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Vorwort

 

Was ist die Kirche? Diese Frage ist das ungelöste Problem des Protestantismus. Von den Tagen der Reformation bis auf unsere Zeit hat nie Klarheit darüber bestanden, wie sich die Kirche im Glaubenssinn, die Gemeinde Jesu Christi, zu der oder den Institutionen verhalte, die Kirchen heissen. Durch die ökumenische Bewegung ist dieses Problem deutlicher geworden als zuvor; aber gelöst ist es keineswegs, und die Idee der Wiedervereinigung der Kirchen, die von vielen Ökumenen als das eigentliche Ziel der Bewegung verstanden wird, zeigt erst recht, wie wenig man seine Tiefe verstanden hat.

Für die römisch-katholische Kirche scheint dieses Problem nicht zu existieren. Rom zeigt der Welt das Gesicht einer ihrer selbst gewissen Kirche. Aber das ist nur scheinbar so; in Wirklichkeit wird ja auch Rom mit der Frage nicht fertig, wie denn das, was im Neuen Testament als Ekklesia sichtbar wird, und die Papstkirche, wie sie im Lauf der Jahrhunderte geworden ist, sich zu einander verhalten, und die Unruhe derer, die sich mit der einfachen Formel, daß sich jene zu dieser „entfaltet” habe, nicht mehr zufrieden geben können, ist je länger desto weniger zu beschwichtigen. Die neutestamentliche Forschung hat sich in den letzten fünfzig oder hundert Jahren unablässig und erfolgreich bemüht, uns das, was in der Urchristenheit Ekklesia heißt, deutlich werden zu lassen, gerade in seiner völligen Verschiedenheit von dem, was heute, im römischen oder im protestantischen Lager, Kirche heißt. Es ist aber eine bekannte Tatsache, daß von den Ergebnissen der neutestamentlichen Forschung Dogmatiker und Kirchenführer nur wenig Notiz nehmen und nur allzu schnell bereit sind, die

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Kluft zwischen Damals und Jetzt mit einer handlichen Formel wie etwa der der „Entfaltung” oder mit der Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche zu überbrücken und so das schwere und beängstigende Problem zu verharmlosen. Während aber viele Theologen und Kirchenführer ihr Gewissen mit solchen Formeln zu beschwichtigen vermögen, empfinden andere desto quälender den Unterschied zwischen der Christusgemeinde der Apostelzeit und unseren „Kirchen” und werden das Gefühl nicht los, es könnte vielleicht mit dem, was man nun einmal Kirche nennt, seine Richtigkeit nicht haben.

In der vorliegenden Schrift wird der Versuch gemacht, den Grund dieser Unstimmigkeit aufzudecken durch eine systematische Verwertung der Erkenntnisse der neutestamentlichen Forschung für unser aktuelles Kirchenproblem. Der Titel des Buches, Das Mißverständnis der Kirche, ist mehrdeutig. Handelt es sich um ein Mißverständnis, das die Kirche begeht oder um eines, das sie betrifft? Oder ist vielleicht die Kirche selbst, als solche, ein Mißverständnis? Diese Mehrdeutigkeit ist nicht vom Verfasser verschuldet, sondern sie liegt in der Sache selbst.

Es ist in der Tat die Meinung des Verfassers, daß die „Kirche” selbst, sofern sie sich mit der Ekklesia des Neuen Testaments identifiziert, auf einem Mißverständnis beruht. Er muß darum damit rechnen, daß er auf heftigen Widerstand stoßen wird bei all denen, die ihre eigene Kirche als die wahre um jeden Preis verteidigen wollen. Da er seinerseits nicht die Absicht hat, seine Thesen als ein Dogma dem einer Kirche entgegenzusetzen, möchte er seine Arbeit als ein Votum in der ökumenischen Diskussion aufgefaßt wissen, bei der er ernstlich gewillt ist, vom Widerspruch zu lernen. Anderseits aber hofft er auf die Zustimmung derer, denen Jesus Christus lieber ist als ihre Kirche, und mit

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Gewißheit rechnet er auf das Interesse all derer, die dem Problem der Kirche auf den Grund kommen wollen. Denn aus eben diesem Willen, die Ursache zu entdecken, warum seit der Reformationszeit eine wirkliche Lösung des Kirchenproblems nicht gefunden wurde, ist dieses Buch entstanden. Daß aber nicht bloß der Trieb des Erkennens, sondern mindestens ebenso sehr der Wunsch nach Verwirklichung wahrer Christusgemeinde dahinter steht, wird ihm, so hoffe ich, der Leser wohl anmerken können.

 

Zürich, Ostern 1951.