Ein Durchdenken des Problems der Hierarchie selbst zeigt also die Kirche im Felde und Zusammenhang der Verfassungsfrage überhaupt. Man kann also nicht einfach Hierarchie als Kirchenverfassung verstehen oder eine Alternative zwischen Hierarchie und (differenzierter) Kirchenverfassung annehmen. Die Hierarchie selbst ist folgerichtig genötigt, sich in ein geklärtes Verhältnis zu den anderen Verfassungselementen zu setzen. Sie würde mit der ihr eingestifteten Rationalität die eigene virtus verfehlen, wenn sie sich dieser Aufgabe entzöge. Hierarchie sieht sich heute einer umfassenden Forderung nach Demokratisierung gegenüber. Eine sachliche, kritische Auseinandersetzung zwischen beiden ist jedoch ungemein vorbelastet und erschwert. Hierarchie erhebt dort, wo sie vorkommt, einen hohen, nicht zu überbietenden Bedeutungsanspruch. Aber sie kommt nicht überall vor, sondern nur in bestimmten Zusammenhängen und unter ebenso bestimmten, erkennbaren Voraussetzungen. Sie kann nicht in der Form naturrechtlicher Argumentation als ein konstitutives Element aller sozialen Ordnung postuliert werden. Sie entsteht und hält sich durch „dann, wenn”. Ihre Stärke liegt nicht in ihrer Eigenschaft als allgemeines Formprinzip, sondern darin, daß ihr gerade in ihrer Partikularität ein einsichtiger Sinn, Lebensfähigkeit und geschichtliche Bedeutsamkeit nicht abgesprochen werden kann. Dem entspricht und das erklärt auch bis zu einem gewissen Grade die Gesprächslage. Die kirchliche Hierarchie in ihren beiden historischen Formen versteht sich streng traditionell und stiftungsmäßig als einzigartig und bietet sich nicht als Modell für weltliche Ordnungen an. Die Soziologie leugnet nicht die Relevanz hierarchischer Phänomene, aber sie hat sich mit ihnen noch nicht auseinandergesetzt. Die theologische wie die weltanschaulich-politische Gegnerschaft
|106|
verweigert ihr die Anerkennung als Gegner — écrasez l’infame. Damit wird auch jede Erörterung ihrer Prämissen und Strukturen sinnlos. Zugleich wird sie heute in der allgemeinen Debatte mit allen übrigen nichthierarchischen Formen von Autorität pauschal zusammengeworfen und dieser ganze Bereich mit dem bisher nur für Entartungsformen verwendeten Begriff des „Autoritären” disqualifiziert. So bringt man den Gegner moralisch um, bevor man sich mit ihm befaßt und mit der beabsichtigte Wirkung, daß man sich gar nicht mehr mit ihm zu befassen braucht.
Nun kann man verstehensbedürftige Fakten ohne Methodenbruch nicht mit Forderungen, Tendenzen und Postulaten auf eine Ebene bringen und vergleichen. Daher hat eine immanente Darstellung von Hierarchie ihr eigenes Recht, unabhängig von jener unvermeidbaren Beziehung zur Forderung der Demokratisierung. Eine methodisch angemessene Ebene der Konfrontation wäre nur dort zu finden, wo die Demokratie-Forderung sich mit ganz bestimmten Strukturen verbände, in ihnen ihren spezifischen Ausdruck sähe. Nun hat die historisch vorfindliche Demokratie sehr vielfältige Gestalten; sie müßte nach Begriff und Formen sorgfältig definiert werden, ehe man sie vergleichen könnte. Als Programmatik einer gegenwärtigen Bewegung hat sie aber keine Tendenz, sich in bestimmten sozialen Formen zu verkörpern, ja sie scheut sich, sich auf solche festzulegen. Auber auch bei einer solchen Programmatik bestände eine tiefgreifende Differenz zwischen deren Subjektivität und der objektiven Bedeutung der entstehenden Formen. So ist etwa im Marxismus gerade das zentrale und historisch wirksame Prinzip des demokratischen Zentralismus programmatisch nicht reflektiert, sondern mit einer gewissen Naivität entstanden, durchgehalten und sogar der kritischen Reflexion entzogen worden.
Ein wesentlicher Berührungspunkt liegt dagegen in der Struktur der Transzendentalität. Die demokratische Bewegung von heute verbindet die Ergebnisse von Historismus, Soziologie und Psychologie zu einer umfassenden Hinterfragung der Subjekte und Objekte zugleich, sie praktiziert also formell transzendentale Kritik. Nun entsteht nach dem Dargelegten Hierarchie, wenn die Existenz von Entscheidungen abhängig wird unter den Bedingungen wie in
|107|
den Formen der Rationalität. Das ist, wie hier noch einmal deutlich wird, in unterschiedlicher Weise der Fall: zeitlich begrenzt im Kriege, kontinuierlich, aber thematisch begrenzt im ökonomischen Wettbewerb, theologisch im Horizont der Eschatologie.
Nun kann hier dreierlei bestritten werden: zuerst das Vorhandensein, d.h. die Sinnhaftigkeit existenzbestimmender Transzendenz, zweitens die Vermittlung oder Wahrnehmung ihres Sinnes durch konkrete Personen (weil deren Bewußtsein durch transzendentalen Schein oder Interessen entfremdet sei), und drittens die rationale Einsichtigkeit selbst partieller Handungszusammenhänge. So erklärt sich leicht die Bestreitung etwa der politischen Selbstbehauptung organisierter Staaten, die Mißachtung auch der elementarsten sozialen Ordnungsformen, die Bekämpfung der sogenannten Leistungsgesellschaft, ja selbst des Sachzwanges begrenzter evident notwendiger Funktionen. Aber als Ergebnis der weitgreifenden Verunsicherung reicht der Rückgang auf die radikale Subjektivität als Individualismus oder Anarchismus nicht weit. Denn der objektive Horizont einer Gesamtexistenz der Menschheit kann offenbar nicht mehr ausgeklammert werden. Darin liegt eine prinzipielle Transzendenz und auch Transsubjektivität. Sie kann unter diesen Voraussetzungen nurmehr nach vorn als eine Art Selbstverwirklichung der Menschheit begriffen werden, sei es theologisch oder säkular. So ersetzt die natürliche Religion des Progresses die natürliche Religion der Tradition, weil immer die lebensbestimmende Sinnerfüllung als absolut verstanden wird. Die negative transzendentale Kritik, die weder auf heilsgeschichtliche Tatsachen noch auf philosophische Postulate im strengen Sinn verweist, führt also zwangsläufig zur Futurologie, theologische zur einseitigen Ausschließlichkeit eschatologischer Interpretation. Alles Vorausliegende und Gegenwärtige tritt unter das umfassende Verdikt des alten Äons, des Gesetzes, das aber auch nicht mehr im Sinne des Römer-Briefs heilig ist. Heilsgeschichte, Geschichte und Welt teilen sich in einer absoluten Scheidung von Gut und Böse in Bisheriges und Zukünftiges, zu Hoffendes, zu Verwirklichendes.
Methodisch ist hier jedoch übersehen worden, daß die transzendentale Kritik unvermeidlich weiter läuft. Wer sie übt, muß
|108|
sich ihr auch unterwerfen. Es ist unerfindlich, warum der Kritiker ein weniger entfremdetes Bewußtsein haben sollte als der Kritisierte. Die Lage ist formell offen, und jeder Gegenstand der Besinnung steht wie das Streitobjekt eines Prozesses zwischen den Parteien und wartet auf das fällige Urteil, auch wenn dieses als Instanz-Urteil nur vorläufige Vollstreckbarkeit erlangen kann.
Der Fortgang der Erwägung kann am ehesten aus der Differenz zwischen der politischen Demokratie und den entsprechenden Problemen der Kirche gewonnen werden. Es ist das Grundprinzip der politischen Demokratie, daß der Wille des Volkes nicht formell hinterfragt werden kann. Eben darin besteht die vielberufene Mündigkeit. Ausgeklammert ist dabei die Frage, wie die nicht verfügbaren, objektiven Gegebenheiten zur Geltung kommen. Die demokratische Entscheidung kann durch Außerachtlassung dieser Gegebenheiten irren. Ein Volk kann politisch oder ökonomisch über seine Verhältnisse leben und bekommt dann die Nackenschläge zu spüren. Im institutionellen Marxismus wird diese Möglichkeit des Irrtums durch die dogmatische Voraussetzung ausgeschaltet, daß die objektive Situation zulänglich aus der geschichtsphilosophischen Interpretation gewonnen werden kann (und daher auch muß) und dann auch gegen die unzulängliche Subjektivität der einzelnen durchgesetzt werden muß. Daher erneut die Ausbildung hierarchischer oder quasihierarchischer Formen. Damit ist Demokratie wieder am Ende, da es nicht gelingt, Subjektivität und Objektivität ohne fundamentalen Widerspruch systematisch gegeneinander zu vermitteln.
Die demokratische Bewegung von heute ist mitbetroffen von der Versuchung zur neohierarchischen Herrschaft militanter Minderheitsgruppen, eine Art Bruder-Räte-Diktatur mit dem Anspruch eines besonderen geschärften Geschichtsbewußtseins, welches gegen die trägen bürgerlichen oder volkskirchlichen Massen durchzusetzen ist.
Die politische Demokratie aller Formen steht heute in einer Aporie, welche R. Smend sehr klar folgendermaßen beschrieben hat:26
26 R. Smend in: Das Problem der Institutionen und der Staat, in: Recht und Institution II, hrsg. von H. Dombois, Forschungen und Berichte 24 (Stuttgart 1969) S. 67/68.
|109|
„Man kann sie dahin bezeichnen, daß es ihr bisher nicht endgültig gelungen ist, aus den Sackgassen der Aufklärung zurückzufinden. Einmal insofern, als sie die aufklärerische Zerstörung der sachgemäßen Sicht der Einordnung des Menschen in die Gemeinschaft, vor allem den Staat, durch die Objektivierung des Gemeinwesens einer-, des Menschen anderseits gegeneinander noch nicht überwunden hat. Dem ethischen Idealismus ist die Rückbildung nicht gelungen. Die zweite noch nicht verlassene Sackgasse ist die der Isolierung der politische Welt und des Staates gegenüber den letzten Ordnungen und Zusammenhängen, einer Isolierung, die endgültig wieder aufzuheben dem objektiven Idealismus nicht gelungen ist.”
An dieser Problematik hat die Kirche insofern teil, als ihr ein geschichtliches Geschehen vorgegeben ist, extra nos et pro nobis, das zwar subjektiv zu ergreifen, aber objektiv ihrer Existenz und der jedes Christen vorausliegt. Zugleich ist dies aber auf endzeitliche Erfüllung angelegt. Diese dialektische Spannung des „noch nicht” und „doch schon” ist eine positive. Sie ist notwendig, denn nur so wird die Verrechnung auf innerweltliche Konzeptionen des Traditionalismus und der Dauer oder des Futurismus und der Wandelbarkeit als Prinzip, das heißt auf natürliche Religion verhindert und ausgeschlossen. Indem sie so das Vorgegebene und das Zukünftige miteinander verbinden muß, darf sie auch nicht in Objektivität und Subjektivität auseinanderbrechen, ohne die Voraussetzung ihres eigenen Lebens preiszugeben. Die politische Welt kann und muß sich in dem Zwang der apolitischen Alternativen entscheiden — faute de mieux — die Kirche darf es nicht. Für die Kirche ist die Frage radikal als Frage der Existenz gestellt. Sie muß die ihr eingestiftete Dialektik durchhalten und in ihr sich bewähren. In dieser Dialektik bewahrt die Hierarchie in scharfer Zuspitzung nur den einen Pol auf — eben darum ist sie dem Begriffe nach nicht das Ganze, nicht das allein Wesentliche der verfaßten Kirche.
Für die Kirche aber sind also beide Wege, die der liberalen Demokratie als Selbstverwirklichung wie der Volksdemokratie als der Vollstreckung objektiver Geschichtserkenntnis ungangbar. Sie ist weder Selbstverwirklichung noch beansprucht sie ein derartiges
|110|
absolutes Geschichtswissen zu besitzen, das dann zu exekutieren ist. Gerade das, was die lateinische Hierarchie am meisten in Verruf gebracht hat, lag und liegt in dieser Richtung.
Prinzipiell kann daher die transzendentale Kritik von Subjekt und Objekt zugleich nicht zur Ersetzung der Autorität durch Freiheit, sondern nur zum Gleichstand von Kritik und Metakritik führen. Mit Recht hat Hampe im Titel seines Konzilsbuches vermieden, Autorität und Freiheit gegeneinander auszuspielen. Da es sich aber nicht um die Auseinandersetzung zweier Subjektivitäten, sondern um Subjekt und Objekt des Glaubens zugleich handelt, sind die Christen unverzichtbar gebunden, in diesem Prozeß wechselseitiger Kritik als eines dialektisches Geschehens beieinander zu verbleiben. Dabei erfordert der Gleichstand von Kritik und Metakritik jedenfalls in der Kirche ein völlig anderes Verhalten, ein sehr viel höheres Maß an freier Disziplin als irgendeine Form von Autorität. So wird die Kirchenordnung zur Prozessordnung dieser Dialektik. Der materiale Dialektik des Heils muß daher die Struktur der Verfassung entsprechen. Dieses prozessuale Geschehen ist nur aufrechtzuerhalten und durchzuhalten, wenn die beiden Partner sich nicht gegenseitig mechanisch zu verdrängen imstande sind, weder durch bloße Überstimmung durch die Masse noch durch irgendwelche Manipulationen. In dieser Unabhängigkeit zweier Partner, zweier Träger wechselseitiger Kritik gewinnt Hierarchie — wie das Amt auch ohne hierarchische Form — einen wesentlich anderen Stellenwert, ohne seine Bedeutung zu verlieren. Sein objektives Gewicht, die Einsicht in seine Notwendigkeit, wird sich eher noch steigern, wenn auch seine formellen Befugnisse ebenso entschieden abnehmen. Einem Bericht über das Holländische Pastoralkonzil war als Motto vorausgeschickt:27
27 „Publik” vom 14. 3. 1970. — Vgl. auch die
folgenden Konzilstexte: „Lumen Gentium”, Kap. 2, Art. 10:
Sacerdotium autem commune fidelium et sacerdotium ministeriale
seu hierarchicum, licet essentia et non gradu tantum differant,
ad invicem tamen ordinantur; unum enim et alterum suo peculiari
modo de uno Christi sacerdotio participant.”
„Apostoliam actuositatem”, Kap. 3, Art. 10: „Utpote participes
muneris Christi sacerdotis, prophetae et regis, laici suas partes
activas habent in Ecclesiae … eorum actio tam necessaria est ut
sine ea ipse pastorum apostolatus plenum suum effectum assequi
plerumque nequeat.”
|111|
„In diesem offenen Dialog, in dem sich Amt und Laien als die eine lernende Kirche vereinigen, um sich zunächst gemeinsam vom Evangelium belehren zu lassen, bekam die geistliche Autorität der Bischöfe eine neue, bisher unbekannte Glaubwürdigkeit.”
Der unscharfe und vollends schon abgegriffene Begriff des Dialogs, der von dem historisch-soziologischen Standort der Beteiligten absieht, reicht jedoch nicht aus, um das dialektische Verhältnis in seinem ganzen Ernst und seiner verpflichtenden Kraft zu beschreiben. In diesem dialektischen Prozeß verlangt die Sache selbst, um die es geht, und die mit der Existenz der Beteiligten identisch ist, daß man auf Grund der geschenkten Vorgegebenheit sich nicht voneinander abtreiben läßt und zur gemeinsamen Entscheidung kommt.
Dieses Verhältnis kann man auch, wie ich es auf dem Hannoverschen Kirchentag versucht habe, als kritische Solidarität beschreiben. Sie ist immer in Gefahr, gesprengt zu werden, da Solidarität versucht ist, unkritisch zu werden, Kritik die Solidarität zu verleugnen. Demokratie ist eine Strecke weit eine Frage des Stils, wie eine jede Zeit ihren sozialen Stil hat. Als Struktur kann sie zulänglich so nicht verstanden werden.
Demokratie als innergeschichtliche Erscheinung ist kein Absolutem, kein neues Evangelium, keine bessere Kirche der Humanität, in der die Kirche aufzugehen hätte, oder der sie umgekehrt zu widerstehen hätte. Auch in der Demokratie ist der Mensch unter dem Gesetz im theologischen Sinne. Vielmehr wird in ihr als dem Ausdruck einer nicht rücknehmbaren Mündigwerdung und damit Selbstverantwortung die Aporie des Menschen selbst sichtbar, in der die Kirche als vorgegebene, geschenkte koinonia eine bessere Gerechtigkeit zu bewähren hat. Das bedeutet für sie selbst einen geschichtlichen Schritt aus einer administrativen Wahrung des depositum fidei in den gemeinsamen Prozeß seiner Neugewinnung und Bewährung.