XI
Die Aufgabe der Kirchen, dem Werden der Ekklesia zu dienen

 

Was wir als in der Geschichte gewordene Kirche oder Kirchen kennen, kann nicht den Anspruch erheben, Ekklesia im Sinn des Neuen Testamentes zu sein. Die einen dieser Kirchen, die griechisch-orthodoxe und die römisch-katholische haben gegenüber denjenigen, die aus und seil der Reformation entstanden sind, den großen Vorzug, daß sie „geworden und nicht gemacht” wurden. Sie sind in einem langsamen und kontinuierlichen Prozeß der Entwicklung zu dem geworden, was sie heute sind. Sie können sich allen anderen gegenüber auf das Prinzip berufen, daß Ekklesia nicht gemacht werden kann, daß etwas, was durch einen Akt von Menschen gemacht wurde, nicht Ekklesia sein kann. Dieser Prozeß aber, durch den sie geworden sind, ist nicht nur, wie sie meinen, ein Prozeß der Entfaltung, der wachstümlichen Entwicklung des ursprünglich — obschon nur keimhaft — Gegebenen, sondern zugleich ein Prozeß der Verwandlung, der Transformation, dessen Endprodukt eine Kirche ist, die — wie vor allein im Fall der römischen — mit dem Ursprünglichen kaum mehr identifizierbar,

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sondern etwas zum Wesen der Ekklesia im Widerspruch stehendes ist.

Die Kirchen der Reformation dagegen können für sich in Anspruch nehmen, daß sie aus dem Willen entstanden sind, diese Wesensveränderung rückgängig zu machen, aus dem Willen der re-formatio im Sinn der ursprünglichen Ekklesia. Sie können aber nicht leugnen, daß sie durch einen menschlichen Akt gemacht worden sind, sei es durch den Gründungsakt eines reformationsfreundlichen Staates — wie die Kirchen Deutschlands, der Schweiz, Englands, Schottlands und Hollands u.a. — oder aber durch einen Gründungsakt einzelner Christen, die sich zur Bildung einer neuen, wahrhaft reformierten Kirche oder Gemeinschaft zusammenschlössen. Die neutestamentliche Ekklesia aber ist so nicht entstanden. Sie steht als etwas anderes, sowohl jenen durch Transformation entstandenen katholischen wie auch diesen durch einen Gründungsakt staatlicher oder privater Art geschaffenen protestantischen Kirchen und „Sekten” gegenüber. Das greifbare Merkmal dieser Andersheit ist die rechtliche Organisation. Alle Kirchen sind Rechtsgebilde, Institutionen im Rechtssinne. Die Gundthese Rudolph Sohms, das Wesen der Kirche (er meint der Ekklesia) stehe zum Wesen des Rechts im Widerspruch, ist unwiderlegbar, ob nun dieses Recht wie in den katholischen Kirchen heiliges, sakrales Recht, oder aber wie in den Kirchen der Reformation weltliches, profanes Recht sei, ob es wie in den Kirchengründungen der Reformatoren selbst öffentliches oder wie in den Freikirchen und Gemeinschaften privates, Vereinsrecht sei. In dieser Rechtsnatur der Kirchen kommt ihr Charakter als Institutionen am massivsten zum Vorschein — und gerade dieser ist es, der sie von der Ekklesia des Neuen Testaments unterscheidet und unüberbrückbar trennt. In dieser Rechtsnatur der Institution

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Kirche zeigt sich, daß sie entweder das Produkt einer Transformation ist, oder aber daß sie gemacht wurde, so wie durch den Beschluß des Zürcher Rates die reformierte Kirche von Zürich geschaffen wurde.

Die Ekklesia aber ist nie gemacht worden und kann nicht gemacht werden; die Ekklesia weiß aber auch nichts vom heiligen Kirchenrecht. Sie ist keine Institution. Darum kann nie, weder durch Reinigung noch durch Neuschaffung eine Kirche Ekklesia sein. Die Aufgabe der Kirchen kann also nicht die sein, Ekklesia zu werden — das kann sie nie und nimmer —, sondern nur die, dem Werden von Ekklesia zu dienen, und — das ist ein durchaus nicht selbst verständliches Minimum — es nicht zu hindern. Dabei heißt Ekklesia das, was wir aus dem Neuen Testament als ihr eigentliches Wesen erkannten: Gottesgemeinschaft durch Jesus Christus und in ihr begründete Bruderschaft oder Menschengemeinschaft. Die Einheit von Christusgemeinschaft und Bruderschaft ist das Wesen der Ekklesia. In Ihr ist als Zweites eingeschlossen: die Einheit von gottesdienstlicher Gemeinde — Gottesdienst im üblichen, kultischen Sinne, im Sinne von worship verstanden — und gottesdienstlicher Werktagswirklichkeit der einzelnen Gemeindeglieder. Im Neuen Testament ist gerade dasjenige, was später als „Sakrament” das eminent Kultische wurde, die Mahlgemeinschaft, Zeichen dieser doppelten Einheit.

Diese Christusgemeinschaft und Bruderschaft ist vor allem begründet im Christuswort, das Gottes Tun und Gottes Gabe, vor allem die Versöhnung durch das Kreuz Christi und „das himmlische Erbe” des ewigen Lebens bezeugt und das den Hörer für sich, für Gottes Herrenwillen und väterliche Gnade, in Anspruch nimmt. Dieses Wort ist nicht identisch mit der daraus abgeleiteten Theologie, sondern es ist ein vom Heiligen Geist gegebenes, Leben und Gehorsam

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schaffendes Wort, das darum immer verbunden ist mit der Bezeugung des durch Christus neu geschaffenen Lebens und darum nie isoliert ist von der Wirklichkeit der Christusgemeinschaft und der Bruderschaft.

Diese Christusgemeinschaft ist darum ebenso fundamental wie im Wort auch begründet in der Wirksamkeit des Heiligen Geistes als einer über-logischen Dynamis, die auch ohne Wort wirksam sein kann durch das Zeugnis der Liebe, des innersten Friedens der Versöhnten und ihrer Freudigkeit mitten im Leiden, durch die Kraft des Zusammenhaltens der Brüder, durch deren Aufgeschlossenheit für die Nöte und Bedürfnisse der anderen, durch die Bereitschaft zum persönlichen Opfer, das als selbstverständliche Konsequenz des Opfers Christi verstanden wird. Als der Heilige erweist sich dieser Geist der Gemeinde darin, daß er Gottes Ehre sucht und alles, was die Glieder der Ekklesia haben, sind und vermögen, als Gabe Gottes durch Jesus Christus bezeugt.

Wo Jesus Christus so gegenwärtig ist unter Menschen, da ist Ekklesia im Werden. Nicht „unsichtbare Kirche"! Denn diese Verbundenheit durch Christus ist nicht nur ein Gegenstand des Glaubens, sondern zugleich eine reale, dem Glauben sichtbare Erfahrungswirklichkeit. Ja, etwas davon ist sogar den Ungläubigen „sichtbar” — an der Liebe „wird die Welt erkennen, daß ihr meine Jünger seid”. „Seht wie sie einander lieb haben”, ist das Zeugnis der Heiden — während allerdings der Grund und das tiefste Wesen dieser Liebe der ungläubigen Welt weder bekannt noch erkennbar ist, nämlich die Gegenwart des Hauptes dieses Leibes, die die Gemeinde wohl mit den Augen des Glaubens, aber nie mit leiblichen Augen zu schauen bekommt.

Weil und insofern als es sich immer nur um Ekklesia-im-Werden handelt, kann die Aufstellung von dogmatischen

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wie auch von moralisch-sozialen Kriterien immer nur einen relativen, ja sogar zweideutigen Wert besitzen; denn wer kann Kriterien aufstellen für die Wirksamkeit oder Nichtwirksamkeit des Heiligen Geistes in einem Merzen, dem Gott erst anfängt, sich zu offenbaren? Wer will Kriterien der Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit aufstellen, die nicht unter Umständen gerade solche ausschließen, in denen Gott heimlich angefangen hat, sie an sich zu ziehen? Die Grenzen der Ekklesia gegen die Welt hin bleiben darum allerdings „unsichtbar” für Menschenaugen; ein maximales dogmatisches Bekenntnis kann ebenso täuschen wie die Abwesenheit eines solchen.

Zu dieser immer erst werdenden Ekklesia verhallen sich die existierenden Kirchen-institutionen als Mittel, als externa subsidia, in sehr verschiedener Weise und in verschiedenem Maße; aber auch die größte Entfernung von der neutestamentlichen Ekklesia, auch die handgreiflichste Transformation des Ekklesiawesens in einem Kirchenwesen braucht dieses nicht in unbedingtem Sinne als Hilfsmittel für das Werden der Ekklesia zu disqualifizieren. Als überzeugter Protestant zweifle ich nicht daran, daß Gott sogar das Mittel der päpstlichen Messe — die unsere Väter nicht ohne gute Gründe eine „vermaledeite Abgötterei” 1) nannten — gebrauchen kann, um Menschen in die Verbundenheit mit dem Herrn Christus zu bringen und ihnen das Herz aufzuschließen für die Not der Brüder, ebenso wie ich dessen gewiß bin, daß solche Christusverbundenheit und Bruderschaft bei den Quäkern zu finden ist, die keine Sakramente kennen, die aber desto mehr — und mehr als die meisten Kirchen — auf die Betätigung der Bruderliebe als Kennzeichen des wahren Glaubens achten. Es ist verhältnismäßig einfach, die in einer Kirche als die richtige


1) Heidelberger Katechismus, Fr. 80.

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geltende Lehre an den Lehren des Neuen Testaments zu messen; wäre dies das Kriterium der Ekklesia, so wäre bald über die Nähe und Ferne einer Kirche bei der neutestamentlichen Ekklesia entschieden; was hilft aber die beste offiziell festgesetzte Lehre, wenn sie sich als unwirksam zeigt, die Glieder dieser Kirche wirklich zu lebendigen Jüngern Jesu und die Kirche selbst zu einer wirklichen Gemeinschaft zu machen?

Von dem nunmehr gewonnenen Standort aus müssen wir nicht nur darauf verzichten, eine vera ecclesia als solche aufzufinden, sondern sogar darauf, die einzelnen Kirchen an diesem Kriterium zu messen. Wir werden einerseits aufgeschlossen sein für die Bedeutsamkeit der historischen Kontinuität der katholischen Kirchen und für das, was sie vermöge ihrer festen Struktur für die Erhaltung des evangelischen Erbes durch die Jahrhunderte hindurch getan haben, anderseits ebenso freimütig in Anschlag bringen, was kirchlich völlig unstrukturierte Gebilde für die Ausbreitung des Christusnamens und die Bildung wahrer Gemeinschaft in Christus über die ganze Welt hin getan haben. Die durch die Geschichte gewordene Idee der Kirche hat neben anderen auch diese Folge gehabt, daß gewisse Formen christlicher Gemeinschaft, denen zwar die spezifisch „kirchlichen” Züge fehlten, in denen aber entscheidende Wesenselemente der Ekklesia desto deutlicher ausgeprägt waren und sind, leicht übersehen werden, wo man nach der Kirche Christi fragt.

Wir müssen damit rechnen, daß in der Neuzeit — aus Gründen, die jetzt nicht zu untersuchen sind — neue Formen für die Verbreitung des Evangeliums und die Verwirklichung von Gemeinschaft in und durch Christus geschaffen wurden und geschaffen werden, die weit abliegen von dem, was man bisher unter Kirchen verstanden hat, die aber

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gerade darum oft tauglichere Mittel für den einen, entscheidenden Zweck sind als die Mehrzahl der Kirchen. Da sie meistens aus praktischen Nöten entstehen und von einem sehr wachen Sinn für das Gemeinschafts- und Bruderschaftselement bewegt sind, der so oft den Kirchen fehlt, haben sie nicht selten, trotzdem sie nicht Kirche sind und sein wollen, mit der Ekklesia des Neuen Testaments mehr Verwandtschaft als unsere klassischen Kirchen oder auch als die sog. „Sekten” der postreformatorischen Zeil. Wir denken da an Dinge wie die Innere Mission Wicherns in Deutschland, an den Weltbund der christlichen Jungmänner- und Jungfrauenvereine, die christliche Studentenbewegung, die Oxford-Gruppenbewegung und jetzige MRA, oder auch an Missionsgesellschaften wie die Basler oder die China-Inland-Mission, die mit keiner Kirche organisch verbunden sind. Wie viele Millionen haben hier — und nicht in einer der Kirchen — Christus und Bruderschaft in Christus kennen gelernt und ihre christliche Heimat gefunden, die sie, wenn sie sich vielleicht später einer Kirche anschlössen, dort bitter vermißten (1).

Es zeigt sich immer mehr, daß die Kirchen zwar noch immer unter dem Gesichtspunkt der Kontinuität der Verkündigung und Lehre unentbehrlich und jeder anderen Form weit überlegen sind, aber ebenso deutlich, daß sie im ter dem Gesichtspunkt der Gewinnung der Entfremdeten und unter dem der Schaffung lebendiger Gemeinschaftszellen hinter anderen, neueren Gebilden weit, zurückstehen und von ihnen in der Zukunft wahrscheinlich in den Schatten gestellt werden. Das Monopol der Christusverkündigung und erst recht das der Gemeinschaftsbildung haben sie längst verloren. Wie schon in der Nachreformationszeit die Unterscheidung von Kirche und Sekte sinnlos geworden ist — es sei denn, man definiere Sekte im Sinn der Häresie

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statt des Schismas —, so wird in der neuesten Zeit der Begriff Kirche im bisherigen Sinn des Wortes mehr und mehr problematisch und praktisch ein Hindernis gerade für die Arbeit, für die die Kirchen da sind. Es zeigt sich eben im historischen Prozeß, daß die Kirche eine geschichtlich gewordene und darum auch der geschichtlichen Relativität unterworfene Gestalt der Ekklesia ist.

Von hier aus stellt sich auch das sogenannte oekumenische Problem neu. Es ist nicht zu bestreiten, daß die Zertrenntheit der Gemeinde Jesu in eine Vielheit von Kirchen mit dem Wesen der Ekklesia als Leib Christi im Widerspruch steht und eines der größten Hindernisse für das Verständnis der Christusbotschaft, ein Ärgernis darstellt, das zu beseitigen das Bestreben all derer sein muß, die sich als Gemeinde Jesu wissen. Daraus ergibt sich mit Notwendigkeit die oekumenische Aufgabe. Es ist aber ein Kurzschluß zu meinen, das Ziel der oekumenischen Bewegung müsse die Wiedervereinigung, der organisatorische Zusammenschluß der historisch gewordenen Kirchen sein. So gewiß die Vielheit von mit einander konkurrierenden Kirchen ein Ärgernis ist, so sehr ist anderseits die Vielfalt der Formen der Christusgemeinschaft eine Notwendigkeit. Wie Gott „vorzeiten auf mancherlei Weise” 2) sein Wort gesprochen hat, so will er auch heute auf mancherlei Weise die mancherlei Arten von Menschen zu sich ziehen. Der, dem ein hochkirchlicher liturgischer Gottesdienst das höchste Maß von geistlichem Gewinn bringt, ist zweifellos ein anderer Typus von Mensch als derjenige, dem eine Heilsarmeeversammlung mit Händeklatschen und Posaunenchor denselben geistlichen Dienst tut. Sollte der Herr nicht da wie dort „mitten unter ihnen sein” können? Die Vielfalt der gottesdienstlichen und anderen Ordnungen schließt nicht die


2) Hebr. 1, 1.

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Einheit in Christus aus. Wohl aber muß umgekehrt das Gewichtlegen auf die Wiedervereinigung der rechtlichen Kirchenkörper eine Überschätzung der Kirche als Institution mit sich bringen und also den Klerikalismus, die falsche Identifikation von Kirche und Ekklesia begünstigen. Es ist ja denn auch meistens so, daß wo es zu solchen Wiedervereinigungen kommt, der „kirchlichere”, das heißt der klerikalere Teil der gewinnende und der weniger kirchlich klerikale der unterliegende ist (2). Das würde aber darauf hindeuten, daß letztlich diese Bewegung bei der kirchlichsten Kirche, bei der römischen enden müßte.

Viel wichtiger als dieser organisatorische Zusammenschluß der historisch gewordenen Kirchenkörper ist die Bereitschaft sowohl der einzelnen Christen als auch besonders der Amtsträger der Kirchen zur brüderlichen Zusammenarbeit. In dem Maße, als die hier vertretene Erkenntnis Boden gewinnt, daß keine der Kirchen die Ekklesia des Neuen Testaments ist, ist das entscheidende Hindernis für diese Zusammenarbeit und für die gegenseitige brüderliche Achtung beseitigt. Der Konfessionalismus, die isolationistische, der Zusammenarbeit feindliche Tendenz, entsteht ja gerade aus der falschen Meinung einer Kirche, sie sei die wahre Ekklesia, die legitime Erbin der Christusgemeinde des Neuen Testaments. Dieser oftmals aus den tiefsten Glaubensgründen entstandene und genährte Konfessionalismus kann nur damit überwunden werden, daß man seine Intention, die Orientierung an der Ekklesia des Neuen Testament, ernster nimmt als er selbst es tut, und daß man den oekumenischen Willen nicht aus Motiven herleitet, die viel mehr weltlicher als geistlicher Natur sind. Ist es einmal erkannt, daß gerade vom Neuen Testament und von der apostolischem Ekklesia her die Kirche im geschichtlichen Sinn des Wortes als Produkt einer Transformation betrachtet werden muß, so ist

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damit die wahre „Kirchlichkeit” gewonnen und die falsche Kirchlichkeit überwunden. Aus zwanzig Kirchen-Institutionen aber läßt sich keine wahre Ekklesia machen; die Christusgemeinschaft kann nur aus der Erkenntnis Christi, die zugleich Wille zur Bruderschaft in Christus ist, entstehen. Denn in Christus ist Erkenntnis der Wahrheit und Wille zur Gemeinschaft eins. Ist doch nur der Glaube im Sinn der Apostel wahrer Glaube, der in der Liebe sich wirksam erweist.

Diese Erkenntnis ist vielerorts in der ganzen Christenheit lebendig, sie ist aber fast überall durch eine falsche Kirchlichkeit gehemmt, zum Teil sogar unwirksam gemacht. Diese falsche Kirchlichkeit aber stammt aus dem falschen Verständnis der Ekklesia als Kirche; ist einmal dieses Mißverständnis der Kirche beseitigt, so ist ein gewaltiger Schritt zur Überwindung der Trennung der Kirchen getan.

Es ist unverkennbar, daß heute, namentlich in Europa, ein weitgehendes Mißtrauen gegen alles, was Kirche heißt, auch bei solchen besteht, die für das Evangelium von Jesus Christus durchaus offen sind. Wir dürfen nicht vergessen, daß der Begriff Kirche durch eine 1900jährige Kirchengeschichte schwer belastet ist, und daß die Kirchen zwischen Jesus Christus und den einzelnen Menschen Hindernisse aufgetürmt haben, die oft unüberwindlich sind. Das Mißtrauen gegen alles, was Kirche heißt, ist also durchaus nicht allein auf einen falschen Individualismus zurückzuführen, sondern er stammt im Gegenteil nicht zuletzt aus der Erkenntnis, daß ja jene Gemeinschaft, um die es im Evangelium Jesu und der Apostel geht, in den Kirchen oft nicht nur fehlt, sondern nicht selten überhaupt nicht gewollt wird. Wer denkt denn, wenn er von Kirche hört, an Bruderschaft, an Lebensgemeinschaft?

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Auf der anderen Seite hat in der jetzigen Zeit gerade die kirchlichste der Kirchen, die römische, für viele eine große Anziehungskraft darum, weil sie dem kollektivistischen Zug der Zeit entspricht. Das ist mehr als verdächtig. Der heutige Mensch, der die Anarchie fürchtet, in die eine rationalistische und individualistische Aufklärungsphilosophie die Welt hineingeführt hat, greift nach dem, was er als das „Gegenteil” der Anarchie ansieht — nach dem totalitären Kollektivismus, sei es nun in der profan atheistischen Gestalt des Kommunismus, sei es in der sakral-sakramentalen Gestalt der Papstkirche. In beiden wird ihm eine Sicherheit geboten, die ihn der letzten persönlichen Verantwortlichkeit enthebt. Er mißversteht sein eigenes tiefstes Gemeinschaftsverlangen und sucht es durch etwas zu stillen, das mit Gemeinschaft nur scheinbare Ähnlichkeit hat, mit dem Kollektiven.

Die Ekklesia des Neuen Testaments ist das Wahrhafte, aber höchst paradoxe Gegenteil von beidem, von jener individualistischen Anarchie und dem totalitären Kollektivismus. Der Ekklesia angehören heißt beides: in die höchste persönliche Verantwortlichkeit gestellt sein und auf alle Privatexisjenz verzichten. Glaube an Jesus Christus ist Freiheit und Gebundenheit zugleich, und zwar beides im höchsten Maße. Frei ist nur der, der mit Gott, mit sich und mit den Menschen versöhnt ist; frei ist nur der, der ganz abhängig ist von Gott; und wer „recht frei” 3) ist „durch den Sohn”, der ihn vom Vater abhängig macht, der ist auch recht gebunden und recht verbunden. Er ist gebunden an die Instanz, die ihn durch diese Gebundenheit zur wahrhaften Person macht; er ist durch diese Gebundenheit verbunden, zuerst mit denen, die mit ihm teilhaben an jener


3) Joh. 8, 36.

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höchsten und innersten Bindung; sodann aber auch mit all denen, die für denselben Gott erschaffen sind und für die alle der Versöhnungstod Christi geschehen ist. Denn Jesus Christus ist für die Welt und nicht für die Gläubigen gestorben; er hat die Welt und nicht die Gläubigen versöhnt. Darum weiß sich der, der ihm gehört, auch allen Menschen gehörig zum Dienst der Wahrheit und der Liebe.

Um diese Freiheit und Gebundenheit geht es im Evangelium von Jesus Christus und in der Ekklesia des Neuen Testaments. Was aber historisch Kirche heißt, läßt von dieser gebundenen Freiheit und freien Gebundenheit nur so wenig, ach so bitter wenig, erkennen. Das ist der Grund, warum einerseits so viele von der Kirche nichts wissen wollen, obschon sie aus dem Evangelium gerade jenes herausgehört haben, und warum anderseits viele von ihrem kollektivistischen Instinkt in diejenige Kirche getrieben werden, die die Gemeinschaft durch die Institution ersetzt. Wir haben darum eine falsche Kirchlichkeit ebenso zu fürchten wie einen falschen Individualismus. Die falsche Kirchlichkeit ist das Mißverständnis der Ekklesia Christi als Institution. Dieses Mißverständnis, das sich so oft in der letzten Zeit hinter das Schlagwort versteckt hat: Laßt die Kirche Kirche sein, ist das größte Hindernis für das Werden von wahrer Ekklesia in den sogenannten Kirchen und für das so bitter fehlende gegenseitige Sichverstehen und Miteinanderarbeiten der Christen. Nicht eine Einheitsorganisation der Kirchen ist das, was wir am meisten nötig haben; im Gegenteil, eine solche kann letztlich nur das Grundübel, eben das Mißverständnis der Kirche noch vergrößern, indem sie, noch einmal, Kirche und Institution identifiziert. Was wir brauchen ist der Heilige Geist, der dem Glauben an Jesus Christus verheißen ist und der, wo er kräftig wirksam ist, jene Freiheit in der

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Gebundenheit und Gebundenheit in der Freiheit schafft, jene Gemeinschaft, die ebenso fern ist von allem Kollektivismus, wie sie fern ist vom Individualismus. Was wir brauchen ist zuerst einmal diese Erkenntnis, die uns frei macht von falscher Kirchlichkeit und frei für die Gemeinschaft mit den Brüdern. Was wir brauchen ist eine reale Communio sanctorum; sie ist die einzige Antwort auf den fälschlich so genannten Kommunismus.