Betrachtungen zur Soziologie der Kirche

 

Vorbemerkungen

Die Soziologie ist eine beschreibende Wissenschaft. Sie kann ihren Gegenstand immer nur unter bestimmten Perspektiven und Aspekten darstellen, Zusammenhänge und Schwerpunkte aufzeigen. Sie kann nur selten ausschließende, niemals vollständige Begriffsbestimmungen unternehmen. Deswegen kann auch eine Soziologie der Kirche nie­mals den systematischen Charakter der Vollständigkeit erstreben und beanspruchen. Dieser Teilcharakter nimmt ihren Erkenntnissen freilich nichts von ihrem Wahrheits­wert. Sie setzt voraus und benutzt ein Verständnis für Typen, Strukturen, Formen. So wie es unmusikalische Menschen gibt, so ist auch das soziologische Formverständnis manchen Menschen verschlossen oder schwer zugänglich. Aber wem eine Beethovensche Sonate ein angenehm-unverständlicher Tonhaufen ist, sollte deswegen nicht behaupten, es gebe keine große Musik. Die Notwendigkeit des soziologischen Formverständnisses stößt sich mit bestimmten Traditionen innerhalb der protestantischen Theologie. Das nominalistische Element in ihrem Denken ist entschieden formfeindlich. Ist es auch nur ein Moment neben anderen, so erweist es sich doch bis heute als äußerst wirksam. Weil alles Heil im Konkret-Einzelnen gesehen wird, erscheinen auch alle Zusammenhänge entweder wertlos oder verdächtig. Weil man zugleich spiritualistisch das Innen gegen das Außen der „bloßen Form” stellt, werden alle Strukturen ebenso abgewertet. Still­gelegte Erkenntnisorgane verlieren ebenso ihre Kraft wie abgeschnürte Glieder einen Muskelschwund erleiden. Träger solcher Traditionen vermögen dann tatsächlich keinen Zugang zu diesen Erkenntnissen zu finden und bestreiten deshalb mit voller Ehrlichkeit ihre Bedeutsamkeit, beweisen damit aber nur die Einengung ihres Blicks. Einer unserer Freunde hielt einmal vor einer Kirchenleitung einen Vortrag über soziologische Probleme der Kirche. Zur Vorsicht legte er seinen Text einem namhaften Kirchenhistoriker vor. Dieser bestätigte ihm die Richtigkeit der angeführten Tatsachen mit der Bemerkung: „Solche Betrachtungen sind aber bei uns nicht üblich.” Das berührt eine weitere Schwierigkeit der Kirchensoziologie. Wo man ihr kritisch gegenübersteht, aber auch wo man sie zuweilen sogar wie eine Art Mode betreibt, darf sie doch niemals ins eigene Fleisch gewohnter Anschauungen scheiden. Man ist bereit, in bußfertiger Haltung die Verbürgerlichung der Kirche zu beklagen. Aber die bürgerliche Lebensform des Theologieprofessors und Pastors ist dabei als unantastbar vorausgesetzt. Die Verfassungs­orthodoxie ist unendlich viel strenger als die Lehrorthodoxie. Man duldet die gröbsten Lehrabweichungen, die Zerschlagung des biblischen Kanons. Aber die geringsten Ver­änderungen des soziologischen Stils und der Rechtsformen werden mit dem äußersten wachen Mißtrauen verfolgt. Die Annahme, daß in der Kirche des Wortes die Leine vor der Form voranstehe, ist eine naive Selbsttäuschung. Diese Selbsttäuschung ist eine doppelte: Es ist nicht so und es kann auch gar nicht so sein. Der Versuch, Innen und Außen so voneinander zu trennen und gegeneinander abzuwerten, ist ein untauglicher. Dieser Versuch selbst und diese Formenblindheit ist im Gegenteil ein Merkmal für die geistig-soziologische Struktur eines bürgerlichen Zeitalters. Schließlich

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kommt ein idealistischer Zug hinzu. Die formgeschichtliche Forschung bezieht sich aus­schließlich auf philologische und ideen-geschichtliche Zusammenhänge, in ungleich geringerem Maße auf sozialgeschichtliche. Vermöge dieses Ideenrealismus bleibt die realgeschichtliche Seite der Betrachtung meist in den Anfängen.
Eine ernsthaft betriebene Kirchensoziologie erfordert die Bereitschaft, auch ins eigene Fleisch zu schneiden. Man wird erkennen müssen, daß zentrale Dinge höchst zeitbedingt sind, die wir für unbedingt halten, und daß an anstößigen, ungewohnten Stellen sich unabdingbare Gegebenheiten zeigen. In den ökumenischen Bemühungen um diese Fragen hat man mit Recht die sog. innertheologischen von den außertheologischen Faktoren unterschieden. Daß eine völlige Trennung nicht möglich ist, ist selbstverständ­lich. Die außertheologischen Faktoren umfassen die vielfältigen Umwelteinflüsse, denen die Kirche immer ausgesetzt gewesen ist und sein wird. Die innertheologischen Faktoren bezeichnen das eigene Wachstums- und Lebensgesetz der Kirche selbst. Die Kirche hat mehr als irgendeine geschichtliche Erscheinung die Fähigkeit, Umwelteinflüsse in sich aufzunehmen, ohne in ihnen aufzugehen. Gerade die Unterscheidung jener beiden Fak­torengruppen macht die Standortbedingtheit unseres Urteilens sehr deutlich. Da für die liberale Theologie die Kirche tendenzmäßig zurücktritt, treten in ihren Darstellungen die außertheologischen Faktoren bestimmend in den Vordergrund. Man fragt sich schließlich verwundert, was denn alle diese Einflüsse als Substrat durchgetragen hat. Repräsentativ für diese Haltung ist etwa die neue Kirchenrechtsgeschichte von Hans Erich Feine. Hier werden die Epochen nach dem Einflüsse des römischen, des germanischen Rechts usw. abgegrenzt. Die rein spirituale Kirche verschwindet darunter. Orthodoxe Dar­stellungen dagegen, welche das Continuum der Kirche voranstellen, bagatellisieren tendenzmäßig die Umwelteinflüsse. Sie verlieren damit den Blick auch für die Eigen­entwicklung der Kirche selbst. Deren wesentliche Wandlungen treten zurück gegenüber der zeitlosen Gültigkeit eines Grundansatzes oder werden als bloße Entfaltung dieses einen eindeutigen Wachstumsgesetzes verharmlost. So schwankt die Betrachtung zwischen idealistisch-metaphysischer Zeitlosigkeit und profaner Entleerung und Schwund des Gegenstandes.
Der Beitrag, den ich hier als Jurist zu leisten unternehme, kann nicht der der allgemeinen Soziologie sein. Er gehört der Soziologie und Morphologie des Rechtes an — aber freilich der des Kirchenrechts. Auch die durchaus eigenständigen Formen des pneumatischen Kirchenrechts bieten Vergleichspunkte mit der allgemeinen Morphologie des Rechts. Jene naive Verfassungsorthodoxie würde sich nicht behaupten können, wenn die Theologie bereit wäre, den Formen des Rechtes Aussagewert und geistige Be­deutung beizumessen. Die Abwertung der Form macht nicht frei, sondern verstellt nur den Blick und macht unfrei in der Handhabung. Die Theologen betrachten das Recht vom Standpunkt einer der Dogmatik nachfolgenden und nicht in sie hineingenommenen Ethik. Unter einigen unverbindlichen Verbeugungen vor der Bedeutung und Würde des Rechtes ist ihnen dieses doch wesentlich ein verfügbarer Gegenstand ohne echte Dignität, der beliebig zu handhaben ist und echter geistiger Gehalte entbehrt. Nicht allein eine Summe unhaltbarer Rechtsvorstellungen, sondern auch das allgemeine Vorurteil gegen­über dem Lebensbereich des Rechtes ist hier fast unüberwindlich. Dieser Antikomplex ist im wesentlichen vorrational und deswegen so schwer zu besiegen.
Unter diesen Voraussetzungen behandle ich die rechtssoziologische Struktur der Kirche auf drei Gebieten: 1. Ihre Struktur im allgemeinen, 2. die ihrer Ämter, 3. die der Gesamtkirche.

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I. Die rechtssoziologische Struktur der Kirche im Allgemeinen

In der Erforschung der Urkirche nimmt die höchst verdienstliche Dissertation von Olof Linton über den Stand dieses Arbeitsgebiets (Upsala 1932) eine be­sondere Stellung ein. Sie stellt nicht allein die Gesamtentwicklung für fast ein Jahrhundert abschließend zusammen, sondern sie widerlegt zugleich fast mühe­los die vorangehenden Auffassungen. Ja, diese widerlegten sich durch die bloße Darstellung gegenseitig von selbst. Der Konsensus dieser Zeit, den Linton er­hebt, geht gemeinschaftlich von der idealistischen Konzeption der Kirche als Religionsgesellschaft aus. Sohm als Denker von leidenschaftlicher Radikalität hat daraus die Unvereinbarkeit von Kirche und Recht gefolgert. Holstein als Rechtslehrer, der den praktischen Bedürfnissen Rechnung trug, hat dies umge­kehrt und im Gegensatz in der Doppelheit von autoritativ geordneter Geist­kirche und genossenschaftlicher Rechtskirche harmonisiert. Es ist hier nicht nötig, diese Entwicklung der Anschauungen im Einzelnen zu verfolgen. Linton stellt am Ende mit Recht fest, daß keine dieser Auffassungen dem biblischen Tatbe­stand gerecht wird, und schließt seine Untersuchungen damit, daß die Urkirche eine völlig andere Sozialform dargestellt habe, die der „ungleichmäßigen be­schließenden Versammlung”. Dies sei eine im umgebenden Orient durchaus bodenständige und typische Form. Sein Thema beschränkte sich auf das Ergeb­nis der bisherigen Forschung. Es war nicht seine Aufgabe, eigene Lösungen zu entwickeln. Aber selbst seine knappen Schlußfolgerungen, in denen er das Ver­gangene richtigstellt und der Forschung der Zukunft die Richtung weist, zeigen die sonderbare Absperrung des Theologen von sozialgeschichtlichen Einsichten, mögen sie auch noch so nahe liegen. Was er sagt, ist nicht falsch, und doch nur halb richtig. Seine Kennzeichnung der Urkirche ist durchaus treffend. Aber das mit diesem Begriff Gemeinte ist und war schon damals der Soziologie wohlbe­kannt. Es ist nichts Neues und Einzigartiges welches der Theologe am Ende einer langen Arbeit endlich aus Mißverständnissen hervorzuheben hätte — es ist ein bekannter Typus, auf den man nur zurückzugreifen brauchte und über den auch in einem Schlußkapitel sofort sehr viel mehr hätte gesagt werden können. Es mag auch durchaus zutreffen, daß dieser Typus im vorderen Orient im ersten Jahrhundert im Gegensatz zum westlichen Altertum weit verbreitet lebte. Aber ein wesentlich nationaler Typus ist es keinesfalls. Es ist vielmehr eine Sozial­form, die in allen frühen Kulturen mit großer Übereinstimmung anzutreffen ist. Diese Form mag sich im vorderen Orient zum Teil bis in die Moderne erhalten haben — sie gehört jedenfalls einer frühen Stufe an. Die in der gesamten Kulturmorphologie anerkannte Tatsache, daß gleichzeitige Erscheinungen noch längst nicht im Sinne der Entwicklungsgeschichte gleichzeitig sind, wird hier wie in ähnlichen Untersuchungen (insbesondere auch zum AT) gar nicht in Betracht gezogen. Dadurch wird auch seine richtige Erkenntnis durch Unvollständigkeit falsch.

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Die Urkirche entsteht also innerhalb eines Gebiets relativ früher Sozialfor­men. Aber weit entscheidender ist die Tatsache, daß sie selbst einen neuen Ein­satz von großer elementarer Triebkraft, einen echten Quantensprung der Ge­schichte darstellt. Man hat mit Recht untersucht, welchen Einfluß jüdische und griechische Rechtsformen und Begriffe wie Schaliach, Ekklesia, Episkopos usw. auf die frühe Kirche ausgeübt haben. Im Ganzen ist der Ertrag aber bemerkens­wert gering. Die Kirche hat auch dem Übernommenen einen durchaus eigenen Sinn und Inhalt verliehen. Sie gleicht einer starken Quelle, welche Wurzeln, Erde, Geröll von ihrem Ausbruchsort mit reißt, von alledem eine gewisse Fär­bung mitbekommt, aber nicht bestimmt wird. Die ungleichmäßige beschließende Versammlung im Sinne Lintons, mit der er treffend die Struktur der Urkirche bezeichnet, ist soziologisch das sog. Collegium inaequale. Man kann drei recht­lich-soziologische Lebensformen unterscheiden:
a) das collegium inaequale (c.i.)
b) das collegium aequale exclusivum (c.a.e.)
c) das collegium aequale inclusivum (c.a.i.)

zu a): Das c.i. trifft man in allen frühen und ursprünglichen Gruppen an (be­kanntlich sind frühe Gruppen nicht „primitiv”, sondern eher komplizierter auf­gebaut als späte). Es wird durch eine Reihe präziser rechtlicher und soziologischer Merkmale ausgewiesen:
1. hochgradiges Identitätsbewußtsein der Glieder, konkrete, weitreichende Ver­gemeinschaftung. Das Identitätsproblem und -Phänomen reicht weiter als die Einzellösungen, insbesondere der Bereich des magischen Denkens allein.
2. außerordentliche hohe Differenzierung der Gaben und Aufgaben, der Rechte und Positionen innerhalb der Gruppe, die weder rational voneinander scharf abgegrenzt noch nach einem rationalen Maßstab einander zugeordnet oder untereinander bewertet werden.
3. Einheit und Differenzierung werden unter keinen Umständen im Gegensatz zueinander gesehen: die Einheit allein ermöglicht die Differenzierung (ein Geist, viele Gaben, aber Gaben des einen Geistes). Die Differenzierung aber bringt die Macht und Fülle des Geistes ihn gleichsam potenzierend zum Aus­druck, wird vom Einzelnen nicht als Beschränkung, sondern als Erhöhung auch des Eigenen aufgefaßt.
4. Verfassungsrechtlich-funktional drückt sich dies darin aus, daß in consensu zur gesamten Hand gehandelt wird, aber erst nachdem in der Beschlußfassung der Unterschied der Gaben und des Gewichts der verschiedenen Positionen zur unverkürzten Auswirkung gekommen ist. Es gibt weder eine Abstim­mung nach Köpfen noch nach Mehrheiten im allgemeinen Sinne. Sondern wo sich das Schwergewicht der Entscheidung hinneigt, treten die Dissentie­renden entweder hinzu oder aber es tritt ein Schisma auf. Niemals bleibt der offene Dissensus der Mehrheit und Minderheit in der Einheit, wie es uns heute als selbstverständlich erscheint.

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5. Es gibt keinen Subjektbegriff im Sinne einer irreduziblen Grundgröße des Individuums, hinter das nicht zurückgegangen werden darf. Vielmehr wird der Einzelne in höchster Individualisierung der verliehenen Gaben durch die Teilhabe am gemeinsamen Geist konstituiert. Das Pneuma ist nicht Inspiration eines an und für sich vorhandenen Subjekts, sondern konstituiert alles, was an seinem Träger von Interesse und Bedeutung ist.

zu b): Im c.a.e. wird aus der immer noch keineswegs einfach undifferenziert-homogenen Gruppe eine bestimmt qualifizierte Gruppe ausgesondert, die untereinander gleich, an bestimmten Merkmalen der Berufung und sonsti­ger Qualifikation des Amtes erkennbar ist. Diese Gruppe repräsentiert mit zu­nächst relativer, aber steigender und endlich unbedingter Ausschließlichkeit das Ganze. Erst von hier ab und von hier aus ist der Begriff der Repräsentation sinnvoll (von der liturgischen repräsentatio ist hier nicht zu reden). Die Aus­bildung solcher exklusiv-repräsentativer Gruppen setzt normative Maßstäbe für die Zugehörigkeit voraus, deren Erfüllung die Bedingung für eine durchgängige Gleichberechtigung der Zugehörigen ist. Die Differenzierung der Nichtprivile­gierten, nicht Ausgesonderten sowie ihr Mitwirkungsrecht wird nicht von vorn­herein und grundsätzlich verneint, aber verliert schrittweise an Bedeutung und Kraft. Andererseits gewinnt das Collegium durch Rationalisierung seiner kon­stituierenden Maßstäbe die Möglichkeit von Mehrheitsentscheidungen, welche die Einheit nicht mehr sprengen. Wo andererseits trotzdem schismatische Ent­scheidungen auftreten, ist es ein Zeichen, daß der Charakter des c.i. noch nicht völlig verlorengegangen ist. Jene Entwicklung geht in der Entscheidung von der pars sanior über eine pars sanior et maior zur pars maior.

Die Entwicklung des c.a.e. und innerhalb desselben hat zwei hauptsächliche geschichtliche Stufen: die erste, noch sehr sich in der Relation zur Gesamtheit verhaltende ist das altkirchliche Bischofsamt, das ökumenische Collegium der Bischofsgemeinschaft, die zweite qualitativ wesentlich mehr rationalisierte, wird durch die Ausbildung des Cardinalkollegiums, der Domkapitel und weltlich des Kurfürstenkollegiums gekennzeichnet.

zu c): Das c.a.e. unterliegt auf dem Wege der Verallgemeinerung der Auf­hebung durch das c.a.i. Die Berechtigung der immer exklusiver verstandenen Repräsentation durch die privilegierte Gruppe wird von Grund auf bestritten und jedem Glied diesselbe Befähigung potentiell zugesprochen, die jene für sich exklusiv in Anspruch genommen hatten. Über die Betonung der potentiellen Fähigkeit wird die Erwägung der konkret gegebenen Berufung und Befähigung zurückgestellt und diese nur als konsekutiv-kausale Funktion verstanden. Die Einheit wird durch die Verallgemeinerung, das Charisma durch die kausale Funk­tion, die Konstituierung des Menschen durch die Geistteilhabe durch die Be­wußtseinsinnerlichkeit des an- und für-sich bestehenden Subjekts ersetzt.

Es ist eine Illusion, den Gedanken des Priestertums aller Gläubigen unab­hängig von dieser historisch-soziologischen Bedingtheit zu betrachten. Denn in Wirklichkeit hat der hochgemute Satz, daß jeder aus der Taufe gekrochene

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Christ ein Papst, Bischof, Pfarrer usw. sei, die Erwägung der konkreten Berufung völlig zurücktreten lassen, in einer Weise, welche dem paulinischen Gedanken des kosmos ton charismaton wesentlich widerspricht. Die ungemein geringe Ten­denz zur Differenzierung der Gemeinden, die ihr gegenläufige Tendenz zur Vereinheitlichung der Gemeinde wie des einen Amtes zeigt dies deutlich. Die Um­setzung des konkreten besonderen Charismas in die aus der primären Allge­meinheit des Geistes fließenden, an sich bedeutungslosen, von der Person ab­gelösten Funktionen zeigt Denkstrukturen an, welche den Kausalstrukturen der scholastischen Sakramentslehre völlig gleichen und sich nur durch die Spiri­tualität des Gegenstandes unterscheiden. Solange das bei den Collegialformen des c.a.i. zugrundeliegende Subjektverständnis nicht preisgegeben wird, solange bewegen sich hier römische und protestantische Theologie in Position und Kontraposition auf genau der gleichen Ebene, und ist eine Erreichung des biblischen Tatbestandes in Aussage und Gestaltung nicht möglich. Der Frage, warum von dem paulinischen Tatbestand nicht nur nichts wieder hervorgetreten, son­dern eher noch mehr zugunsten der Unifizierung der Kirche verlorengegangen ist, kann nicht mit dem Abfall vom wahren Luther oder sonst mit einem argu­mentum ex abusu ausgewichen werden. Es ist vielmehr schon aus dem Gesagten ersichtlich geworden, daß diese drei soziologischen Formen nicht abstrakt neben­einander, sondern in einem geschichtlichen Entwicklungszusammenhang stehen. Es zeigt sich hier erneut die von mir schon in meinem Referat über die aposto­lische Sukzession als rechtsgeschichtliches Problem dargelegte Verwandtschaft der biblischen-pneumatischen Aussagen zu bestimmten historisch-kontingenten Lebens-, Denk- und Rechtsformen: und umgekehrt die Tatsache, daß mit der Erkenntnis dieses Sachverhalts nicht einfach die Möglichkeit des Rückgriffs auf frühere Formen gegeben ist. So ist die Reformation, objektiv-historisch und a posteriori gesehen etwas ganz anderes gewesen und geworden, als sie subjektiv und a priori gemeint hat zu sein — nicht der Rückgang auf das biblische Urbild, sondern die Fortentwicklung aus dem c.a.e. in das c.a.i.

Haben wir uns damit dem biblischen Vorbild genähert oder von ihm entfernt? Das ist nicht eindeutig zu beantworten. Der Zug der Exklusivität in der c.a.e. ist beseitigt, der zweifellos nicht der Schrift entspricht, aber doch nur um den Preis eines weiteren starken Verlustes an realer pneumatischer Identität des ganzen Leibes Christi und des ihn einigenden Geistes mit einer folgenschweren Bedeutungsverschiebung von der Teilhabe, der koinonia in das Subjekt, ebenso von der pneumatischen Vielgestaltigkeit in die Differenzierung des Individu­ellen wie des Funktionalen. Anders gesprochen: von dem biblischen Tatbestand hat das c.a.e. das Moment der Besonderung bewahrt, das der Allgemeinheit verloren, umgekehrt hat das c.a.i. die Besonderung aufgehoben und die Allgemeinheit wieder hergestellt. Keine von beiden Lösungen hat die strenge Paradoxie der konkreten Besonderung in einer ebenso konkreten Vergemein­schaftung zusammengehalten oder wiederherzustellen vermocht, ja sie unter

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ihren Formen mißverstanden. Es ist das hier Gemeinte auch mehr als die relativ unverbindliche und idealistisch harmlose „Einheit in der Mannigfaltigkeit”, weil hier wirklich die unverfügbare Identität des Geistes in beiden eine echte Spannung trägt. Die Entwicklung umkreist gewissermaßen den biblischen Tat­bestand, ohne ihn erreichen zu können.

 

II. Die soziologische Struktur der kirchlichen Ämter

Wir verdanken Rudolf Smend den wichtigen Hinweis, daß sowohl Staat wie Kirche sich wesentlich in ihren Ämtern darstellen. Es ist nicht so, daß beide an sich vorhanden sind und dann die Ämter als Funktionen aus sich herausstellen. Das ist eine idealistische Vorstellung, welche dem Subjekt-Objekt-Schema ver­haftet und der Wirklichkeit durchaus unangemessen ist. Im Verhältnis zu die­sem Sachverhalt ist der weitverbreitete Funktionalismus der protestantischen Amtslehre völlig unkritisch. Er ist sich selbst gar nicht bewußt, welche philoso­phischen Voraussetzungen er hier ohne weiteres übernimmt. Es bringt weder die Kirche das Amt noch das Amt die Kirche hervor. Diese Dinge aber hätte man schon vor 30 Jahren aus Smends staatsrechtlichen Arbeiten lernen können, wenn man ihnen Beachtung geschenkt hätte. Kirche und Amt sind ineinander verschränkt und miteinander gegeben. Smend hat in diesem Zusammenhang auch bemerkt, daß selbst der moderne CJC ein in diesem Sinne noch sehr beachtliches personales Ämterrecht enthalte. Er ist trotz aller Systematik kein einheitliches Gefüge, sondern enthält Bestimmungen sehr verschiedener Struktur. Eine Bezeichnung des lutherischen Amtsbegriffs etwa als personal-funktional ist voll­kommen nichtssagend, weil sie weder zum Problem der personalen, noch zu dem der funktionalen Struktur etwas Konkretes aussagt.

Die Ämter, die die Kirche als charakteristische hervorgebracht hat, sind über die eingeschlossenen Funktionen hinaus Typen mit einer bestimmten histo­rischen Kontingenz, damit auch prägende Vorbilder für eine ganz bestimmte Haltung im Amte. Diese Ämter haben Namen, die nicht belanglos sind. Eine reine Funktion ohne diese kontingente Typizität der Ausprägung gibt es nicht und kann es nicht geben, weil der Mensch in der Geschichte lebt und die bloße Funktion geschichtslos ist. Wird versucht, von dieser Kontingenz eines Typus als Inbegriff von geprägten Verhaltensweisen und Wertvorstellungen abzusehen und zur sachlich reinen Funktion zu kommen, so setzt sich entweder eine neue Kontingenz des Typus gegen diese lebensfremde Theorie durch oder bei radi­kaler Durchführung bildet sich der geschichtslos negative Typus des Funktio­närs, in der stärksten Steigerung der Apparatschik. Je mehr mit rationalem Pathos und unpersönlicher Ausschließlichkeit die Sache groß geschrieben wird, verzerrt sich der Typus ins Unmenschliche. Die tierische Sachlichkeit ist die gefährliche Konsequenz des Funktionalismus. Aber nur die Sache haben zu wollen und doch Mensch, Person zu bleiben, ist ein halbschlächtiges Unternehmen.

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A. Die im NT bezeugten kirchlichen Ämter zeigen eine große Vielfalt der Ansätze, sind aber im Einzelnen noch nicht im Sinne der Ausschließlichkeit um­rissen. Eines der aus dieser Fülle mit größter geschichtlicher Wirkung und scharf geprägt hervortretenden Ämter ist das Bischofsamt. Es ist monarchisch insofern, als nach kurzen Anfangszeiten in den einzelnen Gemeinden immer nur ein einzelner Bischof die Leitung gewinnt. Sowohl Hilfsbischöfe, Suffragane und Weihbischöfe wie Landbischöfe (Chorbischöfe) treten nur in grundsätzlicher Nachordnung auf. Aber das Bischofsamt ist insofern nicht in der Analogie zum Fürstentum monarchisch, als es sich von vornherein immer und konstitutiv als der Bischofsgemeinschaft zugehörig verstanden hat. Eine Anschauimg, welche allein nach den Verrichtungen des Bischofsamts in der eigenen Gemeinde und Diözese fragt, wird dem Sachverhalt nicht gerecht und stammt selbst aus einer nominalistischen Konzeption. Die Lebensform der Bischofsgemeinschaft ist die Synode, auch Konzil genannt. Aber Synode und Konzil sind kein Organ der Kirche. Sie sind selbst wie jede gottesdienstliche Gemeindeversammlung ekklesia, darin gleichen Wesens mit der universalen Kirche, die vor dem Jüngsten Tage nie versammelt werden kann, wie der winzigsten Gemeinde. Die Bischofs­synode ist daher auch keine Repräsentativversammlung. Ein jeder Bischof sitzt in ihr kraft eigenen Rechtes und Amt. Eigenart und Wertung zeigen sich darin, daß die großen ökumenischen Konzilien im Titel nach der Zahl der versam­melten Bischöfe genannt werden. Die Zahl der Versammelten entwertet nicht die Bedeutung des Einzelnen, sondern steigert sie und das Ganze, der personale Charakter wird nicht gemindert, sondern eher verstärkt. Jeder Bischof ist im Ursprung in unserem Sinne gemeindeleitender Pfarrer, Präses presbyterii, re­gierender Ältester. Erst allmählich tritt ein Gebiet abhängiger Gemeinden hin­zu, bildet sich die Diözese als Territorialverband. Dann ist nicht mehr jeder Pfarrer Bischof. Der Satz ist nicht mehr einfach umkehrbar, soweit nämlich die nachgeordneten Gemeinden mediatisiert sind und nicht mehr unmittelbar an der ökumenischen Gemeinschaft der Provinzial- und Universalsynoden teilnehmen. Fast durchgängig sind die civitates, die städtischen Mittelpunkte auf diese Weise Bischofssitze geworden. Die reformatorische Kritik am Bischofsamt hat also durchaus recht, wenn sie den gemeinsamen Ursprung von Bischofsamt und Pfarr­amt betont. Aber sie übergeht, wieder nominalistisch vereinzelnd, die nicht von ungefähr eingetretene geschichtliche Gabelung des einen Amtes in die beiden Ämter. Die geschichtlich kontingente Entscheidung, die Zahl der Bischöfe nicht mehr unbegrenzt entsprechend der Zahl der Gemeinden zu vermehren, sondern auf die städtischen Vororte zu beschränken, hat das Bischofsamt recht eigentlich erst ökumenisch funktionsfähig gemacht und die ökumenischen Kon­zile ermöglicht, denen wir die klassische altchristliche Bekenntnisbildung ver­danken. Es ist schlechterdings nicht zu sehen, wie ohne diese Formbildung die Kirche hätte entscheidungsfähig sein können. In dieser Form hat seither das Bischofsamt eine außerordentliche Fortpflanzungsfähigkeit bewiesen. Wie ein

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Gefüge von Waben verschiedener Größe reihte sich nun durch die ganze Christenheit Diözese an Diözese. Die Einheitlichkeit der Amtsform und die biegsame Veränderlichkeit der Diözesengröße waren die beiden Bedingungen für diese Ausbreitung. Nicht allein die lateinische und griechische Kirche, sondern auch alle von der orthodoxen Kirche getrennten Kirchengemeinschaften haben diese Form mit dem größten Erfolg verbreitet. Die nestorianische Mission grün­dete vom 7. bis zum 14. Jahrhundert Bistümer von Vorderasien über Karakonim bis an den Hoang-ho. Anglikaner und nordische Lutheraner haben diese Form bewahrt. Allein die calvinistisch-puritanischen Kirchengemeinschaften haben diese historische Form aufgegeben. So ist der Episkopat die eine große gesamt­kirchliche Amtsform. Es wird nicht mit Unrecht gesagt, daß das Bischofsamt im lutherischen Superintendentenamt fortgelebt habe. Der wesentliche Unterschied besteht aber darin, daß dieses Amt nicht mehr in realer Ökumenizität lebte und sich verstand. Die Superintendenten der verschiedenen Territorien standen nicht mehr in kirchenrechtlicher Gemeinschaft. Der Territorialismus hatte mit einem Federstrich die Ökumene zerschlagen. Aber die Theologie erkannte noch nicht einmal den grundlegenden Bedeutungswandel, der darin lag. Die dog­matische Gleichsetzung von Bischofsamt und Pfarramt vollends hat den Blick für die Unterschiedlichkeit der Bezüge wie der Größenordnungen und die da­durch bedingte qualitative Verschiedenheit verloren. Man wurde dadurch nicht bescheidener, sondern nahm im Gegenteil in aller bürgerlichen Devotion eine souveräne Unabhängigkeit in Anspruch, welche die alte Kirche nie einem Bischof zugebilligt hat und die praktisch nur für die Großbischöfe der histo­rischen Patriarchate und einige nationale Kirchenhäupter bestand.

2. An umfassender, geschichtlich-soziologischer Wirkung ist mit dem Episko­pat allein der Presbyterat zu vergleichen. Er tritt von Anfang an in zwei Formen auf, dem geehrten und bewährten Ältesten ohne eigentliches Amt und dem Amtspresbyterat, welches das Bischofsamt aus sich heraus entlassen hat. Durch dessen geschichtliches Übergewicht ist der Presbyterat auch als Amtsform In seiner Bedeutung herabgedrückt worden und hat sich als ein verdrängtes, aber wesentliches Moment in der Reformation wieder zum Wort gemeldet. Der Cal­vinismus hat mit einer gewissen biblizistischen Naivität 4 biblische Ämter neu zu errichten unternommen, die leitenden und die lehrenden Ältesten, die Dok­toren und Diakone. Allein das Bischofsamt, ebenso gut biblisch bezeugt, hat man als verderbt beiseite gelassen oder mit jenen Ämtern gleichgesetzt. Aber diesen 4 Ämtern zum Trotz ist prägend gerade das Presbyteramt als Einheits­form geworden. Er geht von der Glaubensbewährung aus und sucht mit mög­lichster Kraft auch den Amtspresbyterat in sich hineinzuziehen. Dem entsprechen bis heute die Wertungen der Ämter in den Gemeinden reformierter Tradition. Seine geschichtliche Wirksamkeit verdankt dieser Presbytertypus wie das Bischofsamt seiner Biegsamkeit und unbegrenzten Fortpflanzungsfähigkeit. Man muß dazu eine heutige Kreissynode am Niederrhein ansehen. Ihr gehören alle Pfarrer, Älteste aus jeder Gemeinde, daneben aber ebenso zahlreiche

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Inhaber sonstiger Ämter an. Wer irgendwo hervorgetreten ist, wird hineingenom­men, und alle werden durchgängig als Presbyter verstanden. Wie ehedem die Bischofsversammlung ist die Synode jetzt eine allgemeine und gleiche Presbyter­versammlung.

3. Die Tragweite dessen wird man erst durch den Vergleich mit der eigen­tümlich lutherischen Amtsform erkennen könen. Die lutherische Kirche hat aus dem bekenntnismäßig geforderten Predigtamt als typische Form den Pfar­rer als Amtspresbyter entwickelt. In diesem Pfarramt der lutherischen Kirche, das auch in den landeskirchlichen Calvinismus hineingewirkt hat, sind drei Elemente verschmolzen: das altkirchliche Amtspresbyterat, das Pfarramt der Pfarrherrn und Leutpriester, welches sich vom Druck der hohen Prälatur befreit hat. Es ist sodann ein akademisch-humanistischer Typus, der zeitlebens fast in gleichem Maße civis academicus ist wie Glied der Kirche, der die Schultheologie, von der er geprägt ist, nach bestem Vermögen weiterträgt. Das Lehrer-Schüler Verhältnis ist meist stärker als die schwache oder mißverstandene und abgewertete geistliche Zuordnung innerhalb des kirchlichen Amtsgefüges. Die Klam­mer um das Ganze und das formbildende Gepräge für den Typus stammt jedoch deutlich aus der Tradition der spiritualen Bettelorden des Hochmittelalters. De­ren Ämter sind funktionale Ämter ohne Ordo, in entschiedenem Gegensatz ge­gen den bischöflichen Typus des benediktinischen Abtes und der älteren Orden. Die spiritualen Orden sind typisch bürgerliche Erscheinungen. Sie entstehen in den großen Stadtbürgerschaften in der Zeit der beginnenden Geldwirtschaft. Sie nehmen sich predigend und missionarisch der jetzt entstehenden, von der hierarchisch-ortsgebundenen Kirche nicht hinreichend erfaßten städtischen Mas­sen an. Die typologische, geistige und soziale Verwandtschaft zwischen den Bettelorden und der Reformation ist sehr groß, nur mit dem Unterschied, daß jene trotz schärfster theologischer und morphologischer Gegensätze nie aus der Kirche ausgebrochen sind. Aus ihrem Kreise stammt der kirchenpolitische Kampf mit dem Kaiser gegen den Papst etwa im „Defensor pacis” des 14. Jahrhunderts. Mit dieser Amtsform sind vor allem aber die Formen der Kleinkirche auf die Lebensverhältnisse der Großkirche übertragen worden. Was in so engeren und spiritualen Gemeinschaften unter besonderen sozialen und geistigen Bedin­gungen tragfähig ist, ist es noch nicht ohne weiteres in der vollen Öffentlichkeit der Volkskirche und im gesamtkirchlichen Gefüge. Aus der unbewußten Über­tragung der Strukturformen der Kleinkirche auf die Großkirche und auch nominalistischen Einschlägen der Theologie erklärt sich das Fehlen geeigneter groß­kirchlicher Lebensformen, einer Kirchenrechtsform, welche ökumenisch tragfähig ist.

Die Mischung jener drei Elemente ist natürlich neu; sie hat einen neuen blei­benden Typus mit vielfachen Vorzügen und Schwächen hervorgebracht. Er ist über seine nachweisbaren Elemente hinaus etwas Singuläres. Aber ohne jene Elemente zu beachten ist er überhaupt unverständlich. Am allerwe­nigsten ist hier etwas gänzlich Neues oder das Amt der Kirche in seiner

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grundsätzlichen Reinheit oder gar ein biblisches Vorbild erstanden. Die berechtigte Würdigung der großen Leistungen dieses reformatorisch-bürgerlichen Amtstypus, aber auch arge Lobrednerei, vor allem aber der Wahn eines völligen Neuansatzes hat die Erkenntnis dieses Tatbestandes hinangehalten. Damit sind aber die soziologischen Merkmale nicht erschöpft. Dieses Pfarramt hat nicht die gleiche Ausbreitungsfähigkeit besessen. Das calvinisch-puritanische Presbyterat hat sich in immer neuen Abwandlungen durch eine unendliche Zahl von Kirchengemeinschaften fortgepflanzt und die Einbeziehung zahlreicher aktiver Laienchristen in die Verantwortung begünstigt, während dabei die gebotene Grenzziehung oft verlorengeht. Anders dieses Pfarramt. Es steht gewissermaßen zwischen Bischofsamt und Presbyterat. Es hat Elemente von beidem, aber wie viele Kreuzungen mehr die Schwächen als die Vorzüge. Es ist vermöge des Er­fordernisses akademischer Vorbildung und förmlicher Ordination verhältnis­mäßig exklusiv, aber nicht so exklusiv und hervorgehoben wie das Bischofs­amt. Es erlangt nicht den Rang, Typus und Nimbus wie dieses und auch ver­möge der großen Zahl seiner Glieder nicht die tradierten Fähigkeiten des geist­lichen Regiments in größerem Rahmen. Das macht sich bei der Neubildung des evangelischen Bischofsamts empfindlich bemerkbar. Aber es ist andererseits auch nicht allgemein und demokratisch genug, um die Schranken eines sehr begrenzten Standes zu überspringen, sein eigenes Monopol preiszugeben. Es ist außerstande, in größerm Maße aktive Christen in den Bereich seiner Formung einzubeziehen. Es ist weder aristokratisch noch demokratisch genug, um ge­schichtlich und soziologisch über sich hinaus formkräftig und wirksam zu sein. So bleibt es bei aller Dienstwilligkeit seltsam auf sich selbst beschränkt. Darin liegt seine Schwäche, die durch die Abhängigkeit vom Akademischen noch ent­scheidend verstärkt wird.

Bekanntlich ist in der alten Kirche der Satz geprägt worden, daß die Kirche „super episcopos” konstituiert werde. Die Dogmatiker mögen über diesen Satz streiten. Der Soziologe muß feststellen, daß die großen Kirchenbildungen sich durch die Voranstellung eines maßgebenden Leitbildes vom Amt gebildet haben, die alte Kirche über den Episkopat, der Calvinismus über den Presbyterat, beide mit den entsprechenden Synodalbildungen. Dazu gehört eine gewisse geschicht­liche Naivität, um einer solchen ausschließenden Form unter Einschluß des un­vermeidlichen Moments von historischer Kontingenz und kontingenter Geschichtlichkeit das Prädikat der gottgewollten Form der Kirche beizulegen. Die alte Kirche hat dies in vollem Umfange historisch-traditionell begründet, der Calvinismus in einer Mischung von Biblizismus und Rationalität. Das Luthertum hat, wie mir scheint, in seiner Lehre von Kirche und Amt etwas grundsätzlich Entgegengesetztes versucht. Es hat das Amt rein von der Funktion her unter Ausscheidung jedes spezifischen Typus umschrieben. Diese notwendige Funktion wird als Predigtamt bezeichnet (CA V, VII). Daraus hat sich dann das lutherische Pfarramt entwickelt. Der Versuch aber ist sehr viel radikaler als der des Calvinismus, der nur gleichsam das Bischofsamt in das Presbyteramt

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verallgemeinert und umkehrt und es genauso absolut setzt. Der Soziologe kann hier, ohne in den dogmatischen Streit einzugreifen, dem Theologen sagen, daß dieser Versuch, von der Kontingenz der Amtsform abzusehen, grundsätzlich gescheitert ist und scheitern mußte. Es ist der Versuch, einen Körper ohne Schwerpunkt zu bilden. Die Kirche aber lebt in der geschichtlichen Welt, welche die Kontingenz der Lebensformen notwendig einschließt. Dieser Mangel kann nicht dadurch geheilt werden, daß man nachträglich die lutherische Kirche eben­sosehr über das Pastorenamt konstituiert, wie die anderen Kirchen über Bischof und Presbyter aufgebaut sind. Stahl hat in der richtigen Erkenntnis dieser un­gelösten Frage diesen Versuch gemacht, der aber als Pastoralkatholizismus mit Recht abgelehnt worden ist. Die Lösung kann nur darin liegen, daß die mehre­ren, von Anbeginn der Kirche eingestifteten Amtsformen miteinander zum wirklichen Ausgleich gebracht und jede von ihnen an ihren Platz gestellt werden. Der lutherische Versuch nötigt gerade durch sein Scheitern zum Vorwärtsgehen zu einer weiteren und offeneren Lösung als die der anderen Kirchen ist. Aber zuvor muß in der Tiefe die unheilvolle Neigung überwunden werden, der geschichtlichen Kontingenz der Kirche mit dem Funktionsbegriff auszuweichen. Es scheint mir sehr beachtlich, daß heute zwischen Anglikanern und presbyterianischen Schotten ein Ausgleich und eine Verbindung der Amtsformen versucht wird.

 

III. Die soziologische Struktur der Gesamtkirche

In der Entwicklung der Gesamtkirche finden wir nicht wie in der Entwicklung der allgemeinen Kirchensoziologie drei, sondern nur zwei Phasen und Formen. Ich habe andernorts mit hinreichender Ausführlichkeit dargestellt, daß die alte Kirche kein geschlossener, einheitlicher Körper, keine Körperschaft war, auf welche Organbegriffe angewendet werden können, sondern eine Gemeinschaft von Ekklesien, geführt von traditionalen Vororten. Für diese Struktur bieten in neuerer Zeit nur die Filiationsverbände der großen Orden und die Städteeinungen der Hanse und ähnlicher Bünde, keinesfalls aber der körperschaftliche Territorialstaat einen Vergleich. Dieser grundlegende Unterschied ist bisher weder von der Theologie noch von der Kirchenrechtsgeschichte mit ausreichender Klarheit gesehen worden. Fast als einziger hat der Jurist und Soziologe Eugen Rosenstock-Huessy ihn in seinem Buch über die europäischen Revolutionen ausführlich gewürdigt. Sohm kannte ihn wohl, aber er war fasziniert von der angeblichen Zwangsläufigkeit des Übergangs in die körperschaftliche Kirche. Damit verlor diese Erkenntnis für ihn ihren Wert. Man muß freilich mit allem Ernst sehen, daß diese erstere Form nicht hinreichend rationalisiert ist und des­halb der Gefahr unterlag, von der körperschaftlichen Form verdrängt zu werden. Die Belege dafür hat Sohm in großer Breite geliefert.

Gegen das geltende Kirchenrecht der Vorortsordnung, gegen die Konzeption des kanonischen Rechts der ökumenischen Konzilien hat frühzeitig der römische Stuhl opponiert, aber trotz aller Versuche ohne Erfolg. Erst die große

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Kirchenspaltung von 1054, erst die Zerstörung der Kircheneinheit hat den Weg zur körperschaftlichen Einheitskirche freigemacht. Man muß es sich ganz deutlich vor Augen halten: die Zerstörung der Kircheneinheit ist die Voraussetzung für die Einheitskirche. Das Papsttum in seiner vollen und folgerichtigen Ausbildung ist die Frucht dieser Zerstörung der Kirche und ihres alten Kirchenrechts. Die große Einheitskirche aber bildet gedanklich die kleine Einheitskirche, die Kirche des souveränen Territorialstaats vor. „dux Cliviae est papa in suis terris” ist schon vorreformatorisch. Aber man beachte: papa. Man meint gewöhnlich, durch die Reformation sei das Bischofsamt an die Fürsten und Magistrate ge­langt. Das ist nur teilweise richtig. Fortgepflanzt hat sich hier das Papsttum, die souveräne Verfügung über Bekenntnis und Regiment der Kirche, die inap­pellable Jurisdiktion. Lehramt, Autorität und überörtliche Gemeinschaft der Bischöfe ist weit eher auf die theologischen Fakultäten und dann auf die Pro­fessoren übergegangen. Sie sind die einzige und unbezweifelte Autorität im Protestantismus, vor der auch die größten Kirchenhäupter noch immer etwas den Respekt des Kandidaten haben. Dieser scheinbare Rückgriff in die Soziologie der Amtsformen gehört durchaus in die Strukturfragen der Gesamtkirche. Denn die Kirche, die keine eigenen spezifischen Formen überörtlichen und ökume­nischen Lebens besaß, mußte auf kirchenfremde Formelemente zurückgreifen — nach dem unerbittlichen geschichtlichen Gesetz des leeren Raums. Wer der in­stitutionellen Eigenexistenz nicht zu stehen wagt, wird dadurch von institutio­nellen Formen nicht frei, sondern bekommt diejenigen fremder Bereiche, hier des souveränen Staates und der Universität als Joch aufgelegt. So werden die außertheologischen Faktoren zu innertheologischen. Die Täuschung über diese unaus­weichliche Folge hat allein das deutsche, nichtbischöfliche Luthertum bis zur letzten Neige ausgekostet. Noch heute hindert eine seltsame Mischung von überlieferter Glaubenstreue und Beharrungsvermögen die Erkenntnis dieses Tatbestandes. Das Landeskirchentum mit der souveränen Entscheidungsgewalt jedes einzelnen Kirchenkörpers ist so die folgerichtige Fortsetzung des leiden­schaftlich bekämpften Papsttums geworden. Man bekennt in den Präambeln der Kirchenverfassungen die ökumenische Gemeinschaft der Kirche und behält sich im nächsten Satz die eigene Letztentscheidung in allen Dingen vor. Dieser Widerspruch wird nicht einmal empfunden — so sehr sind Innen und Außen voneinander getrennt. Dieser Spiritualismus paßt sehr gut zu dem ererbten aka­demisch-bürgerlichen Typus. Den Humanismus, den die Reformatoren bekämpft und in der Person des Erasmus abgewiesen haben, haben sie im breitesten Umfang in die Strukturformen der Kirchen unversehens hineinbekommen.

 

Schlußbemerkung:

Wie eingangs bemerkt, kann eine solche Darlegung immer nur gewisse Aspekte er­fassen. Trotzdem ist ein entwicklungsgeschichtlicher Zusammenhang dieser Erscheinungen auf allen drei Ebenen in einer gewissen Parallelität unverkennbar. Es wäre aber falsch, daraus ein Entwicklungsschema und eine bloße Zwangsläufigkeit herzuleiten oder uns gar etwa in einem Endzustand zu sehen. Genausowenig wie wir uns von dem

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morphologischen Erbe befreien können, genausowenig ist die Geschichte geschlossen. Sie ist offen für einen neuen Einsatz, der unweigerlich, ob wir es wissen und wollen oder nicht, das Alte mit einschließt. Diese eigentümliche Verbindung von geschichtlicher Ge­gebenheit und Kontingenz macht das unverfügbare Geheimnis der Geschichte aus. Blickt man nur auf die Entwicklung, so erscheint uns alles schon determiniert. Blickt man nur auf die Zukunft, so verschwindet die Geschichte, die wir stillschweigend mit uns tragen.
Die Frage liegt nahe, wie es weiter geht und gehen sollte. Der Soziologe ist kein Prophet. Er kann nur sagen, was ist, und muß es auch vor allem gegen den blinden Fleck im Auge der Nächstbeteiligten so nüchtern wie ein Arzt gegen die Euphorie des Kranken. Zu den soziologisch feststellbaren Tatsachen gehört auch, daß wir ungeachtet alles kirchlich-theologischen Beharrungsvermögens solche Dinge überhaupt zu sehen beginnen. Das zeigt, daß wir schon hinter ihnen stehen. Die bürgerlich-akademische Kirche ist am Ende und muß zu Ende gehen. Wir können nur nicht so unbefangen wie ehedem die Kirche über einen bestimmten Typus konstituieren, wenn wir sie recht zu begreifen und zu ordnen versuchen. Unser Leben und Denken ist mehrschichtig, komplex, unabgeschlossen. Wenn früheren Zeiten die Dinge sehr selbstverständlich, für unser Urteil vielleicht zu schnell, zur Form gerannen, so fällt es uns heute umgekehrt schwer, die Vielfalt nicht verfließen zu lassen. Wenn wir auch nicht verkalken wollen, so dürfen wir auch nicht verbluten. Der Weg geht sicher nicht in eine integrale Idealität; sie gibt es in der Geschichte nicht, aber vielleicht doch in einen Ausgleich, in eine Verbindung der Lebensformen. Was sicherlich am Ende ist, ist der Monismus einer für sich be­stehenden, schlechthin dominierenden Form, so sehr ein solcher Monismus sich überall wehrt, weil er dem Vereinfachungsbedürfnis des Menschen, auch dem des Theologen, so sehr entgegenkommt.