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Die evangelische Kirchenrechtswissenschaft wird noch immer überschattet von dem großen Lebenswerk Rudolf Sohms, das bisher keineswegs ausgeschöpft und ausgewertet ist. Er hat es selbst auf die berühmte These zugespitzt, daß das Wesen des Kirchenrechts mit dem Wesen der Kirche in Widerspruch stehe. Diese Auffassung wird heute, soweit ich sehe, von niemandem mehr vertreten. Erst kürzlich hat Rudolf Bultmann in seiner Theologie des Neuen Testaments (§ 51 S. 444) ausgeführt, daß sie nur dann zu Recht bestehe, wenn das Recht aus einem regulierenden zu einem konstituierenden Faktor werde. Im übrigen bescheinigt er Sohm, daß dieser sich die Glieder der Urgemeinde als religiöse Individualisten und Enthusiasten vorstelle und das als das Normale ansehe, was Paulus in 1. Kor. 12 und 14 als Gefahr bekämpft oder wenigstens eingeschränkt habe. Schon Holl habe mit Recht darauf hingewiesen, daß auch das Wort des Charismatikers als autoritatives Wort Ordnung und Tradition schaffe. Die Oekumenische Naturrechtskonferenz von Treysa 1950 hat die Sohmsche Auffassung einstimmig verworfen. Dies kommt zwar in dem veröffentlichten Tagungsbericht nicht zum Ausdruck, weil es dort um andere Dinge ging; aber es verdient verzeichnet zu werden. Dieses Ergebnis wäre nicht möglich gewesen ohne die neuere Entwicklung der evangelischen Theologie im Allgemeinen, den Kirchenkampf und diejenigen Gedanken im Besonderen, die sich an Karl Barths Schrift „Rechtfertigung und Recht” angeschlossen haben.
Viel bedeutsamer aber als jenes radikale Ergebnis der Sohmschen Arbeit selbst ist der gedankliche Weg, auf dem er zu ihm gekommen ist. Sohm meinte, die Glaubensgemeinschaft, der er mit ganzer Seele anhing, gerade vor der wissenschaftlichen Disziplin warnen zu müssen, der er seine fruchtbarste Lebensarbeit gewidmet hat! Das ist eine paradoxe, ja geradezu tragische Lage für einen Gelehrten! Sein Weg in die Aporie der Kirchenrechtsverneinung war derjenige der historischen Forschung. Deutlicher als in seinem allgemein bekannten „Kirchenrecht” wird dieser Weg in seinem letzten großen Werk „Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians” (Festschrift der Leipziger Juristenfakultät für Adolf Wach 1917) sichtbar. Er zeigt dort, daß das altkatholische Kirchenrecht bis in die zweite Hälfte des zwölften Jahrhunderts Sakramentsrecht ist, Recht der Verwaltung der Sakramente und ihrer Rechtswirkungen. Alles
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Handeln der Kirche ist bis dahin sakramentales Handeln: erst spät und allmählich wird eine bestimmte Zahl von Sakramenten und Sakramentalien dinglich ausgegrenzt. Dieses Sakramentsrecht war grundsätzlich Sache der Theologen, nicht der Juristen. Eine profane Rechtswissenschaft bildet, und das Eindringen der Juristen in Theorie und Praxis der Kirchenrechts vollzieht sich erst mit dem Übergang in das körperschaftlich-voluntaristische Kirchenrechtsdenken des Neukatholizismus. Jetzt wird die Kirche zu einer zweckhaft gerichteten, zweckhaft organisierten Körperschaft, die das Heil als das „bonum commune” verwirklicht. Sohm weist diesen grundsätzlichen und in seiner epochalen Bedeutung noch keineswegs hinreichend beachteten Umschlag an Hand der kanonistischen Summenliteratur ebenso präzise nach wie ein Kunsthistoriker den Wandel von Baustilen. Wilhelm Maurer hat dagegen in seiner wichtigen Schrift „Bekenntnis und Sakrament” (1940) den Verfall der altkirchlichen Mysterientheologie mit seinen kirchenrechtlichen Wirkungen noch sehr viel weiter in das spätere Mittelalter verfolgt.
Sohm hat jene Umwandlung vom Sakramentsrecht in das Körperschaftsrecht für zwangsläufig gehalten, so scharf er auch beide Epochen gegeneinanderstellt. Er sieht die Wurzel dieser trotzdem geradlinigen Entwicklung im Sündenfall des 1. Clemensbriefes. Dann aber erschütterte ihm die Erkenntnis, daß auch das protestantische Kirchenrecht ungeachtet aller Verneinung römischer Gesetzlichkeit und kanonistischer Rechtssystematik gedanklich vollständig auf dem Boden des gleichen körperschaftlich-voluntaristischen Denkens steht. Alles leidenschaftliche Bestreiten der römischen Position habe den Protestantismus nicht von dem immanenten Zwang jener Denkformen befreit. Erst so, nicht aus einem spiritualistischen Kirchenbegriff allein ist Sohms Weg in die Aporie der Kirchenrechtsverneinung wirklich zu verstehen. Er sieht sich vor der Alternative, „aut papa — aut nihil”, und zögert nicht, seine Entscheidung zu treffen. Er steht dabei der Verständnislosigkeit seiner Glaubensgenossen gegenüber, die der Härte dieser Entscheidung auszuweichen scheinen.
Das altkatholische Sakramentsrecht ist nach Sohms Darstellung im „Decretum Gratiani” von ganz spezifischen Gefahren bedroht gewesen. Ritualistischer Formalismus, Häresien, Simone, politische Mißbräuche stellten die Gültigkeit der Sakramente im konkreten Falle immer öfter in existenziell bedrohlicher Weise in Frage. Das Sakramentsrecht wucherte schließlich so aus und wurde in seiner Ordnungsfunktion so sehr in Frage gestellt, daß gerade dadurch der Umschlag in das Körperschaftsrecht des Neukatholizismus vorbereitet und bedingt wurde. Aber ehe es dazu kam, hat es doch ein Abwehrmittel gegen diese Gefahren ausgebildet. Es ist das Institut der dispensatorischen Rezeption, welches Sohm ebenfalls ausführlich beschreibt. Ist ein sakramentaler Akt nichtig, weil die Form nicht gewahrt, der Vollziehende nicht wirksam geweiht oder unfähig geworden ist, so kann dieser Mangel durch die dispensatorische Rezeption (d.r.) geheilt werden. Das vermag ebenso der Bischof wie kraft des ihr verheißenen und innewohnenden Geistes die Gemeinde. Er ist ein
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formloser Akt der Heilung, der Aufnahme, der Gnade. Er ist formal durchaus vergleichbar mit dem weltlichen Gnadenrecht, kraft dessen die Rechtswirkungen einer festgestellten oder behaupteten Schuld entgegen der Strenge des Rechtes aufgehoben werden. Daß diese die Unsicherheiten des Sakramentsrechts zwar im Einzelfall beseitigt, im Ganzen aber noch vermehrt hat, interessiert hier nicht weiter. Selbstverständlich ist ferner, daß ein solcher Gnadenakt dem Wesen des kirchlichen Rechts grundsätzlich nähersteht als dem des weltlichen. Seiner Struktur nach ist jedoch auch die d.r. ein jurisdiktioneller Akt, und zwar ein solcher der außerordentlichen Jurisdiktion. Über die verdammende Erkenntnis des strengen Rechts wird hier in einem zweiten Rechtszuge ein anderes Erkenntnis gefällt, das die Dinge in einem höheren Sinne richtig stellt. Er ist aber ein echter Urteil, das bejaht oder verneint, das den Rechtsstatus des Betreffenden bestätigt oder durch die Verweigerung seiner Bestätigung seine Aufhebung endgültig macht.
Diese Befugnis steht auch der Gemeinde als der Gesamtheit der Gläubigen zu. Sohm bringt hierfür ein Beispiel. Nach einer Verfolgung wirft ein überlebender Bekenner (confessor) dem berühmten Bischof Cyprian von Karthago vor, daß er durch Auslieferung von heiligen Schriften während der Verfolgungszeit von der Kirche abgefallen und deshalb kein Bischof mehr sei. Cyprian beruft sich demgegenüber keineswegs auf seine ordnungsmäßige Bischofsweihe, erst recht nicht auf einen Charakter indelebilis, sondern setzt sich mit diesem Kritiker höchst sachlich auseinander. Er erkennt die hypothetische Begründetheit dieser Klage an. Die Sache wird dann dadurch entschieden, daß die Gemeinde darüber hinweggeht und Cyprian trotzdem weiter als Bischof anerkennt. Er wird recipiert. Es wird nicht gesagt, ob die Vorwürfe sachlich geklärt wurden oder nicht, ob eine tatsächliche oder nur mögliche Verfehlung so ausgeräumt wurde. Das ist aber auch nach Sohms Meinung nicht wesentlich. Diese Befugnis der Gemeinde ist im übrigen von der parallelen des Bischofs formal nicht abgegrenzt und nicht zu ihr in ausdrückliche Beziehung gesetzt. Bei Sohm wird der Gedanke nicht erwogen, daß diesem außerordentlichen Rechtsinstitut ebenso ein ordentliches entsprechen müsse wie dem außerordentlichen Urteil des strengen Rechts. Ihm kommt es nur darauf an, Fortentwicklung und Verfallsursachen des altkatholischen Kirchenrechts darzustellen. Vergleicht man nun aber seine Darstellung der Kirchenrechtsgeschichte des ersten Jahrtausends mit einem Werke über griechisches Kirchenrecht, so fällt auf, daß bei ihm auf dem Wege über eine gewisse Akzentverschiebung, aus der Hinwendung auf gewisse geschichtliche Blickpunkte, ja sogar aus einer bestimmten Geschichtskonstruktion ganze wesentliche Züge zurücktreten oder ausfallen, die jenem das Gepräge geben. Sachlich aber ist heute noch das griechische Kirchenrecht im Wesentlichen altkatholisches Kirchenrecht, das die Verirrungen des römischen Zweckdenkens nicht mitgemacht, sondern den altkirchlichen Charakter bewahrt hat.
Milasch, orthodoxer Bischof von Zara (Dalmatien), gibt in seinem 1890 erschienenen Werke über das Recht der orientalischen Kirche die Ordnung einer
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altkatholischen Bischofswahl wieder, die in der Tat schon wegen ihrer Schönheit und Würde der Vergessenheit entrissen zu werden verdient. Sie findet sich im Buch VIII, Kap. 4, der constitutiones apostolorum, einer im 4. Jahrhundert aus Schriften des 2.-4. Jahrhunderts gefertigten Kanonsammlung. Man kann sie zugleich als einen Bericht auffassen; denn diese Wahlordnung dürfte zugleich in den Grundzügen der Praxis entsprochen haben. Es heißt dort (nach doppelter Übersetzung):
„Das Volk soll sich mit dem Presbyterium und den anwesenden Bischöfen am Tage des Herrn zu einer Versammlung eines Sinnes vereinen. Der Erste der Bischöfe soll das Presbyterium und das Volk fragen, wen sie zu ihrem Vorsteher wünschen. Wenn sie ihm einen solchen bezeichnen, soll er wiederum fragen, ob er von allen das Zeugnis habe, daß er dieses wichtigen und angesehenen Vorsteheramtes würdig sei, ob er die Pflichten der Gerechtigkeit gegenüber Gott erfüllt, die Rechte der Menschen geachtet, ob er sein eigenes Hauswesen recht verwaltet habe und sein eigener Wandel vollkommen untadelig sei. Wenn nun alle der Wahrheit entsprechend, nicht auf Grund einer Voreingenommenheit, bezeugt haben, daß er ein solcher sei, gleichsam als ob Gott Vater und Christus richteten, und angesichts des heiligen Geistes und aller heiligen und helfenden Geister sollen sie wiederum zum dritten Mal gefragt werden, ob er wahrhaft des Dienstes würdig sei. Und wenn sie es dreimal bestätigen, daß er würdig sei, soll von allen ein Zeichen der Zustimmung gefordert werden. Sobald dieses freudig gegeben ist, sollen sie erhört werden. Nach Herstellung völligen Schweigens soll einer von den ersten Bischöfen mit zwei weiteren Bischöfen zum Altare stehend unter stillem Gebet der übrigen Bischöfe und der Presbyter und während die Diakone die heiligen Evangelien über dem Haupte des zu Ordinierenden halten, zu Gott beten” usw.
Milasch faßt anschließend die Bestimmungen des 1. ökumenischen Konzils von Nicaea (325) über die Bischofswahl und die Praxis der ersten Jahrhunderte in folgender Weise zusammen:
„Wenn ein erledigter Bischofssitz wieder besetzt werden sollte, so versammelten sich Volk, Klerus und die Bischöfe der Metropolie, trachteten geeignete Persönlichkeiten für jene Würde ausfindig zu machen, und nachdem das Volk seine Meinung über dieselben kundgeben, entschieden die versammelten Bischöfe darüber, wer für den Episkopat der Würdigste sei, oder es wurde auch von den Bischöfen selbst eine Persönlichkeit in Vorschlag gebracht, worauf das Volk sich entweder für oder gegen den Vorschlag aussprach. Nach erzieltem Einverständnis zwischen dem Volk, dem Klerus und den Bischöfen wurde die Wahl dem betreffenden Metropoliten zur Bestätigung vorgelegt und sodann zur Weihe des Gewählten geschritten. Daraus geht hervor, daß das Wahlrecht im strengen Sinne den Bischöfen zufiel, während das Volk nur die Eigenschaften der für die bischöfliche Würde in Aussicht genommenen Person zu bezeugen oder die Zustimmung zu der von den Bischöfen vorgeschlagenen Person zu äußern hatte. Die Stimme des Volkes war sonach in dem gleichen Maße entscheidend wie die der Bischöfe, weshalb auch niemand ohne Mitwirkung des Volkes Bischof werden konnte. Falls eine Verständigung unter den Bischöfen nicht zustande kam, entschied die Majorität; konnte aber auch auf diese Weise keine Einigung erzielt werden, so wandte man sich wieder an das Volk, dessen Stimme jedes weitere Mißverständnis ausschloß.” (Milasch, § 91, S. 323).
Milasch führt außer dem nicänischen noch weitere Konzilien für diese Regelung an, so die von Antiochia, Laodicea, Karthago usw. Die hier vertretene
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Auffassung, daß Übereinstimmung von Bischöfen und Volk für eine Wahl notwendig sei, entspricht einem von der griechischen Kirche durchgängig für alle wesentlichen kirchlichen Rechtsakte bis in die Gegenwart festgehaltenen Grundsätze. Ihre Kirchenauffassung geht vom Apostelkonzil aus, betont die brüderliche Gleichberechtigung der Träger des Apostelamtes; sie erkennt primatiale Vorränge an, verwirft aber eine Unterordnung zwischen den Trägern des apostolischen (Bischofs-)Amtes. Dieses Bischofsamt betrachtet sie als das ausschließliche Subjekt der Kirchengewalt; aber sie stellt ihm immer und überall die universitas fidelium in Gesamtkirche, Diözese und Gemeinde selbständig gegenüber. Die Zustimmung dieser Gesamtheit ist nicht nur für Wahlakte, sondern auch für dogmatische Entscheidungen erforderlich. So verzeichnet Milasch mit Genugtuung, daß die Entscheidungen des florentinischen Unionskonzils von 1439 niemals kirchenrechtliche Wirksamkeit in der griechischen Kirche erlangt hätten, weil das Volk sie nicht angenommen habe. Diese Annahme ist also auch nicht durch die Rechtsfiktion der Repräsentation zu ersetzen. Milasch schließt einen Hauptteil seines Werkes mit einem Zitat aus einem Hirtenbrief der Orientalischen Patriarchen aus dem Jahre 1848 an die gesamte orthodoxe Christenheit:
„der Hüter der Rechtgläubigkeit ist der Leib der Kirche, d.i. das Volk selbst” (a.a.O. S. 224).
Man kann nicht zweifeln, daß die griechische Kirche hier im Kern eine altkirchliche Tradition bis in die Gegenwart bewahrt hat. Es handelt sich weder um eine Sonderentwicklung noch erst recht um die Einwirkung moderner demokratischer Ideen auf die Kirche. Diese Bewahrung des Mitrechts der universitas fidelium ist umso bemerkenswerter, als die geschichtliche Entwicklung im Allgemeinen und die im Lebensraum der Ostkirche im Besonderen solchen Rechtsgedanken sehr ungünstig war. Man wird zugeben müssen, daß von alledem bei Sohm wenig oder nichts zum Ausdruck kommt. Gebannt, ja fasziniert verfolgt er die konsequente Entwicklung der lateinischen Kirche vom monarchischen Episkopat zur Souveränität des Papsttums. Durch diese vorausgesetzte und aus der geschichtlichen Entwicklung rückblickend angenommene Zwangsläufigkeit verliert zugleich der im „Decretum Gratiani” geschilderte Umschwung und Bruch zwischen Altkatholizismus und Neukatholizismus ganz wesentlich an Bedeutung.
Eine nähere Betrachtung jener altkirchlichen Wahlordnung ist nun sehr instruktiv. Sehr nachdrücklich wird in ihr zunächst die Objektivität des Aktes hervorgehoben. Es handelt sich in dieser Wahl nicht um eine Betätigung des Freien Willens oder gar der Willkür. Dies wird streng ausgeschlossen. Die Gemeinde bezeugt vielmehr den Trägern des Geistes ihre objektive Eignung, die Geistesbegabung für das Amt, die sich in Lehre und Wandel ausdrückt. Sie darf dies weder willkürlich nach Gunst zusprechen noch einem Geeigneten, einem „Gegebenen” ebenso nach Willkür absprechen und verweigern. Die Herde
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wählt nicht den rechten Hirten, sondern sie erkennt ihn als solchen, auf Grund seiner objektiven vorgegebenen Qualität an. Deshalb ist es nicht eine Sache des freien Ermessens, sondern ein streng an objektive Maßstäbe gebundenes Urteil. Der eschatologische Charakter alles Urteilens kommt sehr scharf heraus „tamquam iudice deo et Christo”. Milasch kommentiert nun völlig sinngemäß, daß das eigentliche Wahlrecht trotzdem bei den Bischöfen liege. Sie consekrieren den von der Gemeinde so feierlich Bezeichneten nicht einfach als Vollstrecker des Gemeindewillens; sie sind nicht wie parlamentarische Minister an Parlamentsbeschlüsse gebunden. Aber sie wählen auch nicht von sich aus; denn die Wahl des Kandidaten ist ja bereits vorausgegangen. Was tun sie dann? Sie recipieren, wenn sie nicht ihrerseits ein objektives, kanonisches Hindernis in der Person des Benannten finden. Deswegen ist auch die weitere Interpretation ganz sinnvoll; wenn die Bischöfe selbst auswählen und der Gemeinde einen Vorschlag machen, so ist deren Zustimmung erforderlich. Dann rezipiert diese. Dies ist nicht die dispensatorische Rezeption als Heilung eines Mangels, sondern es ist die ordentliche Rezeption.
Die Tragweite dieser Erscheinung ist am besten durch den Vergleich mit entsprechenden Gestaltungen des Staatsrechts zu erkennen. Im alten monarchischen Staatsrecht, etwa im königlichen Frankreich, sind die Parlamente Gerichtshöfe. Der Fürst hat eine unumschränkte Befugnis zum politischen Handeln, ist aber niemals befugt, das bestehende, als objektive Grundlage des Gemeinwesens vorausgesetzte Recht einseitig zu ändern. Seine Gesetze und Verordnungen unterliegen daher der Prüfung durch den Staatsgerichtshof, durch das Parlament. Hält sich das Gesetz im Bereich der königliche Befugnisse, stimmt es also mit dem bestehenden Rechte überein, so ist das Parlament zur Anerkennung und das Volk zum Gehorsam verpflichtet. Das Parlament muß dann kraft einer richterlichen Wahrheitspflicht das Gesetz anerkennen und registrieren. Diese Anerkennung ist eine receptio ordinaria. Widerspricht das Gesetz dem bestehenden Recht, so kann das Parlament er anerkennen, wenn es ihm gut und zweckmäßig dünkt (receptio dispensatoria vel extraordinaria). Dem liegt die Auffassung zugrunde, daß der Rechtsbestand, der Rechtsstatus des Gemeinwesens vor seinen jeweiligen Trägern objektiv vorgegeben ist. Damit wird das Recht von ganz allein zu einem tertium jenseits der handelnden Rechtsträger, nämlich derjenigen, die Herrschaftsrechte in Anspruch nehmen, und derjenigen, die aufgrund dieser Rechte in Anspruch genommen werden. Der subjektive Rechtsanspruch muß deshalb vorher als objektives Recht anerkannt werden.
Das grundsätzliche und strukturell Gleiche vollzieht sich in jenem altkirchlichen Beispiel. Die Kirche teilt sich in Handelnde und Empfangende, in Verkündende und Hörende. Das apostolische Amt beansprucht Gehör und kanonische Gehorsam. Aber die pneumatische Objektivität der Kirche steht zwischen beiden. Das Pneuma ist weder für den Bischof noch für die Gemeinde eine verfügbare Größe, keine immanente Qualität und Fähigkeit, von der sie nur
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Gebrauch zu machen hätten. Denn dann könnte jeder von ihnen allein handeln. Eben in diesem Miteinander unter der Transzendenz des Geistes, in diesem Geiste ist die Objektivität der Kirche allein begründet. Dieses Denken steht noch vor und jenseits der Kategorien von Substanz und Kausalität.
Dieses Miteinander ist keine zweckhafte Sicherung gegen subjektive Willkür im Sinne eines Systems von checs und balances. Im Gegenteil. Eine solche rationelle Vorstellung ist die säkulare Umdeutung einer nicht mehr verstandenen objektiven Ordnung. Mit Recht ist gesagt worden, daß die präzisen Begriffe des Staatsrechts säkularisierte theologische Begriffe sind (Carl Schmitt).
Eine so strukturierte Ordnung muß notwendig überall da entstehen, wo ein objektiv Vorgegebenes der subjektiven Verfügung grundsätzlich entzogen ist. Damit erledigt sich der sehr ernst zu nehmende Einwand, daß diese altkirchliche Form älteren rechtsgeschichtlichen Entwicklungsstufen entspreche. Die Möglichkeit solcher Parallelen und Einflüsse muß freilich für jeden Abschnitt der Kirchenrechtsgeschichte beachtet und in Rechnung gestellt werden.
Aber die Kirche kann diese pneumatische Objektivität niemals zugunsten einer freien Verfügbarkeit preisgeben. Sie muß die Unverfügbarkeit des Geistes als den ersten Artikel der Ekklesiologie festhalten. Dagegen verstoßen zu haben, werfen sich Protestantismus und Neukatholizismus wechselseitig mit relativem Recht vor.
Aber auch für das moderne Staatsrecht besteht das Problem der objektiven Staatsgrundlage noch. Dieses Problem ist nicht identisch mit dem Unterschied zwischen monarchischer und demokratischer Verfassung. Vielmehr besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen rechtsstaatlicher und absolutistischer Demokratie. Die erstere setzt die Rechtsordnung noch voraus, während die letztere deren ganzen Bestand der freien Verfügung der Staatsgewalt, der Parlamentsmehrheit unterwirft. Recht ist, was dem Volk nützt oder was das Volk will. Geschichtlich deckt sich dieser Gegensatz ungefähr mit dem zwischen angelsächsischer und kontinentaler Demokratie. Auch der kontinentale angeblich rechtsstaatliche Parlamentarismus ist grundsätzlich gesehen absolutistisch-subjektiv und wird nur durch die Schwäche seines Pluralismus meist daran gehindert, von diesem Absolutismus Gebrauch zu machen. Genauer ist es der Gegensatz zwischen den Demokratien, die mit, und denjenigen, die gegen die Tradition entstanden sind. Der Traditionsbruch als die Aufhebung der objektiven Vorgegebenheit verwandelt nahezu unheilbar die sachliche Struktur eines Gemeinwesens.
Dieser genuine Dualismus der Kirche ist sowohl biblisch wie theologisch-systematisch wohl begründet und in der Liturgie bezeugt.
Biblisch: Die nach Acta 6 auf Aufforderung der Apostel von der Gemeinde gewählten Diakone (nach Bultmann Repräsentanten der hellenistischen Juden-Christen) werden den Aposteln vorgestellt (6, 6) und danach durch Handauflegen geweiht. Diese Vorstellung hat nur Sinn, wenn damit die Billigung
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und Anerkennung der Apostel eingeholt wird. Die Apostel rezipieren. Die Gemeinde handelt nicht ohne die Apostel. Aber diese handeln ebenfalls nicht ohne die Gemeinde (Act. 15, 22). Wenn Paulus durch Titus (Tit. 1, 5) Bischöfe einsetzen läßt, ohne daß von einer Beteiligung der Gemeinden die Rede ist, so ist das verständlich, weil die Autorität der unmittelbaren Christuszeugen, der Urapostel, so groß ist, daß die Aufnahme der von ihnen Entsandten selbstverständlich ist. Im übrigen wissen wir auch gar nicht, in welcher Form diese Einsetzung vor sich gegangen ist. Die Apostel handeln auch nicht in einem abgesonderten Rate, ohne daß ihr Rang und Ansehen dadurch in Frage gestellt ist. Dieses Miteinander darf man nur nicht analytisch dahin mißverstehen, daß jeder der Beteiligten ein für sich bestehendes, absolutes Recht habe, so daß aus der Summation dieser Rechte dann der kirchenrechtliche Akt entstehe. Es ist vielmehr ein relatives Recht, das eben durch die Bezüglichkeit und Beziehung auf die Objektivität des Pneumas zugleich auch in Richtung auf den Partner, das Gegenüber relativiert und gebrochen wird. So wird aus einer Summation von Befugnissen eine echte Einheit, ein Gesamtakt.
Systematisch ist die Erkenntnis eines genuinen Dualismus im Zusammenhang der Barthschen Lehre von der Analogie relationis zu sehen. Hier sieht die theologische Anthropologie die menschliche Existenz durch die doppelte Relation Gott-Mensch, Mensch-Mensch konstituiert, die der innertrinitarischen Relation Gott-Vader — Gott-Sohn nachgebildet ist. Diese echten Relationen können immer nur in Christo, durch die alleinige Heilsmittlerschaft Christi erkannt und vollzogen werden. Die genuine Grundrelation der Kirche ist die der Verkündigung und des Hörens des Wortes, wie des Gebens und Empfangens der Sakramente. Sie ist immer nur in der Kraft des kyrios als des Tertius möglich. Der Satz von den zweien und dreien ist nicht der Freibrief für einen Kongregationalismus, in dem die Subjektivität der Gemeindeglieder sich selbst zum Herrn der Kirche macht. Das „mitten unter ihnen” ist ein wirkliches zwischen denen, die verkündigen, und denen, die hören. Ja, überall, wo nach biblischem Verständnis zwischen Menschen gehandelt wird, verwandelt sich in dem geschilderten Sinne die Absolution Position des Handelnden in eine relative; hierdurch wird auch ihr autoritativer Charakter nicht aufgehoben, sondern recht eigentlich erst begründet und bestätigt.
Liturgisch drückt sich dieses Grundverhältnis in der Salutatio aus, die am Anfang jeden Hauptteiles der Gottesdienstes steht. „Der Herr sei mit Euch — und mit Deinem Geiste.” Hier wird bezeugt, daß Hören und Reden, Handeln und Empfangen nicht Sache des Menschen ist, sondern allein in der Kraft des Herrn steht.
Mit dieser Auffassung stimmen die Ausführungen des Dominikaners Yves Congar in seiner Abhandlung „Structure du sacerdoce chretien” (Zeitschrift „La Maison — Dieu” Nr. 27 — 3. Trimester 1951) im wesentlichen überein. Er sagt:
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„Wiewohl der hierarchische Priester allein das sichtbare Opfer vollzieht, hat die Teilnahme der Gläubigen nach „Mediator Dei” eine liturgische Bedeutung, die sich im „Amen” zum Canon und insgesamt im Dialog der Messe kundtut. Wenn man die alten Texte liest, besonders die des westlichen Hochmittelalters, ist man von der Tatsache beeindruckt, daß sie noch erheblich mehr als dies zu sagen scheinen. Die Gläubigen erscheinen da als wirkliche Zelebranten des Mysteriums. So wenig wie heute erkannte man ihnen damals die Gewalt zu, die heiligen Gaben zu konsekrieren. Aber man scheint zu denken, daß diese Konsekration nur im Schoße ihrer Glaubens- und Gebetseinheit geschehen kann. Die neue Sakramentstheologie interessiert sich fast nur noch für die kanonischen Bedingungen der Gültigkeit, doch in ganz ungenügender Weise für den inneren Sinn der Dinge. Sie legt sehr genau das Minimum von Gesten, Worten, Materie und Intention fest, das die Gültigkeit der Zelebration verbürgt, aber sie beschäftigt sich kaum mit dem kirchlichen und religiösen Sinn der Dinge … Mit einem Wort, wir haben heute als Ekklesiologie eine reichlich juristische Theologie der hierarchischen Gewalten, aber keine Theologie der Ecclesia.” „Doch die Kirche, wiewohl hierarchisch aufgebaut, lebt in ihrem ganzen Volk; die Laien, sagt der heilige Chrysostomos, sind das priesterliche Pleroma des Bischofs. Das Gesetz der Kirche, wenn man sie in ihrer lebendigen Wirklichkeit betrachtet und nicht nur in ihrem Skelett, ist es, daß die hierarchische Tätigkeit oder Übermittlung und die Zustimmung der Gemeinde Hand in Hand gehen. Solange man diese überlieferte Einsicht der Ekklesiologie nicht wieder hergestellt hat, kann eine Fülle liturgischer und pastoraler, ja apostolischer Probleme nicht gelöst werden; ein paar kanonistische Distinktionen ersetzen nicht die schlichte Wirklichkeit eines wahrheitsgemäßen Lebens.”
Es zeigt sich hier deutlich, wie weit sich der Neukatholizismus von der altkirchlichen Haltung entfernt hat.
Aus jenen Erkenntnissen ergeben sich eine Reihe sehr weittragender Folgerungen. Es war die Verzweiflung Sohms, daß er das protestantische Kirchenrecht unausweichlich auf der Ebene des römischen körperschaftlichen Denkens sah. Der immer wieder gegen das dingliche Denken Roms ausgespielte Voluntarismus der protestantischen Theologie hatte sich als unfähig erwiesen, aus dem Schema von Substanz und Kausalität herauszuführen. Aber die zweite, fast noch schwerer wiegende Übereinstimmung des Protestantismus mit dem Neukatholizismus liegt, wie sich nun zeigt, in einem monistischen Kirchenbegriff. Sohm zeigt, wie sich der monarchische Episkopat angeblich zwangsläufig zur päpstlichen Souveränität steigert. Aber begreiflicherweise ist gar nichts geändert, wenn dem die Souveränität der Gemeinschaft der Heiligen als Gemeindedemokratie entgegengestellt wird. Alle spiritualistische Berufung auf den Geist — die auch der römischen Kirche nicht fremd ist — ändert eben nichts daran, daß hier unvermeidlich die Subjektivität dieses eingleisigen Handelns in Wirklichkeit von der Objektivität des Geistes her nicht mehr gebrochen, sondern mit dieser gleichgesetzt wird.1 Die Selbstmächtigkeit immanenter menschlicher Entwicklungstendenzen
1 Dem Verständnis dieses Sachverhalts und der Anerkennung seiner Tragweite steht die zu Unrecht verbreitete Meinung entgegen, daß Rechte im allgemeinen einseitige Befugnisse seien, so daß es zwischen herrschaftlicher Einseitigkeit und genossenschaftlicher Gemeinsamkeit keine rechtliche Denkform gebe. Sturkturphänomenologisch ist es jedoch anders. Es gibt in Wahrheit nur sehr wenige Rechtsakte von echter Einseitigkeit. Alle wesentlichen personenrechtlichen wie die strukturell verwandten ➝
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wird hier zur Heiligkeit erhoben. In der theoretischen wie praktischen Entwicklung des Souveränitätsbegriffs und rationaler, unitarischer Konzentration ist die neukatholische Kirche den weltlichen Gewalten vorangegangen. Sie hat sich dann gewehrt und entrüstet, als die Staaten ihre Denkformen und Methoden für ihre Zwecke übernahmen.
Um falsche Vereinfachungen zu vermeiden, muß gesagt werden, daß weder in der römischen Kirche noch in den verschiedenen Formen des calvinisch-puritanischen Zweiges das jeweils entgegengesetzte Element vollständig aus seiner eigenständigen kirchenrechtlichen Existenz hat verdrängt werden können. Auch im geltenden kanonischen sind Reste des Rechts der universitas fidelium erhalten. Aber überall ist das grundsätzliche Verständnis für den genuinen Dualismus verlorengegangen. Das autoritäre Übergewicht des Papsttums ist so groß geworden, daß auch eine Befragung der universitas fidelium nur immer zu dem gewünschten einheitlichen Ergebnis führen kann. Von einer gewissen Machtkonzentration an ist die Dialektik dieser Relation praktisch aufgehoben, so daß die Einheitlichkeit der Haltung auch ohne Druck, einfach mangels echter Entscheidungsmöglichkeit gesichert ist, schließlich noch in der Form, daß die Dissentierenden schlechthin jede Entscheidung im Entstehen, wie nachträglich hinnehmen. Die Vorgänge beim Vatikanum und bei der Frage des Assumptionsdogmas haben diese ganz bedenklichen Hintergründe.
Gegenüber dem gleichen Problem hat die lutherische Kirche kraft ihrer theologischen Mittelstellung zwischen Katholizismus und Calvinismus eine ganz besondere Stellung eingenommen. Sie hat die apostolische Sukzession und das Traditionsprinzip preisgegeben, aber auf der anderen Seite die Souveränität der Gemeinde vermieden. Sie hat mit unerhörtem Mut und großer theologischer Tiefe jede mögliche konkrete Legitimation und zugleich soziologische Basis preisgegeben. Was aber heißt dann für das geistliche Amt „rite vocatus”? Ist es etwa jede beliebige Ordnung, in der die unangefochtene, ungestörte Bestellung des Amtes möglich ist? Ist der Ritus etwa der überlieferte? Heißt das mit Bewilligung der Gemeinde? Das Wort bleibt letztlich unübersetzbar und unausgefüllt. Keine Deutungsmöglichkeit befriedigt, und dies in einem so zentralen Punkt, weil keine von ihnen das Ganze und die dahinter stehende Intention
➝ sachenrechtliche Akte sind im Gegenteil dergestalt doppelschichtige, daß sie der Annahme, der Rezeption bedürfen. So die Erbschaft als Traditio der Rechtsperson, alle Wahlen; das Kind erwerbt den Rechtsstatus als solches nicht durch die Geburt, sondern durch Aufnahme durch den Vader, wenigstens in allen ursprünglichen Rechten. Aus der Rechtsfigur der Aufnahme erklärt sich auch das Erfordernis der dinglichen Einigung bei der Übertragung von dinglichen Rechten, die ganz etwas anderes ist als der zugrundeliegende schuldrechtliche Vertragskonsensus. Die abstrakte und zweckhafte Isolierung von absoluten Rechten zu freier, einseitiger Verfügbarkeit ist eine verhältnismäßig späte Erscheinung. Sie ist weder im Rechtsbegriff begründet noch das Ziel seiner Entwicklung. Die Willensmetaphysik des Neuhegelianers Dulckeit in seiner „Philosophie der Rechtsgeschichte” vergewaltigt durch diese Auffassung den phänomenologischen Befund.
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wirklich deckt. Denn zweifellos ist ohne Amt die Kirche nicht denkbar. Die Mißachtung konkreter Formen und deren Reduktion auf ein inhaltlich nicht mehr in Bestimmtheit zu definierendes Minimum zeigt, daß das Amt sich eigentlich nur in actu, im Vollzuge, eben in kyrio legitimiert. Es wird nicht mehr als die Gelegenheit gegeben, daß sich etwas vollzieht, was nicht in des Menschen Hand gelegt ist. Das „rite vocatus” muß vom „sola gratia” her verstanden werden. Hier ist mit letzen Wagemut auf menschliche Sicherungen verzichtet. Die echte Geistlichkeit dieser lutherischen Konzeption wird dadurch sichtbar, daß durch eine Rationalisierung dieser Amtsidee die Dinge ihrer Struktur unversehens verändern. Stahl hat eine solche Kirchenrechtstheorie versucht. Aber unter seinen Händen wurde daraus ein Pastoralkatholizismus. Seine Zeitgenossen haben das mit ebensoviel Recht abgelehnt, wie es in unserer Zeit Holstein als Irrweg gekennzeichnet hat.
Da nun aber die lutherische Kirche unvermeidlich in der Realität der Soziologie zu stehen kommt, hat sie dennoch daraus eine eigenartige Amts- oder Pastorenkirche, ein Monismus des Amtes entwickelt, dessen praktische Auswirkungen wir bis in die Gegenwart erleben. Dieser Amtsmonismus hat sich noch sehr deutlich in dem Widerstand des älteren Luthertums gegen die Einführung synodaler Elemente in die Kirchenverfassung ausgeprägt. Aus diesem Grunde mußte bspw. unter Bismarck der Präsident des Evangelischen Oberkirchenrats der Altpreußischen Union, v. Hegel, ein Enkel des Philosophen, aus dem Amte scheiden. Aber seither haben sich auch in der lutherischen Kirche in ganz selbstverständlicher Weise die Synoden durchgesetzt. Das beweist, daß es eben nicht nur zeitbedingte demokratische, aber auch nicht nur calvinistische Elemente sind, die hier zum Ausdruck kommen. Sonst wäre wenigstens irgendwo und irgendwann vom Bekenntnis her ein sehr viel tieferer Widerstand geleistete Orden. So ist hominum confusione sed providentia dei die lutherische Kirche wieder in Richtung auf einen Dualismus von Amt und Gemeinde hingeführt worden.
Aus der Wahlordnung der apostolischen Konstitutionen ergibt sich als zweite Erkenntnis, daß die Hierarchie kein Element der Kirchenverfassung ist. Für die Bischofswahl treten die Bischöfe (ohne hierarchischen Unterschied außer einem gewissen Primatialrang) auf der einen, Klerus und Volk auf der anderen Seite auseinander. Die ganze hierarchische Gliederung, ja die Scheidung von Klerus und Volk selbst, auf die Sohm in seinem Bild schon des frühen Katholizismus so großen Wert gelegt hat, fällt gänzlich dahin. Hierarchische Unterordnung und kanonischer Gehorsam spielen hier gar keine Rolle. Selbst wenn Klerus und Volk als zwei getrennte Wahlkörper erscheinen, deren besondere Zustimmung erfordert wird, hat die innere Gliederung jedenfalls keine Bedeutung, und beide stehen dem Episkopat gegenüber, nicht unter ihm. Begründung und Gehalt des altkirchlichen Bischofsamtes ist unabhängig von der Frage der Hierarchie zu sehen. Das apostolische Amt ist eines und steht der ganzen übrigen Kirche antithetisch gegenüber. Das Verhältnis von Bischofsamt und Pfarramt mag dabei in diesem Zusammenhang unerörtert bleiben. Aber
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keinesfalls kann eine Kirche des Amtes das Bischofsamt als eine Sache der Zweckmäßigkeit bezeichnen. Die Ablehnung einer ontisch verstandenen besonderen bischöflichen Dignität ist etwas völlig anderes.
Für die parallelen Probleme des Staatsrechts habe ich in meiner Schrift „Strukturelle Staatslehre” (Berlin, Duncker und Humboldt 1951) darzulegen unternommen, daß sowohl geschichtlich wie grundsätzlich die materialen Qualifikationen der Stände keine Verfassungselemente sein können. Auch in der Kirche kommen in den entscheidende Akten nicht die materialen Qualifikationen als Pfarrer, Presbyter, Diakon oder Laie, sondern allein das formale Gegenüber von personalem Amt und Gesamtgemeinde in Betracht. Die Überwindung dieses organologischen Mißverständnisses ist für die Kirche ebenso notwendig wie für die Staatslehre, zumal beide dadurch in eine gefährliche Nähe zum Idealismus gebracht werden. Der Wert des Milasch’schen Werkes liegt zum Teil gerade darin, daß er den Traditionsbestand der Ostkirche ziemlich unkritisch und positiv ohne nähere Begründung darstellt.
Sein Kommentar zu jener Wahlordnung enthält nun ganz unbefangen noch ein Moment, das in jener garnicht enthalten ist; es ist die Bestätigung der Bischofswahl durch den Metropolitanbischof. Man könnte nun sagen, daß sich hierin lediglich die Fortentwicklung der Kirchenverfassung in späterer Zeit ausdrücke. Das ist gewiß der Fall, erschöpft aber nicht das damit verknüpfte sachliche Problem. Ein so labiles dualistisches System, in dem zwei unabhängige Partner sich ergänzen sollen, bedarf eines Ausgleiches, eines Schlußsteins. Dieser ist hier in hierarchischer Form in der Person des Metropolitans unschwer gefunden. Aber es ist doch eigentlich keine echte hierarchische Funktion, die er ausfüllt. Das Gewicht und die Würde des an sich vollständigen Wahlaktes verträgt es nicht, daß hier das Gleiche noch einmal von einer höheren Kompetenz vollzogen wird. Diese Bestätigung kann ihrem eigentlichen Sinne nach nur eine formale sein: das „rite vocatus” wird hier abschließend festgestellt. Auch wenn der Metropolit den Gewählten verwirft oder die Wahl als irregulär beanstandet, so kann er sie doch nicht durch seinen Willensakt ersetzen. Auch hier spielt die hierarchische Unterordnung in ihrem eigentlichen gradmäßigen Verständnis keine Rolle. Die gleiche Funktion wird noch heute in den protestantischen Staatskirchen durch den König als Summepiskopus ausgeübt. In der lutherischen Kirche Norwegens wird der Bischof vom Bischofskonvent des ganzen Landes einerseits, von der Diözesansynode andererseits gewählt, und der König ernennt denjenigen, auf den die meisten Stimmen gefallen sind. Auch hier verbürgt eine Spitze die Einheit und Ordnung als Treuhänder jenseits aller möglichen Gegensätze. In einer höchst merkwürdigen Weise hat Holstein in seinem Kirchenrecht eine Theorie der Dreiteilung der kirchlichen Gewalten vertreten. Ohne Abgrenzung gegenüber analogen Vorstellungen der klassischen säkularen Staatslehre Montesquieus, ohne eigentliche theologisch-ekklesiologische Begründung spricht er der Kirchenverwaltung aus historischen Gründen eine selbständige Stellung zwischen Amt und Gemeinde zu. Nie ist eine Kirchenrechtstheorie
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so schnell durch die Kirchenrechtsgeschichte widerlegt worden wie diese durch den Kirchenkampf. Nachdem dies nun sehr zu Unrecht zu einer Verachtung einer folgerichtigen und sachkundigen Verwaltung geführt hatte, hat freilich seither mancher Diener der Kirche deren einfache Sachlichkeit wieder zu schätzen gelernt. Auch ist naturgemäß ihre sachliche Bedeutung nicht geringer geworden.
Das eigentliche und geistliche und folgeweise kirchenrechtliche Problem, das dahintersteht und bei Holstein durch die vorgefundene konsistoriale Ordnung völlig verdeckt ist, ist jedoch ein ganz anderes. Es ist einmal die Frage nach der Rechtsstellung der Diakonie in der Kirche — weil alles Verwalten irdischer Güter in der Kirche, einschließlich der ihr zur Erfüllung ihrer Aufgaben zufließenden Sachgüter in den geistlichen Bereich der Diakonie gehört. Dies ist hier nicht notwendig zu erörtern. Er ist zum Zweiten die Frage nach dem Faktor, der die Einheit und die der Kirche als pneumatische Größe eigentümliche — gerade nicht die juristisch-verwaltungsmäßige — Sachlichkeit gewährleistet. Die Verwechslung dieser Funktion mit guter hausväterlicher Verwaltung ist ein aus dem diakonischen Grundansatz des Luthertums erwachsener, höchst ehrenwerter Irrtum, aber nichts destoweniger ein Irrtum, der sich auch im säkularen Bereich in analoger Weise sehr deutlich und folgenreich ausgeprägt hat.
Die Funktion jenes Einzelfaktors kann in einer Kirche mit apostolischer Sukzession von dem Metropoliten, in einer protestantischen Staatskirche mit der Ersatzsukzession des Summepiskopats vom König als Notbischof wahrgenommen werden. Wo auch dieses Element als Objektivität und Kontinuität fehlt, stellt sich die Frage erst recht eigentlich in ihrer Grundsätzlichkeit. Es ist die Frage, ob nicht die Kirche in der Welt, die Kirche, die mit, neben und unter der Herrschaft des ihr verheißenen Geistes von sehr menschlichen Menschen dargestellt wird, eines Schutzes bedarf, fast noch mehr nach innen als nach außen. Die autonome Kirche steht heute vor dem gleichen Problem wie der autonome, demokratische Staat; beide werden sich ihrer Gegner zu erwehren wissen; aber wer schützt sie vor sich selbst?
Die Kirchengeschichte verläuft in einer Wechselbewegung zwischen absoluter Autonomie, einer vollen Diastase vom Staat und weitgehende Einwirkung dieser Schutzgewalt. Deren radikale Bekämpfung im Hochmittelalter führte schließlich im Gegenschlag zur Ausbildung des protestantischen Staatskirchentums. So erhielt das Fürstentum weit mehr, als es je im Investiturstreit verloren hatte. In einem säkularen Staat kommt für das Staatsoberhaupt eine Stellung, wie sie der Kaiser als Diakon der Kirche eingenommen hat, nicht mehr in Betracht. Deshalb ist heute das Problem ein streng innerkirchliches. Mit Recht fürchten Geistliche und Laien die zerstörende rabies theologorum, den kirchenpolitischen Parteigeist, der überall da am meisten wütet, wo das Wort Bruder um meisten gebraucht wird.
Es ist daher zu erwägen, ob nicht von der landeskirchlichen Ebene ab ein Kurator nötig ist, der mit einer Art zensorischem Interzessionsrecht überall dort
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einzugreifen bereichtigt und verpflichtet wäre, wo das Recht der Kirche, die Liebe und die Gerechtigkeit verletzt wird, ohne selbst die geistliche Leitung auszuüben. Dieses wahrhaft geistliche Amt ist allein von einem rechtskundigen zur strengen Sachlichkeit gebildeten Laien sinngemäß auszufüllen. Für diese Aufgabe geeignete Persönlichkeiten zu finden, wird vielleicht weniger schwer sein als für die leitenden geistlichen Ämter unter den Theologen. Man sollte sehr vorsichtig prüfen, ob sein solches Amt die Belastung, die Verdunklung seines geistlichen Sinnes durch die Übertragung diakonischer und verwaltungsmäßiger Aufgaben verträgt. Denn es ist jedenfalls etwas ganz anderes als das eines weltlichen Vizepräsidenten des Landeskirchenamtes.
Zugleich würde ein solches Amt viele verständliche Hemmungen gegenüber dem Versuch einer kanonischen, auf dem echten Dualismus von Amt und Gemeinde aufgebauten Kirchenverfassung beseitigen. Denn in der Tat — dies ist die erste der schließlichen Folgerungen — gibt es eine echte kanonische Kirchenverfassung.
In diesem Punkte nun besteht im Raum des gesamten Protestantismus die größte Verwirrung der Begriffe. Die Geschichte der evangelischen Liturgie ist, wie Graff gezeigt hat, die ihres Verfalls. Das evangelische Kirchenrecht hat niemals eine klassische Gestalt gewonnen, welche hätte zerfallen können, sondern nur eine Vielfalt historischer Gestaltungen, in denen gewisse Elemente und Gedanken wiederkehren. Denn auf der einen Seite wird die Auffassung vertreten, daß es überhaupt keine notwendige und echte Form einer Kirchenordnung gebe, daß jede Form dem Wesen der Kirche inadäquat sei; auf der anderen Seite wird die Kirchengewalt in vollem Umfange, wenigstens grundsätzlich, der Gemeinde zugesprochen, wobei das Verhältnis von konkreter Ortsgemeinde und universitas fidelium ungeklärt bleibt und alles Gesamtkirchliche verflüchtigt wird. Die Begründung für das umfassende Recht der Gemeinde, insbesondere das Recht der Ämterbestellung, wird aus Luthers Schriften etwa aus Stellen folgender Art abgeleitet:
(Clemen Bd. 2 S. 395 ff. von 1523):
„Über das / wenn sie nun gleych rechtschaffene Bischöfe waren /
die das Evangelion haben wollten / und rechtschaffene Prediger
setzen wollten.
Dennoch kunden und sollen sie dasselb nicht tun / one der gemeyne
willen / erwelen und beruffen / ausgenommen / wo es die nott
erthwange / das sie sollen nicht verderben / aus mangels
gottlichen Worts, denn ynn solcher nott hastu gehort / das nicht
alleyne mag ein iglicher eynen prediger verschaffen / es sei
durch bitten oder weltlicher uberkeyt gewalt / sondern auch selbs
zu lauffen / auff zu treten und leren / so ers kan / denn nott
ist nott / unn hatt keyn mass / gleich wie yedermann tzu lauffen
und treyben soll / wenn brennt ynn der Stadt / und nicht warten /
bis man yhn drumb bitte. Sonst wo nicht solch nott da ist / und
furhanden sind / die recht und macht und gnad haben zu leren /
soll keyn Bischoff yemand eynsetzen on der gemeyn / wal / will
und berufen / sondern soll den erweleten und berufen von der
gemeyne bestettigen thuts ers nicht / dass der selb dennoch
bestettiget sey durch der gemeyne beruffen” (S. 401).
Gerade diese Stelle wird erst auf dem Hintergrund des alten Kirchenrechts voll verständlich. Weil die Bischöfe ihre Pflicht versäumen, rechte Prediger des
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Wortes zu bestellen, nimmt die Gemeinde dieses Recht als Notrecht in Anspruch. Das „nicht one der gemeyne willen” ist ganz altkirchlich gedacht. Dieses „nicht ohne” aber es ist etwas ganz anderes als die Ableitung der Kirchengewalt und des Amtes aus Recht und Willen der Gemeinde. Der Gedanke der gemeinen Not ist der Ausgangspunkt der ganzen Darlegung und wird mit dem drastischen Beispiel des Feuersbrunst belegt. Erst nach breiter Ausführung des Notgedankens wird dann am Ende der Regelfall in Erwägung gezogen. Aber auch hier kehrt die Formel wieder, daß Bischöfe nicht ohne die Gemeinde Amtsträger bestellen sollen. Erst wenn sie das nicht tun, also für einen Fall des Konfliktes und der Verweigerung, soll die einseitige Berufung der Gemeinde ausreichen. Auch der Regelfall wird also noch im Rahmen des altkirchlichen Miteinander von Bischof und Gemeinde gesehen. Aber hier kommt man an den Grenzpunkt, wo die Dinge umschlagen und auch tatsächlich geschichtlich umgeschlagen sind. Wird einmal für den Regelfall die kirchliche Leitungsgewalt bei der Ämterbestellung für entbehrlich erklärt, so drängt eine solche einmal in Gang gekommen Entwicklung dazu , dies überhaupt zu tun. Daraus ist nun — zumal im lutherischen Bereich — noch keineswegs eine schrankenlose Gemeindedemokratie geworden, aber der Weg ist offen zur Ablösung des Episkopats und jeder sachlich dem Episkopat entsprechenden Form der Kirchenleitung. In diesem Zusammenhang ist interessant, daß die Hessische Kirchenordnung des 16. Jahrhunderts die geistliche Leitung einer Generalsynode von vier Generalsuperintendenten anvertraute — ohne Mitwirkung anderer Synodalen aus dem geistlichen Stande oder der Gemeinden — nachdem eine allgemeine Synode (die Homberger) unter Leitung des Landgrafen die neue Kirche konstituiert hatte. Diese Kirchenordnung ist also völlig Episkopat, ohne den Namen zu haben. Sie ist dann Ende des 16. / Anfang des 17. Jahrhunderts durch das Vordringen des landesfürstlichen Einflusses in Gestalt des Konsistoriums allmählich abgelöst worden. Mit dem Bischofsnamen hat sich auch die Sache, nämlich eine eigenständige geistliche Leitung, fortschreitend aufgelöst. Die Kontinuität, Einheit und formale Ordnungsmäßigkeit der Kirche dagegen ließ man sich durch die auf den Landesfürsten übergegangene Metropolitangewalt gewährleisten. Darin liegt eine tiefe Paradoxie, deren Unhaltbarkeit erst mit dem Sturz der Monarchie, ja recht eigentlich erst mit dem Übergang der staatlichen Kirchenpolitik auf eine bewußt widerkirchliche Macht in Gestalt des Nationalsozialismus sichtbar wurde. Denn man zog aus, um die Verweltlichung der Kirche durch das souveräne Papsttum zu bekämpfen und gab zahllosen partikularen politischen Gewalten eine unübersehbare Einwirkungsmöglichkeit auf das innerste Leben der Kirche. Daß dies nicht noch sehr viel schwerere Folgen für die geistliche Substanz der Kirche gehabt hat, erklärt sich aus dem relativ hohen Interesse dieser Notbischöfe für den christlichen Glauben. Es erklärt sich aber auch nach dem oben Entwickelten aus der formalen Funktion der Metropolitangewalt, in welche diese praecipua membra ecclesiae eintraten. Aber es ist doch unzweifelhaft
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verbunden gewesen mit schweren allgemeinen Schäden der Kirche und insbesondere einer bedenklichen Gefährdung des rechten Verständnisses für das Verhältnis von Kirche und Welt.
Alles dieses geschah, weil Papsttum und Episkopat die Gemeinde einseitig zu ihrem kirchenrechtlichen Objekt gemacht hatten. So nahm diese Gemeinde schließlich ebenso einseitig die volle Kirchengewalt für sich in Anspruch. Was sich hier vollzog, war eine echte Desintegrationserscheinung. Im Zuge dieser Entwicklung wurde der ursprünglich reformatorische Ansatz nicht eigentlich verlassen, sondern überschritten. Aus dem Notrecht und bedingten Recht der Gemeinde wurde der Regelfall und eine einseitige absolute Befugnis, auch wenn in concreto die Eigenständigkeit des Amtes nicht vollständig aufgehoben wurde. Gegen die Verabsolutierung des hierarchischen Rechts hätte sich die Reformation mit gutem Recht auf das kanonische Recht der Ökumenischen Konzilien berufen können. So gut altkirchlich die kirchenrechtlichen Aussagen Luthers an den entscheidenden Stellen waren, so war doch die altkirchliche Rechtstradition seit Jahrhunderten vom Neukatholizismus und Papalismus überdeckt und in schlüssiger gedanklicher Begründung nicht mehr greifbar. Der geschichtliche Mißerfolg der konziliaren Bewegung und der Vorreformation des 15. Jahrhunderts taten ihr Übriges. Die Wechselfälle der Geschichte haben dann erst recht bis in die Gegenwart den biblischen Grundriß der altkirchlichen Ordnung mit dem Schutt ihrer Mißverständnisse und falschen Gegensätze überdeckt.
Sohm hat im 1. Clemensbrief eine Art Sündenfall der Kirchenrechtsgeschichte gesehen und mit dieser Zuspitzung der geschichtlichen Periodisierung geradezu mythologischen Charakter verliehen. Wenn daran etwas Wahres ist, daß nämlich hier der Keim einer Vereinseitigung gelegt worden ist, so hat genau in der gleichen Form die Reformation mit dem Eintritt in die Geschichte, nämlich mit dem Beginn eigener Kirchenordnung, einen gleichen Fall getan, weil sie nämlich unter dem Zwange geschichtlichen Handelns und vermöge der Dynamik einer revolutionären Bewegung die feine Grenze zwischen Notrecht und Regel nicht innehalten konnte. Keine Feindschaft gegen das Kirchenrecht und jede gesetzliche Ordnung, keine Abschiebung der Verantwortung auf die Staatskirchengewalt, keine Trennung von geistlicher und Rechtskirche befreite und befreit die reformatorischen Kirchen von dieser geschichtlichen Schuld. Luther selbst hat wohl gewußt, wie Worte von ihm bezeugen, daß Not Recht brechen, aber nicht Recht schaffen kann.
Man würde Sohm freilich mit der Auffassung unrecht tun, daß die Mitwirkung der Gemeinde in der alten Kirche in seiner geschichtlichen Darstellung vollständig übersehen werde. Er sagt vielmehr (a.a.O. II § 8 S. 131):
„Die kanonisch organisierten Ekklesia war Trägerin nur der kanonischen (regelmäßigen) kirchlichen Handlung …; Trägerin der Rezeption aber war die unorganisierte Ekklesia. Für das regelmäßige … Handeln besaß die Weltchristenheit ihre Verfassung durch die bischöfliche Ordnung der Ortschristenheiten. Für den unkanonischen Vorgang der Rezeption besaß sie keine kanonische Organisation. Keine Ortschristenheit, kein Bischof besaß eine rechtlich wirkende Rezeptionsgewalt … Nach altkanonischen Grundsätzen
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aber mußte immer zu der bischöflichen, auch zu den päpstlichen Entscheidung der consensus ecclesiae, die Zustimmung der unorganisierten Ekklesia, des gesamten christ-katholischen Volkes auf Erden, nicht bloß der Kleriker, auch der Laien, hinzutreten. Der consensus ecclesiae bedeutete den consensus fidelium. Die Rezeptionsgewalt war in der altkatholischen Kirche letztlich bei den unvertretenen katholischen Christenheit der Welt, bei der universitas ecclesiae im vollen Sinne des Wortes. Was wirklich Gottes Werk ist, das setzt bei dem ganzen Volke Gottes … sich durch, und umgekehrt: Was bei dem ganzen Volke Gottes sich durchsetzt, das ist Gottes Werk … Was im Urchristentum für jede geistliche Handlung galt — es gab kein kanonisches Recht: über die Gültigkeit einer jeden der Ekklesia zugehörigen Handlung entschied ihrer tatsächliche Durchsetzung in der Christenheit, d.h. die Rezeption …, das gilt im Altkatholizismus unverändert für die außerkanonische Handlung.”
Hier tritt aber zugleich die petitio principii hervor, auf der seine Theorie beruht. Alles wird auf die Unterscheidung zwischen rechtlich organisierter bischöflicher und unorganisierter ecclesia universalis, zwischen faktischer Durchsetzung und rechtlicher Verbindlichkeit abgestellt. Zur Ekklesia gehören jedoch auch die Bischöfe und Lehrer. Ein consensus ecclesiae ist ohne und gegen sie auch im radikalsten Protestantismus gar nicht denkbar. Wo aber die universitas fidelium in der konkreten Ortsgemeinde als handelnde und fordernde aufritt, bedarf ihr Handeln der Rezeption durch das Amt. Diese Rezeption bedeutet dann die Feststellung der Übereinstimmung mit der universalis ecclesia; das Amt erscheint als gesamtkirchliche Größe, nicht als partikulares Recht seiner Träger. Es ist ganz richtig gesehen, daß die ecclesia universalis grundsätzlich unvertretbar ist. Auch jede Synode und jedes Konzil ist etwas grundsätzlich anderes, ist Klerus, auch wenn es sich um Laien handelt. Mit der radikalen Konsequenz Sohms wird jedoch mit der rechtlichen Existenz der bischöflichen Kirchengewalt auch die rechtliche Existenz der Gemeinde als eines biblischen Urphänomens in Frage gestellt.
In Wahrheit ist der Gegensatz zwischen rechtlicher und außerrechtlicher Existenz der Kirche der Gegensatz zwischen Handelnden und Empfangenden und findet darin sein Recht. Die Sohmsche Theorie beruht im Grunde genommen auf der spiritualistischen Gleichsetzung von Recht und Gewalt. In Wahrheit lebt das Recht aber ebenso sehr von der integrierende Kraft der Liebe zur Gemeinsamkeit wie von der Furcht vor Ausschließung und Strafe. Selbst im Katechismus heißt es, daß wir Gott fürchten und lieben sollen, daß wir seine Gebote halten. In dem oben zitierten Worte von Bultmann ist dieser Tatbestand nicht klar gesehen. Es gibt überhaupt keine Gemeinschaft gleichviel welcher Art, die auf dem Recht primär aufgebaut und gegründet ist; jede Gemeinschaft besteht immer auf Grund vorrechtlicher Akte. Das Recht aber besteht alsdann in der doppelten Macht, um diese Gemeinschaft zu binden und aus ihr zu lösen, wobei die hintergründige Umkehrung dessen in dem Worte der Schrift diesen strukturellen Tatbestand nicht aufhebt.
Der von Heckel in den „Initia juris ecclesiastici Protestantium” nachgewiesene Strukturwandel vom kanonischen in das evangelische Kirchenrecht berührt diese Fragen nicht. Denn in den zentralen Akten der Bekenntnisbildung und der
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Ämterbestellung tritt die ecclesia abscondita sichtbar hervor. Diese Akte entsprechen der necessitas verbi divini; denn die Wahrheit des Glaubens muß bekannt und die rechte Verwaltung des Wortes geordnet werden. Die Unterscheidung zwischen äußerem Kirchenwesen und innerer Kirche ist hier nicht möglich. Beide treffen zusammen wie die Schenkel eines Winkels am Scheitel. Beider Verhältnis ist nicht das konzentrierter Kreise oder paralleler Linien, sondern der Winkelschenkel. Die Kirchenrechtstheorie muß sorgfältig unterscheiden, welche Bedeutung und Funktion ein jeder Kirchenrechtsakt im Leben der Kirche hat. Jene konstituierende Akte haben eine andere Struktur und einen anderen Ort als die jurisdictionellen der Schlüsselgewalt.
Nur diejenige Ordnung ist kanonisch, die biblisch ist. Diese Biblizität liegt nicht in der gesetzlichen Anwendung isolierter Schriftstellen, sondern in dem rechten Verständnis der Objektivität des geistlichen Geschehens, wie sie in dem „mitten unter ihnen” in den zitierten Schriftstellen sichtbar wird. Danach ist jedoch die Souveränität der Gemeinde ebenso unbiblisch, unevangelisch, unkanonisch wie die Souveränität des Papsttums. Danach ist eine einseitig synodal-presbyteriale Ordnung ebenso ohne biblische Unterlage wie eine einseitig hierarchische.
Zusammenfassend ist zu sagen, daß sich hier die zentralsten theologischen Fragen stellen. In der Rechtsfigur der Rezeption stellt sich das „fiat” des Glaubens dar. Hier wird der Jurist nur mit großer Vorsicht Aussagen wagen, vor allem wegen der in diesem Zusammenhang gebotenen Kürze. Aber er kann und muß gewisse rechtsgeschichtliche und vergleichende Feststellungen treffen. Die tatsächliche Gestaltungen und Tendenzen des Kirchenverfassungsrechts orientieren sich deutlich nachweisbar in einer sehr eigentümlichen Weise an diesem Problem. Der römische Katholizismus mit seinem semipelagianischen Einschlag, mit der Lehre von der Cooperation des Gläubigen am Werke des Heils hat die Verfassungsrechte der Gemeinde und der Gläubigen auf das äußerste Minimum beschränkt und diese zum Objekt priesterlichen Handelns gemacht. Der Calvinismus und alle seine Zweige, die die Alleinwirksamkeit Gottes bit zur letzten gedanklichen Konsequenz verteidigen, räumen dem Kirchenvolk das Höchstmaß von Rechten ein. Die Kirchenverfassung ist also nicht das Abbild, sondern das Gegenbild der Dogmatik. Aber die Bezüglichkeit dieser Entscheidungen ist unverkennbar. Beiden gegensätzlichen Konfessionen ist der theokratische Zug gemeinsam, sei es auch nur in der modernen Form der sogenannten Verkündigungstheokratie.
Der anderen Hälfte der Christenheit, der lutherischen und der griechischen Kirche, ist dieser Geist und seine Gestalt immer verdächtig und anstößig gewesen, so nahe sie nach Typus und Geschichte den einen und dem anderen stehen. Beide sind mit allen Gefahren und Schäden in ihrer ganzen Tendenz immer dienende Kirchen gewesen wie jene herrschende. Wichtiger ist jedoch die bei ihnen immer festgehaltene und nie ganz klar begründete Erkenntnis, daß bei jenen etwas Wesentliches verloren gegangen ist. Mitten zwischen Verkündigung
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und glaubender Annahme vollzieht sich das unbegreifliche Geheimnis. Die Einheit dieses Geschehens wird zerstört, wenn man die philosophischen Kategorien von Sein und Willen, von Substanz und Kausalität darauf anwendet — und zwar gleichviel, welche Lösung man mit diesen Mitteln findet; nicht allein dort, wo man das Geschehen verdinglicht, sondern auch dort, wo man es unter die Kategorie des Willens bringt.
Griechische und lutherische Kirche haben hier die Dinge eine jede in ihrer Weise offengehalten — die griechische in der Bewahrung der altkirchlichen dualistischen Gestalt, die lutherische in jenem radikalen Wagnis. Beide Wege haben erfahrungsgemäß ihre spezifischen Gefahren: der altkirchliche, daß der Ort des Geheimnisses von der Gestalt dennoch überdeckt und überwölbt wird, der lutherische, daß mit der Gestalt auch das Geheimnis verloren geht.
Kanonisch ist vielmehr jede Ordnung der Kirche, die deren pneumatische Objektivität unverkürzt zum Ausdruck bringt. Das ist aus den entwickelten Gründen sowohl grundsätzlich wie praktisch nicht in einer monastischen, sondern nur in einer dualistischen Struktur möglich. Was in Kirchen, die einer solchen Vereinseitigung ihrer legitimen Ordnung verfallen sind, an Rechten und Heilsamen geschieht, geschieht nicht mit Hilfe der rechten, sondern trotz der falschen Ordnung. Aber wir sollten wenigstens nicht durch eine falsche Ordnung dem Rechten und Heilsamen noch Hindernisse entgegenstellen.
Wenn also heute die evangelische Kirche in die Nähe eines solchen Dualismus geführt worden ist, so fehlt für diesen Dualismus die zulängliche Begründung. Man scheut sich sehr wohl, dem einen oder anderen der beiden Elemente mit radikaler Grundsätzlichkeit das Ganze der Kirchengewalt zu vindizieren. Denn man sieht, daß sie sich nicht ineinander auflösen und aufheben lassen, ohne daß etwas Wesentliches verkürzt wird. Aber welcher Art ihr Verhältnis ist, bleibt offen. Sodann fehlt der große Hintergrund, den die alte Kirche besaß.
Ihr Bischofsamt war ein apostolisches und gesamtkirchliches. Diese Vorstellung fehlt den Partikularkirchen jetzt völlig. Aber auch die Gemeinde fühlte sich nicht in der Analogie eines autonomen Selbstverwaltungskörpers, sondern in einem sehr unmittelbaren Sinn als Stück einer ebenso sehr geistlichen wie real sichtbaren universitas fidelium. Für die innere Notwendigkeit und das daraus folgende energische Streben der alten Gemeinden nach Einheit in Verfassung und Lehre hat Sohm aus den von Bultmann gekennzeichneten Gründen kein Verständis gehabt.
Die norwegische Kirche z.B. besitzt in der geschilderten Form eine durchaus kanonische Ordnung. Aber schon die benachbarte dänische wählt ihre Bischöfe synodal und eingleisig von unten. Das hat sich, wie berichtet wird, in der Neigung zur Wahl schwächerer Persönlichkeiten vergleichsweise ungünstig ausgewirkt. Die dualistische Struktur ist nicht nur theoretisch richtig, sondern bewährt sich auch praktisch als die der menschlichen Natur angemessene. Allzu sehr sind die Verfassungen der verschiedenen Kirchen historischer Zufälligkeit, theologischer Unklarheit und kirchenfremden Zweckmäßigkeitserwägungen
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preisgegeben gewesen. Auch der untergründige Einfluß des Schwärmertums ist größer, als man gemeinhin anerkennt.
Die fast unumschränkte Souveränität der deutschen Landeskirchen unter jeweils einem Bischof oder Kirchenpräsidenten ist vollends illegitim. Diese Erkenntnis richtet das Landeskirchentum von heute, das den Notzustand ebenso verewigt wie den Territorialbestand der Wiener Schlußakte. Das Bischofsamt existiert nicht in der Einzahl, sondern nur in apostolischer Gemeinschaft. Nirgends ist Gemeinsamkeit der Verantwortung und Beratung, visitatio und mutua consolatio nötiger als für ein evangelisches Bischofsamt, das sich zum Herren unseres Glaubens weder machen kann noch will. — Die Ostkirche steht heute vor ähnlichen Problemen. Die Auflösung der großen alten Patriarchate in zahlreiche autokephale nationalen Jurisdiktionen hat eine starke Verwirrung hervorgebracht und den ökumenischen Charakter der Gesamtkirche bedroht.
Die Bedeutung des Kirchenrechts der griechischen Kirche liegt darin, daß diese wie auf manchen anderen Lebensbereichen die altkirchliche Substanz bewahrt hat. Ihre Existenz ist ein lebendiger Beweis gegen die Geschichtskonstruktion und den Pessimismus Sohms. Aber sie ist vermöge der Irrationalität ihres Denkens nicht imstande gewesen, dieses Erbe mit hinreichender gedanklicher Klarheit zu verteidigen und wirken zu lassen. Das wird auch bei Milch sehr deutlich. Wo er zu theoretischen Aussagen kommt, fällt er nur zu leicht in die wesensfremde Begriffssprache des Körperschaftsrechts. Ähnliche Erscheinungen kann man auch anderwärts bei Verlautbarungen der griechischen Kirche bemerken. Das zweckhafte Körperschaftsrecht hat sich als durchsetzungsfähiger erwiesen. Um jenes Erbe der alten Kirche zu nutzen, bedarf es daher anderer Begriffsmittel, als die griechische Kirche sie zu bieten hat. Sohm hielt die Entwicklung des römischen Kirchenrechts nicht für zwangsläufig, sondern auch für die letzte gedankliche Möglichkeit. Er war damit sicherlich ein klarer und folgerichtiger Denker als die meisten seiner Kritiker. Aber er konnte nicht voraussehen, daß die Theologiegeschichte weitergehen und dem Kirchenrecht neue Perspektiven eröffnen würde. Wenn auf das Sakramentsrecht der alten Kirche des 1. Jahrtausend das körperschaftliche Kirchenrecht von 1150 bis heute folgte, so zeichnet sich als eine neue, dritte epochale Möglichkeit das Kirchenrecht existenzieller Relationen heute bereits deutlich ab. Dieses Kirchenrechtsverständnis wird — unter völliger Freiheit von restaurativer Romantik — uns in sehr viel größere Nähe der altkirchlichen Position führen, als das bisher der Fall gewesen ist. Gegen diese Erkenntnis sträubt sich auch die jahrhundertealte Tradition eines gestaltfeindlichen Nominalismus. Eine Kirche, die dem Idealismus der römischen Kirche entgegenzutreten unternimmt, wird das nur vermögen, wenn sie sich von dem Vorwurf des Gegenteils, der bloßen gedanklichen Antithese, freihält.
Die Erneuerung und Vertiefung des ökumenischen Bewußtseins wird in steigendem Maße und unausweichlich den Protestantismus vor das Problem einer apostolischen, einer ökumenischen, einer evangelischen Kirchenverfassung stellen.