treibende Motiv der Kirchenbildung in der Neuzeit gewesen; eine Reformation ganz anderen Charakters und anderen Ursprungs hat gleichzeitig mit der modernen Sektenbewegung stattgefunden: die anglokatholische Restauration der altkatholischen Kirche (6). Sie konnte an die Tatsache anknüpfen, daß die anglikanische Kirche der Reformationszeit, zwar nicht theologisch, wohl aber institutionell, einen anderen Charakter hatte als diejenige der kontinental europäischen, indem sie wohl den Bruch mit der Papstkirche vollzog, im übrigen aber ihre hierarchische Struktur beibehielt. Die anglokatholische Bewegung des 19. Jahrhunderts konnte sich darum damit begnügen, lediglich die theologische Interpretation der bestehenden hierarchisch verfaßten Kirche dem Altkatholizismus anzugleichen, ohne im übrigen die Kirchenverfassung als solche zu verändern. Damit war — sofern diese Interpretation durchdrang — auch im Westen nunmehr eine altkatholische Kirche von großer Bedeutung entstanden, die in ihrem Selbstverständnis der griechisch-orthodoxen ähnlich ist. Daß aus der Ablehnung des Vatikanums durch eine Reihe von römisch-katholischen Bischöfen auch eine kontinentale altkatholische Kirche hervorging, soll nur eben noch erwähnt werden, da dieser kleinen

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Splitterkirche trotz ihrer geistlichen Lebendigkeit keine größere Bedeutung zukommen kann.

So stehen wir denn vor der Tatsache nicht nur einer Vielheit, sondern auch einer Vielfalt von Kirchen. In der neuesten Zeit ist nun freilich ein in umgekehrter Richtung wirkendes Motiv stärker hervorgetreten als jenes der imitatio ecclesiae, nämlich der Gedanke, daß die Vielzahl und Vielfalt der Kirchen als solche im Widerspruch stehe zur Ekklesia des Neuen Testaments. Wenn man mit dem Gedanken des Leibes Christi ernst macht, so ergibt sich mit Notwendigkeit die Verneinung einer Vielzahl der Kirchen. Die notwendigste aller kirchlichen Reformen, so sagt man hier, ist die Rückkehr zur Einheit der Kirche. Mit diesem religiös-theologischen Motiv verband sich nun aber ein dynamisch noch viel stärkeres, nämlich die Einsicht in die relative Ohnmacht einer in viele Kirchen zerteilten Kirche Christi und der Wunsch, durch eine Wiedergewinnung der Einheit das offenkundige Ärgernis der Vielheit zu beseitigen und der Kirche durch die Wiedervereinigung des Getrennten neuen Einfluß in der Welt zu verschaffen. Dies alles zusammen hat die stärkste kirchliche Bewegung der neuesten Zeit hervorgebracht, den Oekumenismus, der bereits eine Reihe praktisch sehr bedeutsamer Erfolge zu verzeichnen hat, unter denen der 1947 geschaffene Weltrat der Kirchen, der Zusammenschluß der Kirchen Südindiens und der „nationale Kirchenrat” der protestantischen Kirchen Amerikas die wichtigsten sind.

Damit stehen wir nun vor unserer eigenen Problematik. Was ist angesichts dieser ganzen Sachlage theologisch über die Kirche zu sagen? Was ist „die Kirche” und was ist auf Grund der Anerkennung der letztinstanzlichen Normativität des Schriftwortes (7) die „rechte Kirche” und ihre wahre Aufgabe?

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Zunächst ist eine objektive Feststellung nötig: alle diese verschiedenen Kirchen — die römisch-katholische so gut wie die Gesellschaft der Quäker — beanspruchen die wahre Kirche im Sinn des Neuen Testamentes zu sein. Jede dieser Kirchen beruft sich, wenn auch in verschiedener Weise, auf das Neue Testament und findet darin die Rechtfertigung ihrer besondern Art. Was ist von diesem Anspruch aller, von denen jeder, wörtlich genommen, mit dem des anderen unvereinbar ist, zu halten? Welches ist nun vom Neuen Testament aus gesehen die wahre Kirche? Als Antwort auf diese Frage ergibt sich aus allem bisher Gesagten, daß der Begriff der „wahren Kirche” in sich selbst unmöglich ist (8), sofern man als Norm der Wahrheit das Neue Testament anerkennt. Denn aus dem Neuen Testament ergibt sich, daß gerade die Kirchwerdung der Gemeinde Jesu, der Ekklesia, eine Wesensveränderung, eine Transformation in sich schließt, die mit der neutestamentlichen Wahrheit im Widerspruch steht. Das wird darin vor allem deutlich, daß diejenige Kirche, in der dieser Transformationsprozeß zu seinem Ende gekommen ist, die römische, sich als die einzige Kirche und damit selbstverständlich als die einzig und allein wahre Kirche ansieht. Gerade das, was sie zur kirchlichsten Kirche macht, macht sie auch notwendig zur exklusivsten. Ist die „wahre Kirche” diejenige, die das Element der Kirchlichkeit am vollkommensten ausprägt, dann ist die römische Kirche nicht nur die vollkommenste, sondern dann muß sie auch behaupten, die allein wahre Kirche zu sein. Daraus ergibt sich aber, negativ, daß in dem Maße, als einer Kirche ihre Kirchlichkeit wesentlich ist, sie an jener Entfremdung von der Ekklesia, die bei der römischen maximal ist, einen entsprechend großen Anteil hat.

Wie steht es nun mit diesem Anspruch der verschiedenen

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Kirchen — auch derjenigen, die für sich den Namen „Kirche” ablehnen — die wahre Kirche, die Ekklesia des Neuen Testaments zu sein?

Wir beginnen mit der — an weltlichen Maßstäben gemessen — größten und immer noch mächtigsten, mit der römischen Kirche. Sie behauptet die geschichtlich älteste zu sein, da sie sich in ungebrochener Kontinuität aus der Ekklesia der Apostelzeit entwickelt habe. Sie vergißt dabei, daß sie eine Rivalin hat, die ihr mit bestem Recht diesen Rang strittig macht, die griechisch-orthodoxe Kirche; auch diese ist ja bruchlos aus der Urkirche der Apostel herausgewachsen; daß sie sich von Rom getrennt habe, heißt natürlich von ihrer Seite aus betrachtet, daß Rom sich von ihr getrennt habe; und nicht nur das, sondern daß die römische Kirche nach ihrer Trennung von ihr sich in einer Weise transformiert habe, die einen Bruch mit der altkatholischen Tradition darstelle. Der Kirchenhistoriker wird schwerlich etwas gegen, sondern nur sehr viel für diese These zu sagen haben. Der Primat des römischen Papstes ist von der Ostkirche nie im römischen Sinne anerkannt worden, erst recht nicht in dem Sinne, in dem Rom ihn erst nach der Trennung entwickelte und definierte. Er ist eine Neuerung (9). Der römische Theologe wird zwar nicht verfehlen, diese Neuerung aus dem Petrusspruch des Herrn abzuleiten und die Geschichte des Papsttums als eine „organische Entfaltung” darzustellen (10).

Für die Kirchen des Westens besteht aber eine andere Sachlage. Sie können nicht ableugnen, daß sie alle gleichsam auf den Schultern der römischen Kirche stehen; im rein geschichtlichen Sinne sind auch alle reformatorischen und nachreformatorischen Kirchen ohne die anderthalb tausend Jahre westlicher Kirchengeschichte, die der Reformation voranging und die zum guten Teil eine Geschichte der

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römischen Kirche ist, weder möglich noch verstehbar. Auch die Reformatoren selbst waren ja getaufte römische Katholiken, ehe sie Reformatoren wurden. Und ihre Kirchengründungen — samt deren weiteren Abkömmlingen — verdanken dieser Kirche, die vor ihnen gewesen, die Bibel und die ganze christliche Tradition, ohne die keine von ihnen leben könnte oder entstanden wäre. Die Reformation war eine Kirchenreinigung, aber nicht ein Neuanfang. Die historische Kontinuität von den Jahren 30 bis 1500 ist der Lebensgrund auch der Reformationskirchen. Man kann darum nicht, ohne die Wurzel abzuschneiden, aus der man geworden, die römische Kirche nur unter negativen Aspekten beurteilen, mag man im übrigen noch so antirömisch sein. Aber auch abgesehen von diesem unleugbaren historischen Tatbestand: Wer möchte verneinen, daß auch die römische Kirche vom Evangelium Jesu Christi lebt, daß auch in ihr, trotz allen Transformationen, Elemente der urchristlichen Ekklesia vorhanden und wirksam sind, daß es in ihr echten Christusglauben und viel Christus- und Bruderliebe gibt; ja, dürfen wir Protestanten, die wir so scharf den Gegensatz zwischen dem römischen Kirchenapparat und der Ekklesia des Neuen Testamentes sehen, leugnen, daß auch in der römischen wie in anderen katholischen Kirchen Elemente der Ekklesia wirksam geblieben sind, die in der Reformations- und Nachreformationszeit in allzu weitgehender Reaktion abgestoßen wurden? So riesengroß der Abstand zwischen Rom und der Urkirche, so unbegründet ihr Anspruch ist die wahre, ja, die allein wahre Kirche zu sein — ihr jeden Zusammenhang mit der Ekklesia der Apostel abzusprechen, das ginge über das berechtigte Maß reformatorischer Kritik hinaus.

Aber nun hatten die Reformatoren, als köstlichstes Gut der Tradition, aus den Händen der römischen Kirche — die

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ja im Westen die einzige vor ihnen war — die Bibel, die Urtradition, erhalten und machten nun von dieser Urtradition den Gebrauch, zu dem sie als Kanon fixiert worden war: Sie gebrauchten sie als kritische Norm der bestehenden Kirche. Aus dieser Prüfung und aus der aus der Heiligem Schrift gewonnenen neuen Glaubenserkenntnis entstand die Reformation. Die Urtradition wurde zum Mittel der Reinigung des historisch Gewordenen; hätte sich die römisch-katholische Kirche diese Reinigung gefallen lassen, so wäre es zum Bruch kaum gekommen. Nicht die Reformation hat die Kontinuität zerbrochen, sondern die Unbußfertigkeit der Papstkirche, die das, was aus dieser legitimen Kritik an Erneuerung und Reinigung entstand, nicht in sich aufnehmen wollte, sondern von sich ausschloß. Luther ist nie aus der katholischen Kirche ausgetreten, er ist vom Papst aus ihr hinausgeworfen worden. Die Trennung geschah durch den Papst, nicht durch den Reformator. Auch das darf im Auge behalten werden, wenn man von der Wichtigkeit der ungebrochenen Tradition spricht!

Hat nun die Reformation die Ekklesia der Apostelzeit wiederhergestellt? Das unvergängliche Verdienst der Reformatoren ist es, wie niemand anders die Bedeutung des Wortes von Jesus Christus als Lebensgrund der Gemeinde erkannt zu haben. Unermeßlich ist das, was sie damit der Welt, was sie auch der römischen und allen katholischen Kirchen gaben. Denn diese schlechterdings alles entscheidende Bedeutung des Wortes war — nicht erst in der römischen, sondern auch schon vorher in der altkatholischen Kirche — vergessen worden. Die Reformatoren haben darum auch ihre Kirche ganz und gar vom Christuswort her verstanden — und haben damit einen gewaltigen Schritt über die Jahrhunderte hinweg zur Christusgemeinde der Apostelzeit hin getan; aber zu behaupten, daß die

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lutherische oder die calvinische Kirche mit der Ekklesia der Apostelzeit identisch sei, geht nicht an. Sie sind dies in umso geringerem Maße, als sie ihr Kirche-sein betonen.

Wo ist denn in diesen Reformationskirchen jene Einheit von Christusgemeinschaft und Brudergemeinschaft, die ja gerade das paradoxe Wesen der Ekklesia ist? Die lutherische — vielmehr melanchthonische — Definition der Kirche: „est autem ecclesia congregatio sanctorum, in qua evangelium recte docetur et recte administrantur sacramenta” enthält zwar entscheidende Einsichten in das Wesen der Ekklesia; aber niemand wird glauben, daß einer der Apostel darin die Ekklesia, wie er sie erlebt hatte, wiedererkennen würde.

Calvins großes geschichtliches Verdienst ist es, daß er es vermochte, die Kirchenreformation in der Weise durchzuführen, daß aus ihr — freilich nicht ohne entscheidende Mithilfe des Staates — selbständige, vom Staat unabhängige Kirchen hervorgingen, Kirchen, die auf eigenen Füßen standen. Durch seine kirchengestaltende Genialität hat er die Reformation gerettet und es den Reformationskirchen möglich gemacht, den ungeheuren Sturm der Gegenreformation zu überdauern. Die protestantische Welt des Westens ist von Calvin unvergleichlich viel stärker als von Luther geformt worden. Trotz alledem wird jeder, der gewillt ist, die Zeugnisse der Christusgemeinde im Neuen Testament zu sich reden zu lassen, den Anspruch Calvins, daß er die Ekklesia des Neuen Testaments wiederhergestellt habe, als unrichtig erkennen müssen. Wohl hat Calvin — zwar nicht Luther, aber — Melanchthon und die lutherische Orthodoxie bei weitem übertroffen darin, daß er dem Element der Gemeinschaft weit mehr Platz schuf und die Unzertrennlichkeit von Glaube und Liebe energischer betonte als dies im Luthertum, wo alles auf das rechte Bekenntnis und auf die Rechtgläubigkeit zugespitzt wurde, geschehen

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konnte. Daß aber die Verfassung, die er der Kirche Genfs gab und als die richtige Verfassung der Kirche theologisch lehrte, die des Neuen Testamentes sei, war ein exegetischer Irrtum und bedeutete tatsächlich die Rückkehr zum heiligen Kirchenrecht. Seine Gleichsetzungen: Pastoren = Apostel, Doctoren = Propheten, Presbyterium = die presbyteroi und die Diakonen = die diakonoi des Neuen Testaments, sind exegetisch völlig unmöglich, praktisch aber höchst bedeutsame Annäherungen an die neutestamentliche Ekklesiawirklichkeit.

Nicht wesentlich anders steht es, im Positiven wie im Negativen, mit den sogenannten Sekten oder Gemeinschaften, die als Nachzügler der Reformation entstanden. Sie alle entstanden aus dem Verlangen, der Ekklesia des Neuen Testaments näher zukommen als die großen Reformationskirchen, denen sie, nicht ohne gutes Recht, vorwarfen, daß sie den römischen Sauerteig nicht radikal genug ausgefegt haben. Vor allem machten sie diesen Kirchen den Vorwurf, daß sie das aus der römischen Kirche ererbte verhängnisvolle Bündnis mit dem Staat nicht gelöst und so das konstantinisch-theodosianische Erbe von ihr übernommen hüllen. Sie aber wollten wie die Gemeinde der Urzeit frei von den Fesseln des Staates als Gemeinschaften der wahrhaft Gläubigen sich bilden. Sie verwarfen den Grundsatz, cujus regio, ejus religio und die Unterstützung durch den Staat (11). Aber nun verfielen sie ihrerseits dem leicht verständlichen Irrtum Calvins; sie glaubten in der Ekklesia des Neuen Testaments eine Ordnung, also ein heiliges Kirchenrecht zu entdecken, das durch möglichst genaue Nachbildung imitiert werden könne; sie konstituierten sich aber gleichzeitig alle auf privatrechtlicher, vereinsmäßiger Basis. Sie glaubten also in ihrer Weise an ein heiliges neutestamentliches Kirchenrecht und verbanden dieses mit weltlichem

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Recht. Dabei soll aber nicht abgestritten werden, daß in ihnen manches von dem, was der neutestamentlichen Ekklesia das Gepräge gegeben hatte, stärker oder reiner vorhanden ist als in den Reformationskirchen. Insbesondere ist es das Gemeinschaftselement, die Bruderschaft und dementsprechend die enge Beziehung von Christusglaube und praktischer Lebenswirklichkeit, die den „Sekten” oder „Gemeinschaften” gegenüber allen „Kirchen” eignen und die ihnen gerade heute, in einer Zeit, wo die Menschen nach Gemeinschaft hungern wie noch nie, ihre Anziehungskraft geben. Um die Extreme einander gegenüberzustellen: Die „Gesellschaft der Freunde”, die Quäker, stehen in dieser Beziehung der Ekklesia unvergleichlich näher als die Kirche Roms. Anderseits aber hat sogar Rom, vor allem aber haben die altkatholischen Kirchen gerade in ihrem Gewichtlegen auf die Sakramente und auf die Liturgie etwas Entscheidendes von der Ekklesia her bewahrt, das den „Quäkern” fast völlig abhanden gekommen ist.

So kommen wir, als Resultat unserer kritisch-historischen Untersuchung, zu dem Schluß, daß keine der vorhandenen Kirchen oder „Sekten” den Anspruch erheben kann, die Ekklesia der Apostelzeit zu sein, während anderseits keine von ihnen ohne wesentliche Elemente der Ekklesia ist, die bei anderen fehlen. Das von der griechisch-orthodoxen und römischen Kirche betonte Moment der ungebrochenen historischen Kontinuität von der Apostelzeit her ist, in der Tat, eine gewaltige Realität; aber sie ist überdeckt durch die Tatsache, daß diese Kontinuität zugleich eine Transformation der Ekklesia ist, deren Resultat mit dem Ursprünglichen nur noch geringe Ähnlichkeit hat. Die Kirchen der Reformation können für sich in Anspruch nehmen, daß sie in ihrer Lehre derjenigen des Neuen Testaments am nächsten kommen und daß die Lehre entscheidend

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sei; aber die reine Lehre — ganz abgesehen davon, daß sie als Orthodoxie gerade nicht neutestamentlich ist — ist, losgelöst von der kirchlichen Wirklichkeit und der Bruderschaft in Christus, ein Element der Ekklesia, aber nicht diese selbst. Ebenso leiden alle Versuche der postreformatorischen „Sekten” unter dem Mißverständnis, daß die Ekklesia des Neuen Testaments imitierbar sei.