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Wir haben den Versuch gemacht, in wenigen Strichen einen Gesamtüberblick über die Grundlagen des reformierten Kirchenrechts zu bieten und an die seit einigen Jahrhunderten beinahe ganz unterbrochene theologische Behandlung des reformierten Kirchenrechts wieder anzuknüpfen. Nicht eine abschliessende, sondern vielmehr eine einleitende Abhandlung wollten wir schreiben. Wir möchten darum am Schlüsse noch auf eine Reihe von Aufgaben hinweisen, die der Lösung harren.
1. Vor allem bedarf das allgemeine Kirchenrecht noch einer eingehenderen Darstellung, als es in dieser gedrängten Form möglich war. Es wird notwendig sein, einzelne Fragen gesondert und ausführlich zu behandeln. Die Möglichkeit, auf ältere und neuere Literatur zurückzugreifen, wird sich dabei viel öfter ergeben, als es für diese Bearbeitung der Gesamtzusammenhänge der Fall war, sind doch von theologischer und juristischer Seite manche dieser Fragen schon eingehenden Untersuchungen unterworfen worden.
Ferner wartet das besondere reformierte Kirchenrecht noch vielfach auf seine Bearbeitung, insbesondere in dem von uns postulierten Sinne. Die Zeit drängt immer mehr zur Trennung von Kirche und Staat. Dies fördert die Besinnung der Kirche auf ihr eigenes Kirchenrecht, nachdem sie es lange Zeit dem Staate überlassen hat.
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Endlich bedarf die Geschichte des reformierten Kirchenrechts noch sehr der Abklärung, speziell in der Schweiz. Dabei ist sowohl die Geschichte der Kirchenrechtswissenschaft als auch des geltenden Kirchenrechts zu behandeln. Von grossem Interesse wäre es, historisch die dogmatischen Linien des reformierten Kirchenrechts auch vor die Reformationszeit zurückzuverfolgen. Es muss möglich sein, vor der Reformation im römischen Katholizismus auch die Linien des reformierten Kirchenrechts wenigstens in einzelnen Ueberresten aufzuweisen.
2. Eine weitere Aufgabe, die wir bereits angedeutet haben, ist die Behandlung des reformierten Naturrechtes und der Beziehungen, die sich daraus für die Kirche ergeben. So müsste einmal das reformierte Naturrecht im engeren und weiteren Sinne allgemein dargestellt werden, ferner die Beziehungen zwischen Kirche und Staat, und endlich das Verhältnis von Familie und Kirche, das reformierte Eherecht, das Schul- und Erziehungsrecht usw.
3. Trotzdem wir grundsätzlich alle vergleichenden Auseinandersetzungen ausgeschaltet haben für unsere Studie, so möchten wir doch auf die grosse Bedeutung des Vergleiches hinweisen. Schon im besonderen Kirchenrecht werden vergleichende Untersuchungen viel Interesse bieten, nicht nur in organisatorischer, sondern auch in dogmatischer Hinsicht. Ganz besonders möchten wir eine Aufgabe nennen, der bisher noch wenig kirchenrechtliche Beachtung geschenkt worden ist: nämlich die Darstellung und Vergleichung des Kirchenrechts der verschiedenen neuen durch die Missionsarbeit
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gegründeten Kirchen. Gerade hier stellen sich eine Fülle von Fragen, die für das besondere und allgemeine Kirchenrecht von Tragweite sind.
Aber auch im allgemeinen Kirchenrecht wird eine vergleichende Untersuchung, die bisher mit seiner, Behandlung selbst etwas vernachlässigt worden ist, viel zur Abklärung einzelner Fragen und Zusammenhänge beitragen. Wir denken vor allem an eine Gegenüberstellung des römischen und des reformierten Kirchenrechts in ihren dogmatischen Grundlagen und an ein Aufsuchen etwaiger korrelativer Erscheinungen. Ferner hat das Luthertum ein eigenartiges Kirchenrecht hervorgebracht. Auch der Anglikanismus und die orientalischen Kirchen weisen besondere Kirchenrechtslehren auf. Gerade in den modernen Bestrebungen nach Kircheneinigung wäre es vom grösstem Werte, zu untersuchen, inwiefern in den dogmatischen Grundlagen übereinstimmende Elemente zu finden sind. Wir sind überzeugt, dass sich die Differenzen als weniger unüberbrückbar erweisen werden, wenn nach den letzten dogmatischen Voraussetzungen gefragt wird.
Dass auch die Behandlung: des reformierten Naturrechts eine Menge von dogmatischen und historischen Vergleichungen, besonders mit den mittelalterlichen Naturrechtslehren einerseits und denen der Aufklärung anderseits, fordert, möchten wir hier nur andeuten.
Das reformierte Kirchenrecht haben wir als eine theologische Disziplin bezeichnet. Es bleibt uns zum Schlüsse noch übrig, einen Blick auf seine Stellung in der Rechtswissenschaft zu werfen. Trotz seinem theologischen Wesen ist das reformierte
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Kirchenrecht berufen, auch weiterhin für den Juristen von Interesse zu sein.
Das Kirchenrecht ist nicht eine Erscheinung, die in der Welt keine Rolle spielt, sondern gerade in einer religiös regsamen Epoche verlangt es auch seine Beachtung. Es kann in Berührung, manchmal auch in Konflikte treten mit dem weltlichen Rechte. So hat denn der Jurist schon aus weltlich-rechtlichem Interesse heraus sich oft auch mit dem Kirchenrecht zu befassen. Nur dann, wenn das weltliche Recht seine formalen Ordnungen entsprechend den Forderungen der Billigkeit jeder Lebenserscheinung geltend macht, nur dann erfüllt es seine sittliche Aufgabe. Wie der Gesetzgeber nur dann im wirtschaftlichen Leben eine gerechte und billige Ordnung schaffen kann, wenn er die Lebensbedingungen des Wirtschaftslebens und seine Gesetzmässigkeiten kennt, so kann auch nur dann der Gesetzgeber Recht setzen und der Richter Recht sprechen in Fragen des religiösen oder kirchlichen Lebens, das den Forderungen der Billigkeit entspricht, wenn er die Lebensbedingungen und die Gesetzmässigkeiten des religiösen und kirchlichen Lebens kennt.
Aber nicht nur als Gegenstand, der mit dem weltlichen Rechte in Berührung tritt, ist das reformierte Kirchenrecht für den Juristen von Interesse, sondern unmittelbar. Er bedarf der Schulung im rein formal-juristischen Denken, wobei der materielle Inhalt des Rechtes in seiner Bedeutung zurücktritt und nur das formal-juristische Interesse im Vordergrund steht. Auch das reformierte Kirchenrecht ist geeignet, dieser formal-juristischen Schulung zu dienen.
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Das Interesse des Juristen kann aber über dieses mehr pädagogische Moment noch hinausgehen. Das weltliche Recht ist gerade dann, wenn es streng formal behandelt wird, keine in sich selbst geschlossene Erscheinung, sondern es weist über sich hinaus. Es bleibt eine unüberbrückbare Spannung zwischen der Rechtsform und dem Rechtsinhalt bestehen. Je formaler und deshalb je gerechter das weltliche Recht verwirklicht wird, desto härter tritt auch das Unrecht des Rechtes an den Tag. Summum ius — summa iniuria. So schlägt in aller verwirklichten weltlichen Gerechtigkeit doch zugleich eine Sehnsucht nach Gerechtigkeit durch. Das weltliche Recht schreit nach der göttlichen Gerechtigkeit. Im reformierten Kirchenrecht ist die Rede von der Verwirklichung der göttlichen Gerechtigkeit in der Rechtfertigung durch Christus. Der Jurist, der diese im Glauben anerkennt und deshalb ein Glied der Kirche ist, wird seine besondere Schulung im formal-juristischen Denken auch der christlichen Gemeinde zugute kommen lassen in ihren kirchenrechtlichen Aufgaben. Nicht dass er dadurch in ein kirchliches Amt einträte. Im allgemeinen Priestertum ist ihm diese Möglichkeit schon gegeben. Wenn im Mittelalter der Jurist den Titel eines „doctor iuris utriusque” führte, so waren unter den beiden Rechten das weltliche und das kirchliche gemeint. Zwei Schwerter, das geistliche und das weltliche, waren der Kirche verliehen, und die weltliche Obrigkeit sollte ihr Schwert im Dienste der Kirche führen. Es kommt in diesem Titel die römisch-katholische Einheit der mittelalterlichen Kultur zum Ausdruck. Durch die Reformation wurde diese Einheit zerrissen und im
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Laufe der Zeit gewann die Rechtswissenschaft die ihr gebührende rein weltliche Stellung, die von der kirchlichen Gewalt unabhängig ist. Nachdem heute diese Ausscheidung erreicht ist, kann auch das Kirchenrecht in seiner Unabhängigkeit und Wesensverschiedenheit vom weltlichen Rechte sich frei entfalten. Wenn wir sagen, dass gerade auch die Juristen berufen sind, an dieser Entfaltung mitzuwirken, so geschieht das in der Ueberzeugung, dass sie besonderes Verständnis zeigen werden für die Eigenart und die Unvermischbarkeit beider Rechte. So mag eine Zeit anbrechen, in der Juristen den Titel eines „Doktors beider Rechte” wieder mit Bezug auf das weltliche und kirchliche Recht führen, doch nicht mehr wie im Mittelalter in Ansehung eines geistlichen und weltlichen Schwertes in der Hand der Kirche, sondern in Ansehung der Schlüsselgewalt in der Kirche und der Schwertgewalt im Staate und der sauberen Trennung dieser beiden Gewalten.