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V. Kapitel.

Von der Literatur zum reformierten Kirchenrecht.

 

a) Wir versuchen, im Folgenden eine Uebersicht zu geben über die literarische Behandlung des reformierten Kirchenrechts, jedoch nur in grossen Zügen und unter Hervorhebung einiger der markantesten Vertreter. Dieser Ueberblick bietet auch etwas Einblick in die Geschichte des reformierten Kirchenrechtes, ohne dass dies sein eigentlicher Zweck wäre. — Von entscheidender Bedeutung für die Heranziehung von kirchenrechtlicher Literatur, sei es zum Vergleiche oder zum Belege, ist für uns die Frage, ob das reformierte Kirchenrecht als geistliches oder als weltliches Recht dargestellt wird. Eine Auseinandersetzung und ein Vergleich kann begreiflicherweise nur stattfinden, wo man sich auf demselben Boden trifft. Sämtliche Kirchenrechtsliteratur, die das Kirchenrecht unter dem Gesichtspunkte des weltlichen Rechts oder des anstaltlich-genossenschaftlichen Rechts behandelt, fällt deshalb für eine Auseinandersetzung von vornherein ausser Betracht, auch wenn sie Abschnitte über reformiertes Kirchenrecht aufweist. Indem wir die kritische Frage stellen nach Souveränität und Gerechtigkeit, wird die Scheidung vollzogen. Das schliesst nicht aus, dass für die Behandlung von besonderem Kirchenrecht auch diese Literatur herangezogen werden und wertvolles Material liefern kann. Für die Behandlung aber des

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allgemeinen Kirchenrechts kommt eine Heranziehung nicht in Frage. Dadurch scheidet für diese Arbeit beinahe sämtliche deutsche Kirchenrechtsliteratur von vornherein aus. Eine Ausnahme macht Rieker. In seinen „Grundsätzen reformierter Kirchenverfassung” ist er bestrebt, das System möglichst aus sich selbst heraus zu begreifen, (S. 59.) Er unterscheidet aber nicht klar zwischen dem allgemeinen und besondern Kirchenrecht, zwischen dem Kirchenrecht als Glaubenslehre und dem geltenden Kirchenrecht. So stellen sich seine Grundsätze vielmehr als ein Durchschnitt dar durch die verschiedenen geltenden reformierten Kirchenverfassungen. Dadurch aber, dass er bestrebt ist, diese aus ihrem eigenen Wesen heraus zu begreifen, bietet sein Werk auch äusserst wertvolle Hervorhebungen des geistlichen Charakters des reformierten Kirchenrechts. Jedoch ist es nicht grundsätzlich darauf eingestellt. Dasselbe ist zu sagen von Hoffmann, der in der Darstellung des besonderen Kirchenrechts der niederländischen Reformierten bis 1618/19 vielfach dem geistlichen Wesen des Kirchenrechts gerecht wird. Endlich gibt auch der erste Band des „Neuen evangelischen Kirchenrechts für Preussen” von Bredt eine Darstellung des reformierten Kirchenrechts, die vielfach das wirkliche Wesen des reformierten Kirchenrechtes hervortreten lässt, obschon der Verfasser grundsätzlich auf dem Boden der von Gierke vertretenen Rechtstheorien auch für das Kirchenrecht steht. (S. 55 ff.) Auch Bredt stellt nicht die Souveränitätsfrage und macht dementsprechend die Unterscheidung zwischen allgemeinem und besonderem Kirchenrecht nicht. Auch für ihn ergibt sich

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das Wesen des reformierten Kirchenrechtes vielmehr als Durchschnitt durch die Erfahrungsgegebenheiten einzelner geltender Kirchenordnungen, nicht aus der reformierten Kirchenlehre.

b) Damit ist bereits die moderne deutsche Kirchenrechtsliteratur von juristischer Seite im wesentlichen erschöpft. Sehen wir uns nun in der theologischen Literatur der letzten Jahrzehnte um. Hier ist zu bemerken, dass auch die dogmatische Literatur vorwiegend historisch interessiert ist. Eine Ausnahme macht Friedrich Brandes (Die Verfassung der Kirche nach evangelischen Grundsätzen, Elberfeld 1867). Dafür tritt aber hier ein stark kirchenpolitisches Moment in den Vordergrund. Es rechtfertigt sich aber wohl auf einige der Grundgedanken von Brandes näher einzugehen.

Sein zweibändiges Werk ist in einer ausführlichen Einleitung und in vier Büchern angelegt. Aus der Einleitung (Die allgemeinen Grundsätze) ist für uns besonders von Bedeutung der Abschnitt über „Die ewigen Normen der kirchlichen Verfassung". Brandes unterscheidet zwei Grundnormen. Erstens stellt er den Satz auf: „Jede Verfassung kann nur so viel Wert haben, als sie den vorhandenen Zuständen der Zeit entspricht, der sie als äusserliche und gemeinsame Lebensordnung dienen soll. Eine Verfassung, die man unter allen Umständen als die beste und deshalb auch als die allein richtige bezeichnen könnte, gibt es nicht und kann es nicht geben.” (Seite 90, Band I.) Diesem Satze stellt er den zweiten gegenüber: „Durch dieses Eingehen in die Zeit darf nun freilich der Charakter dieser Gemeinschaft als einer christlichen und zwar evangelisch-christlichen nicht verletzt, verleugnet

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und aufgehoben werden, vielmehr ist immer und unter allen Umständen im Auge zu behalten, dass es sich hier um die Lebensordnung derjenigen Gemeinschaft handelt, welche eine christliche und nur dies sein will.” (Seite 117.) Wenn wir den Kern dieser beiden Normen herausschälen, so finden wir im ersten Satze dieselbe Forderung, die wir als die Billigkeit im reformierten Kirchenrechte bezeichnet haben und die uns zur Unterscheidung von allgemeinem und besonderem Kirchenrechte führt, nämlich, dass erst in der Verbindung mit der gegebenen natürlichen Wirklichkeit das Kirchenrecht zur Geltung kommt. Der zweite von Brandes aufgestellte Satz dagegen umfasst die Gesamtheit der Normen unseres „allgemeinen Kirchenrechtes”.

So finden wir bei Brandes in den letzten Grundlinien eine weitgehende Uebereinstimmung mit unseren Ausführungen, wenn auch von einer anderen Fragestellung ausgegangen wird. Jedoch verfolgt Brandes im Uebrigen wesentlich andere Wege. In der Behandlung der ersten Norm sucht er den Charakter des damaligen Zeitgeistes zu ergründen und daraus eine Reihe von Konsequenzen für die damals in Deutschland herrschenden Verhältnisse zu ziehen in bezug auf die Kirchenverfassung. Er versucht gewissermassen die ewige Norm, dass die Kirche in die Welt und Zeit eingehen muss in zeitlich bedingte Normen umzusetzen. Ohne dass wir uns hier nun im Einzelnen mit diesen Forderungen auseinandersetzen, können wir sagen, dass das, was daraus entspringt, nicht mehr Kirchenrecht ist, sondern ein Kirchenprogramm.

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Im weiteren fragt Brandes, wie wir zur Erkenntnis des Wesens der Kirche und damit zu den darin liegenden Nonnen für ihre verfassungsmässige Organisation gelangen. (Band I. Seite 138.) Er antwortet darauf: „Jesus Christus in seinem deutlich von ihm ausgesprochenen Willen und die apostolische Urgemeinde, wie sie als das ursprüngliche Erzeugnis des Geistes Christi selbst auf der Schwelle ihres Eintretens in die Welt steht, bilden die allein gültige Norm für alles, was im Leben der Kirche sich gestaltet hat oder noch gestalten will, und nur nach ihnen hat sich alles zu richten, nur nach ihnen soll es gerichtet werden.” (S. 142.) In dieser Antwort ist zugleich die Stärke, wie auch die Schwäche der Position von Brandes enthalten: die Stärke liegt darin, dass er keine andere als in der Autorität Christi gegründete Norm gelten lassen will. Dagegen liegt eine Schwäche in der Begründung der Autorität der Urgemeinde. Deutlicher tritt dies noch zutage in seiner Ausführung (S. 145): „Die erste Gemeinde war das unmittelbare Erzeugnis der Geistesmacht Jesu Christi selbst; man darf sagen, der Wille des persönlichen Grundes der Kirche waltete in ihr noch ungeschwächt und ohne dass von Seiten der anders gearteten Welt schon trübende und verwirrende Einflüsse auf sie geübt worden wären.” Brandes findet den Gegensatz der Urgemeinde zu den späteren Kirchen in einem unmittelbaren und ursprünglichen Besitze des Geistes, der ihr eine autoritäre Stellung gegenüber den andern Kirchen verleiht. Es kommt darin eine Zurückdrängung des Schriftprinzips zum Ausdruck zu gunsten des Geistes, wie denn auch Brandes eine

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deutliche Herausarbeitung des Schriftprinzipes vermissen lässt. Die Autorität der Urgemeinde gründet sich nicht auf den besonderen Geistesbesitz, sondern auf die in ihr verwirklichte apostolische Verkündigung. In der praktischen Auswirkung dieser Stellungnahme von Brandes mach sich freilich nicht die ganze Tragweite geltend, da er insbesondere im zweiten Bande seines Werkes im Buche über „Das Wesen der Kirche” die apostolische Verkündigung stärker ins Licht hebt.

Während wir mit Brandes in der Aufstellung der beiden „ewigen Normen” einig gehen, so erheben sich doch starke Einwände gegen seine weiteren Ausführungen von methodischen Gesichtspunkten.

Dazu kommt nun noch eine weitere Einwendung gegen Brandes, die vor allem seinen zweiten Band betrifft, wo er das Kirchenrecht als Gesellschaftsrecht behandelt. „... die Kirche soll ihrem Wesen nach sein ein Verein von wirklichen Bekennern des Christentums.” (Bd. II, S. 217.) Alles Kirchenrecht ergibt sich für ihr nun als blosses Vereinsrecht. In welchem formalen Verhältnis dieses Genossenschaftsrecht zu den von ihm aufgestellten ewigen Normen sich befindet, tut er nicht dar. Es ist nicht klar, wie sich aus den „ewigen Normen” die andern Normen ergeben, nach denen der kirchliche „Verein” gestaltet ist, und worauf sich die im „Vereine” geltenden Normen gründen. Es besteht nach ihm keine Beziehung zwischen der Souveränität Christi und der im kirchlichen Amte zutage tretenden Autorität. Das Amt — auch das Lehramt — ergibt sich als eine blosse „Vertretung" der Kirche als Genossenschaft.

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Diese Auffassung des Kirchenrechtes als Genossenschaftsrecht steht in engstem Zusammenhange mit der von methodischem Gesichtspunkte aus beanstandeten Vernachlässigung des Schriftprinzipes, indem auch weiterhin die Normen für die Organisation des kirchlichen Lebens eben aus dem in der Kirche lebenden Geiste entspringen müssen. Eine formale Beziehung zum Souverän Christus fehlt, wenn auch nicht grundsätzlich, so doch tatsächlich.

So sind es vor allem Einwendung methodischer Natur, die wir dem Werke von Brandes gegenüber erheben müssen und die sich durch sein ganzes Werk hindurchziehen. Beachten wir dies, dass es grossenteils Kirchenprogramm ist, dass es allgemeines Kirchenrecht vermischt mit besonderen kirchenrechtlichen Forderungen enthält, so finden wir in seinem Kerne doch die Grundsätze des allgemeinen reformierten Kirchenrechtes wieder, die das Werk weit herausheben aus der übrigen Literatur zum reformierten Kirchenrecht. Brandes hat denn auch wesentlich dazu beigetragen, die Besinnung auf die Grundlagen der reformierten Kirche in Deutschland zu fördern. Er ist der Gründer und erste Moderator des 1884 ins Leben gerufenen „Reformierten Bundes für Deutschland” (Organ: Reformierte Kirchenzeitung, Elberfeld).

Ferner sei hier auf die einschlägige Monographie von Werdermann in den „Calvinstudien” hingewiesen, und auf die Literaturangaben in dieser Schrift. Wir finden aber auch darin nicht die für uns notwendige Klarlegung der dogmatischen Zusammenhänge. Die zeitliche Folge, in der Calvin gewisse Stücke der Kirchenlehre literarisch bearbeitet hat, berechtigt noch nicht zum Schlüsse,

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dass dadurch auch der dogmatische Zusammenhang erklärt ist. Die zeitlich psychologische Entwicklung ist nicht identisch mit dem dogmatischen Zusammenhang. Insbesondere sind Schlüsse, wie sie der Verfasser zieht in bezug auf das Verhältnis der calvinischen Kirchenlehre zum Schriftprinzip,10) dogmatisch unzulässig. Ferner bieten einige Angaben: Schneckenburger, Heppe und Alexander Schweizer.11) Doch ist auch bei diesen Werken teils das historische Interesse im Vordergrund, teils die Kirchenverfassungslehre zu wenig eingehend behandelt. Ferner nennen wir Lechler (Geschichte der Presbyterial und Synodalverfassung seit der Reformation, Leiden 1854), der sich jedoch beinahe ausschliesslich mit besonderem Kirchenrecht befasst und die Lehre von der Kirchenverfassung nur kurz (und fast nur an Hand der Institutio) erwähnt. Wenn auch nicht speziell das Kirchenrecht darstellend, so bieten uns doch wertvolle Anhaltspunkte in der modernen theologischen Literatur die Schriften von Karl Barth, Emil Brunner, Eduard Thurneysen und die Monographie von Peter Brunner. Hier finden wir den Versuch einer modernen Darstellung der dogmatischen Zusammenhänge der reformierten Theologie.

c) Die Literatur, die das reformierte Kirchenrecht als geistliches Recht behandelt, finden wir dagegen in den Niederlanden. Vor allem ist dort durch den Einfluss Kuypers das Studium des reformiertem Kirchenrechtes wieder belebt worden. Er selbst hat zwar kein einschlägiges


10) Seite 317.
11) Vergl. Literaturverzeichnis.

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Werk darüber geschrieben, doch finden wir in den meisten seiner theologischen und kirchenpolitischen Schriften einzelne Stücke, die sich zu einem Ganzen zusammenstellen lassen, wobei freilich die gewaltige geistige Entwicklung dieses Mannes mit in Betracht zu ziehen ist.

Vor allem nennen wir seine Encyclopaedie der heilige Godgeleerdheid, in deren drittem Bande sich eine Abhandlung über das Wesen des Kirchenrechtes, seine Materie und seine Stellung innerhalb der gesamten Theologie findet. Ausführlich spricht er über die Kirchenlehre in seiner Auslegung des Heidelbergerkatechismus E Voto Dordraceno (3. Band). Eine Darstellung in grossen Zügen gibt er in seinen Vorlesungen über den Calvinismus (deutsch unter dem Titel „Reformation wider Revolution” erschienen.) In seinem Werke über De gemeene Gratie finden wir manche Stücke, speziell in der Behandlung des Verhältnisses von Kirche und Staat (3. Band), desgleichen im ersten Bande Antirevolutionaire Staatkunde. Besonders weisen wir noch hin auf die kleine Schrift, die 1872 in deutscher Sprache in Zürich erschienen ist: „Die moderne Theologie (der Modernismus) eine Fata Morgana auf christlichem Gebiet.” Wenn auch nicht direkt die Lehre von der Kirche behandelnd, so kommt hier doch das Verhältnis von Lehre und Kirche klar zur Geltung. Seine Dissertation (Disquisitio historico-theologica exhibens J. Calvini et J. a. Lasco de ecclesia sententiarum inter se compositionem, Haag und Amsterdam 1862) bietet vor allem eine wertvolle Stellensammlung von Calvin und Lasko über ihre Kirchenlehren. Kuyper

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hat ferner eine ganze Reihe kirchenpolitischer Schriften verfasst, die ebenfalls im Zusammenhang mit seinen andern Werken viel Aufschluss bieten über das allgemeine Kirchenrecht. Wir verweisen in dieser Beziehung auf die Literaturangaben in R.G.G. unter Kuyper. Zur übrigen Orientierung über Kuyper und seine Werke weisen wir hin auf die Biographie von Kolfhaus. — Einzelne Fragen wurden besonders behandelt von H. Bouwman (De kerkelijke tucht naar het gereformeerde kerkrecht, Kampen 1912) und F.L. Rutgers (Von den zahlreichen Schriften standen mir nur zur Verfügung: Kerkelijke Adviezen, Kampen 1921). Eine kurze grundsätzliche Abhandlung über das Wesen des reformierten Kirchenrechts findet sich in Bazuin (Kampen, Jahrgang 1924, Nr. 16ff.): H. Bouwman: De organisatie der Kerk van God-delijken oorsprong. Eine übersichtliche, ebenfalls mehr populäre Darlegung über die gesamte reformierte Lehre von der Kirche gibt J.J. Knap: Dogmatische Fragmenten, eerste Reeks, De Kerk. (Kampen 1914). Ferner nennen wir eine Darstellung des besonderen niederländischen Kirchenrechts, die aber ganz unter die Gesichtspunkte des allgemeinen Kirchenrechtes gestellt ist, von Joh. Jansen: Körte Verklaring van de Kerkenordening, Kampen 1923. Die Schrift von Slotemaker de Bruine behandelt nur besonderes Kirchenrecht, und zwar nicht als geistliches Recht; sie kommt deshalb für uns nicht in Frage.

Eine wertvolle Darstellung der calvinischen Lehren auch in bezug auf die Kirche finden wir bei Doumergue in seinem grossen Calvinwerke. Wenn auch bei ihm das historische Interesse an

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Calvin überwiegt, und er oft etwas zu weit geht in seinen Versuchen, Calvin zu rechtfertigen, so finden wir doch bei ihm in grossen Linien die reformierte Lehre herausgearbeitet. Er will Calvin behandeln und nicht das reformierte Kirchenrecht.

Alle meine Nachforschungen nach neuerer allgemein-kirchenrechtlicher Literatur in englischer Sprache waren vergeblich. So gibt es eigentlich bis jetzt keine umfassende Darstellung des reformierten Kirchenrechtes aus den letzten Jahrhunderten. Wir sind deshalb genötigt, zurückzugreifen in die erste Zeit der reformierten Kirche.

d) Vor allem stützen wir uns auf die Werke Calvins, der ja der ganzen reformierten Kirche den Weg gewiesen hat. Doch sind wir weit entfernt davon, nur die Gedanken Calvins wiedergeben zu wollen. Das wäre das grösste Missverständnis seiner Kirchenrechtslehren. Ihm liegt alles daran, dass die Kirche in ihrer sichtbaren Erscheinung völlig nach der Schrift gestaltet werde. Eine Voraussetzung für unsere Arbeit ist aber doch die genaue Kenntnis von Calvins Anschauungen über Kirche und Kirchenrecht, ja, noch mehr, seines ganzen dogmatischen Systems. Dazu benützen wir nicht nur seine Institutio und seine übrigen dogmatischen Schriften, sondern besonders auch seine Kommentare und teilweise seine Briefe. Dagegen benützen wir weniger seine genferische Kirchenordnung und manche seiner Briefe, die spezielle kirchliche Fragen in Genf und in andern Ländern betreffen. Zwar tritt uns auch darin klar das allgemeine Kirchenrecht entgegen, doch ist es auf das engste verbunden mit den besonderen Verhältnissen des Ortes und der Zeit, und es ist oft

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schwierig, das herauszuschälen, was allgemein ist. Nur in der Verbindung mit den dogmatischen Schriften und mit den Kommentaren ist uns das möglich. Es ist beim Studium der dogmatischen Schriften in Betracht zu ziehen, dass sie vielfach polemischen Charakter tragen, trotzdem Calvin bestrebt ist, die Polemik immer reinlich abzuheben vom positiven Inhalt. Doch ist dabei oft die Disposition nicht organisch durchgeführt, sondern durch den Gegenstand der Polemik vorgezeichnet. Auch für die Institutio ist ihre Entwicklungsgeschichte zu beachten und ihr im vierten Teil besonders stark hervortretender polemischer Charakter, um nicht im einzelnen aus den Titeln und der Reihenfolge der Gegenstände falsche Schlüsse zu ziehen betreffend den inneren organischen Zusammenhang. Das vierte Kapitel, das von der Kirche handelt, ist in seinem inneren Aufbau am wenigsten organisch disponiert. Im Gegensatz zu den dogmatischen Schriften ist Calvin in den Kommentaren sichtlich bestrebt, alles polemische zurückzustellen oder nur darum heranzuziehen, um am Gegenteil deutlicher sichtbar zu machen, was die Schrift sagen will. Wir haben deshalb auch die Kommentare in besonders ausgiebiger Weise benützt.

Wenn wir auch nicht die Absicht haben, in unserer Arbeit nur Calvins Anschauungen wiederzugeben, so ist doch diese Arbeit trotz ihrer selbständigen Systematik ganz herausgewachsen aus der Uebereinstimmung mit Calvin. Wir haben aber darauf verzichten müssen, den Unterschied im systematischen Aufbau zwischen Calvin und dieser Arbeit im einzelnen zu belegen und erklären. Doch

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sei nachdrücklich festgestellt, dass der Unterschied nicht in wesentlichen Meinungsverschiedenheiten besteht, sondern vielmehr in der Gestaltung des Stoffes. Wir halten diese Erklärung deshalb für notwendig, weil die moderne Literatur wieder begonnen hat, sich eingehender mit Calvin zu befassen und weil derjenige, der vor allem historisch an Calvin interessiert ist, mit Recht eine Begründung der unterschiedlichen Behandlungsweise im einzelnen und auch eine Berücksichtigung der Entwicklung Calvins selber vermissen müsste. Unsere Arbeit will eine moderne dogmatische Behandlung des Stoffes sein. So verzichten wir auch auf ein Herausschälen der Differenzen zwischen Calvin und den andern reformierten Reformatoren, die beinahe Alle Abhandlungen und Briefe geschrieben haben mit kirchenrechtlichem Inhalt. Der rein dogmatische Charakter unserer Arbeit verbietet uns in dieser Beziehung jede Weitläufigkeit, trotzdem wir die Notwendigkeit der historischen Forschung voll anerkennen.

e) Neben Calvin sind für das reformierte Kirchenrecht von grösster Wichtigkeit die verschiedenen reformierten Bekenntnisschriften. Beinahe alle Bekenntnisschriften, die nicht gerade einer speziellen Frage gewidmet sind, weisen kirchenrechtliche Abschnitte auf. Nun ist aber zu beachten, dass die verschiedenen Bekenntnisse inhaltlich und systematisch stark voneinander abweichen. Zu ihrem Verständnis ist hier nun die Gestaltung des besonderen Kirchenrechtes der betreffenden Kirchen herbeizuziehen.12) Denn daraus, dass ein


12) Ueber die Geschichte der Quellen und Literatur zur Verfassung der verschiedenen Kirchen vergl. Rieker: Grundsätze reformierter Kirchenverfassung 1899, I. Teil.

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Bekenntnis zu einer bestimmten Frage nichts aussagt, kann noch nicht geschlossen werden, dass diese Frage nicht auch ihre Lösung gefunden hat in der betreffenden Kirche. Auch ist der Umstand in Betracht zu ziehen, dass einzelne Bekenntnisse für ganze Gruppen von Kirchen gemeinsam gelten (z.B. die helvetische Konfession und der Heidelbergerkatechismus). Andererseits sind in einzelne Bekenntnisse auch Gegenstände des besonderen Kirchenrechts aufgenommen worden, die natürlich nicht allgemeine Gültigkeit beanspruchen können. Doch ist darauf hinzuweisen, dass die meisten Kirchen gegenseitig einander ihre Bekenntnisse anerkannt haben. Man denke nur an die enge Verbindung, welche die Reformierten aller Länder untereinander pflegten. Aus dieser gegenseitigen Anerkennung ist zu schliessen, dass die Bekenntnisse auch bei anderer Formulierung nicht etwas dem eigenen Glauben Widersprechendes enthalten haben, wenn nicht das Gegenteil feststeht. Schon aus diesem historischen Grunde sind wir berechtigt, in den verschiedenen Bekenntnissen eine gemeinsame Linie zu suchen und sie möglichst im Sinne einer Uebereinstimmung auszulegen. Endlich sind auch die Bekenntnisse nie ohne den Zusammenhang mit den dogmatischen Schriften ihrer Zeit zu verstehen.

Nicht alle Bekenntnisse aber können wir auf die gleiche Linie stellen. Wir müssen einen grundsätzlichen Unterschied machen zwischen den vorcalvinischen und den nachcalvinischen Bekenntnisschriften. Es handelt sich hier besonders um den Unterschied der zwinglischen und der calvinischen Kirchenauffassung. Wir müssen hier in dieser

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Arbeit die Besprechung dieser Differenzen völlig beiseite lassen, da sie einen viel zu breiten Raum einnehmen würden. Doch bemerken wir, dass wir nach allen unseren Untersuchungen auf die gleichen Grundzüge im Wesen der Kirchenrechtsauffassung gestossen sind. Die Differenzen bestehen unseres Erachtens viel weniger in dogmatischen Wesensverschiedenheiten als vielmehr darin, dass die vorcalvinischen Auffassungen einer noch halb geschlossenen Knospe, die calvinischen aber der geöffneten Blüte gleichen. Beidemal handelt es sich um ein und dieselbe Blume. Von entscheidender historischer Bedeutung ist dann der Augenblick, in dem das Wachstum zum Stillstand gekommen ist. Unter diesem Gesichtspunkt ist sogar die genferische Kirchenverfassung zu betrachten, die gegenüber der französischen oder niederländischen Kirche sich nicht voll hat entfalten können unter dem Druck der äusseren Verhältnisse, vor allem des Staates.

Eine besondere Stellung nimmt nun unter den nachcalvinischen Bekenntnissen die zweite helvetische Konfession ein. Diese Bekenntnisschrift zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass die oft scharfen calvinischen Formulierungen einer milderen, aller Einseitigkeit abholden Ausdrucksweise Platz machen, sondern in bezug auf die Kirchenlehre fällt vor allem auf, dass sie nicht eine klare Darlegung der Presbyterialverfassung und der Kirchenzucht aufweist, trotzdem gerade diese Konfession die Kirchenlehre sehr ausführlich behandelt. Die Frage ist nun die, ob die helvetische Konfession eine grundsätzliche Ablehnung der Presbyterialverfassung bedeutet oder ob in ihr

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eben nur das zurzeit Erreichbare ausgedrückt worden ist. Aus dem Fehlen eines Stückes dürfen wir noch nicht auf dessen Ablehnung schliessen. Die Lösung in dieser Frage finden wir, wenn wir die Konfession vergleichen mit den dogmatischen Schriften Bullingers, der die Confessio Helvetica posterior (C.H.) verfasst hat. Eine ausführliche systematische Arbeit Bullingers über die Kirche finden wir im letzten Teil seiner Decades, welche ins Deutsche, Niederländische und Englische übersetzt wurden.13) Hier finden wir nun vor allem in der dritten und vierten Predigt eine Betrachtung über die Aemter, die sich an Calvin und das Presbyterialsystem anschliesst.

Es ist dabei zu beachten, dass er hier die drei Aemter der Presbyterialkirche (Pfarrer, Aelteste, Diakonen) als die bleibenden Aemter nennt, dass er aber später ganz von ihrer Einheit ausgeht. Wenn er auch die Aeltesten und Diakonen als Gehilfen bezeichnet, so ist das nicht zu verstehen im Sinne einer Unterordnung. Der Aelteste ist dem Pfarrer gleichgestellt, auch der Pfarrer und Bischof ist ein Aeltester. Dagegen ist das Diakonenamt nicht im Aeltestenamt inbegriffen, ganz wie in der Presbyterialverfassung. So in der dritten Predigt. In der vierten Predigt aber ist wieder nur von Einem Amt die Rede, und in dieses Amt schliesst er alles ein, was den beiden andern Aemtern zusteht, also auch die Fürsorge für die Armen. Es ist aber hier deutlich ersichtlich, dass dies mit Rücksicht auf die in seiner Kirche gegebenen


13) Eine Neuausgabe der englischen Uebersetzung mit kritischen Bemerkungen wurde 1852 von der Parker Society in Cambridge veranstaltet.

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Verhältnisse geschieht; denn hier ist nicht mehr allgemein vom Amt die Rede, sondern von der konkreten Aufgabe des Amtsträgers. In Zürich nun ist die Armenpflege der weltlichen Behörde unterstellt. Dass nun Bullinger trotzdem die Armenpflege für das geistliche Amt vindiziert, scheint mir gerade ein Beweis zu sein, dass er grundsätzlich nicht darauf verzichtet, wohl aber den gegebenen Umständen Rechnung trägt.

Aehnliches ist von der Kirchenzucht zu sagen, die ebenfalls in der Confessio Helvetica posterior zurücktritt, die aber Bullinger im Prinzip durchaus aufrecht erhält, wie sich auch aus seinen Kommentaren ergibt. Wir dürfen wohl aus diesen Tatsachen schliessen, dass es nicht eine prinzipielle Ablehnung bedeutet, wenn die helvetische Konfession die Presbyterialverfassung nicht aufgenommen hat, sondern dass vielmehr die Rücksicht auf die gegebenen Verhältnisse eine deutlichere Stellungnahme verhindert hat. Wir müssen bedenken, in welchen innerpolitischen Kämpfen Bullinger in Zürich stand. Vor allem galt sein Kampf der stets mit Wucht andrängenden romfreundlichen Partei. Das zeigt sich auch aus den zahlreichen Predigten Bullingers, die meistens eine Spitze gegen Rom enthalten. Viel stärker als in Genf, wo Calvin besonders gegen den Libertinismus zu kämpfen hatte, wogte in Zürich der Kampf zwischen den Anhängern Roms und den Reformierten. Für weitere Umgestaltungen war weder Zeit noch Macht gegeben. Es handelte sich um die Lebensfrage, ob das Erreichte festgehalten werden könne oder nicht. Dieser markanten Einstellung von Bullingers Schriften gegen Rom verdanken wir anderseits

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manche besonders klare Darstellungen der reformierten Auffassung von Begriffen des römischen Kirchenrechtes, wie z.B. „una, sancta, catholica et apostolica ecclesia”, ferner „Schlüsselgewalt” und andere.

Neben Calvin hat gewiss Bullinger den weitreichendsten Einfluss gehabt in der reformiertem Kirchenwelt. Doch dürfen wir wohl sagen, dass es vor allem Calvin war, dessen Einfluss in Bullinger die Gedanken Zwinglis reifen liess und dass durch Bullinger Calvins Lehren hinausgetragen wurden. Ueber die Fragen des Kirchenrechtes hatten sie keinen Anlass, sich besonders auseinanderzusetzen. Im Wesen ihrer Anschauungen waren sie ganz eins.14)

Neben den Schriften Calvins haben wir deshalb auch besonders diejenigen von Bullinger herangezogen, vor allem seine Kommentare, seine Summa sowie seine Dekaden. Doch ist zu beachten, dass wir bei Bullinger in eigentlich kirchenrechtlichen Gegenständen eine weniger präzise Verarbeitung finden; dagegen treten die grossen Linien und das Wesen der Sache selbst deutlich hervor. Besonders haben wir auch für den ersten Teil unserer Arbeit Bullingers Schrift „De justificatione hominis Christiani”, welche seinem Johanneskommentar vorangestellt ist, benützt.

f) Weder in Genf noch in Zürich wurde aber nach: der Reformation das reformierte Kirchenrecht weiter gepflegt. Es hängt dies mit der engen Verbindung zwischen Kirche und Staat zusammen. Es


14) Vergl. über das Verhältnis von Calvin und Bullinger die Studie von W. Kolfhaus: Der Verkehr Calvins mit Bullinger. In „Calvinstudien”, 1909.

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waren auch hier wieder die Niederländer, die bahnbrechend vorangegangen sind. Die älteste Schrift, die einschlägig das Kirchenrecht behandelt, ist eine anonyme Veröffentlichung aus Leiden vom Jahre 1585 unter dem Titel: De politia et disciplina Civili et Ecclesiastica, tum Israelitica tum Christianae Reipublicae. Diese Schrift enthält eine klare Ausscheidung des weltlichen und geistlichen Rechts und bringt das reformierte Kirchenrecht als geistliches Recht in den Zusammenhang mit der Rechtfertigung. Auch begegnet uns hier zum erstenmal der Ausdruck jus ecclesiasticum im reformierten Kirchenrecht, wenn auch in der Hauptsache noch auf die Kirchenzucht beschränkt. Die weltliche Gewalt wird nicht eingehender behandelt, sondern nur in Gegensatz gestellt zur geistlichen Gewalt der Kirche. Das Buch zerfällt in zwei Teile. Im ersten Teil werden mehr formale Begriffsbestimmungen gegeben über beide, das weltliche, vor allem aber auch das kirchliche Recht. Der zweite Teil bringt sodann eine Darlegung des reformierten Kirchenrechts, in der Hauptsache als allgemeines Recht gedacht, unter klarer Ausscheidung von allem weltlichen Recht. Besonders eingehend wird die Kirchenzucht behandelt und die Frage, wer zum Abendmahl zuzulassen sei. Die offenkundig heuchlerischen Glau-bensbekenner sind nicht zuzulassen. Das wird des langen und breiten erklärt und führt zur Konsequenz, dass der Kreis des weltlichen Staates und der Kirche nicht zusammenfallen; doch wird dieser Schluss noch nicht ausdrücklich hervorgehoben. Am Ende wird in zwanzig Thesen das Wesentliche noch einmal hervorgehoben. Bedeutsam ist

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diese Arbeit auch durch die Untersuchungen über die Wesensgleichheit und den Unterschied zwischen dem alttestamentlichen und dem neutestamentlichen Kirchenrecht, auch über die Natur des Aeltestenamtes und sein Verhältnis zum Synedrium.

Die ganze Schrift bedeutet einen so gewaltigen Schritt zur klaren Erfassung des reformierten Kirchenrechts als Recht, dass sie wohl wert wäre, zum Gegenstand einer einlässlichen historischen Untersuchung gemacht zu werden. Leider konnte sie für diese Arbeit nicht sehr ausgiebig herangezogen werden, da sie uns erst nach dem Abschluss der beiden Hauptteile bekannt wurde. Es ist noch völlig dunkel, welches ihre Entstehungsgeschichte ist. Wer ist ihr Verfasser? v. Hoffmann, der sie bisher allein verwertet hat (zu seiner Untersuchung über die niederländische Kirchenverfassung) vermutet einen Hendrik van den Corput. Doch scheinen mir seine Argumentationen nicht stichhaltig genug, da insbesondere die angegebenen Initialen nur halb mit diesem Namen übereinstimmen. Auch scheint mir die Frage noch nicht abgeklärt, ob der Verfasser das Buch geschrieben hat im Blick auf die niederländischen Verhältnisse oder vielleicht besonders für die Rhein-Pfalz. Die Politia ist nämlich Johann Casimir, Pfalzgraf bei Rhein, gewidmet. Wenn wir die damaligen politischen Verhältnisse ins Auge fassen, so wäre es wohl denkbar, dass der Verfasser unter den reformierten Emigranten zu suchen ist, die nach dem Tode Friedrichs III. von Ludwig vertrieben wurden und die zahlreich nach den Niederlanden zogen. Johann Casimir war bekannt als der Beschützer der Vertriebenen während der

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Regierung Ludwigs. Als er dann selber die Herrschaft über die Rheinpfalz erlangte, führte er dort wieder den reformierten Gottesdienst ein. Es wäre sehr wohl möglich, dass einer der früheren Vertriebenen, die sich in den Niederlanden niedergelassen hatten, ihm nun eine Anleitung für die Wiedereinführung des reformierten Gottesdienstes widmen wollte. Doch wollen wir hier keine präzisen Vermutungen über Personen aussprechen, sondern vorläufig nur feststellen, dass die Frage noch offen steht, ob die Schrift die niederländischen Verhältnisse betrifft oder andere. Auch der Inhalt erlaubt diese Frage. Im ferneren steht es auch nicht fest, welche Einflüsse von dieser Schrift ausgegangen sind, ob ihr eine Bedeutung zukommt in Bezug auf die darauffolgende Behandlung des niederländischen Kirchenrechts.

Das umfassende Werk aber über reformiertes Kirchenrecht hat Gisbert Voet im Jahre 1663 veröffentlicht unter dem Titel Politica ecclesiastica. Voetius scheidet den Begriff des Kirchenrechts grundsätzlich als geistliches Recht von allem weltlichen Recht ab. Er sucht die Normen des Kirchenrechts als durch das Wort Gottes gegeben darzulegen. Wichtig ist bei Voetius, dass er grundsätzlich allgemeines Kirchenrecht behandeln will, wenn er auch vielfach in besonderes Kirchenrecht abschweift. Ganz folgerichtig wird hier im allgemeinen Kirchenrecht auch die Lehre vom besonderen Kirchenrechte aufgenommen.

Das umfangreiche Werk des Voetius ist grundlegend für die weitere Behandlung des reformierten Kirchenrechts, so dass wir noch etwas

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eingehender seinen Aufbau darlegen. Es zerfällt in drei Teile. Der erste Teil enthält eine allgemeine Einleitung und eine Begriffsbestimmung des Kirchenrechts. Wichtig ist, dass er hier den Begriff der ecclesia instituta schafft, der von der späteren holländischen Kirchenrechtswissenschaft aufgenommen und durch Kuyper weitergebildet wurde.15) Wir greifen nicht zu diesem Ausdruck, weil er missverständlich ist und von der Auffassung der kirchenrechtlichen Normen als Funktionen im Bekennen zu der Idee einer Anstaltskirche wegleiten könnte, (was bei Voetius nicht der Fall ist). Weiter enthält der erste Teil drei Bücher über die kirchlichen Agenden, zu denen mit Ausnahme der Kirchenzucht und der Diakonie alle möglichen Funktionen und „Pseudofunktionen” gezählt werden.

Der zweite Teil handelt von den Personen, im ersten Buch allgemein von den Bekennern, im zweiten Buch vom Amt und den Amtsträgern, im dritten Buch von der Berufung zum Amt. Diesen drei Büchern ist noch ein viertes angefügt über die römische Hierarchie, in dem diese ausführlich dargelegt und widerlegt wird. Der dritte Teil behandelt die Lehre vom Kirchenregiment und von der Kirchenzucht. Unter dem Kirchenregiment ist in drei Büchern vor allem die Art behandelt, wie besonderes Kirchenrecht entsteht und aufrechterhalten wird, und zwar äusserst ausführlich für alle möglichen ordentlichen und ausserordentlichen Fälle, besonders auch für den Fall von verwirrten Zuständen, von Kirchentrennungen und Einigungen,


15) Vergl. Kuyper: Geworteld en gegrond, de kerk als organisme en instituut, 1870.

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für den Fall der Reformation usw. Ein viertes Buch endlich ist der Kirchenzucht gewidmet.

Das Werk stammt aus der Zeit, in der sich die reformierte Kirche ihres eigenen Rechtes deutlicher bewusst wurde. Daraus ist vor allem das Streben zu verstehen nach möglichst „juristischer” Einteilung und Gestaltung des Stoffes. Dabei kommt aber eine organische Darlegung, wie sie das theologische Wesen des reformierten Kirchenrechtes verlangt, zu kurz. Wir werden wohl nicht fehl gehen, wenn wir annehmen, dass die Beschäftigung mit dem römischen Kirchenrecht, das zu jener Zeit auch von den Reformierten studiert wurde, mitgewirkt hat, eine juristische Einteilung des reformierten Kirchenrechts zu suchen. Demgegenüber befleisst sich der Verfasser der Politia noch gar nicht einer juristischen Einteilung. Auf Voetius ist es jedenfalls auch zurückzuführen, dass in der niederländischen Theologie das reformierte Kirchenrecht zu einer eigenen Disziplin erhoben wurde.

Das Werk von Voetius ist aber zugleich das letzte grosse reformierte kirchenrechtliche Werk, das seit der Reformation geschrieben wurde. Die niederländische Kirche ist auch die einzige Kirche, die dem reformierten Kirchenrecht seinen Platz in der Theologie eingeräumt hat. In den übrigen reformierten Kirchen begnügte man sich mit der einmal übernommenen Verfassung und mit den rein theologisch formulierten kirchenrechtlichen Abschnitten in den Bekenntnisschriften und vor allem in Calvins Institutio. Der aufkeimende und bald in die Orthodoxie eindringende Rationalismus legte auch hier alles Wachstum still.

In den Dogmatikbüchern der untergehenden

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Orthodoxie fristete die Lehre von der Kirche und ihrer Regierung noch ein beschränktes Dasein. Hier nennen wir den Zürcher Heidegger, der in seiner Medulla Theologiae Christianae auch die Kirche und die Kirchenregierung behandelt. Die Kirchengewalt als geistliche Gewalt ist klar von der weltlichen Gewalt unterschieden, und, was für Zürich besonders bedeutsam ist, der geistliche Charakter der Kirchenzucht wird bis ins Einzelne ausgeführt. Dem muss man gegenüberhalten, dass die Kirchenzucht praktisch immer mehr an Bedeutung verlor seit der Reformation.

In diesem Zusammenhang weisen wir noch auf eine kleine Schrift hin, die in ihrer Art einzig dasteht. Es handelt sich um ein 1711 in Biel erschienenes anonymes Büchlein, betitelt: Moses und Aaron unter dem Neuen Testament oder Evangelisches Staats- und Kirchenregiment. Auch hier haben wir es mit einem Produkt der untergehenden Orthodoxie zu tun. Es ist ein Versuch, die Einheit von Staat und Kirche zu wahren, wobei der christliche Staat Voraussetzung ist. Interessant ist es, dass gerade hier, wo die ganze Schrift darauf angelegt ist am Beispiel des Moses und Aaron die Verbindung von Staat und Kirche zu zeigen, trotzdem scharf das geistliche und das weltliche Recht auseinandergehalten werden. Ja, sogar Regenten stehen unter der geistlichen Gewalt der Kirchenzucht. Im übrigen ist die Schrift wegen ihrer Wahrung der Form der Presbyterialverfassung für die einzelne Gemeinde interessant, wobei das Kirchenregiment teilweise der Obrigkeit zufällt. Dem Umstand, dass ursprünglich auch das obrigkeitliche Kirchenregiment

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als geistliches Kirchenamt aufgefasst wurde, wird der Verfasser nicht gerecht.

Einzelne Fragen wurden in Streitschriften da und dort noch behandelt; besonders bot der Kampf gegen die Independentisten dazu Anlass. Von Moyse Amyraut stammt eine Schrift: Du Gouvernement de l’Eglise, contre ceux qui veulent abolir l’usage et l’autorité des Synodes. Bezeichnend ist an dieser Schrift, dass sich darin bereits deutlich das Eindringen des Rationalismus in die Orthodoxie ankündigt. Amyraut operiert selber mit naturrechtlichen und psychologischen Argumenten zur Begründung seiner dogmatischen Positionen. Man muss sich auch vergegenwärtigen, dass seine Stellung gegenüber der Kirche etwas erschüttert war eben wegen seines Rationalismus. Den Anlass einer Synodalsitzung in Saumur benützt er nun, um seine Kirchentreue durch eine Verteidigung der Synode gegen die Independentisten zu beweisen. Zu diesem Bezeugen der Kirchentreue an Stelle der Glaubenstreue passt auch seine überaus devote Widmung an die Synode.

g) Zwei grosse kirchliche Richtungen, die sich vom reformierten Kirchenrecht abgetrennt haben, lassen wir grundsätzlich weg. Es sind das der Anglikanismus und der Independentismus. Vom Anglikanismus lässt sich im Prinzip etwa dasselbe sagen, wie von den schweizerischen Kirchen: Die Reformation hat ihr Wachstum nicht vollendet und alle Versuche einer vollen Durchführung sind gescheitert. Eine vergleichende Behandlung des reformierten Kirchenrechts mit den anglikanischen Kirchenrechtslehren wäre in

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dieser Beziehung sehr interessant, muss aber hier unterbleiben.

Immerhin nennen wir zwei Werke, die in dieser Beziehung wertvolles Material aufweisen Matth. Tindal (anonym): The rights of the Christian Church asserted against the Romish and all other Priests, who claim an independent Pover over it, with a preface concerning the governement of the Church of England as by Law established (London 1709). Ferner John Potter: A discourse of Church governement, wherin the rights of the Church and the supremacy of Christian Princes are vindicated and adjusted (London 1711). Im Vergleiche zum reformierten Kirchenrecht zeigt sich hier, wie das Regierungsamt nicht organisch mit der Gemeinde verbunden ist, sondern eine selbständige, von der Gemeinde losgelöste Grösse darstellt. In diese Lücke im organischen Zusammenhang greift dann die weltliche Gewalt mit ihren Regelungen ein und findet ihre Spitze im fürstlichen Kirchenregiment. Ganz ähnliche Züge finden wir ja auch im Luthertum mit der landesfürstlichen Kirchenhoheit. Auch hier ist das Amt des Kirchenregimentes stark von der Gemeinde losgelöst, während in der Schweiz dank der demokratischen Elemente auch bei obrigkeitlichem Kirchenregimente keine Loslösung von der Gemeinde stattfand. Das Wesen des lutherischen und des anglikanischen Kirchenrechts stimmen in weitem Masse überein trotz wichtigen Verschiedenheiten. Jedoch hat auch die anglikanische Kirchenwelt ein grosses für das reformierte Kirchenrecht bedeutsames Werk hervorgebracht schon am Ende des 16. Jahrhunderts, das aber

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erst später vollständig veröffentlicht und oft neuaufgelegt wurde bis in die Neuzeit: Richard Hooker machte den Versuch, die anglikanische Kirche zu reformieren und hat zu diesem Zwecke ein umfangreiches Werk geschrieben: The Laws of ecclesiastical Polity, eight books. (1594 wurden die vier ersten Bücher herausgegeben, die andern erst nach dem Tode Hookers.) Es ist ein überaus weitschweifendes Werk, das manche Probleme mit aussergewöhnlicher Gründlichkeit behandelt. Nachdem er vom Wesen und von den Arten der verschiedenen Gesetze gesprochen und den Begriff des geistlichen Rechts festgestellt hat, geht er über zum Schriftprinzip in seiner Verbindung mit dem geistlichen Recht. Dieses wird dann eingehend dargestellt immer mit besonderer Bezugnahme auf die anglikanische Kirche. In manchen Punkten scheint das Werk Hookers independentistische Züge aufzuweisen. Jedenfalls hat es eine bedeutsame Rolle gespielt im späteren kirchlichen und politischen Leben.16) Wir haben aber ganz den Eindruck, dass der Independentismus mehr hineininterpretiert wurde als er tatsächlich darin enthalten ist. Anderseits wird Hooker auch mehr in anglikanischem Sinne aufgefasst.17) Uns scheint er in der Hauptsache doch eine mittlere reformiert-presbyterianische Linie einzuhalten. Mehr independentistisch gerichtet sind dann schon die Schriften Cartwrights, der im übrigen manche Thesen mit Hooker verficht.


16) Vergl. Jellinek: Allgemeine Staatslehre, 3. Auflage 1921, Seite 205 ff.
17) Vergl. G. Schrenk: Gottesreich und Bund vornehmlich bei Johannes Coccejus, 1923, Seite 188.

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h) Ein grundsätzlich anderes Verhältnis besteht zwischen dem reformierten Kirchenrecht und dem Independentismus.18) Hier handelt es sich nicht um unvollendete Reformation, sondern um Aufnahme eines rein naturrechtlichen humanistischen Ideales in das Kirchenrecht. Trotzdem in den Fragen der praktischen Kirchengestaltung zwischen den verschiedenen Reformierten grosse Differenzen bestehen, führte das nicht zu einem Bruch. Gegenüber dem ersten leisen Versuch des Independentismus aber ist schon Calvin mit eiserner Schärfe aufgetreten und bis zur Verbannung und zur Verbrennung der Schriften geschritten.

Einen ersten Anfang des Independentismus finden wir in der Schrift des Jean Morely: Traité de la discipline et police Chrétienne (Lyon 1562). Morely hat darin als Erster die Idee der Volkssouveränität ins Kirchenrecht eingeführt. Er stellt damit eine Souveränität auf neben der Schrift. Freilich hat er noch nicht alle Konsequenzen gezogen, die (besonders durch Browne) zum späteren Independentismus oder Kongregationalismus geführt haben. Nach der reformierten Lehre gewinnt die Kirche immer Gestalt in bestimmten ganz zufälligen natürlichen und geschichtlichen Gegebenheiten. Mit der Tatsache, dass an einem Orte eine Kirche gegeben ist, ist zugleich auch die Tatsache gegeben, dass diese Kirche in diesem konkreten Verhältnis durch besonderes Kirchenrecht sichtbar werden muss. Auch die Zusammensetzung der Kirche ist etwas durchaus Gegebenes, von der


18) Vergl. auch VI. Kapitel über das Gemeindeprinzip. Zum Independentismus vergl. Zscharnack: Kongregationalismus, in RGG.

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menschlichen Auswahl Unabhängiges. Die Pflicht zum besonderen Kirchenrecht ist gleichzeitig mit dem geistlichen Amt gegeben. So ist das allgemeine Kirchenrecht etwas noch unvollständiges, das erst im besondern Kirchenrecht im Felde der gegebenen Verhältnisse wirkliche Geltung erhält. Auch der Independentismus erkennt die Unvollständigkeit des allgemeinen Kirchenrechts. Aber für die Erfüllung im besondern Kirchenrecht schlägt er einen andern Weg ein. Nicht durch das geistliche Amt wird nun das besondere Kirchenrecht in den gegebenen Verhältnissen gestaltet, sondern es wird neben dem Amt ein Naturrecht statuiert. Dieses Naturrecht ist nun aber nicht das Recht der geschichtlich gegebenen Verhältnisse, sondern ein Ideal der Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Auch im unvollendeten reformierten Kirchenrecht wird oft das geistliche Gemeindeamt des Kirchenregimentes ersetzt z.B. durch obrigkeitliche Kirchenhoheit (wie in der Schweiz) oder durch eine Amtshierarchie, wie im Anglikanismus. Darin aber liegt das revolutionäre Prinzip des Independentismus, dass er grundsätzlich das geistliche Kirchenregiment ablehnt, ob es nun in den Händen der Obrigkeit oder des Presbyteriums sei, und an seine Stelle das Ideal der Selbstbestimmung setzt, besonders der Gemeindesouveränität. Er betrachtet die Kirchenhoheit als nur der ganzen Gemeinde gegeben. Gewiss kann auch nach reformiertem Kirchenrecht die Gemeinde ihre Kirchenpflege wählen, aber das ist ein rein organisatorischer Akt der Anerkennung der Amtsträger. Das besondere Kirchenrecht kann aber in Anerkennung der geschichtlich gegebenen Verhältnisse auch andere Wege einschlagen.

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Ein Souveränitätsrecht der Gesamtgemeinde ist nach reformierter Lehre ausgeschlossen. Das Prinzip des Independentismus bedeutet eine zweifache Auflehnung. Er lehnt sich auf gegen die Anknüpfung an die gegebenen Verhältnisse durch die Forderung der bedingungslosen Selbstbestimmung; weiter lehnt er sich auf gegen den geistlichen Charakter des Kirchenregimentes. Das tritt in dreierlei Weise zutage.19) Erstens gehören zur Gemeinde nicht alle Gläubigen eines Ortes, so, wie sie ganz zufällig durch den Wohnsitz zusammengeführt sind, sondern der Indepen-dentist nimmt für sich das Recht in Anspruch, selber zu bestimmen, zu welcher Gemeinde er gehören will. Er wählt sich seine Gemeinde aus. Sie ist nicht eine absolute Gegebenheit, sondern sie wird erst, geschaffen durch die Uebereinkunft derjenigen, die zusammen eine Gemeinde bilden wollen. Das Gemeindeprinzip „ein Ort — eine Gemeinde” ist durchbrochen und die Gemeinde ist dem natürlichen Rechte der freien Vereinsbildung unterstellt. Zweitens ergibt sich daraus, dass ein kirchliches Amt und überhaupt eine Ausübung der Gemeindefunktionen nur dann Zustandekommen kann, wenn die zusammengetretene Wahlgemeinde (im doppelten Sinne) das Amt und die Funktion durch besonderes Kirchenrecht schafft. Das besondere Kirchenrecht wird damit grundsätzlich als Ausfluss des natürlichen Selbstbestimmungsrechtes der Gemeinde und ihrer Glieder dem geistlichen Amt des Kirchenregimentes entzogen. Das zeigt sich vor allem daran, dass der Independentismus kein Amt


19) Vergl. Deklaration der englischen Kongregationalisten 1833. Bei Müller, Seite 899 ff.

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der Gemeinderegierung kennt. (Im genannten Bekenntnis nur Pfarrer und Diakonen; das Aeltestenamt ist kein geistliches Amt.) Aber nicht nur das Regierungsamt ist diesem Naturrecht unterstellt, sondern auch das beibehaltene Amt der Wortverkündigung, indem es erst geschaffen wird durch die Uebertragung in der Wahl. Drittens führt dieses natürliche Selbstbestimmungsrecht zur grundsätzlichen Ablehnung des Synodalverbandes und besonderen Kirchenrechts für einen Gemeindeverband. Die Durchbrechung des Gemeindeprinzipes macht sich auch im Kirchenverband geltend. — Bei Morely sind nun freilich noch lange nicht alle diese Konsequenzen gezogen; aber die Anfänge des Independentismus lassen sich bei ihm deutlich nachweisen. Calvin hat den zersetzenden Gehalt in diesen Ideen, die später zur Zersetzung der reformierten Kirchen und zum zerrissenen Bilde des amerikanischen Kirchenwesens führen sollten, in seinen ersten Anfängen erkannt. Der Independentismus gehört nicht zum genuinen Calvinismus. Es kündigt sich in ihm bereits vermischt mit dem Geiste der Reformation der Geist der Revolution an. Der Independentismus hat denn auch seine Bedeutung viel mehr auf politischem als auf religiösem Gebiete. Durch ihn bahnte sich die Idee der Volkssouveränität den Weg in die moderne Zeit. Im reformierten Kirchenrecht aber ist diese Idee ein Fremdkörper.

i) Es bleibt uns noch übrig auf eine Gruppe kirchenrechtlicher Literatur hinzuweisen, die aus einem Versuch hervorgeht, die Kirche wieder bewusst aus geistlichem Rechte zu reformieren. Es handelt sich um die Bewegung des Reveil und

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die kirchenrechtliche Literatur, die er hervorgebracht hat.20) Ein Hauptzentrum des Reveil war Genf. Vor allem haben wir hier drei Schriften zu nennen, die die Frage behandeln, welches die schriftgemässe Organisation und Verfassung der Kirche sei. E. Guers (anonym): Essai sur la nature et l’organisation des Eglises de Christ (Genf 1833). A. Bost: Recherches sur la Constitution et les formes de l'Eglise Chrétienne (Genf 1835). A. Rochat: Quelques aperçus sur la nature, la Constitution et le but de l'Eglise de Christ (Genf 1837). Es sind Kampfschriften, geboren aus den kirchlichen Kämpfen jener Zeit in Genf. Allen drei Schriften haftet aber auch die dem Reveil eigentümliche Einstellung an: sie wollen aus der Bibel direkt die Normen des besondern Kirchenrechts finden; sie verkennen die Tatsache, dass die Kirche und die Welt der Erlösung innerhalb der Welt der Schöpfung und ihrer Ordnungen sichtbar wird und dass auch der Christ an die Gesetze der Schöpfung gebunden ist. So führen diese Schriften zur Separation, nicht nur von der Volkskirche, sondern überhaupt von der Welt. Sie wollen die Urkirche möglichst genau wieder nachahmen. Sie anerkennen weder die geschichtlichen Entwicklungen noch die Vorarbeiten und Wegweisungen, die. in der Reformation besonders im Genfer Reformator ihnen gegeben sind.

In dieser Situation ist es Merle d’Aubigné der in einer Reihe von Kampfschriften den Weg zur Wirklichkeit zurückgewiesen hat. Er nahm den


20) Ueber die Geschichte des Reveil in Genf und in Frankreich, die hier besonders in Frage kommen, vergl. Leon Maury: Le Réveil religieux dans l’Eglise réformée à Genève et en France. Paris 1892.

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kirchlichen Kampf nicht losgelöst von der Geschichte auf, sondern er verband die Forderung der nach Gottes Wort verfassten Kirche mit den historischen Gegebenheiten. Er knüpfte wieder an bei Calvin und seinem genferischen Kirchenrecht. Wir nennen drei Schriften, die eine gründliche Erfassung des reformierten Kirchenrechts erkennen lassen: 1. La question de l’Eglise à Genève en 1842, ou liberté des cultes. 2. Une soirée du 13 février, ou les droits des paroissiens dans l’élection de leurs pasteurs. 3. Du Salut du Protestantisme dans Genève, à l’occasion du projet de Constitution ecclésiastique. (Alle drei Schriften Genf 1842) Merle d’Aubigné, der Professor war an der 1832 gegründeten freien theologischen Fakultät, ist es wohl vor allem zuzuschreiben, dass die 1848 entstandene freie Kirche Genfs in weitgehendem Masse eine reformierte Verfassung annahm.

Endlich nennen wir aus dieser Zeit noch Alexandre Vinet, der besonders in den kirchlichen Kämpfen im Waadtland hervorgetreten ist, dessen Einfluss aber weit über die Grenzen seines Landes hinausgegangen ist und bedeutsam wurde für die Ausgestaltung der politischen Gewissens- und Kultusfreiheit und die Trennung von Kirche und Staat.21) Speziell für die Gestaltung der waadtländischen Freikirchenverfassung dürfen wir aber den Einfluss Vinets nicht überschätzen. Ja, wir können sogar sagen: die waadtländische Freikirche hat trotz Vinet eine im wesentlichen reformierte Verfassung angenommen, was um so höher zu werten ist, als dort vorher keine Presbyterialverfassung


21) Giacometti: Die Genesis von Cavours Formel „libera chiesa in libero stato”, 1919.

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bestanden hatte. Vinet ging weniger vom Schriftprinzip aus als vielmehr von psychologischen Momenten. Seine Forderung der Trennung von Kirche und Staat war nicht durch die Ausscheidung von weltlicher und geistlicher Gewalt, von weltlichem und geistlichem Recht begründet, sondern war eine Forderung der allgemeinen Kultus- und Gewissensfreiheit, eine Forderung des Individualismus. Aber in seiner Forderung traf er sich mit denjenigen Kreisen in der waadtländischen Kirche, welche die Einmischung der weltlichen Gewalt und die Unterstellung der Kirche unter das weltliche Recht abwehrten.22) Er wurde auch ihr Sprachrohr, und in dieser Situation äusserte er sich zu mancherlei kirchenrechtlichen Problemen und verteidigte er oft Prinzipien, die mit dem reformierten Kirchenrecht im Einklang standen.23) Seine systematischen Arbeiten aber, vor allem seine beiden Hauptwerke über die Kultusfreiheit, „Mémoire en faveur de la Liberté des Cultes” (1826) und „Essai sur la Manifestation des Convictions religieuses” (1842) sowie seine „Theologie pastorale ou théorie du ministère évangélique” (1850), können nicht in Frage kommen für das allgemeine reformierte Kirchenrecht. Die kirchenpolitischen Schriften Vinets bieten mehr Stoff für das besondere Kirchenrecht der waadtländischen Freikirche.


22) Kirchenrechtlich besonders wertvoll, doch vor allem besonderes Kirchenrecht beschlagend: L. Burnier: Exposé de la loi ecclésiastique sous le point de vue constitutionel et religieux, 1840. Ders.: Discussion publique sur la liberté religieuse et le gouvernement de l’Eglise, 1830.
23) Vergl. die Sammlung von Schriften Vinets über die Kirchenfrage: Liberté religieuse et questions ecclésiastiques, 1854.

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Auch in andern Ländern zeitigte der Reveil einige Abhandlungen über die Frage der Kirchenverfassung; jedoch übten sie nirgends denselben Einfluss aus, wie in der Westschweiz. Wir nennen noch R. Whately: The Kingdom of Christ delineated (London 1842), (franz. Uebersetzung von L. Burnier 1843). H.C.M.: Die freie protestantische Kirche oder die kirchlichen Verfassungsgrundsätze des Evangeliums, Giessen 1832.

Mit dieser Uebersicht haben wir unsere Darstellung der reformiert-kirchenrechtlichen Literatur abgeschlossen. Sie kann nicht den Anspruch erheben, vollständig zu sein; jedoch haben wir uns bestrebt, die wichtigsten Vertreter und einige charakteristische Werke aus den verschiedenen Epochen anzuführen.