II
Der geschichtliche Ursprung der Ekklesia

 

a) Gottes Volk im Alten und im Neuen Bund.

Wir vergessen leicht, daß die Gemeinde Jesu als eine jüdische Sekte zu existieren begann (1). Es dauerte geraume Zeit, bis die jerusalemische Urgemeinde von der jüdischen Kultgemeinschaft sich löste, in der ja alle Apostel

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aufgewachsen waren. Ihr erster natürlicher Versammlungsort war der Tempel, an dessen Leben die ersten Christen zunächst unbefangen weiterhin Anteil nahmen. Wir wissen, wie leidenschaftlich und tief die Frage die Urgemeinde bewegte, inwiefern auch für sie die jüdischen Reinheits- und Speisegebote und Verbote und vor allem die Forderung der Beschneidung noch Geltung besitzen. Erst allmählich und unter heftigen Kämpfen erfolgte die definitive Ablösung vom Judentum, erkannte also die Christusgemeinde, daß sie der jüdischen Religionsgemeinschaft gegenüber etwas anderes, ja mit ihr unvereinbares sei. Aber nicht nur in dieser ersten Zeit, sondern während der ganzen christlichen Geschichte bis zur Gegenwart ist die Frage, ob die Gemeinde Jesu Christi dem Gottesvolk des Alten Bundes gegenüber etwas Neues sei oder nicht, nicht mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten gewesen, sondern nur mit einem Ja, das zugleich Nein, und einem Nein, das zugleich Ja sein mußte. Dieses dialektische Verhältnis ist nicht der Ausdruck einer unvollkommenen Erkenntnis, sondern liegt in der Sache selbst.

Die Ekklesia Jesu Christi ist Gottes Volk, das auserwählte Volk; das war auch der rechtmäßige Name Israels. Denn daß Israel gerade das sei, das war ja das, wovon dieses Volk, nicht aus eigener nationalistischer Selbstüberschätzung, sondern aus prophetischer Verkündigung, von Anfang an gelebt hatte. Israel ist das Bundesvolk des Bundesgottes — das aber ist gerade auch das, als was die Ekklesia des Neuen Bundes sich erkennt. Vom Willen Gottes her verstanden besteht also Identität der Ekklesia mit dem Gottesvolk des Alten Bundes. Und doch wußte sich die Gemeinde Jesu zugleich als etwas vollkommen Neues, als die Gemeinde derer, die durch Jesus Christus des Neuen Bundes und des Neuen Aion teilhaftig sind. Wenn die Kirche seit

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Irenäus (2) dieses Verhältnis der Identität und Nichtidentität interpretierte als die Verschiedenheit zweier verschiedener „Oekonomien” oder „Dispensationen” innerhalb einer und derselben Heilsgeschichte, so vermag diese Deutung doch weder dem eigenen Selbstverständnis noch der geschichtlichen Wirklichkeit der Ekklesia völlig gerecht zu werden. Hatte doch schon Jeremia 1) einen „neuen Bund” in Aussicht gestellt, der „nicht wie der Bund ist, den Gott mit den Vätern geschlossen hat”; und ist sich doch die Ekklesia selbst bewußt, daß dadurch, daß jetzt das vorher bloß Verheißene erfüllt ist, nicht bloß ein neuer modus dispensationis, sondern eine neue Wirklichkeit des Heils gegeben ist, nämlich das Leben im Heiligen Geist, von dem das Johannesevangelium kurzweg sagt: „denn der Geist war (vordem) noch nicht da” 2). Wenn Paulus ausspricht: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur” 3), so sagt er damit ein neues Sein aus, das den Gläubigen im Alten Bund noch nicht eigen war.

Diese Neuheit des Seins im Neuen Bund, also des Seins der Ekklesia im Unterschied zum alttestamentlichen Gottesvolk, ist vor allem in drei Punkten erkennbar. Erstens: für die Ekklesia gilt nicht mehr das Zeremonial- und Kultusgesetz Israels und des Judentums. Darum ging es ja vor allem in dem Kampf, den Paulus mit den Vertretern der Kontinuität auszufechten hatte: für die dem Christus Angehörigen gilt nicht mehr die Beschneidung 4). Die fernere Gültigkeit der Beschneidung behaupten, hieße nichts geringeres als Christus verleugnen und verlieren. An diesem Punkt war der Durchbruch aus dem Partikularismus einer jüdischen Sekte zur Universalität der neuen Menschheit — in — Christus geschehen. Dasselbe hieß: der Bruch mit dem


1) Jer. 31, 31 ff.
2) Joh. 7, 39.
3) 2. Kor. 5, 17.
4) Gal. 5, 6.

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Tempeldienst, aus der Erkenntnis heraus, daß Jesus Christus selbst das einzig vollkommene Opfer gebracht hat, darum der alleinige Hohepriester ist, und daß dies sein Opfer ein für allemal gebracht ist 5). Damit ist, ein für allemal, die Unterscheidung von Priestern und Laien hinfällig geworden.

Damit war aber, zweitens, die klare Scheidung vollzogen zwischen nationaler Volkszugehörigkeit und Glaubensgemeinschaft. Die klare Scheidung; denn schon im Alten Testament ist eine solche Scheidung wenigstens angedeutet: diejenige zwischen dem wahren Israel, dem wahren Gottesvolk, und dem Israel, zu dem Gott sein hartes „Nichtmeinvolk” 6) spricht. Auch im Alten Testament ist schon die Rede von einem „Rest” innerhalb der naturhaft bestimmten Nation. Dieser Rest aber war nie ausgeschieden. Durch die Taufe auf den Christusnamen aber vollzog sich diese Scheidung und wurde zugleich die andere aufgehoben, jene Scheidewand 7) zwischen geborenen Juden und geborenen Heiden; die Heiden, die in Christus sind, sind genau so Vollbürger der neuen himmlischen Polis, wie die aus der Beschneidung.

Darin war drittens eingeschlossen, daß auch die dem Volk Israel als Nation oder politische Einheit gegebenen „bürgerlichen Gesetze” des Alten Testamentes dahinfielen. Bürgerlich, zivil, steht die Ekklesia unter dem römischen Kaiser und dem römischen Recht, und diese heidnische Ordnung wird als die ihnen von Gott gesetzte Ordnung erkannt und anerkannt 8), trotzdem sie mit der Heilsgeschichte in keinem geschichtlichen Zusammenhang steht. Die Ekklesia untersteht, weltlich, nicht mehr der israelitisch-jüdischen Theokratie, sondern sie lebt unter dem völlig und klar


5) Das ist das Thema des Hebräerbriefes.
6) Hosea 1, 6; 2, 1.
7) Eph. 2, 14.
8) Röm. 13, 1-5.

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weltlichen Regiment des römischen Staates. Die Ekklesia selbst aber verzichtet eben damit auf jeglichen theokratischen Anspruch; die Theokratie, die Vermischung von Christusbefehl und Gesetz des Staates ist fortan genau so als Möglichkeit abgetan wie das Tempelpriestertum, das Sabbatgesetz und die Beschneidung.

Das ist die Andersheit gegenüber dem Alten; aber ihre Andersheit ist nicht mit diesem Vergleich zu erfassen; sie besteht vor allem in der Neuheit des Lebens im Geist und des Lebens im Neuen Aion, den Jesus Christus nicht nur verkündet, sondern dessen Anfang er gebracht hat. Darum erfolgt jetzt die klare und deutliche äußerliche Trennung vom Judentum, der innerlich die Selbstbezeichnung der Ekklesia als „das wahre Israel” 9), das „Israel Gottes” 10) im Unterschied zu dem den Christus verwerfenden Judentum als „Israel nach dem Fleisch” 11) entspricht; diese Scheidung aber bedeutet nicht, daß man auf die Hoffnung auf eine endgültige Wiedervereinigung durch die Bekehrung der Juden zum Christus verzichtete 12).

 

b) Jesus und die Ekklesia.

Man hat sich den Zugang zum Verständnis des Verhältnisses Jesu zur Ekklesia dadurch versperrt, daß man Ekklesia ohne weiteres mit Kirche übersetzte und so die Frage stellte, ob „Jesus die Kirche begründet” oder „gestiftet” habe, anderseits dadurch, daß man zu wenig darauf achtete, daß es in der Heilsgeschichte bestimmte Etappen gibt, daß Gott mit den Menschen einen Weg geht, auf dem das Ende und der Anfang weit auseinanderliegen. Es gibt Schritte der Offenbarung; dem jeweiligen Offenbarungsschritt


9) Joh. 1, 47; Röm. 9, 6.
10) Gal. 6, 16.
11) 1. Kor. 10, 18.
12) Röm. 11, 23 ff.

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entspricht eine bestimmte Art des Ekklesiaseins. Wenn wir diese zwei Dinge beachten, so wird die Frage, ob die beiden einzigen Stellen 13), an denen Jesus von der Ekklesia spricht, „echt” sind oder nicht, ziemlich irrelevant. Man mag mit der älteren kritischen Theologie die Echtheitsfrage verneinen oder mit einer jüngeren, nicht weniger kritischen, sie bejahen — zwei Dinge stehen, so oder so, außerhalb der Diskussion: Jesus hat nicht „die Kirche gegründet”; und Jesus hat, ohne allen Zweifel, einen Kreis von Jüngern um sich gesammelt, von solchen, die in besonderer Weise zu ihm gehörten und die er in besonderer Weise zu seinem Dienst ausrüstete und aussandte.

Wenn wir uns daran erinnern, wie lange die Ekklesia brauchte, um sich über ihr Verhältnis zum Judentum klar zu werden, so dürfen wir erst recht nicht erwarten, daß Jesus — er, der nie Geschichte vorwegnahm, sondern seinen geschichtlichen Auftrag erfüllte — sich über die Ekklesia und ihre Beziehung zum Judentum und zum Tempel irgendwie lehrhaft ausgesprochen hätte. Sein heilsgeschichtlicher Auftrag war nicht der, den Messias zu verkündigen, sondern der, der Messias zu sein. Und zwar, zunächst, der verhüllte, der Inkognito-Messias. Erst mit seinem herannahenden Kreuzestod beginnt dieses Inkognito sich zu lüften; in diesem Maße wurde auch seine Mitteilung über die Existenz und Aufgabe seines Jüngerkreises bestimmter (3).

Von allem Anfang an aber hatte er sich Jünger auserwählt, die Zwölf, deren Existenz zum gesicherten Bestand der Tradition gezählt werden darf. Die Zwölf sind von Anfang an ein fester Begriff, an dessen Gültigkeit auch ein Paulus nie zweifelte, trotzdem die Versuchung dazu ihm nahe gelegen haben mochte. Wußte sich Jesus als der heimliche Messias, so konnte er nicht umhin, gerade das zu tun,


13) Matth. 16, 18; 18, 17.

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was die Überlieferung berichtet: Er sammelte sich eine Schar der Seinen, denen es „gegeben ist, die Geheimnisse des Gottesreiches zu verstehen” im Unterschied zu „denen draußen” 14). Aber er sammelte diesen Kreis in der Weise um sich, daß auch in ihm sein Inkognito gewahrt blieb. Eine sichtbare Scheidung von der jüdischen Gemeinde konnte ebenso wenig in Frage kommen wie Jesu Selbstoffenbarung als der Messias: beides konnte ja nur mißverstanden werden. Wohl aber spricht alles für die Geschichtlichkeit der Überlieferung, daß das letzte Mahl die Gelegenheit war, bei der der Herr im Angesicht des herannahenden Endes den Seinen ihre Bedeutung als Gemeinde des Neuen Bundes offenbarte (4). Bis dahin ist sein Jüngerkreis die verborgene Gefolgschaft des verborgenen Königs.

Mit Ostern wurde das anders, und diese Andersheit trat öffentlich in Erscheinung im Pfingstereignis.

Die durch das Osterereignis neubegründete Gemeinde der Jünger trat an Pfingsten aus ihrer Verborgenheit hervor; das Messiasgeheimnis ist jetzt enthüllt und zugleich damit ist das Verständnis der Messianität Jesu umgebildet; er ist jetzt erkannt als der Messias, der zugleich der stellvertretend leidende Gottesknecht ist, und er ist jetzt da als der lebendige auferstandene Herr, der Kyrios, der bei den Seinen gegenwärtig ist durch seinen Geist. Die Jüngergemeinde ist von nun an bestimmt durch die „Gemeinschaft des Geistes”. Sie lebt nicht von einer historischen Erinnerung; sondern der, mit dem sie gegessen und getrunken hatten, ist jetzt „mitten unter ihnen” 15). Er, der im Geist gegenwärtige Herr, ist das Lebensprinzip der Ekklesia. Aber indem der Geist die gegenwärtige Heilsgabe ist, ist er zugleich der „Erstling” (aparche) 16) des Zukünftigen. Als


14) Mark. 4, 11.
15) Matth. 18, 20; vgl. dazu unten, S. 72 ff.
16) Röm. 8, 25.

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die in der Gegenwart des Herrn jubelnde ist die Ekklesia zugleich die in glühender Erwartung sich dem Zukünftigen entgegenstreckende. Und gerade das, was ihr gegenwärtiger wunderbarer Besitz ist, der Heilige Geist, ist das, was sie mit dem Kommenden, Zukünftigen verbindet als das „Unterpfand” (arrabon) 17).

So wird schließlich die Frage, ob die Ekklesia „von Jesus gegründet” sei, unerheblich; die Ekklesia ist auf alle Fälle in ihm und durch ihn begründet, da er ja das Haupt ist des Leibes, der sie selbst ist. Die Gabe des Heiligen Geistes und das Teilhaben an seiner unsichtbaren Gegenwart ist so sehr miteinander verbunden, daß man zwischen beidem kaum unterscheidet, sondern sagen kann: Der Herr ist der Geist 18). So ist denn die Gemeinde Jesu das eigentliche Bundesvolk, dessen Geschichte wohl im Alten Bund beginnt, aber erst durch die lebendige Gegenwart des Herrn volle Wirklichkeit wird. Weil aber die Gemeinde nichts anderes ist als dieses Volk-Gottes-im-Geist, ist sie in keinem Sinne eine Institution, sondern der lebendige Leib des lebendigen Hauptes.


17) Eph. 1, 14; 2. Kor. 1, 22.

18) 2. Kor. 3, 17.