Es beruht auf keinem Irrtum, sondern ist im Gegenteil dem Wesen des Evangeliums entsprechend, wenn viele Kirchen auf die Tradition größtes, entscheidendes Gewicht legen. Das Ernstnehmen der Tradition gehört zum Evangelium selbst. Wir müssen uns aber bewußt sein, daß man Tradition in sehr verschiedenem Sinne verstehen kann. Wir können in der Kirchengeschichte drei Traditionsbegriffe unterscheiden, die einen gänzlich verschiedenen Inhalt haben, und deren Beziehung zur Christusoffenbarung je eine verschiedene ist: den urchristlich-neutestamentlichen,
|40|
den altkatholischen und den neukatholisch-römischen.
Wir haben von ihnen gesondert zu handeln.
Mit der Offenbarung Gottes in der einmaligen Geschichtstatsache: Jesus Christus, ist die Tradition als Notwendigkeit gegeben. Dieses geschichtlich Einmalige, das mit der Heilsoffenbarung eins ist, muß den späteren Generationen übermittelt werden, damit sie am Heil teilhaben können. Die Paradosis, die traditio, gehört darum zum Evangelium selbst; Evangelium verkünden heißt notwendigerweise immer auch das Geschehene überliefern 1). Ohne Tradition kein Evangelium. Damit, daß das Wort Fleisch ward, damit, daß die ewige Gotteswahrheit sich in geschichtlicher Gestalt offenbarte, ist die Tradition als die unentbehrliche Vermittlung des Offenbarungsgeschehens gesetzt. Ist mit Tradition dies gemeint, dann besteht von vornherein kein Gegensatz zwischen Schrift und Tradition, zwischen mündlichem und schriftlichem Weitergeben des in Christus Geschehenen und von Christus Empfangenen. Im Gegenteil. Wenn es darum geht, etwas geschichtlich Geschehenes möglichst getreu durch die Zeiten hindurch zu bewahren, ist die schriftliche Fixierung das ausgezeichnete Mittel der Tradition. Sofern es sich also um das mit der Offenbarung gegebene kontingente Geschichtsfaktum handelt, ist die schriftliche, fixierte Überlieferung, der Kanon des Neuen Testamentes als das „Urzeugnis”, das maßgebliche Mittel der Tradition. Alle spätere Tradition muß sich daran bewähren, daß sie mit dieser Urtradition übereinstimmt; der Kanon ist die „Regel”, die Norm der
1) vgl. d. Stellen zu paralambanein und paradosis.
|41|
Tradition. Gewiß ist es wahr, daß die mündliche Tradition vor der schriftlichen war. Ja, es ist auch wahr, daß in diesem Sinn die Ekklesia vor der Schrift war. Das Neue Testament ist von der Urgemeinde hervorgebracht worden. Das ändert aber nichts daran, daß diese schriftlich fixierte Tradition der Maßstab aller späteren mündlichen Tradition sein und bleiben muß; denn ohne sie besteht keine Gewähr, daß nicht auch dem christlichen Evangelium das Schicksal beschieden wäre, das zum Beispiel der Lehre Zarathustras oder derjenigen Buddhas zuteil wurde, daß nämlich im Lauf der mündlichen Überlieferung daraus etwas völlig anderes wurde. Wem es darauf ankommt, daß das Christusgeschehen selbst als das Entscheidende uns, den Späteren in seiner ursprünglichen Wahrheit überliefert werde, der wird der schriftlichen Tradition diese normative Überordnung über alle mündliche Tradition zusprechen müssen, gerade um der Echtheit der Tradition willen.
Nun hat aber die aus der Gemeinde Jesu sich entwickelnde Kirche eine zweite, ganz anders geartete Sicherung der Echtheit der Tradition, das heißt der Bewahrung des Ursprünglichen zu schaffen versucht; sie hat nicht nur den Kanon des Neuen Testaments als das normative Urzeugnis zusammengestellt und abgegrenzt, sondern sie schuf als Garanten der Echtheit der Tradition das auf die Apostel zurückgeführte Bischofsamt. Das Motiv dieser neuen Traditionsgarantie ist ohne weiteres verständlich aus dem Kampf der Alten Kirche gegen die wild ins Kraut schießenden gnostischen Häresien. Gegen sie galt es einen Damm zu errichten, und die Kirche — so müssen wir die Gemeinde Jesu Christi in diesem Zeitpunkt bereits nennen — glaubte, einen solchen aufrichten zu können durch das apostolische
|42|
Bischofsamt. So war der Traditionsgedanke eines Irenäus am Ende des zweiten Jahrhunderts gemeint. Die ungebrochene Reihenfolge der als Bischöfe von der Gemeinde öffentlich anerkannten Lehrer, deren erstes Glied die Apostel selbst bilden, sind die sicherste Gewähr für die Kontinuität der apostolischen Lehre. Aber dieses Garantiemittel war von fraglicher Tauglichkeit und erwies sich später — wie wir sehen werden — als gefährlich für gerade den Zweck, für den es geschaffen wurde. Auch gesetzt der Fall, daß die lückenlose apostolische Sukzession der Bischöfe nachgewiesen werden konnte — was trotz Hegesipps Bischofslisten reichlich zweifelhaft ist — wer garantierte denn, daß die so in ungebrochener Ordinationsfolge bestimmten Beschöfe wirklich Träger der ursprünglichen apostolischen Lehre seien (1)? Hier fand offenbar eine, zwar leicht verständliche und naheliegende, aber trotzdem bedenkliche Verschiebung des Traditionsverständnisses statt. Das Prinzip der Tradition als Kontinuität der Sache, der Wahrheit, wurde vertauscht mit dem Prinzip der Kontinuität der Amtsnachfolge oder der Legitimität.
Diese Verschiebung im Begriff der Kontinuität wurde natürlicherweise nicht beachtet, weil es ja in der Tat wahrscheinlich war, daß die von den Aposteln als Träger der ihnen anvertrauten Botschaft Ausgewählten für deren treue Überlieferung eine größere Gewähr boten als irgend welche andere Personen; diese Wahrscheinlichkeit aber nahm mit jeder späteren Generation ab bis zum Nullpunkt von Garantie. Je weiter man sich vom geschichtlichen Ursprung entfernte, desto weniger bot die Kontinuität der Amtsnachfolge Gewähr für die Kontinuität der Sache selbst, der von den Aposteln her überlieferten Botschaft. Wenn wir auch supponieren, daß alle in dieser Kontinuität des Amtes stehenden subjektiv der Meinung waren, daß sie
|43|
nichts anderes lehren, als was von Anfang die Apostel gelehrt hatten, so beweist doch die Vergleichung der Lehre der Kirche des zweiten mit der des fünften oder gar des elften Jahrhunderts, daß diese subjektive Meinung objektiv nicht richtig war. Die Lehre hat sich geändert.
Die Kirche selbst konnte sich dieser Erkenntnis nicht völlig verschließen. Sie hat sich aber vor sich selbst und vor der Welt dadurch zu rechtfertigen gesucht, daß sie — vielleicht nie deutlich bewußt — mit dem Gedanken der Tradition im ursprünglichen Sinn, das heißt als Bewahrung des Anfänglichen verstanden, einen zweiten, ganz andersartigen Gedanken verband, der jedenfalls im heutigen Traditionsbegriff der katholischen Kirchen immer mitgedacht ist: den Gedanken der Entfaltung eines ursprünglich nur keimhaft Gegebenen zu seiner vollen expliziten, sozusagen ausgewachsenen Gestalt. Vermittelst dieser Idee war es möglich, das Neue mit dem Alten zu identifizieren, ohne doch eine gewisse Neuheit leugnen zu müssen. Was ist von diesem neuen Traditionsverständnis zu halten?
Auch vom Standpunkt des rigorosesten Biblizismus ist grundsätzlich dagegen nichts einzuwenden. Sehen wir doch gerade im Neuen Testament diesen Prozeß der Entfaltung eines anfänglich erst keimhaft Gegebenen zu seiner vollen Konsequenz. Ja, noch mehr; der Herr selbst hatte seinen Jüngern die Verheißung gegeben, daß der Heilige Geist „sie in alle Wahrheit leiten” 2) würde. Und auch die Apostel hatten oft genug ihren Gemeinden gegenüber die Hoffnung und Erwartung ausgesprochen, daß sie in der Erkenntnis wachsen mögen 3). Es ist eine völlig unbegründete Behauptung, daß dieses Prinzip der Entwicklung der Alten Zeit gefehlt habe und erst in der Neuzeit entdeckt oder
2) Joh. 16, 13.
3) Kol. 1, 11; Eph.4, 15.
|44|
angewandt worden sei. Auch die Alten wußten vom natürlichen Wachsen, auch sie wußten, daß aus dem Samen der Baum, daß aus dem Kind der Mann wird, und diese Idee der wachstümlichen Entfaltung ist auch dem Neuen Testament durchaus nicht fremd.
Überdies macht ja jeder Prediger, der einen Text „auslegt”, von diesem Gedanken Gebrauch. Er setzt voraus, daß im Text etwas mehr oder weniger verdeckt enthalten sei, was erst durch Auslegung oder explicatio aus der Latenz in die Klarheit der Erkenntnis erhoben werde. Daß dieser Vorgang tatsächlich innerhalb des Neuen Testamentes selbst in bedeutsamster Weise und an entscheidenden Punkten vor sich ging, bestreitet heute wohl kaum ein Neutestamentler, der etwa das „primitive” Christuszeugnis der jerusalemischen Urgemeinde mit dem theologisch entwickelten des Paulus oder Johannes vergleicht. Warum sollte aber, was im Neuen Testament selbst rechtmäßigerweise geschah, nicht auch in der Kirche geschehen dürfen? Wir müssen noch einen Schritt weiter gehen und sagen: Dieser Vorgang der Entfaltung hat sich tatsächlich in der Lehrentwicklung der Kirche abgespielt. So ist zum Beispiel die Lehre von der Gottmenschheit Christi und die Lehre von der Trinität im Neuen Testament wohl keimhaft vorhanden, aber erst durch die spätere theologische Reflexion entwickelt oder entfaltet worden. Es wäre darum ein bornierter, gerade vom Neuen Testament aus unbegründeter Biblizismus, diesem Gedanken der Entfaltung des Keimhaften zur Vollgestalt das Recht absprechen zu wollen.
Die alte Kirche hat dieses Prinzip jedenfalls vollkommen gutgläubig gehandhabt und hat der Formel des Vinzenz von Lerinum als dem, was sie selbst glaubte, zugestimmt: Echte apostolische Lehre ist quod semper et ubique et ab omnihus creditum est. Und sie hat den Nachweis der
|45|
Identität des jetzt Gelehrten mit dem von den Aposteln Verkündeten vornehmlich mit dem Mittel geführt, mit dem schon die urchristliche Kirche die Identität ihrer Lehre mit der des Alten Testamentes bewies: durch den „Schriftbeweis”.
So berechtigt aber an sich dieser Gedanke der Eni Faltung ist, so ist er doch nicht ungefährlich. Denn nur allzu leicht geschieht es, daß mit Hilfe dieses Begriffes eine Identifizierung ganz anderer Art geschieht: Die Gleichsetzung des Nichtgleichen, die Gleichsetzung des sich Widersprechenden. Mit dem Geschehnis der „Entfaltung” konnte also ein Prozeß ganz anderer Art leicht verwechselt werden, der der Umbildung, der Transformation. Dieses quid pro quo konnte aber um so leichter eintreten, als sich dieser Umbildungsprozeß langsam, stetig, in kleinen, kaum merklichen Schritten vollzog. Man kann auch in solchen kleinsten Schritten der Abweichung durch deren Summation zum Entgegengesetzten kommen. Die Kontinuierlichkeit dieser Abweichungsbewegung und ihre Unmerklichkeit dank der kleinen Schritte der Abweichung ändert an der Tatsache nichts, daß ihr Endresultat das Entgegengesetzte, das mit dem Anfänglichen Unvereinbare sein kann. Und gerade das ist es, was neben dem Prozeß der Entfaltung in der alten Kirche tatsächlich, aber aus dem angegebenen Grund um bemerkt vor sich ging.
Und nun hängt diese Tatsache gerade mit jener ersten Verschiebung im Traditionsprinzip zusammen: mit der Identifikation der Kontinuität der Amtsnachfolge oder Legimität mit der Kontinuität im Sinn der Bewahrung des Ursprünglichen. Die sichtbare Kontinuität der Amtsnachfolge, der geordnete Ordinationsgang, die konstatierbare Sukzession im Sinn der Legitimität erzeugte den Schein einer sachlichen Kontinuität. Nicht nur das, sondern es mußte, nachdem einmal Tradition und Amt in dieser Weise
|46|
zur Deckung gebracht waren, mit Notwendigkeit die Fiktion entstehen, daß es in einer so amtlich gesicherten Kirche mit der Kontinuität im sachlichen Sinne in der Ordnung sein müsse. Die Amtskontinuität schien die Überprüfung der Sachkontinuität überflüssig zu machen, ja, sie wußte diese mehr und mehr als Möglichkeit auszuschalten. Der Glaube an die apostolische Sukzession der Bischöfe schien genügend Gewähr zu bieten, um auch ohne solche sachliche Prüfung das semper et ubique zu garantieren. Das Amt wurde zur ungeprüften, zur unprüfbaren Wahrheitsgarantie.
Noch ein weiterer Fehlgedanke, der mil dein bisher Ausgeführten nahe verwandt und doch nicht identisch ist, ist zum Verständnis des Altkirchlichen Traditionsbegriffs notwendig. Es ist ein oft zu beobachtender — auch im modernen Evolutionismus wirksamer — Denkfehler, zu meinen, das was sich langsam, kontinuierlich, schrittweise, „wachstümlich” verändere, verändere sich in Wirklichkeit überhaupt nicht, sondern bleibe dasselbe. Also im hl mir bleibt infolge der Unmerklichkeit der Veränderung diese selbst, unbemerkt, sondern es kommt zu diesem psychologischen Versagen noch ein logisches hinzu, die Verwechslung zweier Dinge. Vielleicht ist dieser Denkfehler weniger in der Alten Kirche selbst wirksam gewesen als in der modernen Erneuerung altkirchlichen Denkens, die ihrerseits notorisch mit der Romantik im Zusammenhang steht, die von diesem verhängnisvollen Begriff der Wachstümlichkeit. stärksten Gebrauch machte (2). Dasselbe gilt von einem letzten Gedanken, der ebenfalls im heutigen katholischen Denken — mehr als im altkirchlichen — eine bemerkenswerte Rolle spielt: nämlich von der Einführung des Providenzbegriffes in die Bewertung der Entwicklung. Gott hat es so geordnet, mindestens so zugelassen, also wird es damit wohl seine
|47|
Richtigkeit haben. Diese Verwendung des Providenzgedankens hat in der Bibel keinen Anhaltspunkt, sondern stammt aus einer ganz anderen geistigen Gegend: Er ist eine Abwandlung des Hegelschen Prinzips „Alles Wirkliche ist vernünftig”. Es ist also ein metaphysisch-religiös begründeter Evolutionismus, der den geschichtlichen Prozeß als solchen im Sinn der Kontinuität der Wahrheit wertet. Daß man auf diese Weise jede Ketzerei „rechtfertigen” kann, wenn sie sich nur kontinuierlich-stetig entwickelt und nicht revolutionär sprunghaft auftritt, versteht sich von selbst. Dieser Gedanke enthält nicht weniger in sich als die Demission des Wahrheitssinnes vor dem geschichtlichen Prozeß im Zeil alter des Marxismus wahrhaftig weder ein unbekanntes noch ein ungefährliches Phänomen.
Wir sehen also im altkatholischen Traditionsbegriff eine Reihe völlig heterogener Elemente wirksam, die aber durch das eine Zauberwort Tradition zusammengehalten werden: Tradition im Sinn der Bewahrung des Ursprünglichen, wie im Urchristentum; Tradition im Sinn der kirchlich legitimen Amtsfolge; Tradition im Sinn der wachstümlichen Entfaltung; Tradition im Sinn der Gleichsetzung von Entfaltung und schrittweiser Umbildung; Tradition im Sinn des kontinuierlich geschichtlichen Werdens Überhaupt. Was aber den altkatholischen mit dem urchristlichen Gedanken der Tradition durch alles hindurch verbindet, das ist die bona fides der Meinung, es handle sich wirklich um den consensus der Kirche aller Zeiten im Sinn der Formel des Vinzenz von Lerinum. Das ist es nun, was den altkatholischen Traditionsgedanken vom neukatholischen trennt (3).
Das, was in der Mitte des zwölften Jahrhunderts in der westlichen, der römischen Kirche, sich ereignete, ist
|48|
erstaunlich wenig bekannt, obschon es von ungeheuerster Tragweite ist. Dem ist darum so, weil in der nichtrömischen Christenheit die Theologen meist nicht genug von der Jurisprudenz und die Juristen nicht genug von der Theologie verstehen, um gerade das zu begreifen und zu ermessen, was damals in der römischen Kurie vor sich ging.
Bis zu jenem Zeitpunkt war es so, daß „das kanonische Recht in den Händen der Theologen war” (4); darin kommt das Wesen des altkatholischen Rechts zum Ausdruck, „daß seine Wissenschaft nicht juristische, sondern theologische Wissenschaft ist” (5).
Denn das kanonische Recht ist, bis dahin, „das Recht der Sakramente” (6). „Kirchenverfassung und Kirchengewalt sind Ausstrahlungen des Rechts vom Sakrament der Ordination” (7). Was geschieht nun in jenem Zeitpunkt?
Ein Doppeltes. Erstens, in die Kurie dringen die am römischen Recht geschulten Juristen ein. Sie denken in den Kategorien des römischen Rechts, des corpus juris civilis. Und dies erweist sich, zweitens, darin, daß sie zur Wesensbestimmung der Kirche einen Begriff einführen, der der alten Kirche bis dahin unbekannt war, aber nunmehr das Ganze der Kirche und des Denkens von der Kirche bestimmt: den Körperschaftsbegriff. Die Kirche ist nicht mehr die — in den Bischöfen repräsentierte — Christenheit, sondern die vom Papst regierte Körperschaft Kirche. Von nun an wird „das kanonische Recht von den Trägern der Kirchengewalt gemacht” (8), gerade wie das weltliche Recht von den Trägern der Staatsgewalt. Der Papst wird Gesetzgeber, indem er die potestas jurisdictionis bekommt. „Die Kirche Gottes ist nach der Art des Staates verfaßt”. „Sie bringt ihr Recht kraft ihrer körperschaftlichen Organe hervor” (9). „Im Neukatholizismus ist eine neue (juristische) Person zwischen Christus und die Christenheit
|49|
getreten: die Kirche als Körperschaft. . . . Die von Christus regierte Kirche Christi ist nicht mehr die Christenheit, sondern nur noch die Kirche als Körperschaft . . . Christus herrscht in seiner Christenheit nur noch durch das Mittel der Kirche, das heißt der kirchlichen Körperschaft” (10). „Das neukatholische Recht ist grundsätzlich Gesetzesrecht, kraft körperschaftlicher Gewalt gültig, ohne Rücksicht auf den Consensus ecclesiae”. „Die Unfehlbarkeit der Kirche als Christenheit verwandelt sich in die Unfehlbarkeit der Kirche als Körperschaft” (11). Autoritäre Lehrfeststellung erfolgt durch das Mittel der kirchlichen Gesetzgebung.
Es hat sechs Jahrhunderte gedauert, bis dieses neue Selbstverständnis der Kirche sich vollständig und bis aufs letzte konsequent auszuprägen und durchzusetzen vermochte. Die wichtigsten Schritte auf diesem Wege sind: das tridentinische Konzil, auf dem die sine scripto traditiones der heiligen Schrift gleichgestellt wurden und damit die Schrift, das Apostelzeugnis, durch eine andere Quelle der Erkenntnis nicht nur ergänzt, sondern faktisch als Letztinstanz ausgeschaltet wurde; das vatikanische Konzil, in dem auch die Tradition gerade wie die Schrift als Letztinstanz faktisch ausgeschaltet wird durch die Lehrgewalt, des Papstes. „Was die Schrift lehrt, das zeigt die Tradition, so dekretiert das Tridentinum; was die Tradition ist, lehrt die Kirche — so will es das Vaticanum” (Loofs) (12). Der letzte Schritt auf diesem Wege ist der vollendete Codex juris canonici von 1918, in dem alles in der Kirche, Lehre und Leben, dem Papst unterstellt wird und das gesamte Dogma Teil der päpstlichen potestas jurisdictionis wird. Der Papst ist nicht mehr gebunden an das in der Kirche von altersher Geltende, er kann Neues schaffen. Er ist nicht mehr gebunden an den consensus der Kirche; vielmehr heißt es ausdrücklich, daß er ex sese, aus sich selbst, non
|50|
autem ex consensu ecclesiae (13), ohne auf ein Konzil, ohne auf die Gesamtheit der Bischöfe Rücksicht nehmen zu müssen, Dogma kreieren kann, kraft seiner unbegrenzten absoluten potestas jurisdictionis, die sich über das ganze Gebiet der Lehre und des Lebens erstreckt.
Natürlich mußte die Kirche dieser neuen Sachlage einen solchen Ausdruck geben, der wiederum das Alte mit dem Neuen zu verbinden schien. Sie bediente sich dazu eines geradezu genialen Mittels. Schrift und Tradition mußten als normative Größen bewahrt bleiben, und gleichzeitig sollte dem Papst die unumschränkte potestas juridictionis eingeräumt werden. Beides wurde kombiniert, indem erklärt wurde, daß der Papst der allein maßgebende Ausleger der Schrift und der allein maßgebende Kenner und Ausleger der Tradition sei. Tradition ist nunmehr nicht mehr das, was jedermann bisher unter Tradition verstand: eine' vorhandene Kette von Zeugnissen, die die Gegenwart lückenlos mit der ältesten Vergangenheit verbindet. Tradition ist vielmehr jetzt etwas, das der Papst allein kennt und was er souverän handhabt. „Die Gegenwart hat Macht über die Vergangenheit” (14). Es ist jetzt de jure so, wie Papst Pius IX erklärte: La traditione son Io. Ich, der Papst, bin die Tradition. Was der Papst als Tradition erklärt, das ist Tradition, das muß jeder katholische Christ als Tradition anerkennen und glauben, auch wenn keine Spur von einer solchen Tradition vorhanden ist. Dieses Nichtvorhandensein von Tradition im gewöhnlichen Wortverstand kann keine Verlegenheit bereiten; denn der Papst allein hat die maßgebende Einsicht in die Tradition. Was er als Tradition erklärt, muß als solche, bei Androhung des Verlustes der Seligkeit, geglaubt werden.
Das heißt nun aber: Was mit dem Bischofsamt als dem Garanten der ursprünglichen, apostolischen Wahrheit
|51|
begann, das ist hier zu seinem logischen Ende gekommen. Die Institution hat über die Tradition gesiegt. Die Institution gewährleistet als solche die apostolische Wahrheit. Der Begriff der Tradition ist seinem Sinn gänzlich entfremdet. Tradition ist nicht mehr die bis zum Ursprung zurückreichende Zeugniskette, sondern eine Fiktion. Sie ist ein stiller Reservefonds der Kirche, aus dem jeweils die fehlende biblische „Deckung” ergänzt wird, ein Reservefonds, über den ganz allein der Papst zu verfügen hat und über dessen Verwendung ihn niemand zur Rechenschaft zu ziehen vermag. Seit dem Tridentinum ist jede Berufung auf die Schrift unwirksam gemacht durch den Gedanken der die Schrift ergänzenden — und faktisch eventuell ausschaltenden — Tradition. Seit dem Vaticanum ist auch jede Berufung auf wirkliche Tradition unwirksam gemacht durch den Gedanken, daß der Papst allein die Tradition maßgeblich kennt. Der Papst hat nicht nur das Recht, sondern er hat die kirchenrechtliche Pflicht, jede kritische Rückfrage, die sich auf Schrift oder auf Tradition stützt, als unerlaubt niederzuschlagen und den, der dabei beharrt, zu exkommunizieren. Nicht nur die Schrift, sondern auch die Tradition ist ausgeschaltet durch die ungebundene absolute potestas jurisdictionis des höchsten kirchlichen Amtes (15). Das Amt allein gewährleistet die Übereinstimmung der jetzt geltenden mit der ursprünglichen apostolischen Lehre.
Aus diesen Darlegungen dürfte zu erkennen sein, wie aussichtslos es ist, zwischen Protestanten, nicht-römischen und römischen Katholiken über Recht und Unrecht „der Tradition” zu diskutieren, da alle drei unter Tradition je etwas anderes verstehen. Es mag sich paradox anhören, aber es ist so: Den strengsten Traditionsbegriff hat die reformatorische Theologie; er ist identisch mit demjenigen der Urchristenheit. Die Reformatoren sind die eigentlichen
|52|
Traditionalisten; sie meinen es mit der Tradition im Sinn der Bewahrung des Ursprünglichen am ernstesten. Den laxesten Traditionsbegriff haben die römischen Katholiken; sie schalten jede Prüfung gegebener, geltender Lehre an der Lehre der Apostel kirchenrechtlich aus. Niemand ist zu solcher Prüfung berechtigt als der, der dazu am wenigsten geeignet ist, der Vertreter, ja Schöpfer der jeweils geltenden Lehre. Zwischen diesen beiden stehen die altkatholischen Kirchen mit ihrem gemischten Traditionsbegriff. Da sie — das unterscheidet sie ja vom römischen Katholizismus — die prüfende Rückfrage von der geltenden Lehre auf wirkliche Tradition und von der wirklichen Tradition auf die Schrift noch nicht durch das Dogma von der Alleinberechtigung des kirchlichen Amtes, die Schrift und die Tradition maßgeblich auszulegen, ausgeschaltet haben, ist zwischen ihnen und den Protestanten noch immer ein Gespräch möglich. Ja mehr noch: Da sowohl sie das Schriftprinzip wie auch die Protestanten das Prinzip der Entfaltung anerkennen, ist weitgehend Verständigung immer wieder möglich. Die Protestanten werden dabei das Schriftprinzip besonders unterstreichen, die Katholiken das Entfaltungsprinzip, aber keiner mit Ausschluß des anderen. Sie beide glauben an Schriftnorm und Entfaltung; sie beide aber können zu dem, was der römische Katholik unter Tradition versteht, nur nein sagen. Denn hier ist Tradition nicht mehr das Zeugnis der Geschichte, sondern die Verfügungsgewalt des Papstes über die vergangene Geschichte.