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Auf dem Unterbau der drei ersten Kapitel könnten wir nun unmittelbar das System des allgemeinen reformierten Kirchenrechtes aufbauen. Da wir aber ziemlich weit ausholen mussten und da unsere Behandlung von der üblichen Kirchenrechtswissenschaft wesentlich abweicht, ist es gerechtfertigt, vor dem Beginn des zweiten Teils ein Kapitel der Reflexion über die Konsequenzen dieser Kirchenrechtsbetrachtung einzufügen. Wir beginnen mit einer kurzen Rekapitulation über die Kriterien der Souveränität und Gerechtigkeit in ihrer Erfüllung für das reformierte Kirchenrecht.
Als erstes allgemeines Rechtskriterium haben wir die Souveränität bezeichnet. Wie ist dieses Kriterium erfüllt für das reformierte Kirchenrecht? Gott ist Souverän in allem geistlichen Recht. Im reformierten Kirchenrecht nun ist die Souveränität Gottes gegeben durch den Geist (Pneuma) und durch das Wort Gottes (Christus — Schrift). Christus als Herr der Kirche regiert die Kirche durch seinen Geist und durch sein Wort. Das ist nicht aufzufassen im Sinne einer Teilung, so dass die Kirche zu einem Teil durch das Wort
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verfasst wäre und zu einem andern Teil durch den Geist, sondern die Kirche ist vollständig durch das Wort verfasst und sie ist zugleich auch vollständig durch den Geist verfasst. Wenn wir hier sagen, die Kirche sei verfasst, so bezieht sich das ganz allgemein auf das Bestehen der Kirche. Die Kirche ist durch Wort und Geist gegründet, sie hat ihr Dasein im Wort und im Geist. Das gilt in erster Linie vom Leibe Christi als der unsichtbaren Kirche. Es gilt aber auch in besonderer Weise von der sichtbaren Kirche. Hier können wir noch weiter gehen und sagen: die sichtbare Kirche ist verfasst in der Schrift und im Geist. Die Souveränität Gottes nun ist erfüllt in der restlosen Autorität Christi. Und seine Autorität ist gewahrt in der Anerkennung der Autorität der Schrift.1) Dabei ist immer im Auge zu behalten, dass Christus als das Wort Gottes (und in der Folge die Schrift) selber zugleich die souveräne Autorität ist und die Norm Gottes.
Von hier aus können wir die Frage nach der Kirchenhoheit beantworten für die sichtbare Kirche. Diese besitzt von sich aus keinerlei Gewalt, sondern ist vollständig gebunden an die Schrift. Ihre ganze Gewalt besteht nur im Bekenntnis des Wortes. Sobald sie etwas anderes bekennt und sich nicht unter die Schrift stellt, handelt es sich nicht mehr um geistliches Recht. Die Kirchenhoheit kommt der Schrift zu. So sagt die niederländische Kirchenordnung von 1619 (Art. 31): „Was die höchste Stimmenzahl auf sich vereinigt, soll als fest und gültig gehalten werden, es werde denn erzeigt, dass es gegen Gottes Wort streitet.”
1) Inst. 4, 8, 1 ff.
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Was uns hier in diesem Zusammenhange berührt,2) ist der Hinweis auf die oberste Autorität der Schrift. Die Synode erklärt sich in dieser Bestimmung selbst abhängig von Gottes Wort. Slotemaker de Bruine erhebt hier den Einwand,3) dass nicht dem Worte Gottes die höchste Gewalt zukomme, sondern der Synode; denn sonst sei keine Instanz da, um zu beschliessen, was Gottes Wort sagt. Freilich geht er nicht direkt von der Souveränitätsfrage aus, sondern von einer praktischen Schwierigkeit. Stellen wir aber die Souveränitätsfrage als die kritische Frage auch des Kirchenrechts, so zeigt sich sofort die ganze Tragweite seiner Stellungnahme. Allerdings ist die Möglichkeit von Kirchentrennungen gegeben bei Verschiedenheiten in der Auffassung.4) Wird aber
2) Ueber das Wesen der Synode und des von ihr
erlassenen Kirchenrechtes vergl. Kap. VI im Abschnitt über das
Gemeindeprinzip.
3) Slotemaker de Bruine: Nederlandsch Hervormd
Kerkrecht, 1924, S. 5 f.
4) Die reformierte Lehre geht von der Voraussetzung
aus, dass die Schrift einen eindeutigen Sinn habe. Es ist zwar
heute die Anschauung weit verbreitet, dass in der Reformation ein
Ursprung des modernen Subjektivismus liege, indem sie die
Menschen von der Autorität des Papsttums befreit habe. Allerdings
hat die Reformation die freie und persönliche Schriftauslegung
gebracht, aber sie setzte voraus, dass die Schrift einen
eindeutigen Sinn habe. Die Freiheit ist die Atmosphäre, die
geistige Bedingung, in der das rechte und richtige Verständnis
der Schrift am besten gedeiht und der wahre Sinn erkannt wird.
Man vergleiche auch die Stellung Calvins z.B. in Institutio 4.
10, 3 ff., wo geradezu die Schriftgemässheit gleichgesetzt wird
mit der Gewissensfreiheit, indem in der Schriftgemässheit die
Garantie gesehen wird für die Freiheit des Gewissens. Alles, was
der Bibel entspricht, ist kein Gewissenszwang. Denn der Kern des
Evangeliums ist eben die Befreiung und Freiheit des Gewissens,
die Freiheit des Christenmenschen. Alles, was deshalb dem Worte
Gottes widerspricht und trotzdem gefordert wird, sei es vom
Staate oder von der Kirche, alles das kann nur Gewissenszwang
bedeuten, Knechtung, ➝
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das Kirchenrecht auf den Boden der Souveränität Gottes gestellt, so müssen wir auch diese Möglichkeit bejahen.5) Bei der Anerkennung der Gebundenheit der Kirchengewalt an das Wort Gottes kommt es eben in keiner Weise auf die irdischen Machtverhältnisse an, sondern allein auf den Gehorsam gegenüber Gottes Wort. Wird aber die Synode als Souverän anerkannt, so ist damit zugleich die Souveränität Christi ausgeschaltet. Fragt man diese Synode nach ihren Machtmitteln, so kann sie keine aufweisen und muss deshalb den Arm des Staates anrufen. Es handelt sich dann im Kirchenrecht nicht mehr um geistliches, sondern um weltliches Recht. Denn es ist klar, dass in einem Fall, der in concreto dem Worte Gottes widerspricht, dieses unmöglich als das „Schwert des Geistes” dienen kann. Stellt sich eine Kirche auf den Standpunkt der Synodalsouveränität, so kann es sich nicht mehr um reformiertes Kirchenrecht handeln.
Zur Souveränität gehört als zweites Kriterium die Gerechtigkeit. Hier ist festzuhalten, dass alle Gerechtigkeit erfüllt ist in Christus und zwar auch für die Normen des sekundären geistlichen
➝ Tyrannei. Was dagegen im Einklang steht mit der Schrift,
alles das bewegt sich im Rahmen der Freiheit des Gewissens. Denn
diese Freiheit ist selber begründet im Worte Gottes. Dieses aber
ist die absolute Wahrheit und besitzt einen eindeutigen Sinn.
Freilich ist der eindeutige Sinn oft verdunkelt durch die
menschliche Schwäche und die irdische, gebrochene Form der Bibel.
Durch das Licht des Heiligen Geistes aber wird den Erwählten der
eindeutige Sinn der Schrift geöffnet. Vergl. dazu CH 2.
5) Vergl. den Abschnitt im Kapitel VI über die
Reformation.
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Rechtes, also auch für das Kirchenrecht. Es ist also völlig ausgeschlossen, dass es im Kirchenrecht ein Strafrecht gibt; denn alle Strafe ist von Christus getragen. Dies ist besonders wichtig im Blick auf die Kirchenzucht, die niemals den Sinn eines Strafrechtes hat. Das Gesetz der Vergeltung gilt in ihr nicht. Das bedeutet nun nicht, dass das Kriterium der Gerechtigkeit im reformierten Kirchenrecht wegfällt oder aufgehoben ist. Nein, es hat ebenso sehr seine Gültigkeit wie in allem Recht. Es gewinnt hier den Sinn, dass alle Normen des reformierten Kirchenrechts (wie alle Normen des sekundären geistlichen Rechts überhaupt) direkt bezogen sein müssen auf die Erfüllung der Gerechtigkeit durch Christus, also auf die Rechtfertigung. Diese Beziehung auf die Rechtfertigung ist erfüllt, wenn die Normen schriftgemäss sind. Dadurch ist uns aber auch der zentrale Punkt bezeichnet, um den sich die ganze Schrift gliedert, was für die Auslegung der Schrift und für die Methode des Kirchenrechts von eminenter Bedeutung ist.
Wir knüpfen hier an das eben Gesagte an. Vor die Aufgabe gestellt, die Normen des reformierten Kirchenrechts darzulegen, haben wir zweierlei zu beachten. Erstens haben wir diese Normen zu gewinnen aus der Schrift, d.h. durch Auslegung der Bibel. Für diese Auslegung ist uns aber zugleich durch das Kriterium der Gerechtigkeit der Weg gewiesen: sie muss ausgehen von der Rechtfertigung. Es ist nicht so, dass wir in der Bibel
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gewissermassen einen Kodex des reformierten Kirchenrechtes vor uns haben, sondern durch die Schrift als Ganzes sind die Normen bezeichnet. Aufgabe der Kirchenrechtswissenschaft ist es nun diese Normen in ihrem organischen Zusammenhang als durch die Schrift gefordert darzulegen. Das kann nur geschehen im Wege der Dogmatik. Dadurch, dass die Normen des reformierten Kirchenrechts durch das Wort Gottes gefordert sind, ist die reformierte Kirchenrechtswissenschaft als eine theologische Disziplin bezeichnet.6) Das Kirchenrecht selbst ist ein Teil der reformierten Dogmatik. Es muss deshalb in engem organischem Zusammenhang mit der gesamten reformierten Lehre stehen. Die Dogmatik ist aber stets gebunden an die Bibel. Sie kann niemals an die Stelle der Bibel treten. So ist es auch niemals möglich, einen Kodex des reformierten Kirchenrechts aufzustellen, der allgemeine Gültigkeit besässe. Umgekehrt aber kann die Kirche niemals auskommen ohne diese Dogmatik. Nicht nur ist die Dogmatik eine Reflexion über die gegebene Wirklichkeit, sondern indem die Dogmatik verschiedene Stücke organisch miteinander zu einem System verbindet, liegt in ihr auch ein die Grenzen dieser einzelnen Stücke garantierendes Prinzip. Wo dieses Suchen nach dem organischen Zusammenhang aufhört, wo z.B. aus der Bibel, ohne den Zusammenhang mit der gesamten Lehre zu wahren,
6) Ueber das Verhältnis von Wort Gottes und Theologie vergl. Karl Barth: Das Wort Gottes und die Theologie, gesammelte Vorträge. Ueber die Stellung des Kirchenrechtes innerhalb der Theologie vergl. Kuyper: Encyclopaedie der heilige Godgeleerdheid; 1909, Bd. 3, S. 231 ff.
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die Regeln für eine Kirche abgeleitet werden,7) da müssten Uebergriffe stattfinden und eine Loslösung der Kirche und des Kirchenrechtes von der Schrift. Die Forderung der dogmatischen Methode bedeutet aber auch: stets erneuerte Prüfung an der Schrift. Nicht dass die Dogmatik unfehlbar wäre! Sie hat viele Irrwege eingeschlagen; aber in dieser immer erneuten Kritik von der Bibel aus liegt die Möglichkeit eines Fortschrittes und einer immer besseren Erkenntnis sowohl für die Kirchenrechtswissenschaft wie für die Kirche selbst. In diesem Aufsuchen des dogmatischen Zusammenhanges liegt die Möglichkeit für eine fortgesetzte tiefere Verwurzelung der Kirche in der Schrift und für eine dementsprechende Umgestaltung. Diese Umgestaltung wird immer neu zur Notwendigkeit. Legt sich eine Kirche auf eine Dogmatik auch in kirchenrechtlicher Beziehung fest, ohne stets daran weiter zu arbeiten, so ist bald das ganze Kirchenrecht und
7) Vergl. z.B. die kirchenrechtlichen Schriften des Reveil oder die dem Sektenwesen anhaftenden Versuche, möglichst genau die Urkirche zu kopieren. Nicht darauf kommt es im reformierten Kirchenrecht an, dass möglichst genau die urchristliche Kirche nachgeahmt, sondern dass die Kirche nach den gleichen Normen gestaltet wird. Wenn die Reformation die Kirche „wiederherstellen” will, so greift sie wohl immer zurück auf die Urkirche. Aber im Gegensatz z.B. zum Täufertum sucht die reformierte Lehre nach den gestaltenden Prinzipien, wie sie auch im Urchristentum zur Geltung kommen und richtet die Kirche darnach ein. Die urchristliche Kirche gehört nicht zur Heilsgeschichte, ebensowenig wie die „urreformierte” Kirche. Freilich kommt der Urkirche eine autoritäre Stellung zu, indem sie nach der apostolischen Verkündigung organisiert ist. Ihre Geschichte gehört zum Kanon des Neuen Testamentes. Aber gerade an der Urgemeinde ist zu entnehmen, wie sie nach allgemein und immer gültigen Normen des Kirchenrechtes Gestalt gewonnen hat, und wie diese Normen sich unterscheiden von nur zeitlich und örtlich bedingten Einrichtungen. Nur im Zusammenhang mit der gesamten biblischen Lehre ist das zu erkennen.
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die Lehre verfälscht. Umgestaltung in diesem Sinne heisst aber nie Anpassung an den Zeitgeist, sondern stets erneuerte Reinigung vom Zeitgeist. Zumal nach einer Epoche, die überhaupt nicht mehr sich mit der Dogmatik des Kirchenrechts befasst hat, wird eine solche Behandlung des Kirchenrechts in einen grossen Gegensatz gestellt sein zu den Idealen des Zeitgeistes, die in der Kirche und in der Kirchenrechtswissenschaft Eingang gefunden haben.
Wir heben hervor, dass wir an einem Kapitel stehen, das zur Reflexion eingeschoben wurde. Nicht erst für den folgenden Teil der Arbeit sind wir nun an die dogmatische Methode gebunden, sondern wir haben sie bis jetzt schon befolgt. Denn was wir bisher gesagt haben, wollte nur ein streng dogmatischer schriftgemässer Aufbau der reformierten Glaubenslehre sein, soweit ihre Darstellung notwendig ist zur Bezeichnung der Grenzen und des Wesens des reformierten Kirchenrechts. Deshalb haben wir auch die Rechtfertigungslehre ins Zentrum gestellt. Wenn wir bis jetzt und im Folgenden wieder Ableitungen machen aus gegebenen Voraussetzungen, so muss beachtet werden, dass es sich nicht darum handelt, logische Beweise zu liefern, sondern nur den dogmatischen Zusammenhang organisch aufzuweisen. Das zeigt sich vor allem daran, dass wir an allen entscheidenden Punkten die Aussagen nur machen können auf Grund der Bibel.
Im weltlichen Rechte nannten wir Billigkeit die Bezogenheit des weltlichen Rechts auf die Sittlichkeit.
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Eine ähnliche Bezogenheit bezeichnen wir im reformierten Kirchenrecht als Billigkeit. Dabei müssen wir uns aber ganz klar sein, dass die Begründung und deshalb auch die Auswirkung der Billigkeit im Kirchenrecht eine wesentlich andere ist als im weltlichen Recht. Dort bedeutet Billigkeit, dass eine höhere Norm für den weltlichen Souverän sittlich verpflichtend ist. Hier ist Gott selbst souverän und es kann deshalb nicht von einem noch höheren Souverän eine Gott verpflichtende Norm vorliegen. Aber durch das Verhältnis des sekundären zum primären geistlichen Recht ist eine Beziehung gegeben, die der Billigkeit im weltlichen Rechte sehr ähnlich ist und die wir deshalb auch mit diesem Ausdruck bezeichnen. Die primäre Rechtsordnung ist in sich geschlossen, die sekundäre Rechtsordnung ebenfalls. Wesentlich ist nun aber, dass die sekundäre Rechtsordnung die primäre nicht aufhebt, ja, dass sie die primäre Sittlichkeit in sich aufnimmt und unter die sekundäre Norm des Glaubensgehorsams und der Selbsthingabe stellt.
Wir haben schon im Abschnitt über das Schriftprinzip dargetan, dass die Offenbarung des Wortes Gottes sich auch auf die primäre Sittlichkeit bezieht, indem durch die Gnade das ganze Verhältnis zur Schöpfung restituiert wird. Auch in diesem Sinne ist die primäre Sittlichkeit in die sekundäre Rechtsordnung aufgenommen, nämlich in die Offenbarung des Wortes Gottes, in die Schrift.
Unter Billigkeit im reformierten Kirchenrecht verstehen wir nun eben diese Tatsache, dass die primäre Sittlichkeit grundsätzlich anerkannt wird. Durch das sekundäre Recht ist kein einziger Satz
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des Moralgesetzes aufgehoben, sondern dieses ist erst recht wieder in seinem ganzen Umfange erkannt. Freilich wird durch das Moralgesetz kein Kirchenrecht geschaffen, sondern die Normen des sekundären geistlichen Rechts besitzen ihre Geltung unabhängig vom primären Sittengesetz, aber die primäre Ordnung ist gewissermassen das Feld, in dem sich die ganze sekundäre Ordnung auswirkt. Die natürliche Schöpfungsordnung ist der Boden, auf dem sich alles, auch die sekundäre Ordnung abspielt. Die sittliche Ordnung wird von der sekundären durchdrungen, und diese gilt im Rahmen der primären Ordnung. Diese Beziehung nennen wir die Billigkeit im reformierten Kirchenrecht.
Insofern als auch die sittliche Ordnung durch das Wort Gottes offenbart ist, ist auch hierin das Kirchenrecht ganz an die Schrift gebunden. Die Offenbarung der Sittlichkeit in der Schrift geschieht aber vor allem dadurch, dass von der Schrift aus auf die ganze Schöpfung Licht fällt. Insofern dient auch die Erfahrung in der Natur und in der Geschichte als Unterlage für die Gestaltung des Kirchenrechts. Hier ist es noch besonders wichtig, auf das Verhältnis des Kirchenrechts zur Geschichte hinzuweisen, das ganz bestimmt ist von der Forderung der Billigkeit im eben angegebenen Sinne.
Schon eine äusserliche Betrachtung der historischen Entwicklung des Kirchenrechts seit der Reformation lässt uns vermuten, dass dieser Entwicklung eine grosse Bedeutung zukommt. Können wir doch in weitem Masse die Zusammenhänge aufweisen, die zwischen den verschiedenen
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Kirchenordnungen bestehen und die sich meistens auf einen Einfluss Calvins zurückführen lassen. Calvins kirchenrechtliche Anschauungen selbst wieder lassen eine bestimmte Entwicklung und Anknüpfungspunkte erkennen. Auch der rein persönlich überragende Einfluss Calvins spielte eine grosse Rolle in der Geschichte der Kirchenverfassungen. Aber es wäre doch verfehlt, wenn man allein diese Umstände und Verhältnisse heranziehen wollte für die Deutung des reformierten Kirchenrechts. Der historischen Entwicklung kommt vielmehr in der dogmatischen Betrachtung eine bestimmte Bedeutung zu. Die Beziehung zur Vergangenheit ist für den Reformierten ebenso eine Gegebenheit der göttlichen Naturordnung wie die Beziehungen zu den Verhältnissen der gesamten Gegenwart. Die Rücksicht auf die historische Entwicklung ist einer der wichtigsten Anwendungsfälle der Billigkeit im reformierten Kirchenrecht. Doch ist damit auch gegeben, dass diese Anwendung nicht allgemeine Bedeutung erlangen kann, sondern nur in den konkreten verschiedenen Verhältnissen. Hier war es nur unsere Aufgabe, im Prinzip diese Beziehung und Rücksicht des Kirchenrechts auf die historische Gegebenheit festzustellen. Es ist ein unbedingtes Erfordernis, dass jede Kirche ihre Vergangenheit bejahe. Das heisst nicht, dass sie stets denselben Stand einnehmen soll. Das besondere Kirchenrecht wird sich mit den Verhältnissen abwandeln. Aber es ist nie möglich, dass eine Kirche sich vollständig von ihrer Vergangenheit loslöst und gewisser-massen ein zeitloses Dasein führt.
Die dogmatische Kirchenrechtsbehandlung ist auch weit entfernt davon, die Bedeutung von
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Führern wie Calvin oder andern Persönlichkeiten zu verkennen. Sie wird es freudig zugeben, dass es einzelne Männer sind, die einer Entwicklung von Jahrhunderten ihren Stempel aufgedrückt haben. Aber niemals wird sie sich irgendwie verpflichten auf diese Männer und ihnen irgendwelche kirchenrechtlichen Autorität zuerkennen. Es ist notwendig, mit diesen Persönlichkeiten zu rechnen, aber nie anders als im Sinne der Billigkeit.
Es ist noch die Frage zu beantworten, ob sich die Anerkennung der sittlichen Weltordnung auch auf die Bejahung des weltlichen Rechts erstreckt. Trotzdem wir einen Gegensatz zwischen dem Moralgesetz und den Kriterien des weltlichen Rechts erkennen können, so bleibt dennoch auch die weltliche Rechtsgewalt grundsätzlich anerkannt als von Gott verordnet. Wenn auch ein Unterschied gemacht werden kann zwischen der ursprünglichen, paradiesischen Schöpfungsordnung und der jetzigen Naturordnung, die mit der Sünde rechnet, so bildet dennoch die jetzige Ordnung die Grundlage. Auch für den Christen ist trotz des regenerierenden Charakters der Erlösung die Staatsgewalt, welche die Sünde eindämmt, notwendig. Es gab auch zu Calvins Zeit Leute, die meinten, für die erlösten Christen sei die Obrigkeit nicht mehr notwendig. Calvin lehnt diese Meinung grundsätzlich ab, einmal deswegen, weil auch die Christen nicht vollkommen sind und noch unter der Sünde stehen; aber sogar, wenn alle Christen vollkommen wären, so ist es in dieser Zeit der Schöpfungsordnung nicht angängig, die Staatsgewalt aufzuheben, sondern sie hätte sich vielmehr in den Dienst Christi zu stellen.8)
8) Inst. 4, 20, 5.
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Im vorigen Abschnitt haben wir eine Forderung von weittragender Bedeutung für das reformierte Kirchenrecht behandelt, nämlich die Bezogenheit alles Kirchenrechts auf die natürlich und geschichtlich gegebenen Verhältnisse. Daraus ergibt sich die Tatsache, dass zum Kirchenrecht, wie es in Wirklichkeit gültig ist, notwendigerweise ganz konkrete Verhältnisse gehören, in deren Rahmen es erst Geltung gewinnen kann. Ohne diese natürlichen Verhältnisse, ganz losgelöst von allen historischen Gegebenheiten kann reformiertes Kirchenrecht gar nicht zur Geltung kommen. Diese Verhältnisse sind aber überall verschieden. So gibt es kein gemeines Recht für die reformierte Kirche, wie es z.B. der Codex juris canonici für die römische Kirche darstellt. Wenn wir aber trotzdem von allgemeinem reformiertem Kirchenrecht sprechen, so fassen wir darunter die Normen zusammen, die sich aus der Schrift für die Kirche allgemein ergeben. Dabei behalten wir immer im Auge, dass erst in der besondern Verwirklichung in einer konkreten Kirche das Kirchenrecht zur Geltung gelangt. Mit dem allgemeinen Kirchenrecht stellen wir also nicht einen Normaltypus einer reformierten Kirche auf, sondern in diesem allgemeinen Teil selber wird das besondere Recht, die konkrete Verwirklichung gefordert. Die Lehre vom besonderen Kirchenrecht gehört also in das allgemeine Kirchenrecht hinein und wird dort an der gegebenen Stelle noch zu besprechen sein. Hier wollten wir nur vorläufig den Begriff des allgemeinen Kirchenrechts erklären, da er im Titel des zweiten Teiles vorkommt.
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Das allgemeine Kirchenrecht gehört mit zur Glaubenslehre der reformierten Kirche. So finden wir in allen reformierten Bekenntnissen Abschnitte, die das Kirchenrecht beschlagen. So ist z.B. auch beinahe das ganze vierte Buch von Calvins Insti-tutio eine Abhandlung über das allgemeine Kirchenrecht, während uns in der Genferischen Kirchenverfassung und Kirchendisziplin besonderes Kirchenrecht entgegentritt. Die Unterscheidung zwischen allgemeinem und besonderem Kirchenrecht ist aber in der Folge zu wenig aufgenommen worden von der Kirchenrechtswissenschaft. Dieser Umstand hat wesentlich zur Unfruchtbarkeit der reformierten Kirchenrechtswissenschaft in den letzten Jahrhunderten beigetragen.