|7|
Die Reformation ist eine geschichtliche Erscheinung des 16. Jahrhunderts. Sobald wir über eine flächenhafte Chronologie hinaus historische Zusammenhänge aufweisen wollen, legen wir der Geschichte einen Sinn zugrunde, deuten wir sie, ob wir das wollen oder nicht, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht.
Die Reformation wollte nicht ein Neues schaffen, sondern zurückkehren zum Ursprung. Ob sie nun die Frage stellte nach dem persönlichen Heil, nach der Sittlichkeit, nach der Politik oder nach der Kirche, immer suchte sie die autoritäre Antwort im Worte Gottes, in der heiligen Schrift, in der Bibel. Das ganze menschliche Leben sollte nach dem Worte Gottes gestaltet werden. Besonders Zwingli und Calvin erhoben diese Forderung. So war die Reformation nicht nur eine Erscheinung im religiösen Leben, sondern in der gesamten Kultur. Die ganze Kultur, alles menschliche Denken, Wollen und Tun sollte der Verherrlichung der alleinigen Souveränität Gottes, der Ehre Gottes dienen. So bedeutet die Reformation nicht nur ein historisches Ereignis im 16. Jahrhundert, sondern sie erhebt den Anspruch, ein immer gültiges Prinzip zu sein. Als solches Prinzip musste sie sich auseinandersetzen mit allen Erscheinungen des Lebens. Von der Reformation aus und durch die Reformation von der Bibel aus
|8|
wurde die ganze abendländische Geschichte in weitem Masse bestimmt und in diese Auseinandersetzung hineinbezogen. Dabei geriet die Reformation bald in Verteidigungsstellung. Nicht das Prinzip der Reformation gewann die Welt, sondern das Prinzip der Revolution, das sich schon im 16. Jahrhundert im Täufertum ankündigte und der Reformation entgegensetzte. Dem reinen Prinzip der Reformation stand aber nicht von Anfang an ein reines Prinzip der Revolution gegenüber, sondern dieses trat zuerst nur auf als Verfälschung der Reformation im Täufertum, im Independentismus, in der Aufklärung, im Rationalismus, in gewissem Sinne sogar im Pietismus und brach in der französischen Revolution gewaltsam hervor als ein Zerrbild der Reformation. Ungefähr um dieselbe Zeit aber stellt sich eine rückläufige Bewegung ein, die Kritik, die immer klarere Reinigung und Ausscheidung des Menschlichen und des Göttlichen. Das Ende dieser rückläufigen Bewegung erleben wir heute in der Krisis der Gegenwart, im vollkommenen Relativismus.
Die Krisis bedeutet aber zugleich freie Bahn für das reine Prinzip der Reformation. Wurde die Reformation in der Geschichte stillgelegt während einigen Jahrhunderten, so vollzog sich doch während dieser Zeit die notwendige Ausscheidung besonders von Kirche und Staat. Heute ist die Zeit, da sich die Kirche wieder frei entfalten kann, ungebunden durch die Vermischung mit der staatlichen Gewalt. Die unterbrochene Reformation soll ihren Fortgang nehmen. Unsere Zeit kann wieder Verständnis aufbringen für die absolute Souveränität Gottes und für den Gehorsam gegenüber seinen
|9|
Geboten im sittlichen, politischen und kirchlichen Leben. Die junge Generation ist nicht mehr gehemmt durch die geistige Vermischung von Himmel und Erde.
In diesem Sinne soll das reformierte Kirchenrecht heute behandelt werden, nicht nur von historischem Interesse aus, sondern als Fortführung. Wir wollen kein neues Kirchenrecht aufstellen, sondern das alte reformierte Kirchenrecht nach dem Prinzip der Reformation fortführen. Dieses Kirchenrecht ist nicht nur gedacht als einstmals gültiges, sondern als noch jetzt und jetzt von Neuem gefordertes Recht in der reformierten Kirche. Aber trotzdem nennen wir es „reformiertes” Kirchenrecht, nicht nur deshalb, weil es das Prinzip der Reformation zu verwirklichen sucht, sondern weil es in seinem Wesen und in seinen Normen dem alten reformierten Kirchenrecht entspricht, wenn auch der systematische Aufbau in neuer Form erscheint. So möchte diese Arbeit, indem sie von neuer Fragestellung aus in die Gedankenwelt der Reformatoren, besonders Calvins, einführt, zugleich der Gegenwart und Zukunft dienen und mithelfen an der Wiederanknüpfung des seit der Aufklärung zerrissenen Gemeinschaftsbandes mit der Reformation. Diese Arbeit ist ein Bekenntnis der Gemeinschaft mit der Reformation als geschichtlichem Ereignis und zugleich ein Bekenntnis zur Reformation als dem immergültigen Prinzip.
Der Zweck liegt darum nicht in der möglichst eingehenden Darstellung der einzelnen Normen des reformierten Kirchenrechtes, sondern in der Aufweisung der grossen Zusammenhänge zwischen
|10|
diesen Normen untereinander und in ihrer Beziehung zum reformierten Prinzip, zu der gesamten reformierten Glaubenslehre. So kommt schon der Einteilung und der Unterordnung der einzelnen Gegenstände in das ganze System eine grosse Bedeutung zu. In der formalen Gestaltung der einzelnen Linien zu einem Gesamtbilde liegt das Neue und der Sinn dieses Buches. Nach aller Analyse der vergangenen kritischen Epoche ist heute eine Synthese notwendig. Daher steht nicht das historische Interesse im Vordergrunde, sondern das dogmatische, von dem aus erst das deutende Licht auf die Geschichte und die einzelnen Gegenstände fallen kann. Je nach der dogmatischen Deutung werden ja die historischen Erscheinungen und Zusammenhänge anders gewertet und erfasst.
Das reformierte Kirchenrecht ist in seinem Wesen theologischer Natur, aber von unserer Theologie beinahe ganz vernachlässigt und nur der Jurisprudenz überlassen worden. Auch diese Arbeit ist hervorgegangen aus kirchenrechtlichen Studien an der juristischen Fakultät der Zürcher Universität, besonders unter Prof. Dr. Fritz Fleiner, dem ich für grundlegende Anregungen im kirchenrechtlichen Denken sehr zu Dank verpflichtet bin.
Um die Arbeit nicht unnötig zu belasten mit Auseinandersetzungen haben wir grundsätzlich auf Vergleiche mit anderen, z.B. den römisch-katholischen oder lutherischen Kirchenrechtslehren, verzichtet, trotzdem manche Erkenntnisse gerade im Forschen nach den Unterscheidungen gewonnen wurden. Wir sind uns aber dessen bewusst, dass die vergleichende Behandlung eine noch zu
|11|
leistende Aufgabe ist. Jedoch hat die selbständige Darstellung den Vorteil, das reformierte Kirchenrecht besser als abgerundete Einheit erscheinen zu lassen, die nicht etwa nur als Gegensatz zum römischen Kirchenrecht oder als Ueberrest davon Bestand hat, auch nicht als Abbiegung des lutherischen Kirchenrechts. — Eine Ausnahme macht nur die Auseinandersetzung mit dem Independentismus, die wegen der weitverbreiteten Auffassung nötig wurde, dass der Independentismus erst den Calvinismus und das reformierte Prinzip in voller Konsequenz verwirklicht habe. Dass dagegen der Independentismus im Widerspruch steht zum reformierten Kirchenrecht und zum reformierten Prinzip, musste gezeigt werden.
Ferner mussten wir auf die Behandlung des Verhältnisses von Kirche und Staat, das gerade in seiner dogmatischen Seite in der deutschen Literatur noch wenig bearbeitet wurde, verzichten, um die Studie nicht zu sehr anwachsen zu lassen, trotzdem dies auch eine Frage des reformierten Kirchenrechts ist.
Herrn Prof. Dr. H. Bouwman in Kampen bin ich für manche Mitteilungen zu Dank verpflichtet. Besonders war es mir wertvoll, in einen Abschnitt (über das Amt) des Manuskriptes seines neuen Werkes über Kirchenrecht Einsicht nehmen zu dürfen. Herrn Prof. Dr. G. Schrenk in Zürich verdanke ich einige wertvolle Mitteilungen über neutestamentliche Fragen und Literaturangaben. Endlich ist es mir eine angenehme Pflicht, Herrn J.H. Kok, Verleger in Kampen, für seine grosse Zuvorkommenheit meinen Dank auszusprechen, durch die es mir möglich wurde, auch
|12|
niederländische Literatur zu benützen. — Dem Gedankenaustausch mit einigen Theologen aus dem Kreise der Jungreformierten in Zürich verdanke ich viel Anregung und Förderung für meine theologischen Erkenntnisse.
Diese Arbeit ist nicht nur akademischem Interesse entsprungen, sondern der Verantwortung, die ich als Glied der Kirche zu tragen habe in Erfüllung der Pflichten des allgemeinen Priestertums. Es war vor allem das Studium der kirchlichen Verhältnisse meiner Vaterstadt Genf, das mich zum Entschluss führte, dem Wesen des reformierten Kirchenrechts nachzufragen und seine Grundlagen zu erforschen. Nicht das ist wichtig, dass die Kirche eine grossartig konstruierte und prächtig funktionierende Organisation besitze, sondern dass auch ihre sichtbare Gestaltung nur dem einen Ziele diene: der Ehre Gottes.
Reformationsonntag 1925.
Vor allem hat der Abschnitt über die Literatur zum reformierten Kirchenrecht eine Erweiterung erfahren. Er erscheint in der zweiten Auflage als gesondertes Kapitel. — Ein Teil dieser Arbeit wurde von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich als juristische Doktordissertation genehmigt.
Juni 1926.