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V
Die Christusgemeinde und der Heilige Geist

 

Hinter dem Begriff der Tradition, wie er in vielen heute lebendig ist, steckt, meistens mehr unausgesprochen eis ausgesprochen, vielleicht sogar mehr unbewußt als bewußt, ein Interesse, das wir vom Neuen Testament her nur bejahen können, der Gedanke nämlich, daß es sich nicht nur um die Kontinuität des Wortes, um die Erhaltung der Ursprung liehen Lehre handle, sondern auch um die Kontinuität eines Lebens, nämlich des Lebens aus dem Heiligen Geist. Die Gemeinde Jesu lebt vom Heiligen Geist; das ist ihr geheimnisvolles Wesen. Er ist das Geheimnis ihrer Gemeinschaft und er ist das Geheimnis ihrer Kraft. Der Geist ist, mit einem plumpen modernen Wort gesagt, das „Dynamische” in der Ekklesia. Wohl gehören Wort und Geist eng zusammen; und doch ist am Pneumatischen etwas, das sich gerade nicht mehr in Worte fassen läßt, etwas, im Verhältnis zu dem alle Worte unzulänglich und vielleicht geradezu verfälschend sind. Es besteht, sogar im Neuen Testament., eine gewisse Spannung zwischen Wort und Geist. „Das Reich Gottes steht nicht in Worten, sondern in Kraft” 1). Der Apostel Paulus bekennt von sich, daß er die Korinther nicht durch hohe Worte gewonnen habe, sondern „durch Beweisung des Geistes und der Kraft” 2).

Damit ist eine Realität gemeint, die sich als wirksam erweisen kann ohne Worte so wie jene Geistkraft, die den Ananias und die Saphira niederschlug und sie tötete wie ein Starkstrom. Gerade darum, weil sie wirksam und doch in Worte nicht faßbar ist, oder weil Worte, mit. denen man sie zu fassen versucht, in sich gerade diese Wirksamkeit


1) 1. Kor.4, 20.
2) 1. Kor. 2, 4.

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oft vermissen lassen und jedenfalls sie nicht verbürgen, verwendet man, auch im Neuen Testament, zu seiner Bezeichnung Ausdrücke, die nicht aus dem Bereich der Logos-Erkenntnis, sondern aus dem der Natur stammen, vor allem eben den Begriff der Kraft (1). Wo diese Kraft ist, da geschehen Dinge, die sonst nicht geschehen, Dinge, die man „geheimnisvoll”, vielleicht okkult nennt, und die ein Geschlecht, dem all das infolge der Hypertrophie des Rationalen fremd geworden ist, mit dem wegwerfenden Begriff des Magischen bezeichnet. Wir haben, nicht ganz ohne Grund, Angst vor diesem ganzen Bereich des Para-Logischen; wissen wir ja doch, daß aus ihm das Hysterische, das Massenpsychologische und das Psychopatische stammt. Anderseits hat uns die moderne Psychologie darauf aufmerksam gemacht, daß diese Wirklichkeiten durch die Verdrängung ins Unbewußte nicht unwirklich, sondern nur umso gefährlicher wirksam werden. Auf alle Fälle sollten wir den Zeugnissen des Neuen Testamentes mit genügender Offenheit gegenüberstehen, um anzuerkennen: In diesem Pneuma, das zu haben sich die Ekklesia bewußt war, steckten Kräfte außerrationaler Art, die uns Heutigen meistens fehlen 3).

Die Psychologie des Unbewußtseelischen tut uns den Dienst, uns darauf aufmerksam zu machen, daß für die Dynamik des menschlichen Lebens gerade diese, unserem hellen Bewußtsein oft nur allzu sehr entrückte Schicht der Seele entscheidend ist. Der Heilige Geist ist gewiß nicht das Unbewußtseelische. Der Heilige Geist ist Gott; aber indem die Ekklesia den Heiligen Geist erfuhr, erfuhr sie Gott als den, dessen Wirken bis in diese Tiefen der Seele hinabreicht, der diese unbewußten Kräfte anrührte, mobilisierte


3) vgl. Anm. 5.

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und in den Dienst seines heiligen Willens stellte (2). Der Heilige Geist packt das Herz, nicht bloß den Nus; und er dringt durch das Herz bis tief ins Unbewußte und sogar ins Leibliche. Die Theologie ist nicht das geeignetste Werkzeug, um das Pneumatische gerade nach dieser Seite hin verständlich zu machen. Denn Theo-logie ist auf den Logos ausgerichtet und versteht darum nur das irgendwie „Logische”, nicht aber das „Dynamische” in seiner nicht logischen Eigenart. Darum ist der Heilige Geist immer mehr oder weniger das Stiefkind der Theologie gewesen, und die Dynamik des Geistes ein Schreckgespenst für die Theologen; umgekehrt ist die Theologie sehr oft, durch ihren unbewußten Intellektualismus, ein wichtiges Hindernis, ein Verschluß für den Heiligen Geist, wenigstens für die Fülle seiner dynamischen Entfaltung. Wir werden aber das We sen der neutestamentlichen Ekklesia nie richtig verstellen, wenn wir nicht für diese para-logische Wirksamkeit des Heiligen Geistes weiten Raum schaffen.

Suchen wir aus den Zeugnissen des Neuen Testaments einige Merkmale seiner Daseins- und Wirkungsweise, so müssen wir etwa sagen: Das Pneuma „ist da” und wirkt „gewaltig” — so wie es von Jesus heißt, daß er „gewaltig, und nicht wie die Schriftgelehrten” 4) predigte; seine Wirkungen sind unbegreiflich, erstaunlich, wunderbar. Der Geist wirkt erschütternd, umstürzend, umwandelnd. Er wirkt, ohne daß man weiß warum und wie, er wirkt so, da ß er die Scheidewände zwischen den Individualitäten beseitigt. Seine Wirkungsweise ist von der Art, daß wir zur Terminologie der Mystik einerseits, des Magischen anderseits greifen müssen, da diejenige der Logik und auch der Theologie nicht ausreicht. In unserem Zusammenhang aber


4) Mk. 1, 22.

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kommen vor allem drei Phänomene, die offenkundig mit ihm in engster Beziehung stehen, in Betracht.

1. Mit der Wirkung des Heiligen Geistes hing all das zusammen, was die Gemeinde aus vielen getrennten Individuen zu einer Einheit, zu einem einzigen „Leib” machte. Wir dürfen diesen theologisch ja oft gebrauchten Begriff des Leibes nicht rationalisieren, indem wir in ihm lediglich ein Gleichnis sehen. Gewiß, ein Leib im Sinn des physischen Organismus war nicht gemeint. Aber es war gemeint eine wirkliche, quasi-physische, jedenfalls organismusähnliche Realität von überlogischer Art (3).

Man darf diesen Begriff weder zu theologisch noch zu untheologisch fassen. Es handelt sich, das steht über allem fest, um den Leib Christi, also um einen Geisteszusammenhang, der nicht unabhängig vom Christuswort und der geschichtlichen Christustatsache vorhanden war; aber doch auch wieder nicht bloß um etwas nur in theologisch-christologischen Gedanken Vorhandenes, sondern in einer der Realität des physischen Leibes mindestens analogen Weise, nicht etwa — auch das ist eine Rationalisierung — um eine Realität im Sinn der juristischen Korporation, oder im Sinn einer Organisation. Wie das Wort Dynamis zur Bezeichnung des Pneuma unentbehrlich ist und ihr nach einer gewissen Seite hin am nächsten kommt, so der Begriff Leib, Organismus nach einer anderen.

Damit hängt nun unmittelbar das zweite zusammen.

2. Wie zu einem Leib die Differenzierung der einzelnen Organe notwendig gehört — kein Leib ohne Glieder —, so gehört auch zu diesem Leib seine Gliederung. Auch dieser Organismus hatte eine lebendige, funktionstüchtige Struktur 5). Es gab in der Ekklesia eine Ordnung der Funktionen,


5) 1. Kor. 12.

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zugeteilt — so heißt es ausdrücklich 6) — durch den Heiligen Geist an die einzelnen zu besonderen Diensten, ein Begriff, der fälschlich mit „Ämter” übersetzt wurde. Denn das Amt gibt es in einer staatlichen Organisation; ein Amt ist eine Institution. Die diakoniai aber, die „Dienste” gibt es so, wie es Organe mit verschiedenen funktionell an einem Leibe gibt. Offenbar ist dies — mag es immerhin ein bloßes Gleichnis sein 7) — der relativ adäquateste Ausdruck.

Das Neue Testament überrascht uns immer wieder durch die Vielfalt dieser Funktionen und die Vielheit der Funktionsträger, der Dienste und Diensttuenden. Vor allein ist eines wichtig: daß alle Diensttuende sind und daß darum nirgends eine Scheidung, ja auch nur Unterscheidung von Diensttuenden und Nichtdiensttuenden, von Aktiven und Passiven, von Gebenden und Nehmenden wahrzunehmen ist. Es besteht in der Ekklesia allgemeine Dienst-„pflicht”, allgemeines Dienst-„recht”, allgemeine Dienstwilligkeit und gleichzeitig größte Differenzierung der Dienste. Das Organismusgleichnis zeigt die eine Seite der Realität; die Beziehung aller Dienste auf den einen Herrn 8) zeigt die andere. Das Haupt eines Leibes ist etwas anderes als der Herr eines Volkes. Und doch wird beides gesagt und muß offenbar beides gesagt werden, um der vertikalen und der horizontalen Bezogenheit gleichzeitig gerecht zu werden, um einerseits die geheimnisvoll reale Verbundenheit zum Ausdruck zu bringen und anderseits anzudeuten, daß es der eine Geist ist, der diese Differenzierung der Dienste bewirkt.

Es ist darum gänzlich verkehrt, diese pneumatische Ordnung der Ekklesia, darum weil sie etwas anderes ist als eine Organisation oder Institution, eine Anarchie zu nennen (4).


6) 1. Kor. 12, 11.
7) vgl. Anm. 5.
8) 1. Kor. 12, 5.

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So kann nur der sagen, der von der späteren kirchenrechtlichen Organisation so beeindruckt ist, daß er sich eine andere als diese Art der Ordnung nicht vorstellen kann. Es ist aber das Geheimnis der Ekklesia als „Gemeinschaft des Geistes”, daß sie gegliederte Ordnung ist, ohne rechtlich organisiert zu sein. Wenn wir, die wir an rechtliche Organisation der Kirche gewohnt sind, fragen, wie denn eine solche pneumatische Ordnung möglich sei, so muß die Antwort lauten: das ist nicht einfach möglich, sondern das war möglich dank der Realität, von deren Dynamik wir kaum mehr eine Ahnung haben (5), durch die Realität des Heiligen Geistes. Von hier aus gesehen müßte man sagen: Die Organisation der Kirche, und vor allem ihre rechtliche Ordnung ist ein Ersatz, der dann und dort notwendig wird, wo es an dieser Fülle des Geistes fehlt. Das Kirchen-Recht ist Geist-substitut.

3. Wie breitete sich die Gemeinde Jesu aus? Wir Kinder eines durch-rationalisierten Saeculums denken bei der Ausbreitung immer zuerst und vielleicht einzig an das, was wir etwa „Evangelisation” oder „Mission” nennen, und wobei das Gewicht fast ausschließlich auf die „Verkündigung” fällt und Verkündigung wiederum im Sinn der theologischen Belehrung verstanden wird. Gewiß, die Lehre und im weiteren Sinn die Verkündigung hatte an der Ausbreitung der Gemeinde einen entscheidenden Anteil. Aber mindestens ebenso wichtig war nun eben der andere, der pneumatische Faktor, das Nicht-Theo-logische, sondern rein Dynamische. Die Anziehung der Draußenstehenden geschah — das zeigt uns schon die Pfingstgeschichte sehr deutlich — nicht zuerst durch das, was gesagt wurde, sondern durch Unbegreifliches, was da einfach geschah. In der Genesis des Gläubigwerdens spielt der Eindruck vom Leben der Gläubigen eine entscheidende Rolle. Man nähert

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sich der Gemeinde, weil man von ihrer „Kraft angezogen” wird. Man möchte teilhaben an dieser Kraft, an diesem Leben, man gerät in das Kraftfeld des Geistes, noch ehe man ein Wort von dem vernommen hat, was dahinter steht als seine heimliche, transzendent-immanente Ursache. Es gibt eine Art des Hineingezogenwerdens, die zunächst ohne Beziehung zum Wort ist, eher vergleichbar der Anziehung durch einen Magneten oder der Ausbreitung einer ansteckenden Krankheit. Man weiß nicht wie einem geschieht — schon ist man Träger dieses Ansteckenden.

Gewiß, wo es um den Heiligen Geist geht, da geht, es um das geschichtliche Ereignis Jesus Christus und um das Wort Gottes, denn das Pneuma beweist sich darin als der Geist Gottes, daß er Jesus Christus als die Wahrheit und als den Sohn Gottes bezeugt. Das will aber nicht heißen, daß der Heilige Geist nicht wirken kann zunächst ohne Wort, durch seine Dynamis. Die „Übertragung” geschieht zunächst viel mehr unbewußt als bewußt, mehr unwillkürlich als willkürlich und darum mehr wortlos als durch Worte. So gewiß zum entscheidenden Akt des Gläubigwerdens, zur Bekehrung das klare Wort und die klare Erkenntnis gehört, so kann doch sein und ist doch oft der Anfang des Gläubigwerdens viel weniger, als wir Theologen in der Regel meinen, durch das Wort, durch die Verkündigung bestimmt. Hier ist die Dynamik des Geistes wichtiger als aller Logos, obschon auch diese Dynamik, sofern sie die des Heiligen Geistes ist, im Wort Gottes ihren Ursprung hat. Die heutigen Evangelisten und Missionare wissen das in der Regel viel besser als wir Theologen, die die Dynamik des Heiligen Geistes nicht nur unterschätzen, sondern davon oft überhaupt nichts wissen. Bei ihnen hat die ja gewiß nicht unverständliche Angst vor dem Überborden des „Enthusiasmus”, des Para-logischen, dahin gewirkt, daß das Wort

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des Apostels „dämpfet den Geist nicht” 9), mißachtet und nur seine Warnungen vor der Überschätzung dieses paralogisch-dynamischen Elementes beachtet wurde.

Das Wort Gottes ist in der Ekklesia vorhanden und wirksam als Wort des Heiligen Geistes, darum in einer Einheit von Logos und Dynamis, die jenseits alles Verstehens liegt. Diese Einheit ist das später nicht mehr vorhandene und nicht mehr verstandene Geheimnis der Urgemeinde. Es ist zugleich das Geheimnis ihrer Gemeinschaft und ihrer sittlichen Kraft; denn auf dem Heiligen Geist beruht die koinonia, das mit einander Verbundensein, und zwar ihre organische, organismusähnliche Verbundenheit, die Gleichheit und Verschiedenheit, oder die Gleichrangigkeit aller und gegenseitige Unterordnung in sich schließt. Das entscheidende Merkmal und zugleich das eigentliche Wesen dieser Verbundenheit ist die Agape, die das neue Ethos dieser Gemeinschaft und ihrer Glieder ist. Es ist verständlich, daß eine spätere Zeit, in der diese ursprüngliche Kraft und Einheit nicht mehr in derselben Fülle vorhanden war, das Fehlende zu ersetzen und das Entschwindende zu sichern suchte. Diese Sicherung und dieser Ersatz erfolgt in drei verschiedenen Richtungen: Das Wort Gottes wird gesichert — und zugleich ersetzt — durch Theologie und Dogma; die Gemeinschaft wird gesichert — und zugleich ersetzt — durch die Institution; der Glaube, der in der Liebe wirksam sich erweist, wird gesichert — und zugleich ersetzt — durch das Glaubens- und Moralgesetz.

Es ist so viel leichter, intellektuell-theologisch über die Begriffe des verkündeten Wortes Gottes zu disputieren und sie begrifflich zu analysieren, als sich durch den Heiligen Geist im Zentrum der Existenz umbilden zu lassen; und


9) 1. Thess. 5, 19.

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vor allem: mit theologischen Begriffen kann man umgehen, man kann über, sie jederzeit verfügen —, über das Wort Gottes nicht.

Es ist so viel leichter, die Gemeinschaft, ihren Zusammenhalt und ihre notwendige Unter- und Überordnung zu sichern durch feste rechtliche Formen, Organisation und Ämter, als diese koinonia sich immer wieder schenken und sich in sie hineinstellen zu lassen durch den Heiligen Geist. Das Recht, die Organisation kann man handhaben, über sie kann man verfügen, über den Heiligen Geist nicht.

Und endlich: es ist so viel leichter, an eine Glaubensregel, ein Dogma, eine feste Lehre zu glauben, als so zu glauben, daß Glaube und Liebe unzertrennlich eins sind. Vor allem: über das Glaubensgesetz und das Moralgesetz kann man verfügen, man kann sie handhaben, sie lehren und lernen, jenen Glauben aber, der in der Liebe wirksam ist, nicht.

Die aus dem Heiligen Geist stammende Ordnung der Gemeinschaft war diakonia, Dienst, also dasselbe, was ans dem wahrhaften Glauben folgte und sich als neue Beziehung zum Bruder auswirkte. Die organisierte Ordnung aber, das Amt, hatte weder den Charakter brüderlicher Gemeinschaft, noch war diese Ordnung eine Einheit von Gleichheit und Differenzierung, von gegenseitiger Unterordnung. Die Feinstruktur der Gemeinde Jesu, die im Heiligen Geist begründet war, war durch eine institutionelle Organisation nicht zu ersetzen, ohne daß der ganze Charakter der Ekklesia dadurch etwas anders wurde: aus der Gemeinde Jesu Christi wurde die Kirche. Die auf dem ersten Blick täuschende Ähnlichkeit der amtlichen Organisation mit der neutestamentlichen pneumatischen Ordnung erweist sich in allen Punkten als eine Wesensänderung. Die paradoxe Einheit des sonst überall Disparaten war nicht

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mehr da. Man hatte jetzt Lehre — ohne die Dynamis des geisterfüllten Gotteswortes. Man hatte jetzt Glauben — „richtigen”, orthodoxen Glauben — ohne die Liebe. Man hatte jetzt Gemeinde als Kirche mit Ämtern, aber nicht mehr die Verbundenheit in gegenseitigem Dienst. Wie es zu dieser zunächst kaum merklichen Umwandlung kam, davon sollen die nächsten Abschnitte handeln.