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Die Christusgemeinde als messianisch-endzeitliche Existenz

 

Die Gemeinde Jesu ist eine paradoxe Einheit des sonst Disparaten. Sie ist eine „mystische” Einheit von sichtbaren, irdischen Personen mit einer unsichtbaren himmlischen und doch gegenwärtigen Person, ihrem Haupt, dem lebendig gegenwärtigen Christus. Man spricht darum von der Mystik dieses Ekklesia-Begriffes und von einem mystischen Verständnis des gläubigen Seins (1). Man mag das tun, nur soll man sich dabei bewußt sein, daß sich diese „Mystik” von aller sonstigen Mystik dadurch wesenhaft unterscheidet, daß sie zugleich ganz und gar geschichtlich bestimmt ist. Denn dieser unsichtbare Christus-Kyrios ist ja kein anderer als der, den die „Säulen” dieser Gemeinde, die Apostel, leiblich gekannt hatten als den Rabbi Jesus von Nazareth, mit dem sie leiblich gegessen hatten und gewandelt waren, den sie noch am letzten Abend seines Lebens leiblich unter sich gehabt hatten und der tags darauf gekreuzigt wurde. Und dieser Tod am Kreuz, dieses reale, irdische Geschichtsfaktum — gekreuzigt unter Pontius Pilatus, so hat man diese Tatsache bekenntnismäßig der Weltgeschichte eingeordnet — war nicht etwas, das nun als etwas

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glücklicherweise durch die Auferstehung Überholtes hinter ihnen lag; vielmehr war dieses sein Gekreuzigtwordensein das Heilsgeschehen, auf das sich ihr Glaube stützte. Nur in der Einheit dieses „gekreuzigt und auferstanden” war ihr Glaube möglich als ein mit ihm Gekreuzigtsein und mit ihm Auferstandensein (2). Und erst als die mit ihm Auferstandenen erfuhren sie nun seine — angeblich mystische — Gegenwart. Seltsame Mystik — die ganz und gar vom geschichtlichen, einmaligen Geschehen lebt und mit diesem geschichtlichen Glauben 1) identisch ist!

Magisch hat man dieses Bewußtsein des mit ihm Verbundenseins — namentlich in den sogenannten Sakramenten — auch genannt (3). Man mag das tun, nur soll man sich dessen bewußt sein, daß diese reale Anteilschaft an seinem Tode und an seinem Leben zugleich ein Akt des Glaubens war an das, was Gott ihnen durch dieses sein Verbum visibile sagte: daß es nämlich die Offenbarung seiner Gerechtigkeit und seiner Liebe sei, seine rechtfertigende Gnade, durch die sie, die Sünder, für ihn nicht mehr als Sünder gelten, sondern als seine lieben Kinder oder seine Söhne, denen er sein eigenes ewiges Leben verheißt. Seltsame Magie, die so ganz eins ist mit einem Glauben an Gottes offenbarendes Wort und Gottes rettende Tat. Gewiß, es ist so, daß auch das Vokabular der Mystik und der Magie herangezogen werden muß, um das zu sagen, was sie besaßen in einer neuen Personverbundenheit, die alles rationale Gemeinschaftsverständnis weit hinter sich läßt, und in einer neuen Erfahrung heiliger Kräfte und Gaben, die jenseits der nüchternen rationalen Alltagserfahrung lagen.

Aber nicht nur das. Das paradoxe Wesen der Ekklesia hat noch einen entscheidenden Aspekt, durch den der, der mit


1) Gal. 2, 20.

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den Kategorien der Mystik oder denen der Magie dieses Geschehen begreifen will, abermals gänzlich verwirrt werden muß. Diese Gemeinde weiß sich nicht nur rückwärts mit der geschehenen Heilsgeschichte verbunden, auf sie begründet und in ihr lebend, sondern ebenso vorwärts, in einem erst noch Geschehenwerdenden. Die Ekklesia ist als Gemeinde des Messias selbst messianisch; ihre Existenz kann nur in den Kategorien der Eschatologie, der Endzeiterwartung beschrieben werden. Diese Endzeit ist mit Jesus angebrochen; schon in seinem irdischen Leben hat sie angefangen, denn ephthasen gar he basileia, „angekommen ist die Königsherrschaft Gottes” 2); das Reich Gottes, das alle erwarten, ist schon „mitten unter euch”, weil er, der Endzeitliche, der Messias schon „mitten unter ihnen” 3) ist. Aber noch war es eine verhüllte Gegenwart. Erst mit der Auferstehung begann sie sich zu enthüllen. Seine Gegenwart unter ihnen als der Auferstandene ist endzeitliches Geschehen, realised eschatology (4). Der neue Aion ist jetzt angebrochen. Und doch, zugleich, steht er noch aus als das erst zu Erwartende. Diese Erwartung des Zukünftigen im Unterschied zu dem bereits Vorhandenen ist nicht nur ein mehr oder weniger unwesentliches Element ihrer Existenz, sondern es ist diese Existenz selbst (5). In dieser Erwartung leben, in dieser Gespanntheit auf das Endziel hin existieren und von da aus alles Hiesige, Zeitliche als ein Vorläufiges ansehen — gerade das ist der Grundcharakter ihres Seins. Sie „haben, als hätten sie nicht” 4). Und wiederum: gerade das ist identisch mit dem, was sie die Gabe des Heiligen Geistes nennen. Denn er, der Geist, ist von der Art des Neuen. Er ist die realised eschatology. Denn ihn nennen sie den „Vorschuß”, den „Anschnitt” oder das


2) Matth. 12, 28; Luk. 11, 20.
3) Luk. 17, 21; Matth. 18, 20.
4) 1. Kor. 7, 29 f.

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„Unterpfand” des Zukünftigen. Im Geist sein und in dieser Erwartung sein ist eins und dasselbe. Darum wissen sie, daß ihr leibliches Leben auf Erden, in diesem sündigen Leib, in den sündigen Ordnungen dieser Well, in diesem sterblichen Leibe ein Nochnichthaben ist. Sie sind darum Pilgrime auf Erden, sie wissen, daß dieses Erdenleben ein Provisorium ist, das erst im Wiederkommen des Herrn in Herrlichkeit zum Definitivum des ewigen Lebens wird.

Sie leben „erst im Glauben, noch nicht im Schauen” 5). „Erst” im Glauben — man muß sich daran erinnern, was Glaube diesen ersten Christen heißt, um zu ermessen, was es bedeutet, daß sie zu diesem Wort, das den ganzen Heilsbesitz in sich schließt, ein „erst” hinzufügen. Gerade die pneumatische Existenz ist „Schwellenexistenz” — mit dem einen Fuß schon dort, mit dem anderen noch hier. Gewiß auch dieses Paradox des „jetzt-noch-nicht” und „doch-jetzt-schon” ist in den verschiedenen Teilen des Neuen Testaments mit sehr verschiedenen Akzenten versehen: bei den einen fällt der Akzent mehr auf das noch-nicht, hei den anderen mehr auf das schon-jetzt; aber daß alles noch nicht auch ein jetzt-schon und alles jetzt-schon ein noch nicht ist, das ist allen gemeinsam (6). Sie alle stehen auf derselben Schwelle, und bei allen ist es gerade das Haben des Heiligen Geistes, was dieses Stehen auf der Schwelle existenzmäßig charakterisiert.

Das Pneumatische ist das Eschatologische und das Eschatologische ist das Pneumatische. Das Stehen in einem bestimmten Punkt der Heilsgeschichte ist also das Wesentlichste an dieser „Mystik” und dieses Bewußtsein des Provisoriums ist das Entscheidende an diesem „Magischen” ( 7 ).

Wir haben gesehen, wie aus dieser „Mystik” und diesem „Magischen”, das zuerst und zumeist Glaube und Hoffnung


5) 2. Kor. 5, 7.

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ist, diese einzigartige Gemeinschaft entstand mit dem abermaligen Paradoxon, daß es reine Persongemeinschaft und keinerlei Institution ist, trotz der Ordnung, die jedem das Seine zuteilte und doch von keiner Kompetenzausscheidung wußte.

Darum ist diese Ordnung als etwas völlig Spontanes, von selbst Entstehendes, etwas, dessen man sich kaum bewußt ist. Darum ist im Neuen Testament so wenig von ihr die Rede. Wo aber von ihr geredet wird, da geschieht es nicht im Sinn der Beschreibung einer Kirchenverfassung, sondern unter dem Gleichnis des Leibes, der viele Glieder hat, und im Zusammenhang mit der Belehrung über den Heiligen Geist. Die „Beschreibung” der Ordnung gipfelt in dem Hymnus über die Liebe 6), der seinerseits im eschatologischen Ausblick auf das Ende des Glaubens im Schauen endet. Die „Kirchenordnung” hat als solche nicht das geringste Eigengewicht; sie ist so selbstverständlich wie einem gesunden Menschen das Funktionieren seines leiblichen Organismus.

Die Dienste haben noch nichts vom Charakter von Ämtern an sich. Man erlebt als Wahrheit das Lebensgesetz, das ihnen der Herr selbst gegeben hatte: „Wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener” 7). Sogar der Apostel, der Begründer der korinthischen Gemeinde, zu der von diesen Dingen am ausführlichsten gesprochen wird, hält es nicht für unter seiner Würde, die Zustimmung der Gemeinde zu gewinnen und lehnte es ab, ihr „Herr” 8) zu sein. Er will seinen Apostolat, der wahrlich keiner Legitimierung mehr bedürfte, an ihnen neu beweisen durch die Erweisung der „Zeichen” 9) eines Apostels. Und diejenigen, denen in Korinth offenbar das charisma und die diakonia des kybernein


6) 1. Kor. 12; 1. Kor. 15.
7) Matth. 20, 26 f.
8) 2. Kor. 1, 24.
9) 2. Kor. 12, 12.

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(„Regierens”) am ehesten zukommt, werden der Gemeinde in Erinnerung gerufen als diejenigen, die sich durch treues Dienen bewährt haben und also sich durch ihren Dienst als würdig erwiesen haben, daß man sich ihnen, wo es nötig wird, unterordnet 10).

Die Tendenz auf amtliche Sicherung konnte nicht aufkommen, solange man auf das Zukünftige ausgerichtet war und also das Gegenwärtige als ein Provisorium betrachtete. Kirchenrecht ist mit dem Verlust der messianischen Existenz oder doch mit der Schwächung des messianischen Bewußtseins identisch. Beides, das Pneumatische und das Messianische wirkt in derselben Richtung. Es verhindert und macht überflüssig — so lange es lebendig genug ist — die Verfestigung zum Institutionellen. Die Gemeinde der auf die Wiederkunft des Herrn Hoffenden und der im Besitz seines Geistes Glaubend-Liebenden kann keine Institution, keine Kirche sein.


10) 1. Kor. 16, 15 f.