IX
Die Christusgemeinde und die Entstehung der Kirche

 

Wir haben die Ekklesia des Neuen Testamentes in ihrer paradoxen, einmaligen Eigenart kennen gelernt. Ist diese Ekklesia des Neuen Testaments Wirklichkeit oder Idee? Sie ist beides. Denn diese Ekklesia, von der die Apostel schreiben, ist wohl die Wirklichkeit, in der sie leben und

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von der sie zeugen, aber zugleich etwas, das sie als die richtige Ekklesia meinen, die aber in der empirischen Wirklichkeit immer nur unvollkommen dargestellt ist, etwas, zu dem die faktische Gemeindewirklichkeit in Korinth, Kolossae oder Jerusalem immer auch wieder im Widerspruch stand, gerade so wie das Sein in Christus, das Paulus im 6. oder im 8. Kapitel des Römerbriefes beschreibt, immer wieder im Widerspruch steht zu dem faktischen Sein dieser begnadeten und wiedergeborenen und doch immer wieder der Sünde verhafteten Menschen. Es gilt auch von der Ekklesia des Neuen Testaments das große Wort Luthers: das Antlitz der Kirche ist das Antlitz einer Sünderin 1).

Und doch ist das, was die Apostel Ekklesia nennen, nicht ein bloßes Ideal, sondern die Wirklichkeit, in der sie als Apostel Jesu Christi leben, die Wirklichkeit, ohne die auch ihr Apostelamt, ja ihr ganzes Christuszeugnis unwirklich wäre, die Wirklichkeit, die dem Glauben an Jesus Christus entspricht. Die Ekklesia ist die wirkliche, reale Gemeinschaft mit dem Christus, die so real ist wie ihr Glaube und ihre Liebe und ihre Hoffnung real ist. Und es ist in Christus begründete Gemeinschaft der durch Christus mit einander Verbundenen, die so real ist wie ihr Eifer für einander, wie ihre brüderliche Liebe zu einander, wie die Opfer, die sie an Geld und Gut, an Zeit und Kraft, an Sicherheit und Leben für einander bringen.

Sie ist so real wie die Gebete, die sie „einmütig” mit einander sprechen und wie die Gesänge, mit denen sie una voce Gott mit einander loben, wie das Mahl, das sie miteinander genießen und in dem sie die Gegenwart ihres Herrn erfahren, wie der heilige Geist, der für sie nicht eine schöne, erhabene Idee ist, sondern die Wirklichkeit, die Wunder wirkt, die Wirklichkeit, auf der sich ihre ganze Zukunftshoffnung


1) WA 40, II, S. 560.

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aufbaut. Die Ekklesia im Sinn der koinonia Christu und koinonia pneumatos, darum auch der Leib Christi, in dem der eine Geist jedem seine besondere Gabe und darum auch seinen besonderen Dienst gibt, die Ekklesia, die sie lehren, ist Wirklichkeit, himmlische, göttliche Wirklichkeit — und zugleich ein Schatz in tönernen Gefäßen, etwas, das von den Gläubigen selbst, nicht mir von denen draußen, immer wieder mißverstanden und darum auch realiter verfälscht wurde. Das Wunder der Gnade Gottes aber war es, daß immer wieder diese Mißverständnisse und Verfälschungen überwunden werden konnten, daß immer wieder nicht nur die Idee der Ekklesia, sondern ihre Wirklichkeit sich gegen die fleischlichen Mißverständnisse durchsetzte.

Aus dieser Erkenntnis, daß die Ekklesia, von der die Apostel sprechen, nicht nur Idee oder Ideal war, das sich aus der Christuserkenntnis ergab, sondern zugleich das neue Leben, das in der geschichtlichen Tat der Erlösung Jesu Christi und in seiner realen Gegenwart und Wirksamkeit, als das lebendige Haupt des Leibes als eine Wirklichkeit begründet ist, ergibt sich, wie falsch der Vorwurf ist, der der hier vorgetragenen Auffassung der Ekklesia gemacht wird, sie mache nicht ernst mit der Inkarnation Jesu Christi in seiner Kirche. Die neutestamentliche Ekklesia ist Inkarnation Jesu Christi, insofern sie eben der Leib Christi ist. Die Meinung, die Institution Kirche sei die Inkarnation, das heißt die konkret geschichtliche Gestalt, in der Jesus Christus als seiner Knechtsgestalt geschichtlich wirksam ist, ist nichts geringeres als eine Verleugnung der apostolischen Ekklesia als geschichtlicher Wirklichkeit. Die neutestamentlichen Schriften zeigen mit ihrem Bild der Ekklesia, daß der Herr sich einen „Leib” schuf, der eben gerade keine Kirche, sondern eine pneumatische Persongemeinschaft

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war. Die Meinung, das Ernstnehmen des Incarnatus verlange die Rechtfertigung der Kirchwerdung und die Anerkennung der Kirche als notwendige Verleiblichung des erhöhten Herrn, geht an der Tatsache vorbei, daß er ja eben in der Ekklesia wahrhaftig verleiblicht war, daß aber diese Verleiblichung, die Ekklesia, noch nicht den Charakter hatte, den sie später bekam: den einer Institution. Es ist eine bedenkliche petitio principii, zu postulieren, daß die Verleiblichung des erhöhten Herrn nur in der Form der Kirchwerdung, der Institution, geschehen konnte — eine Behauptung, die durch das Neue Testament selbst Lüge gestraft wird und nur von denen behauptet werden kann, die die Kirchengeschichte über das Neue Testament stellen.

Wir haben den Kampf der wahren Ekklesia gegen fleischliche Mißverständnisse, wie er sich in der urchristlichen Zeit abspielte und im Neuen Testament sich spiegelt, an einem entscheidenden Punkt kennen gelernt. Wir sahen, wie es tatsächlich in der Urchristenheit und im Neuen Testament verschiedene Auffassungen von dem, was die Ekklesia zur Einheit macht, gab, so weit voneinander verschieden, wie die quasi-gnostische, anti-autoritäre der Johannesschriften von der quasi-jüdischen, autoritär-theokratischen der jerusalemischen Säulen verschieden sind. Aber wir sahen auch, wie diese Differenzen immer wieder überwölbt wurden durch die Einheit des Geistes und durch die aufrichtige Christus- und Bruderliebe, die es trotz allen Spannungen nie wirklich zum Riß kommen ließen.

In dieser Ekklesia gab es auch mancherlei Entwicklungen. Aus dem primitiven Christuszeugnis der jerusalemischen Urgemeinde hatte sich die paulinische und die johanneische Theologie entwickelt. Aus dem urchristlichen, für uns kaum greifbaren Zeugnis der Anfangszeit in Jerusalem von der Auferstehung hatte sich einerseits das paulinische,

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anderseits das entgegengesetzt gerichtete Zeugnis, das in den synoptistischen Spätberichten vorliegt, entwickelt; aus der noch an das Judentum gebundenen jerusalemischen Auffassung der Christusgemeinde hatte sich einerseits die gesetzesfreie des Paulus, wiederum anderseits die so ganz anders geartete des Hebräerbriefs entwickelt. Aber das Merkwürdige ist gerade dies, daß keine dieser Entwicklungen sich bis zum Ausschluß der andersartigen durchsetzte, so daß wir am Ende des apostolischen Zeitalters auf der einen Seite, in den Pastoralbriefen, eine an Paulus angelehnte, aber in manchen Punkten seiner Anschauung entgegengesetzte Auffassung der Ekklesia wahrnehmen, dir, trotz ihres äußerlichen Paulinismus, der judaistischen der jerusalemischen Urgemeinde wieder viel näher stand, und anderseits eine, die von irgend welcher Amtsautorität überhaupt nichts wissen will, sondern das einander Dienen im Sinn der Fußwaschung als die Norm für die Gemeinde setzt, in den johanneischen Schriften.

Eine Entwicklung, etwa im Sinn der späteren katholischen Kirche, gab es gerade nicht; wer nur das Neue Testament kennte, würde niemals auf die Vermutung kommen, daß aus ihr die spätere Bischofskirche hervorgehen würde. Ebenso nahe lag ja die andere, entgegengesetzte Möglichkeit, daß die Entwicklung weiter gegangen wäre im Sinn der Johannesschriften. Die Frage ist darum unabweisbar: Wie kam es denn, daß nun doch, letztlich, die eine, die amtlich-hierarchische Linie zum Siege kam und sich in ihre weiteren Konsequenzen entfaltete? Woran lag es, daß gerade diese, im Neuen Testament nur als Tendenz keimhaft neben andern vorhandene Idee der Ekklesia alle anderen verdrängte und zur Kirchenidee und zur Kirchenwirklichkeit der katholischen, freilich zunächst und für lange Zeit nur der altkatholischen Kirche führte ?

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Drei Gründe werden angeführt, die die Entwicklung in diesem Sinne angeblich notwendig machten.

1. Es kamen die Zeiten der gnostischen Häresien mit ihrem überbordenden Individualismus und Spiritualismus, die die Ekklesia zuerst zu zerreißen und dann zu vernichten drohten. Die Ekklesia mußte gegen diesen Strom Dämme errichten, um sich zu bewahren. Sie tat es a) durch die Feststellung eines Kanons apostolischer Schriften — als Gegenmaßnahme gegen den Kanon Marcions, des Halbgnostikers, b) durch die Schaffung einer festen Glaubensregel, das Dogma, das für alle in der Kirche Lehrenden die maßgebende Norm sein sollte, c) Sie konnte aber beides nur dadurch tun, daß sie als dritte — im Grunde aber als erste, primäre — Garantie der Einheit und des Zusammenhangs das feste, autoritative Amt schuf, das apostolisch-priesterliche Bischofsamt.

a) Über die Notwendigkeit, das apostolische Zeugnis von Jesus Christus als Norm alles Zeugnisses aufzustellen, haben wir bereits gesprochen 2). Die Kirche konnte, wenn sie es denn mit der traditio ernst nehmen, wenn sie das Ursprüngliche bewahren wollte, nicht anders, als das Zeugnis der Apostel, so wie es schriftlich einigermaßen faßbar war (1), festzuhalten und als Kanon aufzustellen. Für diese Normsetzung können wir der werdenden Kirche nicht dankbar genug sein.

b) Auch die Aufstellung einer Glaubensregel war nicht ohne gutes Recht. Zwar mußte diese Hervorhebung eines minimalen Credendum fast notwendig zu einer Trübung, wenn nicht sogar Verfälschung des Glaubensbegriffes führen; denn Glaube an dieses Dogma und Glauben im Sinn


2) S.o. S. 38.

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der Apostel, Dogmaglaube und Glauben an Jesus Christus in der Weise, daß dieser Glaube und die Liebe unzertrennlich verbunden sind, ist offenbar zweierlei. Aber immerhin — das intellektualistische Mißverständnis, mußte ja nicht notwendig mit der Aufstellung der Glaubensregel verbunden sein; die Ekklesia konnte ja immer wieder dieses Credo im Sinn des urchristlich-apostolischen pisteuein auslegen.

c) Bedenklich aber war die dritte Schutzmauer, das bischöfliche Amt. Wie wenig es tatsächlich für den Zweck, dem es dienen sollte, geeignet war, zeigt ja die Geschichte. Die Verwechslung von Tradition und Legitimität mußte sich fatal auswirken, ja sie mußte, wie wir früher zeigten, gerade dazu führen, daß die erste Norm, die Prüfung der Lehre an der Schrift, dadurch schließlich außer Kraft gesetzt wurde. Daß aber durch diesen Schutzwall das zu Schützende geradezu in seinem Wesen umgewandelt wurde, hat erst die spätere Geschichte offenbar gemacht.

2. Das zweite Argument, das für die Notwendigkeit eben dieser Schutzwehr durch das Amt angeführt wird, lauten: Die pneumatisch-charismatische Ordnung der Frühzeit war nur möglich, so lange die Ekklesia klein war. Mit dem Wachsen der Zahl der Gläubigen und mit der räumlichen Ausdehnung und der mit ihr gegebenen Vielfalt der Verhältnisse erwies sich eine derartige rein geistliche Ordnung als unmöglich. Es mußten feste Ordnungen, es mußten klare Über- und Unterordnungsverhältnisse geschaffen werden; man mußte übergehen vom pneumatischen Organismus zur kirchenrechtlichen Organisation.

Wir werden dieses Argument genau zu prüfen haben. Es steht aber so eng im Zusammenhang mit dem dritten, daß wir am besten die beiden gleichzeitig prüfen; wir nennen darum zunächst den dritten Grund, den man zur Rechtfertigung der Wandlung der Ekklesia zur Kirche angibt:

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3. Mit dem Nichteintreten der Parusie, mit der Fortdauer der alten Weltordnung des irdischen Lebens mußte auch die Gemeinde aus ihrer eschatologischen Hochspannung heraustreten; sie mußte mit dem Alterwerden der Ekklesia rechnen und sich auf weitere Dauer einrichten. Damit war aber auch eine innere Entspannung, eine Abnahme des pneumatischen Elementes notwendig verbunden. Das entschwindende Pneuma und seine Ordnung mußte durch eine Ordnung anderer Art, eben durch die kirchenrechtliche Ordnung ersetzt werden.

Diese Argumente haben auf den ersten Blick in der Tat etwas Bestechendes. Man kann ihnen nicht jede Berechtigung absprechen. Zunächst aber machen wir auf eine Tatsache aufmerksam, die meistens nicht beachtet wird. Die entscheidende Veränderung der Ekklesia in der Richtung auf die Kirche hin hängt gar nicht mit diesen genannten Faktoren zusammen, weder mit der äußeren Kampfstellung, noch mit der numerischen Ausweitung der Ekklesia; sie ist vielmehr rein innerlicher, religiös-theologischer Art. Es ist nämlich jene primäre Verschiebung im Heilsverständnis, die das Mahl aus einem Akt der Gemeinde zu ihrer Auferbauung zum eigentlichen Heilsgut macht, und zwar zum Heilsgut, das der Gemeinde durch den Priester gespendet wird. Kein äußerer Grund, weder die gnostische Häresie noch das zahlenmäßige Anwachsen und die Ausbreitung der Christusgemeinde hatte mit dieser innern Wandlung das mindeste zu tun. Es ist aber aus dem oben Dargelegten zu erkennen, daß diese Veränderung im Verständnis des Heils- mit Notwendigkeit zu jener Strukturveränderung der Gemeinde führen mußte, deren Resultat die sakramentale Kirche der Priester und Laien ist. Erst hinterher sind dem Priester-bischof die Funktionen der autoritativen Ordnung zugewiesen worden. Und gerade

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darin ist es begründet, daß diese Funktionen von vornherein einen sakramentalen Charakter bekamen. Weil der Priesterbischof der Autoritäts- und Ordnungsträger wurde, darum wurde die Ordnung eine sakramentale, eine Ordnung, geschaffen und bewahrt durch den apostolisch ordinierten Bischof. Die — vielleicht um der großen Zahlen willen notwendige — rechtliche Ordnung wurde eine sakramental-rechtliche Ordnung, eine Ordnung des heiligen Kirchenrechtes.

Was aber das dritte Argument anbetrifft, so bestätigt es sozusagen im Negativ unsere These, daß das Kirchenrecht Pneumaersatz ist. Daß es der Ekklesia am Pneuma zu fehlen begann, ist ein Faktum, das wir vielleicht konstatieren, das wir aber nicht aus einem Gesetz der großen Zahlen ableiten können. Wenn wir sehen, in welchem Maße die paulinische Mission die Ekklesia bereits zu des Apostels Lebzeiten ausgebreitet hatte und uns überlegen, mit welchen Zahlen schon zu jener Zeit, auf dem Höhepunkt der paulinischen Wirksamkeit, gerechnet werden mußte — etwa im Vergleich mit denen der ersten, der jerusalemischen Urgemeinde, so wird die Parallele zwischen zunehmender Zahl und abnehmendem Pneuma überaus fraglich. Wir könnten es verstehen, wenn Paulus, der so viel weiter ausgriff, als die jerusalemische Gemeinde es sich je hatte träumen las sen, dieser gegenüber den Standpunkt vertreten hätte: „Mit eurer pneumatischen Ordnung komme ich nicht mehr durch, wir brauchen eine festere Ordnung”. Wir wissen aber, daß gerade das Gegenteil davon die geschieht liehe Wirklichkeit ist. Es war der Weltmissionar Paulus, der der kleinen Gemeinde von Jerusalem gegenüber den Grundsatz vertrat: keine rechtliche, autoritäre Säulenregierung, sondern Regierung allein durch Jesus, sein Wort; und seinen Geist.

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Wir haben das Schwinden des Pneumatischen einfach als eine Tatsache hinzunehmen, für die wir keine, es sei denn eine seelsorgerliche „Erklärung” haben; das Leben im Geist schwindet so, wie „die erste Liebe” erkaltet 3). Vor allem zeigt uns die die paulinische Indifferenz gegenüber aller Amtsordnung noch übertreffende johanneische Gemeinde, daß das Abnehmen der Geistesfülle nichts mit dem Zurücktreten der Naherwartung der Wiederkunft Christi zu tun haben braucht. Denn gerade bei Johannes ist das Pneumatische aufs höchste gesteigert und tritt gleichzeitig die Parusieerwartung deutlich in den Hintergrund.

Richtig ist: in dem Maß, als die Gemeinde aufhört pneumatische Einheit, koinonia im früheren Sinn zu sein, in dem Maße muß sie die pneumatische Feinstruktur durch eine organisatorisch-rechtliche Grobstruktur ersetzen. Es könnte aber sehr wohl so sein, daß für das Schwinden des Pneumatischen eher der beginnende Sakramentalismus als die wachsenden Zahlen verantwortlich zu machen wären. Aus diesen wachsenden Zahlen entweder direkt oder durch das Zwischenglied: Schwinden des Pneumatischen, die Kirchwerdung der Ekklesia als eine Notwendigkeit begreifen zu wollen, ist ein Trugschluß.

Aber auch gesetzt der Fall, die Ekklesia hätte einsehen müssen, daß bei ihrer Ausdehnung und Zunahme rechtliche Formen unentbehrlich wurden: wer will daraus die Notwendigkeit eines heiligen, eines sakramentalen Kirchenrechts ableiten? War der Geistesbesitz nicht mehr genügend stark, die Ordnung und Einheit der Gemeinde zu gewähren, wer gab dann der Gemeinde das Recht, den Charakter des Pneumatischen, des Heiligen gerade auf das zu übertragen, was nunmehr als eine leidige Notwendigkeit sich erwies: die Einführung des Rechtselementes? Was


3) Apok. 2, 4.

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für eine Rechtfertigung gibt es für dieses quid pro quo —, daß man nämlich das Weltliche, die rechtliche Ordnung, als geistlich ausgab? Daß man den Centaur „heiliges Kirchenrecht” schuf? Gewiß, die Versuchung dazu lag nahe. Denn bisher war es ja der Heilige Geist gewesen, der in der Gemeinde Ordnung und Zusammenhang schuf. So lag es nahe, das, was nun, nach dem angeblichen oder wirklichen Versagen einer pneumatischen Ordnung sich als notwendig erwies, die rechtliche Ordnung, als heilige, als geistliche Ordnung auszugeben. Diese Versuchung lag um so näher, als man ja bereits im Sakrament etwas Ähnliches getan hatte, indem man ein heiliges Ding schuf, ein dingliches Heilsgut, ein pharmakon tes athanasias. Es ist denn auch im Sakramentalismus der Ursprung des heiligen Kirchenrechts zu suchen und nirgendwo anders.

Es war ja, wie wir sahen, der bereits zum Priester gewordene Bischof, an den sich die Autoritäts- und Ordnungsfunktion der Kirche gleichsam anhängte. Und es war ja auch das „Sakrament des Amtes”, die Ordination, die diese Heiligsprechung des kirchlichen Rechts möglich machte.

Mit der Behauptung der Notwendigkeit der Entwicklung der Ekklesia zur Kirche steht es wirklich nicht zum besten. Sie ist an den verschiedensten Punkten durchlöchert. Sie hält der genauem Prüfung nicht stand, so gewiß in ihr Wahrheitselemente stecken.

Was aber ist das Resultat dieser „Entwicklung”, die in Wahrheit eine Transformation, eine Wesensveränderung ist? Die Gemeinde Jesu Christi ist nunmehr identisch mit einer Organisation, einer Institution, einem heiligen Etwas. Man kann nunmehr von der Kirche nicht mehr sprechen, ohne immer mit an diese Organisation, an diese Institution zu denken. Die Ekklesia ist nicht ohne den Bischof denkbar, ja Gemeinde und Bischof sind nun erst

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zusammen die Kirche. Je nachdem wird im Reden von der Kirche mehr an das eine oder an das andere gedacht, und die spätere Entwicklung der Kirche läuft zweifellos in der Richtung, daß die Kirche sich wesentlich als Institution, vom Amt aus versteht. Mit dem Geltendmachen eines heiligen Rechts der Presbyter oder Episkopen im ersten Clemensbrief hat es angefangen, und fast gleichzeitig ist das, was Ignatius über den monarchischen Episkopat, über den Bischof schreibt, der als Stellvertreter Christi die Einheit der Gemeinde bildet und schafft (2). Und nun geht, allerdings mit einer gewissen Notwendigkeit, einer inneren Logik derselbe Prozeß weiter, Schritt um Schritt; freilich nicht mit absoluter, unausweichlicher Notwendigkeit. Denn auch die kleinen Schritte, mit denen es auf dieser Linie weiter und weiter geht, vollziehen sich nicht ohne Opposition (3). Aber die innere Logik dieser Entwicklung ist stärker als diese Opposition, bis allerdings der Punkt kommt, wo zunächst eine gewaltige Abspaltung, wenn auch ohne tiefgreifende Opposition erfolgt, von der an die eine, die östliche Hälfte der Kirche stillsteht, und nur die andere, die westliche auf dem eingeschlagenen Wege weitergeht, bis dann, einige Jahrhunderte später, die „Entwicklung”, das heißt die Transformation so weit getrieben ist, daß die Opposition auf der ganzen Linie kommen muß und bis auf die Wurzel der ganzen Bewegung geht, anderseits aber die Kräfte, die diese Transformation wollen, nur desto mehr dazu getrieben werden, diese um so rascher zu vollenden in einem Kirchenrechtssystem, in dem der Sakramentalismus und der Institutionalismus einander gegenseitig zur Vollkommenheit gebracht haben, zu einem Abschluß, über den hinaus nichts mehr denkbar ist.