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Die Evangelische Michaelsbruderschaft hat 1955 unter dem Titel „Credo ecclesiam” eine programmatische Schrift zur gegenwärtigen Lage der evangelischen Kirche herausgegeben. Die Bruderschaft hat sich entgegen vielfachen Mißverständnissen und Mißdeutungen nie einseitig auf Fragen der liturgischen Erneuerung beschränkt. Sie hat vielmehr überall dort arbeiten und mahnen müssen, wo Mangelkrankheiten das geistliche Leben der Kirche bedrohen, wie z.B. in der Seelsorge. Deshalb hat sie auch in jener Schrift nach dem Vorbild der reformatorischen Kirchenordnungen in strenger Parallelität immer die Fragen der Lehre, der Ordnung und des Gottesdienstes und des geistlichen Lebens des Einzelnen nebeneinander stellen müssen. Dieser Gesamtsicht entspricht auch die Inangriffnahme der fragen kirchlicher Ordnung. Man kann die Fragen des Gottesdienstes nicht anfassen, ohne zugleich — und zwar von daher — die Fragen der Ordnung neu zu stellen. Zugleich entspricht das Hervortreten dieser Probleme einer Entwicklung in Deutschland wie der Oekumene. Überall werden diese lange vernachlässigten Fragen heute reif. Die Erfahrung hat gerade in der Gegenwart mehr denn je gezeigt, daß es hierbei nicht etwa nur um äußere oder untergeordnete Fragen geht, sondern daß Versäumnisse und Mißbildungen auf diesem Gebiet Leben und Lehre der Kirche bei scheinbarer Intaktheit in ihrem innersten Kern bedrohen.
Die Schrift selbst hat als Gemeinschaftsarbeit viele uns wesentliche Gedanken oft allzusehr zusammendrängen müssen. Der Wunsch vieler Leser nach Entfaltung und Erläuterung ist so begreiflich. Dies gilt auch für die Teile, die sich auf kirchenrechtliche Fragen beziehen. Soweit ich an ihrer Formulierung beteiligt bin, sind dem Erwägungen und Arbeiten sowohl vorausgegangen wie gefolgt. Mit der Unabhängigkeit des Einzelnen, der nur sich selbst verpflichtet und der Kritik aussetzt, kann ich zum besseren Verständnis auch des dort Gesagten und zu seiner Fortentwicklung hier diese Gedanken darbieten.
Der innere Zusammenhang wird dem Leser deutlich werden. Vorangestellt ist die schon anderwärts abgedruckte Abhandlung über altkirchliche und evangelische Kirchenverfassung, die zwar vielfach freundlich aufgenommen, aber in der Vereinzelung in ihrer Grundsätzlichkeit nicht genügend zur Wirkung gekommen ist. Sie soll mit großem Nachdruck den inneren Zusammenhang
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zwischen Bischofsamt und Gemeinde in der von den Reformatoren bejahten altkirchlichen Tradition und Ordnung darstellen. Damit ist zugleich jeder Vorstellung gewehrt, es handele sich um die Ausbildung und Erhebung eines irgendwie für sich bestehenden Bischofsamtes, wie denn auch unser Bruder Wilhelm Maurer den lutherischen Bischof zu Recht als synodalen Bischof bezeichnet hat.
Die drei großen kirchenrechtlichen Vorträge, deren Zusammentreffen aus gegebenem Anlaß sehr deutlich die Aktualität der Fragen zeigt, dienen sowohl zur Verdeutlichung der kirchenrechtlichen Teile der Grundsatzschrift wie zur Fortentwicklung und Konkretisierung der daraus zu ziehenden Folgerungen. Das Überschneidungen zwischen den einzelnen Arbeiten sich nicht vollständig vermeiden lassen, wird der Leser verzeihen, zumal die Unbekanntheit weiter Teile des alten Kirchenrechts und vor allem seiner systematischen Zusammenhänge eine wiederholte Umschreibung der Tatbestände vielleicht als hilfreich erscheinen lassen wird.
Während „Credo ecclesiam” in Druck ging, erschien Band IV/2 von Karl Barths „Kirchlicher Dogmatik” nebst dem Sonderdruck „Die Ordnung der Gemeinde”, dessen Herausnahme die Dringlichkeit dieser Fragen erneut unterstreicht. Dieser Neuansatz ist sowohl theologisch wie juristisch lebhaft zu begrüßen, wenngleich gegen die Durchführung des Gedankens ebenso lebhafte Bedenken anzumelden sind. Dieser Arbeit ist ein Aufsatz als Wiederabdruck aus „Quatember” gewidmet. Um so mehr ist zu bedauern, daß die lutherische Theologie gegenüber dem bedeutsamen Gedanken Karl Barths bisher nirgends eine klare Stellung bezogen hat. Jedoch hat inzwischen der „Theologische Konvent Augsburgischen Bekenntnisses” in Fulda Grundlinien zur Ordnung des Amtes in der Kirche formuliert und herausgegeben. Eine Stellungnahme zu dieser bedeutsamen Verlautbarung hätte hier Platz finden sollen, wenn nicht bisher die begründende Erläuterung zu den Thesen noch ausstände, ohne die nicht gut geurteilt werden kann.
Wie zu Beginn der untrennbare Zusammenhang von Bischof und Gemeinde dargestellt ist, so dienen die späteren Gedanken vor allem die Zusammenhang zwischen Bischofsamt und Bekenntnis. Die Frage erschöpft sich nicht positivistisch darin, ob das Bekenntnis den Bischof fordert, zuläßt oder ausschließt, sondern ob ohne bischöfliches Amt und bischöfliche Gemeinschaft die Kirche überhaupt bekennende Kirche zu sein vermag. Denn 1530 wie 1934 war es gerade die Not der Kirche, daß das ordentliche Amt der Leitung sich versagte, zerstört war oder nicht ausreichte.
In der Lehre von Kirche und Kirchenrecht stehen heute eine Reihe von zentralen Fragen zur Entscheidung an, denen die Theologie bisher ausgewichen ist:
1. Die Frage ist die vielerörterte nach Ansatz und Begründung des Kirchenrechts überhaupt. Sie kann nicht mehr in komplizierten und abstrakten rechtstheoretischen Erörterungen verlaufen, sondern ist jetzt mit der These von Karl Barth neu präzisiert worden.
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2. Daran schließt sich die Frage nach einem konkreten Maßstab und Grundmaß für die kirchenrechtliche Ordnung an, welcher sich aus der vorgegebener Struktur des gottesdienstlichen Vollzugs selbst, nicht aus jenseits des geistlichen Lebens liegenden Ordnungsvorstellungen zu ergeben hätte.
3. Die dritte Frage ist die nach Grund und Form gesamtkirchlicher Ordnung. Weder der vereinzelnde Nominalismus, dem die evangelische Theologie traditionell huldigt, noch der deduktive Universalismus der Römer reicht offenbar aus.
4. Damit verbindet sich die Frage nach dem Bekenntnischarakter der Kirche: Kann sie lediglich durch permanente Auslegung vom ererbten dogmatischen Bestände leben, kann sie Bekenntnis lediglich aktualistisch verstehen oder bedarf es jenseits dieser einander entsprechenden Gegensätze legitimer Formen dogmatischer Entscheidung, wenn das Wort vom Bekenntnis nicht ein leerer Anspruch werden soll?
Diese Fragen greifen tief hinein in das Leben und das Selbstverständnis der Kirche: das zeigt gerade der lebhafte Widerstand der Verfassungsorthodoxie aller Richtungen gegen eine durchgreifende Erörterung dieser Fragen. Für sie alle werden hier Lösungsrichtungen aufgezeigt, die nicht beanspruchen, das letzte Wort zu sein. Nur einem wird hier nachdrücklich widersprochen: diese Dinge auf die lange Bank zu schieben, sie in einer letztlich uninteressierten Wissenschaftlichkeit versanden zu lassen und sich desto unangefochtener mit dem Skandalen des gegenwärtigen Zustands zufriedenzugeben.
Durch ein Moment wird freilich jede Erörterung kirchenrechtlicher Fragen von der Tiefe her erschwert: durch die konsequente Weigerung der Theologen, der Dimension des Rechtes einen echten geistigen Gehalt zuzubilligen. Interesse für die theologische Begründung des Rechts verbürgt noch nicht eine Überwindung solcher Vorurteile. Auch in ihnen drückt sich der gefährliche Wirklichkeitsverlust des Protestantismus aus. Deshalb habe ich es mir angelegen sein lassen, eine ganze Liste daher stammender juristischer Irrtümer einmal gesammelt vorzulegen und anzumerken.
Die Verbreitung als Broschüre drückt die bescheidene Begrenzung des Anspruchs auf einen Beitrag zur Erläuterung und Erörterung aus, zumal eine systematische Darstellung nur in sehr großem Rahmen möglich wäre. Die Schrift wendet sich an Leser, welche bereit sind, die große geschichtliche Aufgabe der Neuordnung der Kirche in Freiheit von traditionalen Denkformen, die sich zu Unrecht als evangelisch ausgeben, aufzunehmen. Diese Aufgabe hat ihren bestimmten Ort, ihr begrenztes Maß, aber auch ihre Würde und ihre Verheißung.
Die Weiterführung der im ersten Teil der Schrift „Credo ecclesiam” formulierten Gedanken und die Auseinandersetzung mit der Kritik wird in anderer Weise und an anderer Stelle stattfinden müssen. Dazu ist auch das Gespräch über die Schrift noch nicht weit genug gediehen.