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Der Begriff der Hierarchie enthält zwei Wortelemente: hierin, das Heilige, und den Stamm „arch-”. Dieser hat zwei Bedeutungsrichtungen: arché ist Ursprung, archein heißt bestimmen, herrschen. Beide Bedeutungen treffen zusammen in dem Gedanken der Maßgeblichkeit des legitimierenden Ursprungs. „-archia” heißt dann ein Gefüge, in dem und durch welches diese vom Ursprung getragene Herrschaft konkrete Gestalt gewinnt. Da das hierin die Grundlage, den Gehalt, den subjektartigen Träger darstellt, gehört Hierarchie in den Erscheinungsbereich der Religion. So sagt Gerardus van der Leeuw:1
„Auch innerhalb der Priesterschaft ist sie (die Macht) bald stärker, bald schwächer. Es gibt Stellen, wo diese Macht gleichsam gestaut vorhanden ist. So entsteht die Hierarchie. Vom Oberhaupt, vom Papst oder Dalai Lama hinunter verbreitet sich die Macht durch die Reihen der Träger des Amtes. Aber sogar die Hierarchie betont wiederum das Unpersönliche, denn ihre Machtfülle ist in jedem Priester anwesend. Auch im geringsten Träger des Priesteramtes lebt der volle Reichtum der Macht, wenn er auch nicht glänzt.”
Hier herrscht nicht der Heilige, sondern das Heilige, aber in einem Sinne, der vor und jenseits der Unterscheidung von Personalität und Unversöhnlichkeit liegt. Hierarchie verkörpert sich gerade typisch und in großer Dichte in Personen. Darin liegt ein Besonderes, ja Anstößiges, ihr eminenter Anspruch. Jedoch ist „vom heiligen Ursprung her legitimierte Herrschaft” noch keine zulängliche Definition von Hierarchie. Das Vorhandensein solcher Herrschaftsgefüge
1 G. van der Leeuw, Phänomenologie der Religion, § 27, Ziff. 3.
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sagt noch nicht genug über das Spezifische ihrer Struktur aus, grenzt sie nicht von verwandten Erscheinungen ab. Nicht nur das „Daß”, sondern auch das „Wie” ist zu klären. Die Monarchie etwa, die ebenfalls auf einen legitimierenden heiligen Ursprung zurückverweist, ist darum noch keineswegs hierarchisch. Hierarchie zeigt sich uns als Phänomen und Problem zuallererst in unserem Beobachtungsfeld als Strukturform der römischen und orientalischen Kirche. Sonstige Formen religiöser Hierarchie sind ungleich schwerer aus dem weiteren Bereich der Religionswissenschaft zu erheben. Wenn ein großer Sachkenner wie van der Leeuw unbefangen die christliche Hierarchie mit der lamaistischen in Vergleich stellt, so ist doch ohne weiteres deutlich, daß zwischen beiden ein bedeutsamer, qualitativer Unterschied besteht. Die rationale und zugleich universale Durchbildung und Ausbreitung der christlichen und dann erst recht der römisch-katholischen Jurisdiktionshierarchie ist wesentlich mehr und enthält ein Moment der Geschichtlichkeit, welches dem Lamaismus fehlt.
Bis heute leben nun mehr als zwei Dritter der Christenheit in solchen Strukturformen. Daher ist es auffällig, daß Hierarchie nur ein sehr geringes Maß an theologischer Reflexion ausgelöst hat. Sie wird im Bereich der historischen, so verfaßten Kirchen in einer Art von unbefangenem Offenbarungspostivismus und Traditionsbewußtsein als vorgegeben angenommen. Dagegen haben einigermaßen vergleichbare Bildungen, wie etwa die apostolische Sukzession der Bischöfe, eine große theologische Literatur ausgelöst. Die Hierarchie hat sich selbst tabuiert. Trotz und wegen der Auseinandersetzungen über Fragen und Formen von Autorität und Macht hat sich kein Theologe herausgefordert gesehen, das von anderen Autoritätsformen sich abhebende proprium der Hierarchie einer ernsthaften Prüfung zu würdigen. Dies erklärt sich zum Teil daraus, daß auf die Hierarchie im religiösen Bereich und hier auf die markanteste und konsequenteste Durchbildung in Gestalt der römischen Kirche allein gesehen wird, so daß das Vergleichsmaterial für ein solches singulare tantum zu fehlen scheint. Ein weiterer Teil dieses Ausfalls erklärt sich daraus, daß die historische Theologie traditionell strukturfremd, die philosophisch-politische Machtkritik aber am Machtproblem im allgemeinen weit mehr als an der Differenzierung
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seiner Erscheinungen interessiert ist. Dementsprechend gehen die Darstellungen in Lehrbüchern und Nachschlagewerken nicht über die bloße Wiedergabe des Vorfindlichen hinaus2. Selbst die in ihrer Ausführlichkeit ziemlich allein dastehende Abhandlung von Barion im Tymbos für Ahlmann versäumt die Gelegenheit, vom Problem der Hierarchie etwas sichtbar zu machen3. Der Protestantismus hat von vornherein Hierarchie als schriftwidrig abgelehnt, aber selbst in der konfessionellen Auseinandersetzung dieses markante Merkmal der anderen Seite keines Argumentes, geschweige denn einer Untersuchung gewürdigt. Allenfalls entspricht dem stillschweigenden Tabu ein traditioneller religiöser Abscheu. Der Grundsatz der Gleichheit der Amtsträger, welcher Hierarchie ausschließt, aber von sehr viel allgemeinerer Bedeutung ist, wird mit kurzer Begründung wie selbstverständlich nachträglich in der Apologie der Confessio Augustana eingeführt4.
Diese Haltung ist, so unbefriedigend sie bleibt, in sich folgerichtig. Die religiöse Hierarchie beruht auf einem Zusammentreffen von historischer Stiftung und religiösem Unbedingtheitsanspruch. Eine kritische Besinnung über Entstehung und damit auch Begrenzung von Hierarchie würde also diesen Bedeutsamkeitsanspruch in Frage stellen. Dazu kann nicht nur aus Machtinteresse, sondern nach der inneren Folgerichtigkeit des Gedankens selbst kein legitimer Anlaß bestehen. Jede Kritik ist ambivalent. Sie kann zur Erhellung immanenter Sinnzusammenhänge führen, diesen Sinngehalt eben dadurch bestätigen und bekräftigen, gegen Mißverständnisse und Mißbildungen zugleich zu ihrem eigenen Nutzen abgrenzen. Sie kann aber auch zur Destruktion ihres Gegenstandes führen. Diese Ambivalenz kann für die Kritik nicht von vornherein ausgeschlossen werden: es ist unzulässig, das Ergebnis vorwegzunehmen.
Aber auch die protestantische Verwerfung setzt sich umgekehrt nicht dem aus, unter sachgerechter Darstellung ihre Kritik schlüssig
2 Zum Beispiel: RGG 3III, S. 313 f. (Barion);
Evangelisches Staatslexikon, S. 701 f. (Mörsdorf); K. Mörsdorf
in: Eichmann-Mörsdorf, Lehrbuch des Kirchenrechts (11) S. 23 ff.;
Art. Hierarchie in: LThK 2V, Sp. 321.
3 H. Barion, Sacra Hierarchia, Die
Führungsordnung der katholischen Kirche, in: Tymbos für Wilhelm
Ahlmann (Berlin 1951) S. 18 ff.
4 Apologie der Augsburger Confession,
Bekenntnis-Schriften der Ev.-Luth. Kirche, S. 489, 61; S. 490, 62
f.
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begründen zu müssen. Auch hier macht sich die Ambivalenz von Kritik bemerkbar. Denn wenn Kritik nicht nur Destruktion eines Phänomens, sondern möglicherweise auch eine mehr oder minder weitgehende Sinnerhellung und Bestätigung eines kritisch untersuchten Phänomens bedeuten kann, so ist schon die Einlassung auf eine explizite Kritik für denjenigen gefährlich, der sich entschlossen hat, ein Phänomen grundsätzlich abzulehnen. Es zeigt sich damit, daß diese ablehnende Kritik im strengen Sinne ein Vorurteil ist, welches nicht wagen kann, sich aus der Sache zu begründen, weil es nicht riskieren kann, den inneren Sinnzusammenhang des kritisierten Gegenstands unverkürzt darzustellen.
Auch die Religionssoziologie hat unserem Thema wenig Interesse zugewendet. Hierarchie wird als eine Form religiöser Machtstrukturen betrachtet, von anderen aber nicht deutlich abgehoben. In dieser Weise hat sie etwa Max Weber in seinem Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft” behandelt5. Die Darstellung steht offenkundig im Horizont bürgerlich-liberaler Religionsphilosophie. Hierarchie und Hierokratie im allgemeinen verfließen ineinander. So werden wir viele, in unseren Erwägungen sich ergebende Beobachtungen auch bei Max Weber wiederfinden, ohne daß bei ihm eine Differenzialdiagnose erreicht wäre.
Mit der Verallgemeinerung des soziologischen Problems verbindet sich ein unausgesprochenes, verdecktes Desinteresse, eine Haltung der Nicht-Betroffenheit. Die religiösen Formen gelten für die, die es angeht, und die analogen säkularen Phänomene haben sozusagen nur einen technischen Wert. Zwischen partikular gewordener Religiosität und sozialer Technologie gibt es keine Vermittlung in der sozialen Existenz selbst, und durch diese Lücke entfernt sich der Betrachter.
Für die Untersuchung messe ich der Tatsache große Bedeutung bei, daß im Sprachgebrauch der Begriff der Hierarchie ohne viele Umstände auch auf gänzlich und im Ursprung säkulare Zusammenhänge Anwendung findet. Im Konsens der Sprache ist freilich immer der Kontext der unausgesprochenen Wertungen, die wir mit dem Begriff verbinden, mit Vorsicht zu berücksichtigen. Wir sprechen
5 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 124 ff., 688 ff.
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etwa von einer militärischen Hierarchie, die in allen modernen Heeren ohne Rücksicht auf das politische System festgehalten wird, vom hierarchischen Aufbau großer Industriekonzerne und nicht weniger auch von einer Funktionärshierarchie in staatstragenden oder Einheits-Parteien. Hierarchische Elemente finden wir im Bereich der Gerichtsverfassung, in dem sogenannten bürokratischen Aufbau der rechtsstaatlichen Staatsanwaltschaften. Das führt zu der weiteren Frage, wieweit im Behördenaufbau der modernen Staaten echte hierarchische Elemente enthalten sind. Nicht je de verbale Bezeichnung als Hierarchie verbürgt, daß ihre Merkmale tatsächlich zu erheben sind. Im Gegenteil. Der Ausbreitung soziologischer Kategorien in der öffentlichen Diskussion entspricht auch eine zunehmende Unschärfe der verwendeten Begriffe.
Methodisch benutze ich hier im Bewußtsein seiner unvermeidlichen Begrenzung das von Max Weber entwickelte Verfahren idealtypischer Darstellung. Ein Typus wird in seiner Struktur herausgestellt, auch wenn er nirgend in der Geschichte so rein verwirklicht worden ist und werden kann. Gleichwohl werden bekanntermaßen auf diese Weise Einsichten möglich, die aus dem Vergleich des Vorfindlichen allein nicht gewonnen werden können, dessen Analyse aber wesentlich befruchten. Bei der Wahl des Idealtypus ist de Betrachter frei. Wenn hier eine historisch relativ späte Erscheinungsform rationalisierter Hierarchie gewählt wurde, so liegt der Nutzen für eine gegenwartsbezogene Betrachtung auf der Hand.
Struktur und Begriff von Hierarchie sind rationalisierbar und formalisierbar in der Übertragung von religiösen Lebensbereichen auf säkulare und zweckhafte Organisationen6. Dabei ist nicht auszuschließen, daß mit dieser Übertragung ein Bedeutungsverlust verbunden ist. Trotzdem versteht sich diese Übertragung keineswegs im gebrochenen, uneigentlichen Sinne, vollends nicht als bloßer Vergleich, dessen Hinken einzurechnen ist. Diese Übertragbarkeit des Begriffs ermöglicht eine Betrachtung, die sich nicht auf verschiedene Spielarten ein und desselben Phänomens auf dem engeren Raume eines einzigen Lebensgebietes, eben der Religion, beschränkt und damit in die Gefahr der Tautologie gerät.
6 So schon M. Weber, aaO., insbes. S. 124 ff.
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Eine anspruchslose Umschreibung der Merkmale erleichtert so den Einstieg, weil sie eine Formalisierung des Grundrisses, eine Schematisierung erlaubt und nahelegt. Ich versuch daher, von der rational einsichtigen Vielfalt säkularer Hierarchien Einsichten auch für das Verständnis religiöser Hierarchie zu gewinnen. Zunächst gebe ich hier eine Begriffsbestimmung wieder, die der Industriesoziologie entstammt:7
„Hierarchisch nennen wir ein Sozialgebilde, dessen Ordnung
wesentlich durch ein institutionalisiertes Stufensysteem
eindeutiger Über- und Unterordnung bestimmt ist, wobei
vorausgesetzt ist, daß dieses System mehr als zwei Stufen
enthält.
Eine Hierarchie ist eine ‘Ordnung’, nicht nur eine
Machtabstufung. Die Unterordnung ist kein bloßes Hinnehmen,
sondern enthält ein Moment der Anerkennung. Die jeweils höheren
Stufen besitzen die Aura einer gewissen Autorität.
Eine hierarchische Ordnung ist stets auch institutionalisiert:
Macht und Autorität des einzelnen Funktionsträgers gründen nicht
allein in seiner Person, sondern leiten sich stets auch aus der
vorgegebenen, von der einzelnen Person abstrahierbaren und als
Ganzheit vorgestellten Ordnung ab.
Eine hierarchische Ordnung besitzt mehr als zwei Stufen: der
typische soziale Habitus eines hierarchischen Systems wird
geprägt durch die Situation der mittleren Stufen, nämlich durch
die Gleichzeitigkeit von Dienen und Herrschen und die hieraus
entstehende Ambivalenz des Verhaltensstils. Die Problematik jeder
Hierarchie zeigt sich stets an der Art, wie versucht wird, die
Extremgruppen, die ‘Untersten’ und die ‘Obersten’, aus deren
Position sich diese Ambivalenz nicht von allein gibt, zu
integrieren.”
Bringt man dieses Bild auf ein Schema, so zeigt sich Hierarchie als ein doppeltes System mit einer Innen- und Außenstruktur, welche beide je in sich einen triadischen Aufbau aufweisen.
Ein hierarchisches System kann erst von einem gewissen Mindestmaß der Ausbildung ab morphologisch ausgewiesen werden. Ein bloßes Leitungsverhältnis zwischen zwei Personen, in welchem der eine als Träger einer unbedingten, geheiligten und geschichtlich
7 H.P. Bahrdt, Industriebürokratie. Versuch einer Soziologie des industrialisierten Bürobetriebes und seiner Angestellten (Stuttgart 1958).
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begründeten Kompetenz voransteht und der andere ihm untergeordnet ist, reicht dafür nicht aus. Ein solches Nachordnungsverhältnis, in welchem der zweite Weisung und Willen des ersten vollstreckt, kann soziologisch die verschiedensten Strukturen enthalten. Es kann sich um Gefolgschaft, um ein Schüler-Verhältnis, um eine funktionale Zuordnung handeln. Hierarchie ist nachweisbar erst von einem Dreierverhältnis an, wenn nämlich das Nachordnungsverhältnis von A zu B in einer vergleichbaren Weise zwischen B und C wiederkehrt. Erst so entsteht durch eine relative Identität von A, B und C die für Hierarchie charakteristische Stufenleiter. Möglicherweise erschöpft sich bereits Hierarchie in einem Dreierverhältnis als Vollbildung, so daß weitere Stufen zwar in beliebiger Zahl denkbar sind, aber unwesentlich erscheinen. Daß das Verhältnis A zu B dem Verhältnis B zu C entsprechen muß, also auf einer Art Gleichheitssatz beruht, zeigt ein Element der Rationalisierung an8. Aus diesem Gleichungsschema ergibt sich auch das Mindesterfordernis der Dreigliedrichkeit. Denn erst bei drei Trägern kann eine solche Gleichung aufgestellt werden. Daher sind für diese Innenstruktur unverzichtbar und wesentlich das Vorhandensein eines obersten Trägers der Hierarchie und mindestens zweier nachgeordneter Stufen, von denen die untere das Ende oder, umgekehrt betrachtet, den Anfang der Stufenleiter bedeutet. Hat aber die Innenstruktur Anfang und Ende, Spitze und Basis, so ergibt sich damit zugleich der Aufbau der Außenstruktur.
Hierarchie bezieht sich immer auf einen sie selbst transzendierenden Grund, die arché. Hierarchie ist niemals selbstgesetzlich, autonom, selbstzwecklich, Selbstdarstellung eines so verfaßten Gemeinwesens. Eben darum ist sie nicht autark; sie ist in sich selbst und für sich selbst in keinem Sinne eine societas perfecta, sondern bezieht sich auf einen sozialen Körper, in welchem und für welchen sie als eine besondere ausgezeichnete Strukturform wirksam ist. In einer grundsätzlich bedeutsamen Dichotomie steht sie einem nicht hierarchischen Personenkreis gegenüber, wie etwa klassisch in der Scheidung von Klerus und Volk oder Laien. Arché, Hierarchie und nichthierarchische Basis bilden eine aufeinander bezügliche Dreiheit,
8 M. Weber, aaO., S. 125, 126.
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in welcher Hierarchie als Ganzes ein Mittelglied darstellt — als Vermittlung von oben nach unten wie als Weg des Aufstiegs von unten nach oben.
Sind also Außen- und Innenstruktur beider triadisch aufgebaut, so ergibt sich zugleich die Besonderheit, daß gerade die Außenstruktur wesentlich von der Innenstruktur her zu verstehen und auszulegen ist.
Die Innenstruktur kann juristisch durch zwei antinomische Begriffe analysiert werden: durch Substitution und Status. Substitution ist dasjenige rechtliche und soziologische Verhältnis, in welchem der Vorgesetzte de jure und in re imstande ist, jede Handlung des Nachgeordneten durch eigene Entscheidung zu ersetzen, während umgekehrt der Nachgeordnete grundsätzlich und immer nur im Auftrage und kraft Legitimation des Vorgesetzten handelt. In der Hierarchie erlangt aber unter der Voraussetzung der Substituierbarkeit der Entscheidungen der Nachgeordnete eine eigene, von den Maßstäben der Funktion nicht allein her aufhebbare Rechtsposition, einen personalen Status. Das hierarchische Verhältnis kann daher niemals als bloßer widerruflicher Auftrag verstanden werden. Zu diesem Statuscharakter der nachgeordneten Stelleninhaber führt nicht nur, wie es gelegentlich bei Max Weber durchklingt, die praktische Notwendigkeit, daß bestimmte nachgeordnete Funktionen ausgeübt werden, so daß ihrer Träger unentbehrlich werden. Der Statuscharakter gehört vielmehr zu den konstituierenden Merkmalen des Systems.
Daher ist für alle Hierarchie kennzeichnend, daß auch der von vornherein für die Führung Ausersehene alle Stufen durchläuft, damit er die Aufgabenstellung der Nachgeordneten nicht nur fordert, sondern auch beurteilen und notfalls durch eigenen Vollzug ersetzen kann. Das ist nicht selbstverständlich. Im vorrationalen Heerwesen etwa ist ein vornehmer Mann schon kraft Geburt und Herkunft zur Führung berufen, ohne von der Pike an dienen, alle Dienstgrade durchlaufen zu müssen.
Substitution und Status sind gegenläufige Elemente, aus deren Zuordnung und Spannung sich erst das Wesen hierarchischer Ordnung ergibt. Dies wird an den Grenzwerten deutlich: Führt das Prinzip der Substitution bei formeller Anerkennung des Status der
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Nachgeordneten zu dessen praktischer Aushöhlung und Aufhebung, so erstarrt das hierarchische System bei äußerer Intaktheit zur mechanischen Befehlsordnung. Wird andererseits das Eigenrecht des Status bei formeller Unterwerfung unter das Substitutionsrecht des Vorgeordneten soweit ausgedehnt, daß dieses Recht jeder Substanz beraubt wird, so löst sich das System von innen her auf.
Alle Stufen der Hierarchie haben an einer gemeinsamen Identität teil, innerhalb deren es Formen der Nichtidentität gibt. Dieser Statuscharakter als Teilhabe auch der nachgeordneten Stufen an der Dignität des Ganzen beruht auf deren Bedeutsamkeitsanspruch und ist zugleich eine Bedingung der Wirksamkeit. Wäre die oberste Autorität durch die Nachgeordneten nicht wirksam vertreten und würden diese nicht umgekehrt von der obersten Autorität eine Strecke weit gedeckt, würde ein ständiger Regreß an die Spitze erfolgen und das Ganze unwirksam. Eine oberste Autorität, die sich alle wesentlichen Entscheidungen vorbehält, kann nur noch punktuelle Entscheidungen treffen und stellt gerade dadurch eine einheitliche Leitung in Frage. Sie muß also anwendbare Grundsätze formulieren und deren verantwortliche Konkretion zugleich freigeben wie unter Vorbehalt der Kritik und Revision decken.
Ich benutze hier vorgreifend für das Strukturmerkmal der Dychotomie einige Beispiele säkularer Hierarchie, welche im Ganzen erst im III. Kapitel behandelt wird.
In Industriebetrieben besteht bis jetzt die Dychotomie zwischen Leitung und Angestellten einerseits und der Arbeiterschaft andererseits. Der Angestellte kann bis in die höchsten Chargen aufsteigen, ohne seinen Angestelltenstatus zu veränderen; der Arbeiter dagegen muß das. Ganz konsequent wird heute im Programm der Demokratisierung versucht, diese Scheidung aufzuheben. Sie würde aber nur bedeuten, daß die Hierarchie auf weitere Schichten erstreckt wird. Das Hierarchie-Problem wird dadurch noch nicht gelöst, weil und so lange die Gesamtleitung auch eines solchen Betriebs rationell nicht mit demokratischen Mitteln der gleichen Bestimmung aller gelenkt werden kann. Aus der erwähnten Dychotomie erklärt sich der relativ hohe Grad der Solidarisierung der Angestellten mit der Leitung, die aus materiellen Interessenlage nicht zu erklären ist. Da die Angestellten aber, wenn auch im unterschiedlichen Grade,
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an den Leitungsentscheidungen teilnehmen, mindestens aber von ihren Bedingungen und Motiven Kenntnis erlangen, würden sie ihrer eigenen Rollenfunktion widersprechen, wenn sie die Leitung grundsätzlich in Frage stellten oder sich in einem ständigen Gegensatz verständen.
In Bankbetrieben tritt die Dychotomie nicht auf, weil sie reine Leitungs- und Dispositionsorganisationen sind, die sich auf das reale Tun anderer beziehen. Hier liegt die Spaltung zwischen Bankwirtschaft und Produktionswirtschaft. Andererseits entsteht in hierarchischen Gefügen ohne Dychotomie die soziologische Frage, wie die Personen eingeordnet werden, die an den spezifischen Verrichtungen des Ganzen keinen Anteil haben. Man denke etwa an Heizer und Putzfrauen einer Bank, einer Behörde oder Lehranstalt. Sie sind unentbehrlich, aber ihr Tun ist unspezifisch. Dies zeigt sich auch ihre verhältnismäßig geringe Zahl an. Keinesfalls bilden sie den anderen Teil der Dychotomie im Gegenüber zur Hierarchie. In Gebilden mit Dichotomie taucht diese Frage nicht auf, da die nicht-spezifischen Verrichtungen in der Vielfalt und Allgemeinheit des Verbandes aufgehen, ohne einen Unterschied zu begründen. Jedoch muß das Problem noch einmal bei der sogenannten „Dritten Kraft” aufgenommen werden. Es zeigt sich also, daß die Gefüge nicht isoliert betrachtet werden dürfen. Wenn der Generalstab keine Truppe, sondern nur ein geringes Unterpersonal hat, so bezieht sich doch seine Tätigkeit auf die fechtende Truppe, und erst dieser Gesamtzusammenhang ergibt das richtige Bild. Dychotomie ist also kein zusätzliches Phänomen, das, weil nicht überall vorkommend, aus dem Begriff der Hierarchie ausgeklammert werden könnte. Hierarchien ohne Dychotomie verweisen auf solche mit Dychotomie, weil Hierarchie auf personale Konkretion zuläuft.
Die Differenz liegt also in dem Verhältnis zwischen Person und Sachfunktion. Die Hierarchie ohne Dychotomie bezieht sich auf Sachverhältnisse ohne direkte Einwirkung auf die mit diesen Sachverhältnissen befaßten Personen. Die Dychotomie entsteht dort, wo die im Handeln und Entscheiden der Hierarchie enthaltenen Sachverhältnisse zugleich mit den befaßten Personen in Rede stehen. Da aber die Sachverhältnisse in beiden Fällen identisch oder aufeinander bezogen sind, stehen beide hierarchische Formen gleichwertig
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nebeneinander. Die finanziellen Entscheidungen im Banksystem präjudizieren in gewissem Umfang die Dispositionen der Wirtschaft, aber machen sie nicht subaltern.
Der Generalstab entwirft die militärischen Operationen. Aber ihre Durchführung und unvermeidliche Abwandlung liegt bei Truppenführern mindestens desselben Ranges. Die Erfordernisse und Schwierigkeiten der Konkretion begründen im Gegenteil häufig in der geschichtlichen wie in der zeitgenössischen öffentlichen Wertung einen höheren Rang der Verwirklichung gegenüber der Planung. Ein Zusammentreffen von planender Berechnung und leitender Wahrnehmung am Ort, wie bei Moltke in der Schlacht von Königgrätz, ist selten und verdeckt in etwa das Problem.
Die Differenz zwischen Hierarchie mit und ohne Dychotomie hat also gezeigt, daß dabei das Verhältnis von Person und Sache wesentlich ist. In der Hierarchie sind Person und Sache verbunden, um irgendwo direkt und indirekt im Laos wiederum zusammenzutreffen, so wie die Entscheidungen des Generalstabs von der Truppe ausgefochten werden. Nun gibt es aber Sachverhältnisse, die von Personen außerhalb der Hierarchie wahrgenommen werden, jedoch nicht um ihrer selbst willen, sondern um der Hierarchie zu dienen (zudienende Funktionen). Dies gilt etwa für Rüstung und Nachschub im Heerwesen, aber auch für Ökonomie und Administration der Kirche. Ihr Sinn ist nicht die ökonomische Produktion um ihres immanenten Sinns willen unter dem Zwang der Rentabilität. Der Zwang der Rentabilität signalisiert das Vorhandensein eines eigenständigen ökonomischen Subjekts. Vielmehr geht es um die Lieferung von Subsistenzmitteln für andere Zwecke. Diese Nebenorganisationen, die ganz auf das hierarchische Gefüge bezogen sind, können eine außerordentliche Bedeutung gewinnen, aber das Phänomen der Hierarchie solange nicht aufheben, als Raum für deren existenzbestimmende Entscheidungen verbleibt. Die quantitative und generalisierende Ausdehnung dieser Funktionen besagt nichts über das Bestehen personaler Entscheidungsbereiche. Es handelt sich hier nicht um subjektiv-personale „Reservate”, sondern um ein soziologisches Aliud. Existentiales und Existentielles trifft hier zusammen. Die heute zu beobachtende gewaltige Ausdehnung solcher technologischer Zusammenhänge überdeckt zwar in ungewohnter
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Weise die Entscheidungsorganisation und verlagert sie, hebt sie aber nicht grundsätzlich auf, weil und soweit Entscheidung als solche nicht aufgehoben werden kann (vgl. Kap. III).
Hierarchie gibt es nun nur dort, wo im formalsten Sinne ein geschichtliches Subjekt seine Identität organisiert — aber nicht jedes solches Subjekt ist hierarchisch organisiert. Diese Subjektivität kann religiösen, politischen, ökonomischen Gehalt haben oder auch dies alles womöglich vereinen.