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Kirche und Staat nach evangelischem Verständnis

 

Die Frage nach dem rechten Verhältnis von Kirche und Staat ist nicht allein eine grundsätzliche, sondern immer zugleich eine geschichtliche. Jeder vorgeschlagenen Lösung des Problems begegnet man schon unwillkürlich damit, daß man auf geschichtliche Erfahrungen, auf die nachweisbaren Konsequenzen der verschiedenen Auffassungen hinweist. Die Frage verknüpft sich mit dem Problem des sogenannten christlichen Abendlandes. Die Auseinandersetzung um diesen Begriff hat etwas Gehässiges. Die einen erheben ihn zum Idealbild mit dem ständigen leisen oder lauten Vorwurf gegen diejenigen, die diesen vorbildlichen Zustand zerstörten oder preisgegeben haben und sich vollends wei­gern, ihn wiederherzustellen — als ob so große geschichtliche Vorgänge eine Sache der Willkür wären. Die anderen, die theologische und politische „Linke”, weisen auf die Widersprüche zwischen einem so hohen Anspruch und der Wirklichkeit hin, ebenso auf die Unwirklichkeit des Versuchs einer restaurativen Erneuerung. Aber sie entgehen dabei doch nicht der Gefahr, die wirklichen Positiva einer so bedeutenden Vergangenheit aus dem Auge zu verlieren. Während man jede soziale und soziologische Wandlung mit Sorgfalt verfolgt, ist man geneigt, die gemeinschaftsbildende und geschichtsmächtige legitime Wirksamkeit der Kirche in Frage zu stellen.

Ein Ausgleich dieser nur relativen Wahrheiten ist bisher nicht gelungen. Dieser Widerstreit zeigt, daß die Betrachtung sich über die Ebene dieser Auseinandersetzung grundsätzlich erheben muß. In einer älteren Schrift („Das Evan­gelium in der Gegenwart” 1937, S. 30 ff.) hat Karl Barth in einer vorbildlichen und eindrucksvollen Weise die Doppelgesichtigkeit des Problems dargestellt und ein für allemal die hier beliebte Schwarz-Weiß-Manier für beide Seiten unmöglich gemacht.

Dennoch wird man auf dem weiten Felde geschichtstheologischer und -philo­sophischer Erörterungen kaum zu einem schlüssigen Ergebnis kommen können. Für das konkrete Verhältnis von Kirche und Staat aber brauchen wir unaus­weichlich ein klares Verständnis, das uns den Weg für unser Handeln in die Zukunft zeigt. Die Kirchengeschichte geht weiter. Sie besteht nicht in einer ewi­gen Folge von Destruktions- und Aufräumungsarbeiten. Unser Problem hat nun aber den Vorzug, von streng rechtlicher Konkretheit zu sein.

Was bedeutet rechtlich der konstantinische Bund, mit dem die Kirche aus dem Zustand einer religio illicita oder einer halbgeduldeten Sekte verdächtiger Nar­ren in das helle Licht der Rechtsgeschichte eintrat? Man verfehlt den Tatbestand, wenn man diesen Vorgang in unbewußter Anlehnung an die Begriffe des moder­nen liberalen Staatskirchenrechts als die besonders weit ausgedehnte Privilegie­rung einer im Staat befindlichen Religionsgemeinschaft ansieht, wobei dann das Übermaß dieser Privilegien die Kirche zu Mißbrauch und Verweltlichung geradezu angereizt habe. Der petitio principii einer solchen Anschauung muß man zu entgehen wissen. In der ganzen uns bekannten älteren Menschheitsgeschichte,

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einschließlich der griechisch-römischen Antike, sind Staat und Religion, öffent­liche Ordnung und Kultus untrennbar verbunden. Man kann sie ebensowenig trennen, wie man auf der Erde ohne Atmosphäre leben könnte. So ist auch das spätrömische hochzivilisierte Reich der Cäsaren eine religiös-sakrale Einheit. Diese Einheit ist ein Abbild der Weltordnung und des Weltregimentes. Die tra­ditionellen Kulte sind zwar zersetzt und nicht mehr allgemeinverbindlich, ein religiöser Pluralismus breitet sich aus; aber die Summe dieser Kulte findet immer noch ihre unbestrittene Einheit in der Verehrung des göttlichen Staatsober­hauptes, im Kaiserkult. Stauffer hat gezeigt, wie sehr dies bereits pseudo-eschatologische Züge angenommen hat. Die natürliche Religion des rationalen, hoch­zivilisierten Menschen ist die Pseudo-Eschatologie, die zu religiösen Formen gesteigerte Ideologie des innerweltlichen Heils.

Die rechtliche Anerkennung der Kirche bedeutet in diesem Zusammenhang nicht die Vermehrung der zugelassenen Kulte um einen weiteren. Die Christen verweigerten nicht den Gehorsam gegen die Reichsgesetze, wohl aber gegen den Kaiserkult. Die Anerkennung dieses Standpunktes, zunächst seine ausdrück­liche Duldung, dann seine ausschließliche Geltung, machte den Kaiserkult gegen­standslos. An die Stelle der Einheit und Folge Gott—Kaiser—Reich trat jetzt ein grundsätzlicher rechtlicher Dualismus von Kirche und Reich. Die innerstaatliche Privilegierung bedeutet zugleich die Anerkennung einer Größe eigenen Rechts. Das Kirchenrecht hat immer zwei Seiten: das eigene Recht der Kirche, zu dem der Staat selbst nichts hinzufügen, das er nur anerkennen kann, und die aus dem weltlichen Recht gewährte Rechtsstellung im Rahmen der Staatsverfassung. Solange man freilich in der Kirchenrechtstheorie ein eigenständiges Kirchenrecht verneint und alles Kirchenrecht auf die Gestattung des Staates zurückführt, kann man diesen Tatbestand gar nicht in den Blick bekommen. Der konstan­tinische Bund bedeutet zugleich mit der Preisgabe des Göttlichkeitsanspruchs und -Titels des Kaisers eine höchst reale Verfassungsänderung. Der Cäsar verlor die Souveränität. Denn es blieben zwar alle Christen seiner weltlichen Gewalt unterworfen, er selbst aber unterfiel nunmehr selbst der geistlichen Jurisdiktion der Bischöfe. Theodosius der Große und Valentinian III. sind von entschlossenen Bischöfen zeitweilig exkommuniziert worden. Die unbeschränkte Fülle der kaiserlichen Gewalt war nun nicht mehr eine „superioritas superiorem non cognoscens”. Kirche und Reich waren auch territorial nicht einfach identisch; im Verbände der ökumenischen Kirche standen auch Länder, die dem Reiche nicht angehörten; dennoch waren sie auch nicht mehr zu trennen, seitdem die Kaiser Christen geworden waren.

Dieses Verhältnis läßt sich am leichtesten in einem Bilde, in einer mathema­tischen Figur darstellen und ist auch immer wieder in einer solchen Form be­griffen worden. Die vorchristlichen Staatsgebilde stellen jeweils konzentrische Kreise, von einem Punkt her konstruierte Einheiten dar. Im Bereich der natür­lichen Religion ist diese konzentrische Einheit von Kultus und öffentlicher Ord­nung wohl am großartigsten in der griechischen Polis zur Darstellung gekommen.

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Nennen wir diesen Typus mit einer gewissen Verkürzung der Einfachheit halber den griechischen. Er besagt, daß mit strenger und frommer Beachtung der vorgegebenen Gesetze dieser Welt als göttlicher, erkennbarer Ordnung das öffentliche Gemeinwesen, die polis, die res publica nach menschlichem Vermögen, wenn die Götter sonst gnädig sind, zu ihrer rechten und idealen Ordnung gebracht werden können. Hier ist die Bildung eines Vollkommenheitsbegriffs und das Streben nach seiner Verwirklichung sinnvoll und möglich. Wo noch heute solche Vollkommenheitsbegriffe auftauchen, sind sie ein Erbe einer griechischen Tradition des Staatsdenkens. Die einzige echte und durchgehaltene Aus­nahme von dieser antiken Konzeption stellt das jüdische Staatswesen dar. Es ist nicht auf der frommen Beobachtung der göttlichen Gesetze des Kosmos, sondern auf der geschichtlich-personalen Offenbarung von Noah über Mose bis zu den Propheten aufgebaut. Der volle Widerspruch zwischen dem Willen Gottes und der sündigen Welt, dem Abfall des Volkes wird immer wieder sichtbar. Immer wieder wird das Volk des Ungehorsams bezichtigt, von Richtern und Propheten gezüchtigt und angespornt, ermahnt, Buße zu tun, sich zu bekehren, Gottes Willen zu erfüllen. Nicht das fromme und ruhige Streben des Griechen, der Harmonie des Kosmos in seinem Leben genugzutun, ist bestimmend; dem Menschen wird der ganze Gegensatz von Gott und Welt mit aller Schärfe aufge­lastet. Gott selbst soll König sein und bleibt es auch, wenn erleuchtete Könige wie David und Salomo regieren. Israel ist nicht Polis, sondern Theokratie. Die natürliche Eigenmacht des jüdischen Volkes als eines einzelnen Volkes neben anderen geht ganz darin auf und soll darin aufgehen, daß es das auserwähltc Volk ist. Will es sein wie andere Völker, so fällt es eben damit schon ab. Dem Baum dieses Volkes ist sozusagen die Krone abgehauen, damit er etwas anderes tragen kann. Aber auch diese Theokratie ist ein konzentrischer Kreis. Nur sein Zentrum ist ein anderes. Es liegt nicht im sakralen Königtum der natürlichen Religion, sondern in dem einstmals und immer wieder offenbarten unmittelbaren Willen Gottes.

Der konstantinische Bund ist nun weder griechische Polis noch jüdische Theo­kratie. Er umschließt beide zu einem Ganzen und verwandelt seine beiden Ele­mente zu einem gänzlich neuen Dritten. Die Polis, mit ihr Könige und Cäsaren, verlieren den Charakter der Göttlichkeit, sie sind weltliche Ordnung, das heißt Ordnung einer vorläufigen und gefallenen Welt, die in sich nicht vollkommen sein kann und des endzeitlichen Gerichtes harrt. Die Theokratie dagegen ver­liert die Unmittelbarkeit der Gesetzesherrschaft, die direkte Durchsetzung des Gotteswillens. Aus dem einen auserwählten und begrenzten Volk werden die Völker der Ökumene. Das Volk Gottes verallgemeinert und spiritualisiert sich. Aus zwei konzentrischen Kreisen, die sich ausschließen, wird eine Ellipse mit zwei Brennpunkten, ein bestimmt geordneter Dualismus. Eine Ellipse ist bekanntlich mehr als eine Zusammenzeichnung von zwei Kreisen, womit sie eine gewisse Ähnlichkeit hat. Sie hat zwischen ihren beiden Brennpunkten eine sogenannte Brennweite, einen Abstand, der nicht willkürlich verändert

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werden kann. Aber es besteht doch ein gewisser Zusammenhang zwischen der Figur der Ellipse und den zwei Kreisen, die sich von ihren Brennpunkten her bilden ließen: Vergrößert man nämlich die Brennweite immer mehr, so zerreißt die Ellipsenfunktion wie ein überdehntes Band, die Figur ist zerstört. Verengt man die Brennweite nach innen, so überdecken sich schließlich die beiden Brenn­punkte so, daß sie ununterscheidbar werden, wobei es dann offen bleiben muß, wer den anderen überdeckt. Das hängt nur vom Standpunkt der Betrachtung ab. Die Brennweite ist also variabel, aber nicht über gewisse Grenzen hinaus, jen­seits deren das Gefüge zerstört wird.

Mit der Entstehung der Kirche, nicht erst mit Konstantin, ist ein Dualismus zwischen Kirche und Welt, Kirche und Staat gegeben, der dann im konstanti­nischen Bund eine positive rechtliche Form gefunden hat. Diese Form läßt sich am ehesten von ihren Grenzwerten, von den mehr oder minder weitgehenden Mißbildungen her darstellen, die sie ermöglicht hat. Verkürzt man die Brenn­weite und bringt Kirche und Staat annähernd zur Deckung, so verwickelt man beide in einen hoffnungslosen Streit. Die jüdische und die griechische Lösung treten wieder hervor und stoßen sich. Weil es dann im Grunde nur noch ein Körper, ein konzentrischer Kreis ist, muß die Frage „Theokratie oder Polis” zwischen ihnen zum Austrag gebracht werden, und eben dies ist unmöglich. Man schafft einen siamesischen Zwilling und verlangt von ihm gleichzeitig in verschiedene Schulklassen zu gehen. Die Frage ist unlösbar, weil der vorgegebene Dualismus verkannt ist. So werden sie beide gezwungen, gegeneinander um ihr Lebensrecht zu kämpfen, weil sie sich „zu nahe treten”. Hier liegt auch die Schwierigkeit der geschichtlichen Beurteilung der Kämpfe zwischen Kirche und Staat im Hochmittelalter begründet. Wir sehen meist, daß die Kirche sich gegen­über dem Reich Rechte angemaßt und es herabgewürdigt hat. Die katholische Auffassung sieht es umgekehrt. Beides ist gleich richtig und falsch. Die An­sprüche Innozenz’ III. und Bonifaz’ VIII, von denen sich die modernen Päpste vorsichtig distanziert haben, sind ebensowenig haltbar wie die Benutzung der Kirche und der Bischöfe als politischer Ordnungs- und Machtfaktor in der ottonischen Reichsverfassung. Weil wir Deutschen nicht imstande waren, zur poli­tischen Einheit zu kommen, haben wir die Kirche zur Stabilisierung unserer nationalen Einheit benutzt und wundern uns darüber, daß das nicht ewig ge­halten hat. Kaum aber war die Kirche wieder zu freier Eigenständigkeit gekommen, so excedierte sie mit so hochgespannten theokratischen Ansprüchen, daß eben daran die hochgerühmte Einheit des Abendlandes in der Tiefe zerbrach. So geriet man in einen circulus vitiosus von staatskirchlicher Abhängigkeit und theokratischer Machtanmaßung hinein. Man vergaß dann völlig, daß in diesem Verhältnis die konkrete Entscheidung immer nur eine relative und niemals eine prinzipielle Lösung bedeuten konnte.

Die gleichen bedeutenden Schwankungen weist schon das Verhältnis Staat-Kirche im ersten Jahrtausend auf. Bald war das Reich so stark und die Kirche so ohnmächtig, daß sie annähernd ein geistliches Departement des Staates

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darstellte; bald war das Reich so zerrüttet, daß die Kirche fast allein stand und ersatzweise in seine ordnenden und helfenden Aufgaben eintrat. Im ganzen aber begnügte man sich damit, daß die Brennstärken in diesem dynamischen Verhältnis wechselten. Erst im zweiten Jahrtausend, nicht ohne viele schlechte Erfahrungen, ging man dazu über, die Brennweite auszumessen und festzulegen, juristisch,  theoretisch, ideologisch und propagandistisch. Dieser Versuch der Objektivierung machte es nun nur noch schlimmer, weil er die Spannungen verstärkte, die Gegensätze verhärtete, die Positionen verabsolutierte.

Den umgekehrten Weg ist dann die Moderne gegangen. Sie hat die Brennpunkte soweit voneinander zu trennen unternommen, daß aus dem Ganzen der Ellipse zwei selbständige Kreise werden. Dies ist nicht der Zustand der Kirchenverfolgung. Haßt man sich noch so sehr, daß man sich verfolgt, so beweist man nur, wie sehr man den Verfolgten für wichtig und wirksam hält. Die konsequente Form der Trennung ist das staatskirchenrechtliche Prinzip der Dissimulation, der Nichtbeachtung. Der Staat duldet die Kirche, verweist sie aber auf ihre reine Innerlichkeit und den Kultus innerhalb der Kirchengebäude und verwehrt ihr jede, auch die geringste Ausstrahlung darüber hinaus. Dies ist das gemeinsame Prinzip des laizistischen Frankreich und der Ostblockstaaten kommunistischen Gepräges. Freilich ist dies nicht echt durchzuhalten, sondern führt immer zu deutlichen Formen der Unterdrückung. Die Verweigerung der bürgerlichen Rechtsfähigkeit für die Gemeinden oder ihre radikale Einschränkung, insbe­sondere im Vermögenserwerb, die laufenden Verwaltungsmaßnahmen, um die Öffentlichkeitswirkungen der Kirche immer wieder zu überwinden, bedeuten in Wahrheit keinen Status der Indifferenz, keinen einfachen Nicht-Stand, sondern einen deutlichen status negativus, auch wenn man förmliche Verfolgungsmaß­nahmen streng vermeidet. Es gibt rechtlich keinen status indifferentiae. Dieser Versuch ist nun im allergrundsätzlichsten Sinne ein reaktionärer und restaurativer. Er versucht, eine unwiderrufliche geschichtliche Tatsache in ihren Folge­rungen aufzuheben und rückgängig zu machen. Denn wenn selbst die Kirche diesen ihr aufgezwungenen Status im geduldigen Leiden auf sich nähme, ohne für die Öffentlichkeit des Wortes Gottes und seinen Anspruch den status confessionis in Anspruch zu nehmen, selbst dann könnte der Staat nicht erreichen, was er versucht. Denn durch die Erscheinung Gottes im Fleisch, durch den daraus hervorgegangenen Dualismus von Kirche und Welt, Kirche und Staat ist der Staat endgültig verweltlicht, seines religiös-sakralen Charakters im Sinne der natürlichen Religion beraubt, seiner Souveränität im eschatologischen Sinne entkleidet. Trennt er sich radikal von der Kirche und verweist er sie in einen Winkel, so wird er eben dadurch gezwungen, seine Weltlichkeit wieder zur religiösen Ganzheit aufzufüllen, sich einen philosophisch-weltanschaulichen Ersatz zu schaffen. Das kann er in der intolerant-dogmatischen Form des orthodoxen Marxismus oder in der milderen Form humanistisch-liberaler Dogmen, die man für so selbstverständlich erklärt, daß sie des Zwanges nicht bedürfen — das Ergebnis ist das gleiche. Je mehr man aber nun diese Weltlichkeit des modernen

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Staates als Weltlichkeit ohne Gegenüber echter Geistlichkeit betont, desto grö­ßer ist die Gefahr, daß die Kirche ihrerseits wieder theokratische Züge des jüdi­schen Typus annimmt. So werden Kirche und Staat gleichermaßen verderbt und treiben sich gegenseitig in eine immer stärkere Vereinseitigung.

Es wird also sehr deutlich, daß weder Trennung noch Verbindung beider Mächte gewisse Grenzwerte überschreiten darf, wenn nicht beide zu Schaden kommen sollen, wenn man nicht Unmögliches versuchen will. Aber es sind eben Grenzwerte, zwischen denen bedeutende Schwankungen möglich sind. Die rechte Brennweite kann nicht ein für allemal mit der theologischen oder staatsrecht­lichen Elle festgelegt werden. Denn es sind dynamisch-geschichtliche Größen, die sich anziehen und abstoßen und miteinander ringen. Sie haben auch den Grad dieser Dynamis nicht in der Hand. Treitschke hat in einer Kritik der Cavourschen Formel von der „freien Kirche im freien Staate” mit Recht darauf hingewiesen, daß das Verhältnis von Kirche und Staat kein „rationelles” sei.

Es ist unter diesen Gesichtspunkten begreiflich, daß auch die Reformation für das Problem nicht zeitlos gültige Lösungen hervorgebracht hat. Sie fand die Dinge nach einem Jahrhundert vergeblicher Reformen in einem besonderen ver­wirrten Zustande. Die frühere konstruktive verfassungsrechtliche Verbindung zwischen Kirche und Reich war bis zur Sinnlosigkeit entstellt. Die geistlichen Territorien standen einfach neben den weltlichen. Papst und Bischöfe waren weit mehr weltliche Fürsten als geistliche Hirten. So ist die radikale Wendung gegen die weltliche Gewalt der Bischöfe berechtigt und verständlich. Aber im selben Augenblick verfiel nun die Kirche in einem nie gekannten Ausmaß der weltlichen Gewalt. Das fürstliche Streben danach bestand bereits im 15. Jahrhun­dert; aus dieser Zeit stammt schon der Satz „dux Cliviae est papa in suis terris”. In unberechenbarem Umfang hing die Durchsetzung und der Schutz der Reforma­tion davon ab, ob die Fürsten Interesse an kirchlichen Besetzungsrechten und Gütern hatten oder nicht. Wo sie alles Wünschbare schon hatten, brauchten sie keine Reformation zu machen.

Die Reformation hat zwar die weltliche Gewalt der Bischöfe mit Erfolg be­kämpft, zur Beschränkung der geistlichen Gewalt der Fürsten war sie weder ernstlich willens noch imstande. Wenn sie nicht stillschweigend optiert hätte, wäre das Evangelium zwischen Papst und Fürsten zerrrieben worden, so wie selbst über den Erfolg des Konzils von Trient die Einigung zwischen Papst und Kaiser entschieden hat. So ist die Kirche aus dem Regen in die Traufe gekom­men; an die Stelle eines großen Tyrannen hat sie viele kleine Despoten bekommen, die über den Glaubensstand ihrer Untertanen zu verfügen berechtigt waren und verfügten, so gut sie es verstanden.

Dieser Zustand hat sich bis in die Gegenwart fortgesetzt. Liberale und sozia­listische Demokraten in gut freiheitlichen Ländern ziehen heute das ererbte Staatskirchentum vor, weil es relativ höhere Sicherheit gegen ruhestörende For­derungen der Kirche an die Welt bietet als deren Eigenständigkeit. Dennoch zeichnen sich grundsätzliche Wandlungen ab, am stärksten in Deutschland, das

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alle Vorgänge immer am schmerzhaftesten durchmachen muß. Die Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer hat sich auf ihrer Marburger Tagung 1953 mit den Wandlungen des Staatskirchenrechts befaßt. Der Referent Professor Werner Weber-Göttingen stellte unwidersprochen fest, daß ohne jede Änderung der Verfassungstexte in den Verfassungen von Weimar und Bonn sich eine entscheidende Veränderung vollzogen habe. Von einer Ausübung staatlicher Aufsichtsrechte über die öffentliche Körperschaft Kirche im alten staatskirchenrechtlichen Sinne ist ernstlich nicht mehr die Rede. Sie wird weder beansprucht noch ist sie mangels der erforderlichen qualifizierten Ministerialbürokratie überhaupt noch durchführbar. Diese Wandlung ist wesentlich dadurch bedingt, daß die Kirche durch den Kirchenkampf als geistig-politische Potenz ein ganz anderes Gewicht und Selbstverständnis gegenüber den politischen Gewalten gewonnen hat als zuvor. Dieser Anspruch, der auf Grund der geschichtlichen Tatsachen anerkannt wird, wirkt rechtsbildend und rechtsändernd. Die großen Kirchen sind heute ver­fassungsrechtlich etwa in der Lage eines Standes aus eigenem, nicht abgeleite­tem Recht neben anderen Ständen, den Parteien, sozialen Verbänden usw. Diese Probleme sind nicht schon nach dem Wegfall des fürstlichen Landesbistums, son­dern erst jetzt recht eigentlich hervorgetreten. Man muß bei alledem sich immer vor Augen halten, daß es sich nicht um eine Konstruktion im freien Raum oder ein Idealgebilde, sondern um das rechte Verständnis des Verhältnisses zweier vorgegebener Größen handelt.

Die bekannteste Konzeption dieses Verhältnisses hat nach dem Kriege Karl Barth in seiner Schrift „Christengemeinde und Bürgergemeinde” vertreten, auf deren Linie sich neuerdings wieder in einem Vortrag vor der Studiengemein­schaft der Evangelischen Akademien Helmut Gollwitzer gestellt hat. Die evan­gelische Christenheit verdankt dem theologischen Lehrer Karl Barth sehr viel. Das darf uns nicht die Freiheit nehmen zu sagen, wo er fehlgegriffen hat. Dies ist hier der Fall. Ich will hier davon absehen, daß jene Schrift eine Fülle von staatsrechtlichen Unmöglichkeiten enthält, die sie für den Sachkenner wesent­lich entwerten. Hier geht es um die Grundkonzeption. Sie ist die des konzentri­schen Kreises. Den inneren Kreis stellt die zur „Christengemeinde” verharm­loste Kirche dar, die durch das Hören auf das Wort Gottes, ohne Gewalt und förmlichen Rechtsanspruch befähigt wird, dem äußeren Kreis, dem zur „Bürger­gemeinde” verharmlosten Staat, Hinweise und Maßstäbe für sein rechtes Han­deln zu verkünden, biblische Weisungen zu geben, um den Rechtsphilosophcn Erik Wolf zu zitieren, den Barth besonders stark heranzieht. Dieses Verhältnis begründet auch ohne äußere Gewalt und Macht einen Rang, eine Folge vom Höheren zum Niederen, vom Inneren zum Äußeren. Dieses Folgeverhältnis ist aber mit dem polaren Charakter und der Unvertauschbarkeit beider Pole dieses Verhältnisses unvereinbar. Hier tritt die theokratische Tradition des Kalvinismus wieder hervor und damit das, was wir eingangs als jüdische Lösung bezeichneten.

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Die andere heute in mancherlei Abwandlungen vertretene Meinung ist die Fortentwicklung der lutherischen Lehre von den zwei Regimenten. Diese Mei­nung ist immer mehr oder minder stark in Verlegenheit, das positive Verhältnis beider Bereiche hinreichend zum Ausdruck zu bringen. Bloße Postulate helfen hier nicht. Auf dem Wege über diese Trennung aber ist das Luthertum wider­standlos dem Staatskirchentum verfallen. Es hat einen profanen Positivismus, den es selbst nicht wollte, doch faktisch Raum gegeben und die nur ethisch, nicht dogmatisch und konstruktiv angebundene Eigengesetzlichkeit der Bereiche still­schweigend sanktionieren müssen. Die geschichtlichen Früchte schrecken uns auf beiden Seiten: hier das Staatskirchentum; dort eine Kette theokratischen Rigo­rismus von Genf über Frankreich, Holland, John Knox, Cromwell bis hin zu den Anfängen der Vereinigten Staaten. Daß dieser kämpferische und gesetzliche Kalvinismus und Puritanismus keine allgemeingültige Lösung für die Christen­heit ist, liegt auf der Hand.

Aus dieser Lage ergeben sich auch die wechselseitigen Vorwürfe in der Gegen­wart. Der Barthschen Linie kann man leicht nachweisen, daß der erleuchtete Prediger des Evangeliums noch längst nicht der gute Politiker ist, daß er viel­mehr vermöge seines angeborenen unpolitischen Charakters in diesem Bereich um so mehr Verwirrung und Unheil stiftet, mit je mehr Leidenschaft er poli­tisch zu handeln trachtet. Schon Cromwell und Prinz Rohan wollten lieber ein Rudel Wölfe regieren als einen Haufen politisierender Prediger. Ebenso deutlich ist aber auf der anderen Seite, daß man durch politische Enthaltsamkeit der Ver­antwortung nicht ledig wird, daß darin auch weittragende Entscheidungen lie­gen. Wie die Barthsche Lösung nicht sehr weit von der jüdischen, so ist die luthe­rische nicht sehr weit von der griechischen entfernt, der relativen Harmonie zwischen Geistlichem und Weltlichem, die positiv konfliktlos zusammenwirken. Nicht nur die großen spekulativen Staatsphilosophien wie die Hegels, die zu einer Identität von Kirche und Staat führen, sondern auch andere Tendenzen können sehr wohl in große Nähe zu dieser griechischen Lösung geraten.

Ich sehe mit Besorgnis, daß weder die theologischen noch die politischen Par­teien das Problem im Ganzen ins Auge fassen. Sie erschöpfen sich darin, sich gegenseitig die offenkundigen Fehler und verderblichen Konsequenzen ihres Standpunktes vorzuwerfen, vermeiden aber, den Balken im eigenen Auge zu sehen. Ich meine daher, daß das Problem nur in einer Lösung jenseits derjenigen von Barth und der Lutheraner zu finden ist. Diese Unklarheit wirkt bis in die Auseinandersetzungen der politischen Parteien. Es ist nicht wünschenswert, daß in dem jetzigen Maße Oberkirchenräte und Pfarrer bei CDU wie SPD sich poli­tisch aktiv betätigen. Hier geht eine echte Distanz und zugleich das Gewicht des geistlichen Amtes verloren, mag es im Einzelfall auch zu rechtfertigen sein. Auf der anderen Seite versucht man nach wie vor das Verhältnis Kirche-Staat wesent­lich im liberalen Sinne zu begreifen: die geschichtliche Realität der Kirche als wirkende Gemeinschaft wird eigentlich nicht anerkannt. Man begreift zwar

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soziologische Wandlungen und soziale Kräfte. Nur die gemeinschaftsbildende Kraft des Glaubens will man nicht wahrhaben und verweist sie in ein unpolitisches Eunuchentum der bloßen Innerlichkeit. Zur Rechtfertigung dieses Standpunktes übernimmt man die offenkundigsten Haeresien des theologischen Liberalismus, mit denen sich kein anständiger Theologe mehr sehen lassen kann.

Wie ist nun das positive Verhältnis von Kirche und Staat unter Wahrung der Tatsache zu verstehen, daß es nicht ein für allemal einfach auf eine Formel ge­bracht werden kann?

Hermann Ehlers hat etwas davon gewußt. Er war immer gleichzeitig im Kampf gegen den angeborenen Quietismus der Lutheraner wie gegen das politische Prädikantentum der Barthianer auf dem Plan. Er übernahm in seiner Wiener Rede im Herbst 1953 die Formel:

Der Staat lebt nicht nach den Weisungen der Kirche, sondern von den Früchten ihrer geistlichen Existenz.

Was heißt das:

1. Post Christum gibt es in Ländern, die mit dem christlichen Glauben in Ver­bindung gekommen sind, keine völlige Trennung von Kirche und Staat. Dieser Versuch ist ebenso irreal wie tödlich. 2. Die Kirche kann nur Kirche sein und bleiben, wenn sie von Theokratie jeder Art wie von Staatshörigkeit gleich weit entfernt ist. Dies ist der ihr gewiesene schmale Weg, von dem sie immer nach der einen oder anderen Seite herunterzukommen droht, durch Eifer wie durch Anpassung. Das Verdikt gilt nicht allein der hierarchischen Theokratie, sondern jeder wie immer gearteten Theokratie oder Christokratie. Diese ist genau so eine Vereinseitigung wie jene. 3. Wenn die Kirche Kirche, der Christ Christ ist, dann ist ihr gemeinsames Sein im Herrn so bestimmend für sie, daß innerwelt­liche Gegensätze dadurch zwar nicht aufgehoben, aber zu vorläufigen, begrenz­ten, bedingten werden. 4. Umgekehrt ist durch die konkrete Gemeinschaft der Kirche, durch ihre geistliche Existenz auch jeder Souveränitätanspruch des Staates begrenzt und gebrochen, der Versuch unmöglich, über eine Ideologie oder Welt­anschauung zur Verwirklichung letzter Sinnbestimmung des Menschen zu kom­men.

Nur durch diese doppelte Relativierung gibt es echte Freiheit. Der tatsäch­liche Zustand der Kirche, ihr eigenes Parteiwesen und Parteidenken steht in hartem Widerspruch zu dem, was sie nicht nur sein, sondern auch für andere bewähren sollte. Die fortschreitende Verengung kirchlicher Gruppen zu exklu­siven Sekten ist ein Menetekel für die Kirche und Ungehorsam gegen das Evan­gelium.

Von diesen Erwägungen her verstehen wir erst recht das Wort: „Gebt dem Kaiser was des Kaisers ist und Gott was Gottes ist”, der so oft mißbraucht wor­den ist. Das hieß: ich stelle mich nicht in die Reihe eurer religiös-nationalen Bewegung, ich gebe euch keine Weisungen für euren jüdischen Staat. Aber es

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hieß zugleich: der Kaiser ist nicht Gott. So wird die Spaltung durchgehalten. Es wird weder die Forderung Gottes verweltlicht noch die Forderung der Welt vergöttlicht — und doch wird beiden Gehorsam geleistet. Er selbst ist wahrer Gott und gehorsamer Untertan zugleich.

Von hier aus ist auch die Lehre der evangelischen Konfessionen zu diesem Problem zu berichtigen. Beide erreichen nämlich merkwürdigerweise das Gegen­teil des Gewollten. Dem Kalvinisten ist nichts so wichtig, wie Gott und Mensch unübersteigbar geschieden zu sehen. Gerade dadurch aber kommt er in der So­zialethik zu einer ständigen und anstößigen Vermischung. Dem Lutheraner geht es umgekehrt darum, die Bereiche von Gesetz und Evangelium in ein rechtes positives Verhältnis zu bringen. Aber gerade dadurch wird praktisch für ihn die Spannung aufgelöst und das Geistliche verfällt dem Weltlichen oder wird zu seiner Durchdringung untauglich.

Dem Leser mag es anstößig sein, daß die Lehre der Kirche einen so gewichti­gen Gegenstand so sehr verfehlt. Durch die ganze Geschichte der Kirche zieht sich als Hauptproblem das ihres Verhältnisses zur Welt. Die einen, die römische und die calvinische Kirche mit allen ihren Abzweigungen folgen deutlich mehr dem jüdischen, die griechische und die lutherische Kirche dem griechischen Typus. Sie zeigen insgemein, daß die Nachfolge nicht die Erfüllung eines höheren menschlichen Ziels, die Schaffung einer idealen Ordnung, sondern eine Geschenk der Gnade ist. „Der christliche Glaube ist”, sagt der Jansenist St. Cyran, „eine Reihe von Gegensätzen, welche durch die Gnade zusammengehalten werden.” Eben darum haben wir keine Lösung im Griff und können sie nicht haben. Den vollen Gegensatz von Gott und Welt, von Kirche und Staat zu tragen, ist eben die verheißene Gnade. Eben sie, nicht unsere Entscheidung gibt uns die Mög­lichkeit dazu, unsere Zwischenexistenz zwischen beiden und zugleich zwischen Auferstehung und Wiederkehr durchzuhalten. Im lutherischen „zugleich ein freier Herr und ein untertäniger Knecht aller Dinge” ist alles in das entschei­dende „und” verlegt. In diesem „Und” alles mit hinreichender Deutlichkeit zu rinden, überfordert den Menschen und eröffnet ihm nicht im notwendigen Maße das Verständnis dessen, worum es geht. Es hat auch nicht ausgereicht, um den Menschen in dem möglichen Maße davor zu bewahren, weit mehr ein unter­täniger Knecht als ein freier Herr der Dinge zu werden. Die Lehre von den zwei Regimenten oder Reichen hat weit mehr trennend gewirkt, wo sie verbinden, vermischend, wo sie trennen sollte.

Es scheint zum Festhalten des rechten Verständnisses unumgänglich, das Pro­blem im Bilde anschaulich zu machen. Nicht die konzentrischen Kreise, die aus einem Zentrum wie aus einer Ursache hervorgehen, sondern das Bild der Ellipse gibt das richtig wieder, worum es geht. Gerade jene Christokratie ist eine Ver­leugnung der Inkarnation, der Tatsache, daß Gott wahrer Mensch geworden, daß die beiden Aeonen sich bis an das Ende der Tage verschlingen und nur durch eine falsche Vorwegnahme der letzten Dinge vorzeitig dieser Spannung entnommen

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werden können. Das Wesen der Inkarnation besteht eben darin, daß Göttliches und Menschliches in einer unbegreiflichen, nicht rationalen, unverfügbaren, aber zugleich leibhaften und geschichtlichen Weise beieinander bleiben.