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Kirchenrechtliche Bemerkungen zum Papsttum

 

Vorbemerkung

Die Aufgabe der Kirchenrechtslehre in der Kirche ist eine dreifache:
1. Sie ist eine systematische Disziplin, welche alles, was in der Kirche geschieht, in der Dimension des Rechtes nachzudenken und kritisch zu prüfen hat. Die Dimension des Rechtes ist der Existenz der Kirche ebenso unablösbar eingestiftet wie der Existenz des Menschen. Denn beide leben in der Geschichte. Sie kann nicht weggedacht werden, so wenig diese Existenz in dieser Dimension aufgeht und daher auch in ihr nicht vollständig dargestellt werden kann. In dem, was in der Kirche geschieht, geht es um nicht weniger als um den Prozeß Gottes mit der Welt. Er wird hier in der zweiten Instanz geführt, bis in der dritten Instanz des Jüngsten Gerichts ein endgültiges Urteil ergeht. Von einem Prozesse Gottes mit der Welt hat etwa Theo Preiss in einer Abhandlung über die Rechtfertigungslehre im Johannes-Evangelium (Evangelische Theologie 1956, S. 289 ff.) gesprochen. Nach Karl Barth (Kirchliche Dogmatik IV, 2 § 67 = „Ordnung der Gemeinde”, München 1955) ist Kirchenrecht sowohl liturgisches wie bekennendes Recht, Recht, welches sich an dem besonderen Geschehen des christlichen Gottesdienstes bildet und dieses vorzugsweise zum Gegenstande hat. Es geht nach seinen Worten schlicht darum, daß es in der Kirche mit rechten Dingen zugeht. Dieser Frage der Legi­timität geistlichen Handelns hat das Kirchenrecht kritisch zu stehen — ihr kann und darf nicht ausgewichen werden. Diese Sicht widerstreitet der Sohmschen These von der Unvereinbarkeit von Kirche und Recht vollkommen. Diese Auffassung ist jedoch schon von der sachlich kompetenten ökumenischen Rechtskonferenz von Treysa 1950 im Konsens aller protestantischen Denominationen verworfen worden. Sie widerstreitet auch der spiritualistischen Konzeption von Günter Holstein von der Zuordnung von Geist-Kirche und Rechtskirche. Sie widerstreitet weiter der Ausbildung einer von der Theologie abgelösten Kirchenrechtslehre und Kanonistik. Der Gedanke vom Zusammen­hang von Liturgie und Kirchenrecht ist der katholischen Kirchenrechtslehre nicht schlecht­hin fremd, aber doch weitgehend verlorengegangen und erregte etwa bei einem Vortrag in Straßburg vor einem Kreise namhafter katholischer Theologen erstauntes Interesse. Die Ablösung der Kanonistik von der Theologie, welche im 12. Jahrhundert mit der Entstehung der Universitäten und einer autonomen Jurisprudenz als Wissenschaft zu­sammenhängt, ist eine der folgenschwersten Entwicklungen, welche zu schweren sach­lichen Mißbildungen führt und wesentlich den Protest der Reformation herausgefordert hat. Sie ist damit einer der bisher nicht ausreichend beachteten Gründe der Kirchen­spaltung.
2. Indem die Kirchenrechtslehre so das Handeln der Kirche rechtlich nachdenkt und kritisch prüft, bildet sie so etwas wie eine Oberrechenkammer. In ihr wird mit anato­mischer Genauigkeit sichtbar, was von der Ideenbewegung der Dogmengeschichte in die verbindliche Lebensgestalt und Wirklichkeit der Kirche übergegangen ist. Syste­matische Theologie und Dogmengeschichte sind allzu sehr versucht, einem Ideenrealismus anheimzufallen, und die sicherlich nicht belanglose Ideengeschichte mit der Geschichte der Kirche selbst zu verwechseln. Das Kirchenrecht zeigt zugleich als Patho­logie die Krankheiten der Kirche an, welche ihr ein falscher Lebenswandel und die Ge­fährdung der Geschichte zugezogen haben.

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3. Die rechtssystematische und rechtsgeschichtliche Sachkunde des Juristen vermag in der Kirchenrechtslehre der Theologie zu Einsichten über die geschichtliche Gestalt der Kirche und ihre Probleme zu verhelfen, zu deren Gewinnung diese allein von ihrem Arbeitsgebiet her außerstande ist und für welche vor allem die Vulgärjurisprudenz akademischer Allgemeinbildung grundsätzlich nicht ausreicht. Dazu gehört freilich eine allzu oft fehlende Achtung und Vorstellung von dem geistigen Gehalt des Rechtes als Lebensform. Man ist bereit, einem Rembrandt oder einem Picasso einen echten Aussage­wert zuzubilligen, nicht aber den großen geistigen Formationen des Rechtes. Man be­nutzt philologisch jedes Erkenntnismittel, weigert sich aber, das gleiche mit der Juris­prudenz und übrigens auch der Soziologie zu tun. Dazu hilft weder die theoretische Anerkennung einer wesentlich neben der Theologie eigengesetzlich herlaufenden Juris­prudenz noch Rechtsscheu und Gesetzesangst.

 

I.

Bei der sachlichen Frage nach der kirchenrechtlichen Begründung des Papst­tums gehe ich aus von dem uns gemeinsamen dogmatischen Bestände der drei ökumenischen Symbole. Wer diese Symbole und mit ihnen Trinitätslehre und altkirchliche Christologie bestreitet, befindet sich nicht auf den Voraussetzungen unseres Gesprächs, aber auch nicht auf demjenigen der Reformation. Sie hat jene Position zur uneingeschränkten Voraussetzung.

Ich folge im Folgenden eine Strecke lang einem Aufsatz „Der Kampf um das Kirchenrecht” aus dem demnächst erscheinenden Sammelband „Um die Katholizität der Kirche” (Evangelisches Verlagswerk Stuttgart).

Die allen rechtgläubigen Christen gemeinsamen altkirchlichen Symbole, ins­besondere das von Nicaea-Konstantinopel (325/381) sprechen von der Kirche als der apostolischen und katholischen. Wir sind gewohnt, diese Be­griffe in erster Linie als theologische Aussagen anzusehen und ihren kirchen­rechtlichen Gehalt dabei beiseite zu lassen, während die römischen Katholiken in weit höherem Maße daraus auch eine solche Beziehung ableiten, aber für die historisch erwachsene Papstkirche von heute die volle Übereinstimmung mit dem altkirchlichen Symbol in Anspruch nehmen. Die professio fidei Tridentina fügt allerdings ein besonderes Bekenntnis zur Oboedienz des römischen Pap­stes hinzu.

Wir werden also ein klares und schlüssiges Bild der Ordnung der alten Kirche gewinnen können, wenn wir nur bereit sind, sie so zu nehmen wie sie ist, sie nicht als eine zufällige Anhäufung von unzusammenhängenden Einzelentschei­dungen angesehen und uns vor allem hüten, sie durch die Eintragung unserer heutigen Rechts- und Sozialvorstellungen zu mißdeuten. Angesichts der unver­meidlichen Bedingtheit unseres Blicks werden wir solche Eintragungen dann am ehesten vermeiden, wenn wir in Übertragung eines Auslegungsgrundsatzes die uns schwerer zugänglichen und fremderen Rechtsvorstellungen als die Wahrscheinlicheren annehmen.

Die Grundzüge der Verfassung der alten Kirche lassen sich unter Ausscheidung nebensächlicher Züge verhältnismäßig einfach aus zwei Hauptgedanken

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und Hauptzügen entwickeln und darstellen, welche die sinngetreue Verwirk­lichung der bekenntnismäßigen Merkmale der Apostolizität und Katholizität enthalten und bedeuten.

1. Die Apostolizität der Kirche stellt sich rechtlich im Missionszusammenhang dar. Zu allen Zeiten, zur Zeit der Apostel wie heute, begründet die Mission auch ein Leitungsrecht. Der Missionar greift mit diskretionärer ungebundener Ent­scheidungsgewalt in die von ihm gegründete Gemeinde ein und muß es auch, weil diese ohne solche Leitung und Korrektur noch nicht in der Lage ist sich zu behaupten, Kinderkrankheiten zu überwinden. Doch ist dies kein Dauerzustand. Die Missionsgemeinde gleicht zunächst einem unmündigen Kinde, das in allem der Leitung und Hilfe bedarf, dann der erwachsenen Tochter mit eigenem Haus­stand, welche aber nicht aufhört, ihrer Mutter, der missionierenden Gemeinde Achtung und Gehorsam zu schulden. Aus diesem Missionsrecht ergeben sich auch die früheren Gliederungen der Christenheit. Cullmann hat darauf hingewiesen, daß Paulus sehr entschieden seine Gemeinde leitet, aber sich ausdrücklich hütet, in die von anderen Aposteln gegründeten Gemeinden einzugreifen. So ist auch die gebietsmäßige Teilung der geschichtlichen Patriarchate als der apostolischen Sitze zu verstehen, über deren Rang, Verhältnis und Befugnisse die ökumeni­schen Conzilen so oft beraten haben, Antiochia, Alexandria, Jerusalem, Rom und ohne apostolische Grundlage dann auch Byzanz. Dieser Traditionsgedanke der geistlichen Abstammung der Filiation ist überall wirksam — durch irgend eine personale Mission muß ja jede Gemeinde einmal entstanden sein, und wo der tatsächliche Zusammenhang aus der Erinnerung verschwunden ist, hält man sich doch an eine der großen berühmten Quellen und Hauptorte. Ähnliche Ver­bandsformen der Filiation finden wir weit später etwa in den Abstammungs­reihen des Cisterzienserordens, der genau unterscheidet, welches Kloster von welchem Kloster gegründet worden ist.

Einen weiteren vergleichbaren Vorgang finden wir in größerer geschichtlicher Nähe in der Verleihung mittelalterlicher Stadtrechte von einer Stadt an die andere, etwa von Magdeburg an Krakau. Auch hier wird eine charismatische Weisheit in bestimmten Sätzen überliefert, welche in einem Rechtsbuch nieder­gelegt sind. Die beliehene Stadt wendet dieses Recht selbständig an. Gerät sie aber in Zweifel, so sucht sie nicht irgendwo Rat, sondern bei der verleihenden Stadt als dem Ursprung und Vorort. Denn es handelt sich bei dieser Rechtsüber­tragung um einen charismatischen Akt, nicht um einen toten Buchstaben; um einen personalen Vorgang, nicht um Zweckfragen.

Hier wird der Unterschied zu unseren heutigen Vorstellungen sichtbar. Es handelt sich bei diesem Verhältnis nicht um die Regierungsgewalt innerhalb eines geschlossenen körperschaftlichen Verbandes, in dem die eine Stadt Haupt­stadt und Regierungssitz darstellt und die übrigen die abhängigen Landstädte im Staatsgebiet; sondern es ist ein Vorortsverhältnis zwischen gleichstrukturier­ten Größen, eine begrenzte ergänzende Leitung. Der rechtsgeschichtlich geschulte Jurist muß mit allem Nachdruck den Kirchenhistoriker auf diesen Unterschied

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und darauf hinweisen, daß alle körperschaftlichen, herrschaftlichen, organologischen und Zweckvorsteliungen diesem Sachverhalt und dieser Struktur nicht entsprechen. Ohne die Berücksichtigung dieser grundlegenden Strukturunterschiede muß die geschichtliche Darstellung schief werden.

In der alten Kirche war die bedeutendste Folge aus dem Leitungsrecht der Vorortsgemeinde das Recht der Bestätigung der kanonisch vollzogenen Bischofs­wahl, welche von dem Bischof (Primas, Patriarchen) der Vorortsgemeinde aus­geübt wurde, welches aber niemals das Wahlrecht von Klerus und Volk der Ge­meinde unter Hinzutritt der Bischöfe der Provinz aufhob. Papst Honorius I etwa hat betont, daß man den Gemeinden das Wahlrecht nicht verkürzen dürfe, über dessen Vollzug in den apostolischen Konstitutionen ein überaus eindrucks­voller Bericht als Anweisung zur rechten Handhabung vorliegt.1

Das Problem des Missionsrecht erscheint noch heute im kanonischen Recht der römischen Kirche in der direkten Leitungsgewalt des römischen Stuhles über die terrae missionis und der Pflicht, aus diesen sobald als möglich und unwiderruf­lich ordentliche Diözesen zu bilden. In der Unaufhebbarkeit des Bischofsamts als solchen ist in dem heutigen System der römischen Kirche ein altkirchlicher Rest enthalten: freilich ist das Bischofsamt aus dem ersten Stande der Kirche der dritte Stand mit sehr reduzierten Rechten und völliger Abhängigkeit ge­worden.

Diese von der Vorstellung eines einheitlichen Körpers deutlich unterschiedene Vorortsorganisation der alten Kirche ist der Ausdruck der Apostolizität der Kirche. Jede Gemeinde leitet sich aus der apostolischen Mission, im konkreten Zusammenhange ab und bleibt in diesem geschichtlichen Nexus.

Die zweite Linie ist die der Katholizität. Sie drückt sich in drei anerkannten Grundsätzen des alten Kirchenrechts aus, welche einander ergänzen und vonein­ander nicht zu trennen sind.
1. Eine jede ekklesia, ob groß oder klein, ob Dorfgemeinde oder ökumeni­sches Konzil steht kraft des ihr verheißenen Geistes — wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind … — für die ganze Kirche.
2. Was die einzelne ekklesia beschließt, ist jedoch nur soweit gültig, als es von den übrigen ekklesien kraft ihren Geistbesitzes als geistgewirkt aner­kannt, aufgenommen, „rezipiert” wird, was nicht in ihrem Belieben steht, sondern eine Frage des Glaubensgehorsams ist.
3. Keine ekklesia kann, sich auf ihren Geistbesitz berufend, für sich allein bestehen, sondern sie bedarf der koinonia, der Gemeinschaft mit der ganzen Kirche, als Abendmahls- und Lehrgemeinschaft, ohne welche sie nicht meinen kann, in der allgemeinen Kirche zu sein. Sie kann also die Frage der rechten Ordnung und der rechten Lehre als eine Frage dei Identität des gleichen Herrn nicht relativieren, nicht hypothetisch auf sich beruhen lassen.


1 Vgl. auch „Altkirchliche und Ev. Kirchenverfassung”.

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Über die grundlegende Bedeutung der koinonia für den Zusammenhang der alten Kirche hat Werner Elert in seinem letzten Buch (Abendmahl und Kirchen­gemeinschaft in der alten Kirche, hauptsächlich des Ostens) sehr ausführlich gehandelt.

Dieses Recht der koinonia, der Teilhabe in und an der einen allgemeinen katholischen Kirche drückt sich konkret in Gewährung und Versagung der Sakra­mentsgemeinschaft aus. Man kann es deshalb, wie jenes andere als Missions­recht, als Sakramentsrecht, als sakramentales Verfassungsrecht bezeichnen.

Diese beiden zentralen Gedanken ergänzen einander, greifen ganz genau in­einander ein. Das Missionsrecht ist gleichsam die Vertikale der Zeit, der Tradi­tion, des Herkommens von einem Ursprung das Sakramentsrecht bildet die Horizontale des gegenwärtigen Raumes der Kirche als der Gemeinschaft aller Ekklesien. Diese beiden Pfeiler stützen und tragen einander wie zwei Arme eines Kreuzes. Fällt einer von ihnen weg oder wird er wesentlich verkürzt, so wird das Ganze zerstört. Beide sind aber nicht aus einem abstrakten Prinzip ab­geleitet, als Ordnungsgedanken von einem genialen Gesetzgeber konstruiert und dann verwirklicht, sondern sie entstammen dem lebendigen Vorgang der Mission wie der sakramentalen Gemeinschaft der Christenheit.

Was sich hier bildet und vollzieht, ist echtes geistliches, pneumatisches Recht. Es beruht auf dem Glauben, daß in der geschichtlich-einmaligen gründenden Überlieferung des Evangeliums wie in der ständigen Aktualität des Sakraments ein wirkliches mächtiges Geschehen von scheidender und bindender Kraft sich vollzogen hat und immer noch weiter vollzieht. Aber es ist eben pneumatisches Recht. Sein Wesentlichstes liegt nicht in einem durchgängigen handhabbaren Prinzip, sondern gerade in dem Miteinander der sich ergänzenden Vorgänge, darin, daß die Kirche apostolisch und katholisch ist, in dem unverfügbar Gemeinsamen, dem tertium, welches diese beiden gegensätzlichen Momente zu­sammenhält und zur Einheit fügt. Gründende Autorität als Urheberschaft und gegenwärtige Brüderlichkeit treten nicht gegeneinander, sondern wirken zusammen. Der pneumatische Charakter dieses Rechts zeigt sich gerade darin, daß es von der menschlichen Selbstmächtigkeit bedroht und zerstört wird. Diese drückt sich nicht nur in Eigensinn und Eigensucht aus, sondern auch in dem gut­gemeinten Bestreben, es nun gerade ganz richtig und sicher zu handhaben und praktizieren, es aus der Doppclheit eindeutig werden zu lassen. Das geschieht eben dort, wo von beiden Momenten das eine beherrschend, verdrängend her­vortritt, und deshalb in zwei entgegengesetzten Richtungen.

1. Entweder wird die Leitungsgewalt des Missionsrechts so gesteigert, daß das Sakramentsrecht der koinonia, der freien geistgewirkten Annahme dadurch zerstört wird. Aus der Hilfe, Korrektur, Ergänzung wird das ständige Regiment über die nur scheinbar selbständige, in Wahrheit unterworfene Gemeinde. Das bedeutet geistlich gesehen gerade die Aufhebung des Traditionszusammenhangs. Denn die Traditio ist als wirkliches und wirksames Geschehen eben nicht rücknehmbar. Behalte ich die Missionsgemeinde in ständiger völliger ,Abhängigkeit’

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und greife ständig und in allem und jedem ein, so leugne ich, daß sie über­haupt wirkliche Gemeinde ist. Das ist grundsätzlicher reiner Aktualismus, der die Kontinuität aufhebt, und die Wirkung des Geistes ausschließlich oder über­wiegend in der je und je sich ereignenden Entscheidung sieht.

2. Oder aber, das Band wird nicht verkürzt, verengt, zu fest angezogen son­dern zerschnitten. Die Kirche von Neocaesarea hatte z.B. die Kirche von Arme­nien missioniert. Sie nahm daher das Bestätigungsrecht für den Katholikos von Armenien in Anspruch, bis nach Jahrhunderten die armenische Kirche sich von dieser Mutterkirche lossagte, „autokephal” wurde, ihr eigenes, unabgeleitetes Haupt bekam.

Den ersten Weg ist die römische Kirche gegangen, den zweiten die Ostkirche und der Protestantismus. In der römischen Kirche ist das Vatikanische Conzil der Endpunkt der fortschreitenden Ausschaltung der koinonia des Bischofs­amtes, welches wie gesagt aus dem ersten Stande der Kirche zum dritten und letzten verfassungsrechtlich in Erscheinung tretenden Stande geworden ist. Die Gemeinden haben bereits seit der Neuordnung des Papstwahlrechtes ihre ver­fassungsrechtlichen Befugnisse bis auf Rudimente verloren, sie haben keine wesentlichen kirchenrechtliche Subjektstellung in spiritualibus mehr. Nur der Einzelne hat noch ein Recht auf die Spendung der Sakramente — wie denn immer in absoluten Staaten die intermediären Gewalten vernichtet werden und nur noch einzelne, rechtsstaatlich geschützte Untertanen übrig bleiben.

Umgekehrt hat die Ostkirche ihre Einheit zugunsten einer ständigen Ab­lösung autokephaler Kirchen verloren. Der Widerstreit mehrerer Jurisdiktionen und die Schwächung der Primate macht heute und auf lange Sicht das von der ostkirchlichen Kirchenlehre geforderte ökumenische Conzil unmöglich. Die Ost­kirche kann sich zur Rechtfertigung dieses Vorganges auf den von den aposto­lischen Konstitutionen (4. Jahrhundert) bis zum 6. Konzil (sog. Trullanisches Konzil 3. Konstantinopeler 681) formulierten Grundsatz berufen, daß die Bi­schöfe eines Landes sich an ihren Ältesten halten sollen. Aber über der An­wendung dieses Grundsatzes hat sie unter den mächtigen nationalkirchlichen Strömungen ihre wirksame Einheit verloren, welche sich nur noch in der Aner­kennung gewisser Ehrenprimate äußert.

Der Protestantismus vollends hat die konkrete Einheit der Kirche zugunsten fast unübersehbar zahlreicher selbständiger Kirchenkörper zerfallen lassen, er hat in seinem Kirchenrecht keinen die konkrete Einheit fordernden Grundsatz und erkennt von den oben genannten Grundsätzen nur den unter 1) genannten an, nicht aber den dazugehörigen entsprechenden Satz 2, und den Satz 3 nur soweit als es sich um bekenntnismäßig klar bestimmte Gemeinschaften handelt.

Der Verfassung der alten Kirche in ihrer großartigen Einfachheit und monu­mentalen Klarheit, ganz auf das Pneuma gestellt und doch ganz real und kon­kret, gibt uns nun auch Maßstäbe für die Beurteilung der gegenwärtigen Lage des Streites um das Kirchenrecht.

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Wir sehen in dem gegenwärtigen Zustand der getrennten Kirchen die Folgen zweier entgegengesetzter menschlicher Tendenzen und Vereinseitigungen. Die römische Kirche ist den Weg der Heteronomie gegangen, der folgerichtigen Stei­gerung der fremdgesetzlichen Leitungsgewalt, die von keinem Beispruch- und Zustimmungsrecht begrenzt sich zu voller Souveränität erhoben hat. Sie hat die Gemeinschaft der relativ gleichgeordneten Patriarchate ebenso abgeschüttelt wie die Mitwirkung der Bischöfe im ökumenischen Conzil wie vollends alle Rechte der Gemeinde. Sieht man davon ab, daß Rom auch die Mitberechtigung der übrigen apostolischen Stühle ablehnt, so kann man seine Konzeption als extrem und einseitig apostolisch bezeichnen — aber gerade katholisch im ver­fassungsrechtlichen Sinne ist diese Kirche so wie sie ist eben nicht mehr.

Von dieser Sicht her stellt sich die römisch-katholische Kirche entgegen ihrem Namen gerade nicht als katholische, sondern als eine solche dar, in der das Mo­ment der Apostolizität gegenüber dem der Katholizität in einer extremen Weise ausgebildet und vereinseitigt ist. Und zwar in zweifacher Weise: Im Verhältnis der in Anspruch genommenen Nachfolge Petri zu den übrigen Aposteln wie zu der Gemeinde. Die Höhe und Einzigartigkeit, zu welcher die Primatslehre Petrus erhoben hat, verleugnet und verdrängt die biblische Gemeinschaft der Apostel ebenso wie das geschichtliche Zusammenwirken mit Paulus in Rom. So verdammt schon Inocenz X. (1644/55) (Denzinger 1091) die Lehre von der Gemeinschaft beider Apostel in Rom und nimmt ihr die ecclesiologische Bedeutsamkeit, wäh­rend jeder historische Anhalt in Richtung auf Petrus extensiv interpretiert wird. So wird ferner von Pius X. unter den errores orientalium (Denzinger 2147 a) auch die Bestreitung der Monarchie des Papsttums verdammt, und damit unter bedenklicher Einführung dieses staatsrechtlichen Begriffs die altkirchlich-ost­kirchliche Konzeption der Gemeinschaft der Apostel und der ihnen nachfolgen­den geschichtlichen Patriarchate ausdrücklich abgelehnt. Sodann ist längst die Gemeinde jeder nennenswerten aktiven Mitwirkungsrechte, welche sie im ersten Jahrtausend unbestritten besaß, zu Gunsten eines aufgeklärten, rechtsstaatlichen Absolutismus beraubt.

So stellt sich der Rechtsgeschichte der römischen Kirche als die fortschreitende Eliminierung aller zusammenwirkenden Verfassungselemente dar. Klerus und Volk werden ihres Wahlrechts entkleidet. Die Gemeinschaft der Bischöfe, ehe­mals Hauptteil und Kern der Kirchenverfassung, wird zu einem lediglich beratenden Gremium, dessen Votum ausdrücklich jede konstitutive Bedeutung abge­sprochen wird. Auch das Kardinalskollegium, welches die Rechte von Klerus und Volk von Rom geerbt hat, wird fortschreitend der Mitregierung zu Gunsten einer Beschränkung auf die Beratung beraubt. An die Stelle eines geistlichen Kosmos ist ein rationales, deduktives Prinzip getreten, aus dem alles abgeleitet wird. Dieses Zentralprinzip ist universalistisch, aber eben deswegen nicht uni­versal, weil es ein Prinzip ist. Universal wäre es, wenn es eben auch die parti­kularen Momente wirklich zur Auswirkung zu bringen vermöchte, statt sie zu verdrängen. So geht es mit jedem Prinzip. Eben deswegen ist der Partikularismus

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nicht die Gewährleistung der Besonderheit im Ganzen, sondern wieder ein all­gemeingültiges Prinzip der Vereinzelung. Hätten wir lauter Politiker im Stile der Bayernpartei, so würden wir nicht ein föderales Gemeinwesen, sondern überhaupt keinen Bund haben.

Die orthodoxen und protestantischen Kirchen gleichen Wanderern, die sich bescheiden durch die Niederung vorwärtskämpfen und auf diesem dornenvollen Wege auch auf Seitenwege geraten sind, von denen sie hoffen können, mit der gnädigen Hilfe des Geistes unter redlicher Anstrengung wieder auf die feste und gerade Straße zu kommen. Die römische Kirche gleicht einem Bergsteiger, der sich immer an die harte, wenn auch unfruchtbare Bergseite des Gesetzes ge­halten hat, der sich aber schließlich auf die höchsten Schroffen verstiegen hat und nun nicht weiß, wie er wieder herunterkommen soll, ohne sich den Hals zu brechen oder wenigstens das Gesicht zu verlieren. Denn die Kunst des Bergstei­gens ist es mindestens ebenso, wieder hinunterzukommen wie herauf.

 

II.

Der nächste Gesichtspunkt unserer Prüfung ist die Frage, ob das Papsttum mit seinem universalen Anspruch jemals zu allgemeiner kirchenrechtlicher An­erkennung gekommen ist. Das ist für das erste Jahrtausend bis zum großen Schisma von 1054 schon deswegen zu verneinen, weil bis dahin die altkirch­liche Patriarchatsordnung anerkannt war. Solange diese bestand, war es relativ gleichgültig, wie der einzelne Patriarch, so auch derjenige von Rom von sich aus einseitig seine Ansprüche interpretierte. Die Kirchengeschichte hat sich für die Einheit der Kirche extrem ungünstig entwickelt, weil die drei orientalischen Patriarchate durch den Einbruch des Islam völlig entkräftet wurden und die geistesmächtige afrikanische Kirche vollends vernichtet wurde. Dadurch wurde die Einheit der Kirche im wesentlichen auf die am schwersten zu stabilisierende soziologische Struktur, die Partnerschaft zweier Größen von gleichem Gewicht gestellt.

Daß der Primat im Sinne Roms nicht anerkannt wurde, zeigt sich am deutlichsten in der Haltung des Patriarchen von Byzanz. Es handelt sich bekanntlich gar nicht um einen einzigen Bruch zwischen beiden Teilen der Kirche. Vielmehr hat es im 9. und 10. Jahrhundert wiederholte Trennungen gegeben, die ebenso oft mit Mühe wieder beseitigt wurden, um im Jahre 1054 endgültig zu werden. Die Ostkirche hat hier sich immer als ein gleichberechtigter Partner gefühlt, der tat, was er für notwendig hielt, ohne sich grundsätzlich vom Votum des Anderen abhängig zu machen. Ob sich im Jahre 1054 der Kardinal von Lothringen be­sonders schroff und herausfordernd benommen hat, ob die Vollmachten der Legation infolge des zwischenzeitlichen Todes des Papstes erloschen waren, ist gegenüber dieser weltgeschichtlichen Entwicklung von äußerst geringem In­teresse.

Der Primat hat dann also eine Anerkennung nur in der lateinischen Partikularkirche erlangt, aber selbst dies gilt nicht uneingeschränkt. Das deutsche

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Kaisertum hat mehr als einmal das Papsttum aus unwürdigen Abhängigkeiten und geistlichem Verfall befreit, aus dem es sich selbst nicht herauszuarbeiten ver­mochte. Sobald es sich wieder erhoben hatte, steigerte es seine Ansprüche zu theokratischer Höhe und geriet alsbald in Konflikte mit dem Reich. Diese zer­störenden Kämpfe sind meist als solche zwischen geistlicher und weltlicher Ge­walt verstanden und in der Geschichtsschreibung interpretiert worden. Aber das ist doch nur eine Seite. Die katholische Geschichtsschreibung hat meist ebenso einseitig zugunsten der Kirche, wie die protestantische zugunsten des Reichs Stellung genommen. Wir sehen heute gerechter ein, daß die Kirche nicht dauernd in dem Sinne und Maße Reichskirche bleiben konnte, wie es durch die Ottonische Reichsverfassung gegeben war. Auch das feudale germanische Eigenkirchenrecht ist keine Form, in der die Kirche leben konnte. Aber auch die katholische Staatslehre ist von den Leitungsansprüchen der Kirche über den Staat, mit denen zuletzt Bonifaz VIII. gescheitert ist, zurückgekommen und hat sie, besonders durch Leo XIII., wesentlich eingeschränkt. Das Reich, dessen Oberhaupt kraft Salbung Diakon der Kirche war, war jedoch zugleich so sehr eine geistliche Größe, daß in seinem Widerspruch gegen die Ansprüche des Papsttums zugleich ein solcher des seiner aktiven Verfassungsrechte entkleideten Kirchenvolks deutlich zum Ausdruck kam. Diese innerkirchliche Laienbewegung ist durch das ganze Mittelalter nicht zur Ruhe gekommen, sie hat sich in der Konzilsbewe­gung des 15. Jahrhunderts ohne Erfolg reformistisch ausgeprägt und ist dann in der Reformation revolutionär zum Ausbruch gekommen, eben weil die Reform­bewegung nicht zum Ziele gekommen war. Die Monarchie des Papsttums ist geschichtlich außerstande gewesen, das Verfassungsproblem der Kirche konstruk­tiv zu lösen — sowohl territorial wie funktional —, nachdem einmal die Verfas­sung der alten Kirche zerschlagen war. An die Stelle der Lösung trat die Ver­nichtung aller konkurrierenden Verfassungselemente — aber schließlich doch nur dadurch, daß an die Stelle der Gesamtkirche im Prozeß der Konfessionalisierung eine päpstliche Kirchenpartei trat.

Es bleibt übrig nachzutragen, daß die beiden Unionen mit der griechischen Kirche in Lyon 1274 und Florenz 1439 nicht zum Ziele geführt haben, weil diese kirchenpolitischen Aktionen, wie die Orthodoxen mit Recht bemerken, nicht vom echten Consensus ecclesiae getragen waren und damit sowohl der tatsächlichen Wirksamkeit wie der kirchenrechtlichen Verbindlichkeit entbehrten.

 

III.

An dieser Stelle drängt sich die Frage nach den sog. außertheologischen Fak­toren auf, welche in unserem Problem mitspielen. Diese Fragen spielen heute bekanntlich in der ökumenischen Bewegung, aber auch allgemein in der sozio­logischen Betrachtung der Kirche eine Rolle. Aber sie haben zwei Seiten. Einmal handelt es sich um die Umwelteinflüsse, welche die Kirche in ständigem Wechsel wie ein Chamäleon aufnimmt, sodann aber um die soziologische Entwicklung des Kontinuums der Kirche selbst. Denn so interessant die Fähigkeit des Chamäleons

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ist, sich der Umgebung anzupassen, so wird es doch durch die Farben nicht definiert, die es annimmt.

Betrachten wir zunächst die erstere Seite. Der römischen Kirche ist oft vorge­worfen worden, sie setze die imperiale Tradition des Römertums fort und sei gleichsam in die Hülle dieses vergangenen Gemeinwesens hineingeschlüpft. Das scheint mir zu einseitig. Die römisch-latinische Völkergruppe zeichnet sich von den übrigen indogermanischen Völkern dadurch aus, daß in ihr der patriarchale Zug in Rechtsdenken und Sozialstruktur ganz außergewöhnlich stark ausge­prägt ist. Der römische paterfamilias ist ein König über Frau, Kinder, Gesinde, in strenger Rechtsform, aber in dieser Vollgewalt gänzlich unumschränkt. So auch der König selbst und noch der republikanische Consul. Liest man die ältere römische Verfassungsgeschichte, die Ausgestaltung des Königsamts, die Re­gelung der Königswahl und des Interregnums, so fühlt man sich unwillkürlich über Jahrtausende hinweg an das Papstrecht, an Konklaveordnung und Kardi­nalskollegium erinnert. Von sehr tiefen Ursprüngen her haben die romanischen Völker die leidenschaftliche Bereitschaft, sich einer so scharf ausgeprägten väterlichen Gewalt anheimzugeben; gleichzeitig damit ist aber nirgends die außerrechtliche Stellung der Frau als Familienmutter wie auch in anderen Be­zügen gleich stark als eine Art Gegengewicht ausgeprägt. Die anderen europä­ischen Völker haben zwar sämtlich entschieden patriarchale Lebensordnungen, aber nirgends in dieser harten Form, und deshalb wohl auch nicht das Bedürfnis eines solchen Ausgleichs. Diese patriarchale Struktur erzeugt ein überaus wirk­sames historisches Kraftgefälle.

Ein zweites Moment des römischen Rechtsdenkens ist sein Zentralismus, der fast völlige Mangel an Elementen genossenschaftlicher Selbstverwaltung. An diesem Mangel, der nur langsam und schwach ausgeglichen wurde, ist fast das römische Reich zu Grunde gegangen. Aber von daher haben die romanischen Völker bis heute eine Tendenz zum Zentralismus und eine vollkommene Verständnislosigkeit für alle Formen der Autonomie und der Genossenschaft mit­bekommen.

Erst in dritter Linie wird das Erbe Roms durch die imperiale Tradition be­zeichnet. Aber diese ist nicht einfach eine solche weltlichen Regiments. Ethelbert Stauffer hat vielleicht mit einiger Übertreibung, aber sichtlich nicht ohne Recht den chiliastischen, pseudo-eschatologischen Zug des Cäsarentums herausgear­beitet. Theologisch geurteilt wäre dies also verderbtes Evangelium, nicht ver­derbtes Gesetz.

Diese drei Momente zusammen bezeichnen erst das geistige Erbe, welches Rom dem Abendland hinterlassen hat und welches von der römischen Kirche ge­tragen wird. Das ist besonders kritisch und gefährlich für die Einheit der Kirche gerade dadurch geworden, daß in der scholastischen Philosophie ein zentralistischer Universalismus in eine zeitlose philosophische Allgemeingültigkeit ge­kleidet wurde, welche die darin enthaltene geschichtliche Kontingenz verbirgt. Neben dieser großen römischen Rechtstradition leben nun aber im Bereich der

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christlichen Völker ganz andere Traditionen: das genossenschaftliche Denken der germanischen Völker, das Gemeinschaftsdenken des Ostens. Wenn ich darauf hinweise, so vertrete ich damit weder eine relativierende Branchtheorie noch erst recht ein Nationalkirchentum. Ich bin ein leidenschaftlicher Gegner des Staat- und Landeskirchentums. Aber gerade das nötigt darauf hinzuweisen, daß die Einheit der Kirche weit genug sein muß, um diese Traditionen so zu umfas­sen, wie sie die römische einbegriffen hat. Die romanitas umfaßt weder die humanitas noch die christianitas. Die grundsätzlich richtige Erklärung, daß sich die Kirche mit keiner Kultur identifiziere, ist gegenstandslos angesichts der Tat­sache, daß das Rechts- und Ordnungssystem der römischen Kirche und der Stil ihres Denkens in einem solchen Maße von der romanitas geprägt ist, daß ihre Träger dies noch nicht einmal zu bemerken imstande sind.

Nun wird darauf hingewiesen, daß der gegenwärtige Codex juris canonici nur für die lateinische Kirche gelte und die Arbeiten am codex orientalis im Gange seien. Man sei bereit, der Tradition der Ostkirche Raum zu geben. Das ist grundsätzlich und praktisch problematisch. Das pneumatische Recht der alten Kirche, welches in der orthodoxen Tradition relativ am reinsten aufbewahrt wird, widerstreitet der Systematisierung und Codifikation. Beides bedeutet grundsätzlich immer und in jedem Rechtssystem einen geistigen Strukturwandel. Die darin liegende Rationalisierung scheidet regelmäßig wesentliche Dinge aus und stellt das Verbleibende durch den Vorgang der Deduktion als rationale Inversion auf den Kopf. Man sieht das sehr deutlich in dem einzigen in deutscher Sprache vorhandenen orthodoxen Kirchenrechtswerk des Bischofs Milasch v. Zara. Wo immer er in den Definitionsstil der lateinischen Kanonistik übergeht, verändert sich deutlich auch der geistige Gehalt. Auch praktisch stößt sich immer wieder der Universalepiskopat mit dem altkirchlichen Wahlrecht. Im entschei­denden Moment finden sich immer Gründe, um das Letztere auszuschalten, wie kürzlich bei der Neuwahl des unierten maronitischen Patriarchen, dessen Be­stellung durch Rom unter Übergehung der Bischofssynode auch in deutschen katholischen Kreisen Kritik ausgelöst hat (Zeitschrift Michael). Der Ausnahme­fall ist von jeher der Hebel zur Beseitigung der regelmäßigen Ordnung gewesen. Der geschichtliche Weg der Unionen war aus diesem Grunde oftmals ein Leidens­weg. Vor allem aber hat sich die römische Kirche in diesen Unionen noch nie­mals einem wirklich großen Kirchenkörper von tatsächlichem Gewicht gegenübergesehen, mit dem sie sich hätte abfinden müssen.

 

IV.

Zu den uns gemeinsamen Dingen gehört neben den altkirchlichen Symbolen auch in begrenztem Maße die kirchenrechtliche Terminologie. Melanchthon hat mit Recht in der Apologie die Unterscheidung von potestas jurisdictionis und potestas ordinis übernommen. Diese ist in der Sache, d.h. in der Grundstruk­tur geistlichen Handelns begründet. Dieses ist immer zugleich Absage und Zusage, Scheidung und Zuordnung, Lösen und Binden. Es ist abrenuntiatio und

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Exorcismus auf der einen, Inkorporation in den Leib Christi auf der anderen Seite. Dem entspricht jene Doppelstruktur auch der kirchenrechtlichen Terminologie. Jurisdictio ist begrifflich Entscheidung über die Angezeigtheit geistlichen Handelns, ordinatio ist dieses positiv zuordnende instituierende Handeln allgemein, nicht nur im Hinblick auf das Amt. Jurisdictio ist damit immer die Abweisung fremder Ansprüche der Welt im strengen theologischen Sinne. Damit sind aber beide streng und notwendig aufeinander bezogen. Nur wer über das angezeigte Handeln zu entscheiden berufen und befähigt ist, kann handeln. Ich sehe einen Verlust des zentralen theologischen Sinnes dieser Struktur in der Auffassung, daß beides als zwei getrennte Gewalten je für sich gehand­habt werden können. Es ist deshalb nicht sachgemäß, daß der Generalvikar nur Jurisdiktion übt, aber nicht ordinatorisch handelt. Der Weihbischof kann an­dererseits den ordentlichen Bischof vertreten, weil er als Bischof eben auch Jurisdiktion hat. Eine weitere unsachgemäße Begriffstrennung ist die Aufspal­tung der Jurisdiktion in eine jeweilig besondere Leitungs- und Lehrgewalt. Ich habe mit größtem Interesse von Prof. Mörsdorf gehört, daß diese Unterschei­dung aus der protestantischen-rationalistischen Kirchenrechtstheorie des 18. Jahrhunderts stammt, welche in die katholische Kanonistik übergegangen ist. Dieser Rationalismus war daran interessiert, die Lehrgewalt als das opus pro­prium der Kirche von der Leitungsgewalt zu trennen, um die Letztere dem Staat überlassen zu können. Die sakramentale Dimension der Kirche war hier ohne­hin völlig verlorengegangen. Für unser Problem wird an dieser Aufspaltung noch einmal die verhängnisvolle Ablösung der Kirchenrechtstheorie vom geist­lichen Vollzüge deutlich, welche wie schon erwähnt, mit der Ablösung des Kir­chenrechts von der Theologie und der Entstehung der autonomen Rechtswissen­schaft beginnt. Damit wird die Ausbildung einer in sich geschlossenen Rechts­systematik des Kirchenrechts im Sinne des Körperschaftsrechts möglich, welches aber die geistliche Struktur der Kirche selbst nicht mehr widerspiegelt, sondern nur noch objektivierend zum Gegenstand hat. Dabei geht der pneumatische Sinngehalt weitgehend verloren und die Rechtsstruktur der Kirche tritt in Ana­logie zum Staate und anderen weltlichen Rechtskörpern.

Nun gibt es aber bis heute nach der Lehre der historischen Kirchen nur drei Stufen des ordo, den Diakon, Presbyter und Bischof. Ob sich der Bischof selbst qua ordo vom Presbyter unterscheidet, ist bis heute nicht geklärt. Es ist, worauf Seeberg hingewiesen hat, besonders auf dem Trienter Konzil lebhaft erörtert, aber nicht entschieden worden. Auf alle Fälle gibt es einen höheren ordo als den des Bischofs nicht. Es gibt deshalb auch keine Ordination vom Papst. Der An­spruch des Papsttums nach dem gegenwärtigen Rechtsbestande der römischen Kirche geht auf einen unbeschränkten Jurisdiktionsprimat. Das bedeutet eine vollkommene Disproportion zwischen potestas jurisdictionis und potestas ordi­nis. Das gegenwärtige Papsttum und die römische Kirche gleichen einem hoch­gewachsenen Manne, dessen eine Schulter in einer gewaltsamen Verzerrung bis zur Groteske hochgezogen ist, während die andere normale Formen zeigt. Man

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fühlt sich an das Wort der Schrift erinnert: Wer ist aber, der seiner Länge eine Elle zusetzen könnte? Es ist vielleicht kein orthodoxer Gedanke, daß wir vor dem Jüngsten Gericht nach unserem geistlichen Sein so erscheinen, wie wir uns durch unsere Sünden selbst verunstaltet haben, ein Gedanke, von dem etwas in Wildes Dorian Grey erscheint. Es ist mir die Frage, ob eine der vorfindlichen Kirchen als Ganzes betrachtet bei der Musterung für die himmlische Bundes­wehr den Tauglichkeitsgrad I, „brauchbar für alle Waffen” erhalten würde.

Von hieraus stellen sich weitere kritische Fragen. Als das vatikanische Konzil tagte und Bischof Kettler kniefällig Pius IX. bat von der Verkündigung des Un­fehlbarkeitsdogmas Abstand zu nehmen, wurde gegen die vielfachen Bedenken geltend gemacht, dieses sei nur die ultima ratio, um in jedem möglichen Lehr­streit unbedingt entscheidungsfähig zu sein; dieses zweischneidige Schwert werde kaum gebraucht werden. Die nächsten 80 Jahre schienen dem Recht zu geben. Aber schon die erste Anwendung des neuen Dogmas bedeutet nun nicht mehr die ultima ratio, sondern die Unfehlbarkeit wurde zu einer prima ratio, zur Grundlage einer wesentlich spekulativen Dogmenbildung. Ein zwingender An­laß zur Entscheidung bestand überhaupt nicht. Die Orthodoxen bestritten den Gedanken zumeist nicht, sahen aber keinen Anlaß, eine Aussage zu dogmatisieren, für die in der Heiligen Schrift nicht der mindeste Anhalt besteht. In der ganzen übrigen christlichen und nichtchristlichen Welt war niemand an der Frage interessiert. Niemand behauptete sie, niemand bestritt sie. Die necessitas confitendi fehlte vollkommen. Auf der höchsten Spitze des Jurisdiktionsprimats zeigt sich ein wahrhaft Hegelscher dialektischer Umschlag. Aus der normativen Dogmatik, welche biblischen Aussagen durch begriffliche Umschreibungen dar­zustellen unternimmt, wird eine Art existenzialistischer Selbstinterpretation. Denn mit der Erhöhung der Mutter Gottes ist ja typologisch die Kirche immer mit gemeint. Unter Wahrung der überlieferten Formen dogmatischer Definition wird der Übergang in eine völlig neue Denk- und Aussageform vollzogen. Des­halb bleibt eine Kritik daran im Stile der bisherigen Kontroverstheologie offen­sichtlich hinter dem rechten Verständnis dieses Tatbestandes weit zurück. Es spricht manches dafür, daß die normativ definierende Dogmatik heute ange­sichts der exegetischen Erkenntnisse und der erkenntnistheoretischen Lage an der Grenze ihrer Aussagemöglichkeiten angelangt ist. Deswegen scheint die Dogmatik von neuem in die Nähe der doxologischen Aussage zu rücken. Es han­delt sich dann darum, welche Prädikate im gottesdienstlichen Vollzuge in der Anrufung Gottes geboten und zulässig sind, wie denn schon die altkirchlichen Bekenntnisse eine Art heilsgeschichtliche Identitätsbeschreibung für die heilige Trinität sind. Wilhelm Maurer hat schon 1940 in seinem Buch „Bekenntnis und Sakrament” darauf hingewiesen, daß das Bekenntnis nicht aus apologetischen Motiven, sondern als Homologie und Doxologie entstanden ist. Damit ver­schiebt sich die bisherige Kontroverse von der expliziten Dogmatik in das litur­gische Handeln. Aus einem Lehrstreit wird ein Agendenstreit, ein Vorgang, für

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den sich innerhalb des Protestantismus deutliche Parallelen finden. Mit dieser Methodenverschiebung sind wir uns freilich nicht nähergekommen. Aber wir müssen nach wie vor geltend machen, daß mit der professio fidei Tridentina zum Papsttum und dem aus ihrer inneren Entwicklung hervorgegangenen Marianismus als Selbstdarstellung der Kirche die strenge Exklusivität der trinitarischcn Offenbarung gesprengt ist. Das wäre eine fundamentale Verletzung des ersten Gebotes.

Jene durchgängige Disproportion, welche sich in allen Bereichen der Kirche durch die Ausbildung des Papsttums zeigt, erweist sich auch durch ein weiteres Moment, welches ich hier mehr als Frage denn als These darstellen möchte.

Prof. Schmaus hat als Merkmal für die vorvatikanischen Kathedralentschei­dungen die Verwendung einer bestimmten Form in der Schlußformel bezeichnet und bemerkenswerterweise gerade die Bulle „Unam sanctam” von 1302 als eine solche Entscheidung (wenn auch wohl nicht in ihrem vollen Text) genannt. Nun ist gerade mit dieser Entscheidung das Papsttum unzweifelhaft geschichtlich gescheitert. Ihr Inhalt ist von Leo XIII. wesentlich eingeschränkt worden. Wenn die genannte Bulle Kathedralentscheidung ist, dann heißt das, daß eine wirk­liche Bindung an das Dogma nicht vorliegt. Ein größerer Spielraum im Rahmen eines Problems ist nicht denkbar. Das bedeutet, daß Zweckmäßigkeit und Op­portunität in einem wesentlichen Umfange den Lehrgehalt bestimmen. Auch das Assumptionsdogma ist ja neben jener Selbstinterpretation in einer für den Nichtkatholiken vollkommen unverständlichen Weise mit der Zweckerwägung begründet worden, daß dadurch dem Materialismus gewehrt werde.

Wie aber kommt nun eine Kathedralentscheidung zustande? Wenn der Papst für angezeigt hält, eine solche zu erlassen und eine bestimmte Form für eine be­grenzte Aussage wählt. Es wäre, wie mir scheint, theologisch fast leichter ge­wesen, die Unfehlbarkeit des Papstes für alle seine Lehren zu begründen, als diese gerade auf einen so ausgegrenzten Akt zu beschränken. Lehrentscheidung ist Akt der Jurisdiktion, ist Entscheidung. Dieser Akt der Entscheidung aber wird vollzogen durch eine Intention, durch ein intentionales Handeln in einer bestimmten Form auf eine bestimmte Form. Mit einer Intention ist aber in diese Vorstellung eine sakramentale Struktur eingeführt. Sakramental kann wohl das Segenswort sein, dann vor allem aber die von Gott hierzu bestimmten und abbildfähig gemachten Elemente des Wassers, Brotes, Weines, als ein Sein, nicht aber der rationale Lehrbegriff. Versteht man diesen aber im Sinne des Obengesagten doxologisch, so ist die Verwirrung erst recht offenbar: die sakra­mentale Gabe geht von Gott zu dem Menschen, der doxologische Lobpreis vom Menschen zu Gott. Hier wird eine metabasis eis allo genos und zugleich eine völlige Vermengung der Begriffe, Handlungen und Rollen deutlich, welche als Konsequenz aus dem Irrtum der Unfehlbarkeit stammt. Ich kenne keine Darstellung, welche sich diesen Fragen stellt.

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V.

Wie ich eingangs sagte, besteht der Beitrag des Juristen auch darin, daß er auf rechtsgeschichtliche Strukturen hinweist, welche dem Theologen durch die we­sentlich philologische und begriffsgeschichtliche Exegese nicht oder nicht in hin­reichender Klarheit zugänglich sind. Die Erforschung der Urkirche hat sich viele Mühe gegeben festzustellen, wie viele Lebensformen durch die jüdische und griechische Umwelt bestimmt sind. Der jüdische Begriff des Schaliach, das griechische Vereinsrecht haben hier eine Rolle gespielt. Der Ertrag ist dennoch im ganzen recht gering. In der Mitte der Zeit ist mit der Erscheinung Christi und seiner Verkündigung eine elementare neue Kraft hervorgetreten, ein neuer Einsatz erfolgt. Wie eine starke Quelle, die schon bald einen Strom bildet, bricht die neue Gemeinschaft hervor. Sie reißt Gräser, Erde, Steine aus ihrer Umgebung mit sich. Aber niemand wird ihr Wesentliches darin erblicken wollen. Diese unverwechselbare Eigenstruktur, die höchstens in einzelnen Punkten, nicht aber im Ganzen etwas Vergleichbares im Rechtsgefüge des ersten Jahrtau­sends hat, weder im Vergehenden römischen Reich noch in den aufsteigenden jungen Völkern, hat die Kirche durch das ganze erste Jahrtausend durchge­halten. Ein positivistischer Kirchenrechtshistoriker wie Erich Feine unterscheidet, seinem Schwiegervater Ulrich Stutz treu folgend, Perioden des römisch wie des germanisch geprägten Kirchenrechts. Aber darüber geht der Blick für das un­zweifelhaft Eigene der Kirche, ihr Durchhaltendes, verloren. Die Grundzüge der altkirchlichen Ordnung habe ich schon dargestellt. Es ist eine pneumatische, nicht systematisierte und rationalisierte, aber nicht destoweniger sinnvolle Ein­heit von Grundsätzen und ein Gefüge von erstaunlicher Großartigkeit der frei gewachsenen, von keinem Menschen geplanten Konzeption.

Olof Linton hat in seiner wichtigen Schrift über den Stand der Erforschung der Urkirche 1932 nachgewiesen, daß die Forschungen des 19. Jahrhunderts in ihrer gemeinsamen Konzeption auf der Eintragung unbiblischer Vorstellungen des 19. Jahrhunderts in den Tatbestand, beruhen. Er sieht mit Recht die kleinen Merkmale der Urkirche in der Struktur der von ihm sog. „ungleichmäßigen Versammlung”. Es ist das der Soziologie wohlbekannte collegium inaequale. Dieses macht einen ersten Schritt der Verwandlung in die Form des sog. colle­gium aequale exclusivum durch, sobald die Gemeinschaft der Bischöfe zu einer ausschließlichen Befugnis kommt. Aber diese Verwandlung hält sich noch wie gezeigt in dem Rahmen des ursprünglichen Ansatzes und sprengt ihn nicht. Erst im 2. Jahrtausend macht das Kirchenrecht eine entscheidende Rationalisierung durch. Rudolf Sohm hat mit unvergleichlicher Stoffkenntnis und dramatischer Darstellungskraft diesen Vorgang in seinem Buch über das Decretum Gratiani und das altkatholische Kirchenrecht geschildert. Die Rationalisierung des Rechts der alten Kirche entsprang dem Bedürfnis der Sicherheit, nach Gewährleistung jederzeitigen Entscheidung. Damit war der Ansatz zur Ausbildung des Souveränitäts- und Körperschaftsbegriffs gegeben. Mit alledem ging die Kirche dem

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Staat weit voraus. Sie hat kein Recht, sich über den souveränen Staat zu beklagen, dessen geistige Grundlagen sie selbst gelegt hat. Aber mit dieser Rationalisierung des Kirchenrechts, die sich auch in großen Kodifikationen ausdrückt, war zugleich eine radikale Verweltlichung verbunden. Gerade die Ab­lösung des Kirchenrechts aus der Theologie entsprang einem radikal spiritualistischen Ansatz. Um sich ein für allemal vor der selbstverschuldeten Abhängig­keit von der Reichsgewalt zu sichern, wurde in der hochmittelalterlichen Re­formkirche radikal das Innen in Gestalt des Klerus gegen das Außen der Welt, nicht nur den Staat, sondern auch den Laien in der Kirche gesetzt. Seither hat aber die verweltlichte, körperschaftliche Kirche alle Probleme der staatlichen Verfassungsgeschichte parallel zu dieser durchgemacht. Die Probleme des Feuda­lismus, der Mitregierung der Stände, die demokratischen Tendenzen des er­wachenden Nationalbewußtseins, die Ausbildung des Absolutismus usf. spielen sich in genau gleicher Weise im Raum der Kirche wie im Bereich der abendlän­dischen Staaten ab. Die rechtliche Struktur ist die gleiche, nur der Gegenstand der Herrschaft ist ein anderer. Die Kirche wird zum Staat. Es steht am Ende le­diglich nicht die Souveränität des Volkes, sondern die analoge des Papstes. Die Reformation hat diesen Tatbestand in der Tiefe erkannt, wenn auch oft mit sehr vordergründigen Argumenten bekämpft. Sie hat nun freilich nicht ver­mocht, aus dieser Entwicklung auszubrechen, sie wirklich zu überwinden. Die lutherische Kirche hat sich entschlossen, den Weinberg des Herrn in Spalier­obst umzuwandeln, in der Annahme, daß der Herr dieses Weinbergs das billigen werde. Sie ist dadurch davon abhängig geworden, daß die Mauern feststehen, an denen diese Spaliere aufgerichtet sind. Sie hat einerseits die Verantwortung für wesentliche Entscheidungen und die rechtliche Existenz auf den Staat abge­wälzt. Soweit sie aber diesen Weg nicht gehen konnte oder wollte, griff sie zu eben so weltlichen Rechtsformen der religiösen Demokratie und des bürgerlichen Vereins.

Das bedeutet, daß die Kirche mit dem ihr gestellten Verfassungsproblem nicht fertig geworden ist. Der Absolutismus des Papsttums beruht wie gezeigt, auf der Verdrängung der übrigen Verfassungselemente. Wie der politische Absolu­tismus (der ja auch durchaus rechtsstaatlich dachte und den Ständen nur die politische, nicht die soziale Position nahm) war der kirchliche Absolutismus außerstande, die Integration der Verfassungselemente zu vollziehen. Ebenso­wenig hat dieser kirchliche zentralistische Einheitsstaat das föderale Problem zu lösen vermocht. Wie in den entsprechenden politischen Bildungen des abso­luten Staates sind die intermediären Gewalten ausgeschaltet. Es ist verwunder­lich, mit wie schwachen Argumenten immer versucht wird, diesen eindeutigen Tatbestand abzuschwächen. Ebensowenig wie die römische Kirche Freiheit und Einheit zu vereinen vermocht hat, so die von Rom getrennten Kirchen Auto­rität und Einheit. Die zerspaltene Kirche bietet ein sehr ähnliches Bild wie die heutige Staatenwelt — Heteronomie und Autonomie finden nicht zusammen.

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Das System der römischen Kirche trägt die Züge des objektiven Idealismus — sie rechtfertigt ja letztlich ihre Entwicklung mit Hegel daraus, daß sie geworden ist. Auf der anderen Seite sehen wir deutlich die Züge des subjektiven Idealis­mus, die Vorstellung, daß der durch das Evangelium zu sich gekommene Mensch über alles in Freiheit verfüge. Diese Lage zeigt, daß hier die Gerechtigkeit der Kirche nicht besser gewesen ist als die der Welt. Die Gestalt des Kirchenrechts ist der unerbittliche Ausweis über das, was sie zu gestalten vermochte. Noch jede Kirche hat das als Recht in Anspruch genommen, was sie als ihren Auftrag ansah, und ihr Recht danach gestaltet. Aber die Kirche hat sich vom Souveräni­tätsbegriff und Souveränitätsanspruch des Menschen überwältigen lassen. Die gespaltene Kirche ist der Schizophrenie der Welt nicht entgangen, ja sie hat wesentlich zu ihr beigetragen. Das ist eine bittere Einsicht.

Aber damit sind wir noch nicht am Ende der Erwägungen. Wir dürfen uns diese Erkenntnis freilich nicht billig machen. Es wäre eine merkwürdige Sache, wenn, wie wir haben andeuten hören, das Papsttum mit unerbittlicher Konsequenz in einem Jahrtausend voller Verdammungsurteile den Gipfel der Unfehlbar­keit und der Universalmonarchie nur deswegen erklommen hätte, um mit mil­dem Verzicht wieder herabzusteigen?! Wozu die Schmerzen alle, welche der Christenheit mit so viel Blut und Tränen bereitet wurden?

Was sich in der Kirchengeschichte vollzieht, ist weder so einfach auf unsere Vorstellung von dem abzurechnen, was sein dürfte und sollte, noch ist es ein­fach unerkennbar. Zu Goethes Zeiten glaubte man nicht, daß nach Pius VI. noch ein Papst gewählt werden würde. Zur gleichen Zeit wurden von den Kan­zeln der Reformation mit den Dogmen der Aufklärung der Nutzen des Kar­toffelbaues verkündigt. Bewegungen, deren wir nicht Herr sind und in denen wir doch höchst wirksam mitarbeiten, haben einen unerwarteten Wandel her­vorgebracht. Aber weder das vollendete System des kanonischen Rechts noch die reine Lehre hatten die Kirche erst einmal vor diesem Verfall bewahrt.

Die Kirchengeschichte gleicht einem Zuge, indem wir sitzen und der auf seiner Strecke durch viele Tunnel führt. In diesen ist es dunkel; aber ist man wieder einmal heraus, ergibt sich auf eine weite Strecke eine veränderte Sicht der Land­schaft. Es ist gewiß, daß die Kirche dauern wird bis ans Ende der Tage, und sie ist kein unfruchtbarer ewiger Jude. Es ist uns aufgegeben, die Einsichten unserer Zeit fruchtbar zu machen. Zu diesen Einsichten gehört in neuer Weise, daß die Verfassung der gespaltenen Kirche einschließlich des Papsttums keine Lösung des Problems der Kirche, ihrer Einheit in Freiheit ist.