|47|

IV
Hierarchie und Gesamtordnung

 

1. Hierarchie und Deliberation

Hierarchie wird regelmäßig als Erscheinung für sich allein beschrieben. Ob sie ein selbständiges Ganzes ist oder konstruktiv in einen größeren Zusammenhang gehört, wird dabei nicht erwogen. Der in ihr enthaltene Anspruch der Führung und Maßgeblichkeit scheint dem zu widersprechen. Im Allgemeinen wird also vorausgesetzt, daß Hierarchie eine abgrenzbare Erscheinung ist, deren Herrschaftsanspruch sich jedoch auf alles von ihr selbst nicht Umgriffene bezieht, in dessen Zusammenhang sie lebt. So entsteht dann wiederum ein Ganzes, dessen konkrete Struktur wesentlich in der Hierarchie zu bestehen scheint. Zusammen mit dem Volk, den Laien, auf welche Hierarchie sich bezieht, erscheint sie als ein geschlossenes Ganzes. Auch in der katholischen Theorie, die am mieten Veranlassung habe, sich mit dieser Frage zu befassen, wird abgesehen von der Verdrängung rationaler Reflexion auch dieses Verhältnis in der Schwebe gelassen. Die Kirche wird als societas perfecta definiert; sie sei mit allen Erfordernissen ausgerüstet, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben gebrauche und insofern autark. Aber selbst die klerikalste Darstellung hütet sich begreiflicherweise, Kirche und Hierarchie grundsätzlich zur Deckung zu bringen. Tatsächlich jedoch ist der hauptsächlichste Teil ihrer Verfassungsstrukturen derjenige, der in das System der Hierarchie eingeschlossen ist. So beginnt auch der geltende CIC nach allgemeinen Begriffsbestimmungen, die nur vorbereitende Bedeutung haben, alsbald mit dem Amtsrecht des Klerus, der als der alleinige legitimierte Träger des Handelns erscheint. Andere Verfassungselemente oder überhaupt die Verfassung als System unterschiedlicher

|48|

Verfassungselemente werden nicht erörtert. Jede Bildung und jede Erwägung führen wieder in das hierarchische Gefüge zurück: auch die Synoden waren bisher allein solche des Klerus.

Im Gegensatz zu dieser Verbindung von Ausschließlichkeit und verfassungstheoretischer Indifferenz soll hier die These aufgestellt werden, daß Hierarchie grundsätzlich nur eine Teilstruktur ist und auf eine korrespondierende Bildung angelegt ist, die auf sie nicht verrechnet werden kann, die also auch durch die Dychotomie Klerus — Volk nicht definiert ist. Vielmehr steht neben der Dezisionsstruktur der Hierarchie jeweils eine Struktur der Deliberation.

a) Der militärischen Hierarchie, auf kämpferische Entscheidung gestellt, steht die politische Deliberation gegenüber. Dabei ist es gleichgültig, ob es sich um das Kabinett des absoluten Fürten, ein demokratisch-liberales Parlament oder das Zentralkomitee einer Einheitspartei handelt. Daß Friedrich der Große seinen Generälen Einfluß auf seine politischen Entscheidungen eingeräumt hätte, wäre absurd anzunehmen. Er war Feldherr und Monarch in einer Person, so daß der Konflikt hier nicht sichtbar wird. Der Konflikt zwischen militärischen und politischen Gesichtspunkten wird dagegen bei König Wilhelm I. von Preußen in den Auseinandersetzungen zwischen Moltke und Bismarck in besonders dramatischer Weise deutlich. Tragisch ist dies Verhältnis im Ersten Weltkrieg geworden. Gerhard Ritter hat in seinem Werk über „Staatskunst und Kriegshandwerk” dieses Thema abgehandelt. Dabei wird vor allem deutlich, daß es sich nicht um die Korrespondenz zweier grundsätzlich gleichwertiger Strukturen und Entscheidungszüge handelt, sondern um ein Verhältnis, bei dem der sinnbestimmende Vorrang des Politischen gegenüber der Eigentendenz des Militärischen auf alle Fälle gewahrt werden muß. Es ist typisch, daß in einer Zeit, die mehr auf taktisches Ausmanövrieren als auf Schlachtentscheidung eingestellt war, wie im Barock, der redselige und theoretisierende Kriegsrat die Führungsentscheidung des Feldherrn einschränkte, wobei dann auch noch in diesen Beratungen die Weisungen der politischen Kabinette und der Heeresverwaltung einbezogen werden mußten.

|49|

b) In der Gerichtsverfassung steht das Verfolgunsprinzip der Staatsanwaltschaft der Deliberation des Gerichtes gegenüber, welche ebenso wie in Ziffer 1 die politische Entscheidung den Vorrang und die endgültige Sinnbestimmung behalten muß.

c) Den Hierarchien des technischen und ökonomischen Wettbewerbs steht die freie Abwägung des Marktes gegenüber. Wird diese lahmgelegt, so gewinnt die technische Hierarchie einen unverhältnismäßig, vor allem aber zugleich ökonomiefremden, ideologisch-politischen Eigenwert, Herrschaftscharakter. Dies zeigt sich besonders deutlich in dem Mißverhältnis zwischen Investitionspolitik und Bedarfsdeckung in den sozialistischen Staaten.

d) In den geschichtlichen Strukturen des Kirchenrechts steht der Hierarchie, die in allen Stufen eigenständige Synodalverfassung gegenüber, die selbst bei weitgehender Verklammerung (Amtssynoden) auf die Hierarchie nicht zu verrechnen ist.

Bei alledem ist das Verhältnis der Kräfte, die Struktur des Verhältnisses beider variabel und höchst verschieden.

Die oben vermerkte Beschränkung auf eine isolierte Betrachtung von Hierarchie beruht aber insbesondere darauf, daß eine Form dieses Verhältnisses in der Sublimierung und Spiritualisierung der Deliberationsstruktur besteht. Wird diese letztere völlig jeder konkreten rechtlichen Form und Entscheidungskompetenz entkleidet und zum bloßen formlosen Konsens einer unstrukturierten Öffentlichkeit, eines Gemeinsinns, so kann das Bild entstehen, daß nur Hierarchie eine rechtliche Struktur, Deliberation aber der bloßen Innerlichkeit zugehört. Diesen extremen Weg ist in den letzten Jahrhunderten die katholische Kirchenverfassung gegangen. Auch das Konzil hat, wie die Formulierungen von „Lumen Gentium” zeigen, die spiritualistische Spaltung zwischen rechtloser communitas und hierarchischer societas noch nicht überwunden, obwohl die deliberativen Verfassungselemente auf allen Stufen in der Bildung begriffen sind.

Kompliziert wird dieses Verhältnis durch das Zeitproblem. Deliberation als abwägende Erörterung erfordert Zeit, während die Demission ihren optimalen Effekt durch ihre unmittelbare Präsenz besitzt. Dieser Zeitdruck, der besonders typisch bei Heer und

|50|

Staatsanwaltschaft, aber auch sehr deutlich im technischen Wettbewerb hervortritt, muß für die Deliberation ohne Bedeutung sein. Diese andererseits darf nicht zu einem Geleitungssystem werden, in welchem das langsamste Schiff, das widerwilligste Verständnis der Sacherfordernisse das Gesetz des Handelns bestimmt. Während nun bei den politischen und militärischen Beispielen, auch demjenigen der Gerichtsverfassung, der Vorrang der Deliberation offenkundig ist, stehen technische Entscheidung und Abwägung des Marktes im ökonomischen Bereich in einer ständigen Auseinandersetzung, die nicht von vornherein und grundsätzlich zu entscheiden ist. Gestört wird dieses Verhältnis, wenn das Absatzinteresse den Markt selbst manipuliert. Suspendiert ist das Verhältnis auch solange, als ein hierarchisch-politisches System die Erfüllung wirtschaftlicher Aufbauerfordernisse rücksichtslos vor die Bedürfnisse des Marktes und der Verbraucher setzt. Die Idealvorstellung andererseits, daß überall Deliberation vor der Dezision stehen müsse, scheitert daran, daß gegenüber der Vielfalt der Deliberation die akute Notwendigkeit eindeutiger Entscheidung einen sich immer erneuernden Vorteil hat. Sie kann also immer vorgreifen, ohne doch im Ganzen die Marschrichtung bestimmen zu können. Die Komplexität unterschiedlicher Motive und die Eindeutigkeit unausweichlicher Sachentscheidung aber lassen sich nicht methodisch ein für allemal gegeneinander vermitteln. Dezision und Deliberation bilden zusammen einen soziologischen Zirkel, in welchen jedes geschichtliche Gemeinwesen eingeschlossen ist. Ein Pharisäer ist, wer die soziologische Einschließung des Anderen aufzudecken unternimmt, aber meint, seine eigene außer acht lassen zu können. Das ist eine Form von Buße, welche an die Brust des Anderen klopft.

Dezision kann den Zeitvorsprung der Vorentscheidung ausnutzen. Bleibt sie für sich, so verkrüppelt sie auf die Länge gerade das, wofür sie sorgt.

Deliberation für sich allein ist so fruchtlos wie der Wellenschlag des Meeres; sie hinkt immer hinter den Ereignissen her und erreicht vielleicht im besten Falle noch den abfahrenden Zug.

Wer allein Dezision will, muß die Deliberation ausschließen und zugleich vortäuschen.

|51|

Wer allein Deliberation will, muß, um nicht fruchtlos zu bleiben, zu dezisionistischen Mitteln greifen und dies vor sich selbst und den Betroffenen verbergen.

Der Eine ist zur Verdeckung mangelnder Zustimmung genötigt — der Andere, sich selbst zum Lügner zu machen. Der Eine rechtfertigt sich selbst nachträglich, der Andere von Anfang an. Welch ein Fortschritt, den fremden Raub durch den gemeinsamen Selbstbetrug zu ersetzen! Die Heteronome der Hierarchie kann also nicht einfach durch die Autonomie der Deliberation ersetzt werden. Beide sind vielmehr genötigt, ihre konstitutiven Mängel, ihr Defizit zu überspielen. Dem entsprechen die anthropologisch bedeutsamen Entwicklungen in der Kriminologie. Das Gewaltverbrechen, das die Zustimmung erzwingt, bildet sich fort zum Täuschungsverbrechen,  welches die Identität der Interessen vorspiegelt12.

Dezision und Deliberation können miteinander nur bestehen, wenn sie beide anerkannt, aufgedeckt und im Prozeß ihres zirkulären Verhältnisses aufeinander bezogen werden. Daß der Mensch Macht ist, hat, übt, ist in seiner Ambivalenz nicht aus der Welt zu schaffen. Wer es versucht, treibt die verdeckte Macht und die Verdeckung der Macht hervor.

 

2. Die Entstehung des Klerus und die Ambivalenz des kritischen Bewußtseins

Mit der Bildung von Hierarchie verbindet sich auch die Bildung von Klerus. Unter Klerus ist eine ausgesonderte Gruppe zu verstehen, die von den regelmäßigen Lebensvollzügen und Beurteilungsmaßstäben ausgenommen ist (Exemtion), die aber gleichwohl ein vorbehaltenes und überlegenes Wissen über diese Lebensvollzüge zu haben beansprucht. Wie bei jedem soziologischen Typus besitzt nicht jede hierher zu rechnende Form alle Merkmale. Trotzdem gilt tendenziell, im Idealtypus das hier Formulierte.


12 Vgl. H. Dombois, Mensch und Strafe (Gl. u. F. 14) (Witten 1957), insbes. S. 32 ff.

|52|

Wenn Hierarchie sowohl im religiösen wie im säkularen Bereich, aber ebenso auch als sichtbare und offen dargestellte wie als verleugnete oder unvollständig in Erscheinung tritt, so gilt das Gleiche für den Klerus. Eigenschaft und Anspruch als Klerus wird teils offen vertreten, teils verdeckt und versuchsweise abgeschwächt. Die Klerusbildung ergibt sich aus der Minderheitssituation des kritischen Bewußtseins. Mehrheit und Minderheit bezeichnen nicht nur ein quantitatives, sondern auch ein qualitatives Verhältnis und können nicht ineinander aufgehoben werden. Was für die Minderheit gilt, kann nicht in vollem Umfang auf die Mehrheit übertragen werden. Beide stehen unter verschiedenen Gesetzen. Jede vertritt das ihr eigene Gesetz mit den ihr eigenen Mitteln. Die Minderheit such mit Eifer die Mehrheit zu durchdringen und in Bewegung zu setzen. Die Mehrheit sträubt sich nicht nur, sondern vereist auf die Andersartigkeit des für alle Geltenden. Sie argumentieren und handeln deswegen immer auf verschiedenen Ebenen. Das kritische Wissen, welches Klerus begründet, gleicht einem Stausee, der durch ein Kraftwerk mächtige Energien erzeugen, dessen Wasser aber nicht gleichzeitig zur breiten Bewässerung verwendet werden kann.

Der Versuch, dieses Verhältnis von Mehrheit und Minderheit aufzuheben, ist ein Angriff auf die soziologische Logik selbst. Diejenigen, die Klerus bekämpfen, sind im Regelfall Vertreter eines geschichtlich nachfolgenden Klerus, der nur seine eigene Klerus-Eigenschaft nicht zugestehen will. So hat etwa in der Zeit der Renaissance und der Reformation der akademisch-theologische, humanistische Klerus die ihm ebenbürtige Ordenstheologie verdrängt und ausgeschaltet, ohne selbst darauf zu reflektieren. Will man aber den Weg der Klerusbildung als Folge des kritischen Bewußtseins vermeiden, so ist man gezwungen, den in sich folgerichtigen, aber praktisch unmöglichen Weg des Syndikalismus zu gehen, in dem nur noch partikulare Gruppen die ihr eigene Identität vertreten, aber nicht mehr Bedeutung für die Allgemeinheit erlangen können.

Freilich könnte die Klerus-Bildung nicht einsetzen, wenn diese Gruppe als Träger eines kritischen Bewußtseins nicht wirklich auf dem ihr eigenen Felde, durch das sie geschichtlich definiert wird,

|53|

erhellende Einsichten besäße. Sie vermag starke Evidenzerlebnisse auszulösen, die eine Art Bekehrunscharakter haben. Nichts ist daher geschichtlich und psychologisch verkehrter gewesen als die Betrugstheorie der Religionskritik. Auch wen man den Unbedingtheitsanspruch dieses Bewußtseins in Frage stellt und diese Phänomene in den Bereich geschichtlicher Relativität rückt, ist die Annahme ihrer Ineffektivität, ihre Qualifizierung als Schein absurd. Es ist eine Art umgekehrter Wunderglaube.

Es wurde davon ausgegangen, daß Klerus immer eine Gruppenbildung ist. Das ihm vorbehaltene Wissen muß also in angemessener Weise übertragbar sein. Klerus unterscheidet sich dadurch von allen Phänomenen kritischen Bewußtseins, die sich auf den je Einzelnen beschränken, wie etwa die Prophetie. Wie sich diese vergleichbaren Phänomene zur geschichtlichen Gesamtheit verhalten, ob dieses Verhältnis ein punktuelles oder tangentiales ist, und mit solchen Begriffen angemessen beschrieben werden kann, kann hier dahinstehen. Sicher ist, daß die Vermittelbarkeit dieses Wissens den Klerus mit voller Kontingenz in die Geschichte stellt. Freilich besteht hier eine Spannung. Das kritisch überlegene Wissen ist zunächst nur evident weitreichender, es ist dem gemeinen Bewußtsein und seiner Erfahrung überlegen, aber nur im relativen Sinne. Gleichviel hat es die Tendenz, diese prinzipiell überbietbare Relativität zu einer absoluten Bedeutung zu steigern. Es wird jedenfalls die Pflicht statuiert, das Höchstmaß möglicher Erkenntnis und damit Erkenntnis schlechthin anzustreben und zu bewahren. Dieses Verhältnis von Relativität und Unbedingtheit läßt sich, wie es scheint, nicht völlig abklären. Mitten innerhalb der Geschichte als Inbegriff aller Lebenszusammenhänge treten die Träger dieses vorbehaltenen Wissens als Subjekte einer schlechthinnigen Freiheit auf. Jede mögliche Freiheit ist jedenfalls bei ihnen.

Nicht aber ist bisher erkannt worden, daß gerade diese Position als Subjekt der Freiheit kraft überlegenen Wissens beschreibbare, unabwendbare Folgen auslöst, deren Strukturzusammenhang nunmehr dargestellt werden soll.

Es wurde schon gesagt, daß Klerusbildung nicht ohne effektive Potenz zur Daseinserhellung denkbar ist. Vermöge der Stellung aber als Subjekt der Freiheit bewirkt gerade diese Erhellung

|54|

zugleich unausweichlich, daß die Inhalte ihres Urteils zu Objekten werden. Dadurch verlieren sie in einem wesentlichen Maß ihre innere Bedeutung, ihren in sich verständlichen Lebenszusammenhang. Sie werden notwendig vergegenständlicht, veräußerlicht, verflacht. In einer zweiten Stufe, bei einer Verschärfung des Bedeutsamkeitsanspruchs von kritischem Wissen werden sie aus sekundär bedeutsamen untergeordneten Gegenständen sogar zum Gegenstände radikaler Verneinung, womöglich Verteufelung. Jede Stufe oder Well neuen kritischen Bewußtseins in der Geschichte schafft von neuem ein solches Minderheits-Mehrheits-Verhältnis und zugleich damit die beschriebenen Objektivierungen. Je stärker auch die Ablösung der Minderheit aus der Mehrheit, desto stärker jene Wirkungen.

Die relativ genau extrapolierbare Dogmengeschichte der abendländischen Kirche bietet hier einige Beispiele. So hat etwa die Scholastik vermöge ihrer kritischen Rationalität den Lebenszusammenhang der Ehe Zweckkategorien unterworfen, die in einer beschwerlichen und verhängnisvollen Weise bis in die Gegenwart deren immanenten Lebenssinn, ihren kommunikativen Charakter zurückgedrängt und verdunkelt haben. Das Zweite Vatikanische Konzil war noch voll der Laienbeschwerden über diese Folgen. Die Sakramente überhaupt werden in einer bis dahin unbekannten Weise objektiviert und aus Vorgängen der Vergemeinschaftung Gnaden„mittel”.

In der theologischen Tradition reformatorischer Herkunft vererbt sich ein verfehlter, nämlich wesentlich normativer und imperativer Verfassungsbegriff. In diesem Verfassungsbegriff können die integrativen Prozesse des politischen Lebens nicht verstanden und sinngemäß eingeordnet werden. Die Vorstellung aber, daß Staat und politische Ordnung wesentlich normatives Gesetz und imperativer Befehl seien, ist keine zufällige Mißbildung, sondern die notwendige Folge davon, daß die Theologie des Evangeliums den Christen im radikalen Sinne als Subjekt der Freiheit verstehen gelernt hat. Der „freie Herr aller Dinge” gerät in das Subjekt-Objekt-Verhältnis. Wenn man der lutherischen Staatslehre eine verhängnisvolle Affinität zur Autorität nachgesagt hat, so ist dies eine typische Verkehrung von Ursache und Wirkung. Die theologischen

|55|

Gründe für die Folgeerscheinungen liegen gerade in der Radikalität des Freiheitsbegriffs.

Eine ähnliche Erscheinung bietet auch der Marxismus dar. Es ist ein absurdes Bild, wenn eine auf der Theorie der Ökonomie aufgebaute Lehre gerade das ökonomische Grundgesetz aufhebt, daß jedes ökonomische Subjekt im Austauschprozeß ökonomischer Leistungen mit einem gewissen Überschuß seinen Bestand erhalten muß, wenn es nicht in dem gleichen Kreislauf mit Selbstverständlichkeit absorbiert werden soll. Dieses Elementargesetz der wirtschaftlichen Rentabilität ist mit der Frage der Verteilung der Ergebnisse dieser Rentabilität verwechselt worden. Nach ursprünglicher Leugnung dieses Gesetzes mußte es in den sozialistischen Wirtschaften erst wieder mühsam in sein Recht eingesetzt werden. Man konnte die Folgen auf die Dauer nicht durch die Sozialisierung der Verluste ausgleichen.

Diese im Einzelnen seltsamen Mißverhältnisse beruhen jedoch auf einer nicht zufälligen Zerstörung des Verständnisses für die Sache selbst. Es ist die Mißachtung der leidigen sozialen Fakten, einschließlich der Gesetze der Soziologie und Psychologie.

Nun können diese Mißverhältnisse auch nicht dadurch wettgemacht werden, daß das kritische Subjekt der Freiheit in einer Selbstkritik diese Kritik noch steigert. Je mehr das geschieht, desto größer müssen die Mißverhältnisse werden. Jeder Rigorismus und Puritanismus gerät in ein noch immer stärkeres Mißverhältnis zu den immanenten Sinnzusammenhängen des Lebens.

Wir stehen also vor einer Ambivalenz. Die unzweifelhaft erhellende Kraft der Kritik, die Freiheit entbindet, führt zugleich eine von ihren eigenen Voraussetzungen her nicht behebbare Entleerung und Verzerrung der Lebensverhältnisse herbei, denen sie sich gegenübersieht und in denen sie wirken will. Dieses Folgeverhältnis aber ist keineswegs das Ende. Das kritische Bewußtsein vermag das von ihm selbst erzeugte Mißverhältnis weder einzusehen noch zu durchbrechen oder zu beheben: Vermöge jener Ambivalenz ist es in sich selbst blind. Da sich aber der aufgezeigte Widerspruch bemerkbar macht, entsteht mit der gleichen Folgerichtigkeit auch der Versuch eines Ausgleichs unter der fortdauernden Voraussetzung, daß jenes Mißverhältnis selbst nicht durchschaut wird. Es

|56|

wird infolgedessen als eine Art Komplementärbegriff ein Horizont vorgestellt, in dem dieser Widerspruch aufgehoben wird. So erklärt sich die Entstehung von Begriffen, wie corpus mysticum, Priestertum aller Gläubigen, die Rückverweisung auf die Allgemeinheit und den Konsens der Vernunft, auf die reale Basis, auf die Praxis, auf das Klassenbewußtsein der Arbeiterschaft, auf die werktätigen Massen; es entsteht deren Hypostasierung und emphatische Lobpreisung — eine undialektische Harmonisierung aller vorgestellten Idealitäten. So kann etwa unbefangen gesagt werden: „In der sozialistischen Gesellschaft entwickelt sich nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus ein harmonisches, einheitliches Autoritätsgefüge.”13 Interessant ist dabei das Fehlen jedes dialektischen Moments, jeder Spannung und Differenz. Da sich dieses Mißverhältnis auf das Erfahrungswissen und die unmittelbaren Sachverhältnisse bezieht, in denen Menschen leben, so muß dann auch diese Unmittelbarkeit als solche hypostasiert und idealisiert werden, etwa in der Vorstellung, daß nur die Handarbeit wirkliche Arbeit sei, weil nur in ihr der Mensch mit der vollen Wirklichkeit der Welt konfrontiert werde. Auch die Rede von der Weltlichkeit der Welt gehört zu diesen Komplementärbegriffen. Sie wird gemeinhin von Leuten aufgestellt, die selbst niemals wirklich ganz eben dieser Weltlichkeit ausgesetzt gewesen sind. Das Mißverhältnis zur Erfahrungswelt erzeugt Phantasmagorien, wie die Kargheit und der Durst der Beduinen die Sehnsucht nach den Oasen.

Die Komplementärbegriffe sind aber im Aufbau des geistigen Zusammenhangs notwendige Bildungen, obwohl sie innergeschichtlich niemals verwirklicht werden, niemals Gestalt annehmen können. Als Gegenbildungen, sozusagen als geistige Abschlußwände, haben sie eine unentbehrliche Funktion. Dasselbe kritische Bewußtsein also, das verdeckte Wirklichkeit aufdeckt, zerstört zugleich erkennbare Sinnzusammenhänge, und im gleichen Maße und Zuge, in dem es transzendentalen Schein zerstört, muß es notwendig zugleich Scheinbegriffe erzeugen.


13 Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 25. 1. 1971 S. 17 = Zitat aus dem Wörterbuch der Marxistisch-Leninistischen Soziologie (Berlin-Ost 1970).

|57|

Dieser wissenssoziologische Zusammenhang ist, wie mir scheint, in seiner inneren Folgerichtigkeit und Zwangsläufigkeit noch niemals aufgedeckt worden.

Wenn nun gegenüber dem Erfahrungswissen das kritische Bewußtsein ein Bewußtsein zweiter Stufe darstellt, welches freilich allzugleich ein Obergeschoß ohne Untergeschoß zu sein versucht, so liegt die Annahme nahe, es müsse dieses zweite Bewußtsein durch ein drittes Bewußtsein methodisch korrigiert werden. Dieser etwas schematische Gedanke reicht freilich nicht aus. Denn jede weitere Bewußtseinsstufe wäre immer nur eine subtilere Wiederholung des Vorganges, der sich zwischen dem zweiten und ersten Bewußtsein schon erkennbar abgespielt hat. So würde keine qualitative Veränderung geschehen. In gewisser Weise stellt jeder Puritanismus und Rigorismus als Steigerung einer kritischen Grundauffassung eine Art drittes Bewußtsein dar, welches jedoch ersichtlich gerade durch die Steigerung in eine Sackgasse führt. Mit Recht hat gerade die alte Kirche eine Reihe von rigoristischen Bewegungen auf die Gefahr hin abgewiesen, des Laxismus beschuldigt zu werden.

Die Steigerung kritischen Bewußtseins steigert nur die Fehler, die damit behoben werden sollen. Die rigorose Zurücknahme jedes Einzelnen zur Selbstprüfung in den Schoß der Klerusgemeinschaft ist ja gerade dazu bestimmt, seine Haltung zu verstärken. Jene immer erneuten Selbstprüfungen, zu denen die sozialistischen Parteien ihre Mitglieder nötigen, sind die notwendige institutionelle Folge ihres Charakters als Klerus. Nur so kann die Minderheitssituation durchgehalten werden, die zur immer erneuten Abgrenzung durch Bewusstmachung und Befestigung des gemeinsamen Inhalts geschehen muß. Es ist daher die Frage, in welchem Sinne eine Eingrenzung oder Kritik dieser Klerusbildung mit seinen denkerischen und konkreten Folgen überhaupt möglich ist.

Eine Durchbrechung dieses Schemas könnte nur dann eintreten, wenn eben das in sein volles Recht wieder eingesetzt würde, was durch das kritische Bewußtsein entmächtigt und entwertet worden ist, eben die Praxis, das Erfahrungswissen. Das wäre aber nur dann möglich, wenn diese Praxis nicht als das Anwendungsfeld des vorgegebenen kritischen Bewußtseins verstanden würde, sondern wenn ihm selbst eine korrigierende Bedeutung gegenüber dem

|58|

kritischen Bewußtsein zugebilligt würde. Eine Strecke weit ist dies in der strengen methodischen Disziplin wissenschaftlicher Arbeit enthalten. Denn jeder Gelehrte muß das Ergebnis jahrzehntelanger Forschungen bedingungslos aufgeben, wenn das Experiment oder der historische Nachweis oder die Grenze der Schlüssigkeit alles zunichte macht. Dies setzt aber eine gleichzeitige und gleichwertige Hingabe an beide Weisen der Erkenntnis voraus, die sich in etwa gegenseitig auch wiederum ausschließen. Es ist für das kritische Bewußtsein die radikalste deminutio capitis, wenn es vor der schlichten Erfahrung kapitulieren muß. Dieses Verhältnis ist im Prinzip unausgleichbar. Unsere Frage war in etwa in dem historischen Selbstverständnis der Fakultäten aufbewahrt. Die drei alten Fakultäten, die theologische, juristische und medizinische, haben sich sämtlich als praktische Disziplinen verstanden, da sie auf das direkte Handeln am Menschen ausgerichtet sind. Otto Weber hat dies für die Theologie in seiner Ansprache zum Katechismus-Jubiläum 1963 nachdrücklich betont. Erst die vierte Fakultät, die artes liberales, hat diesen humanen Praxis-Bezug gelöst und sich auf alle denkbaren Objekte der Erkenntnis bezogen verstanden, Methode und Horizont ihrer Arbeit, aber zugleich auch ihre wissenssoziologische Struktur verändert.

Die Philosophie hat philosophisch noch einen anderen Ausweg gesucht, in dem gegenüber Theorie und Anspruch des Wissens eine Traditionslinie des Nichtwissens besteht, der docta ignorantia, die von der antiken Philosophie über Paulus, Cusanus bis in die Gegenwart nachzuweisen ist. Hier wird folgerichtig ein qualitativ Anderes gesucht, aus einer mehr oder minder direkten Einsicht in die eben entfaltete Zwangsstruktur des kritischen Denkens.

Einen anderen Weg ist etwa der römische Klerus vor aller soziologischen Theorie mit innerer Folgerichtigkeit geführt worden. Als Ausgleich wurde jeder einzelne Kleriker an den einzig adäquaten Praxisvollzug verwiesen, nämlich an die tägliche liturgische Meßfeier und das Breviergebet. Dieses Gegengewicht war erst notwendig und sinnvoll, nachdem der Klerus zur Jurisdiktionshierarchie geworden war. Dieses ganze Problem wurde in der Antithese — Gesetz und Freiheit — völlig unverständlich. Lange Zeit wurde eine Koinzidenz von theologischer Lehre und

|59|

geistlichem Vollzug durchgehalten, etwa in dem orthodoxen Satz von der „lex orandi — lex credendi”, oder auch von der benediktinischen Doppelregel des „ora et labora”. Mit einer gewissen Überlappung waren auch die großen Kirchenlehrer nur bis zu dem Zeitpunkt Heilige, als das kritisch-theologische Bewußtsein und der geistliche Lebensvollzug noch nicht von innen heraus geschieden waren. Rosenstock-Huessy hat gelegentlich gesagt, der Heilige Geist sei die Versuchung der Intellektuellen. Mit gutem Grund habe daher die Kirche Kirchen immer nur auf den Heiligen Geist und einen leiblichen Heiligen zugleich geweiht, also auf einen Patron, der im Fleische dem Herrn nachgefolgt sei.

Die hier formulierten Erkenntnisse führen also, kurz zusammengefaßt, zu einer Kette zwangsläufiger Bildungen.

Sobald das kritische Bewußtsein kommunikabel wird, führt es zur Gruppenbildung in der Form des Klerus.

Als Klerus beweist es seine kritische Überlegenheit und verzerrt damit zugleich die ihm aufgegebene und anvertraute, durch sein Urteil beanspruchte Wirklichkeit.

Um dies wiederum auszugleichen, erzeugt es komplementäre Leerformeln.

Obwohl es also in Wirklichkeit Subjekte der Freiheit hervorbringt, unterliegen doch diese zugleich einer ihnen selbst uneinsichtigen soziologischen Gesetzlichkeit.

Der so sich darstellende Systemzusammenhang erzeugt zwar das Bedürfnis, nicht aber die Mittel seiner Durchbrechung.

Das Verhältnis von Theorie und Praxis ist also auch kein allgemein anthropologisches Problem, sondern kann nur in der konkreten soziologischen Form der Klerus-Bildung und ihre Grenze verstanden und, wenn überhaupt, gelöst werden.

Zu den möglichen, wenn auch vielleicht nur begrenzten Hilfsmitteln, durch welche das so beschriebene System sich selbst transzendiert, gehört die Offenheit, die sichtbare Herausstellung des Klerus und seine Verrechtlichung, so anstößig beides piis auribus protestanticis sein mag. Denn diese offene Sichtbarkeit stellt den Klerus durch den Legitimations- und Traditionszusammenhang in die Geschichte und vermeidet dadurch, ihn in eine außergeschichtliche Absolutheit zu verweisen. Die Verrechtlichung verstärkt nicht

|60|

nur seine Wirkung durch Wahrung der Disziplin, sondern zeigt vor allem seine Begrenzung, seine Legitimationsbedürftigkeit und die Bindung an eine Sinnbestimmung. Verdeckung und Verleugnung des Klerus schwächt die offenkundigen Gefährdungen und Verengungen dieser Bildung nicht ab, sondern potenziert sie im Gegenteil gefährlich, weil nicht einmal mehr der Sitz des Problems diagnostiziert werden kann. Wie in der Psychoanalyse ist auch hier Offenlegung als solche ein wesentliches Mittel der Lösung.

Die bedeutsame These von Georg Picht, daß die kritische Vernunft über ihre Grenzen aufgeklärt werden müsse, müßte also wesentlich erweitert werden in Richtung auf die soziologischen Strukturen, die dieses kritische Bewußtsein notwendig erzeugt. Die institutionellen Strukturen aber folgen mit großer Treue eben dem inneren gedanklichen und psychologischen Aufbau dieses Vorgangs. Wenn aber die Aufdeckung von Schein wieder zur Erzeugung komplementären Scheins führt, und die Freiheit des Subjekts die Dinge zu Objekten verzerrt und entleert, so muß eine durchgreifendere Lösung dieses Widerspruchs gesucht werden, als das kritisch-emanzipative Bewußtsein für sich allein darzubieten vermag — und seine Schwäche liegt in seiner Alleinigkeit. In dem Versuch, Widersprüche zu beheben, erzeugt es neue in der Potenz.

Der Marxismus — an dessen Beispiel diese allgemeine Gesetzlichkeit deutlich wird — zeigt also spezifische, eindeutig definierbare Herrschaftsformen von hoher innerer Folgerichtigkeit. Er stellt vermöge seines radikalen Rationalismus eine kopflose Hierarchie dar, die durch einen überwiegend informellen Klerus verwirklicht wird. Wie andere umfassende Hierarchien beansprucht er Suffizienz für eine weltgeschichtliche Aufgabe und tabuiert sich selbst. Ebenso ist er als positives System undialektisch13a.

 

3. Die dritte Kraft

Von einer dritten Gewalt wird herkömmlich im Rahmen der staatsrechtlichen Gewaltenteilungslehre gesprochen; es wird


13a Eine besondere Studie über „Herrschaftsformen des Marxismus”, die diese Erkenntnisse benützt, hoffe ich in Kürze vorlegen zu können.

|61|

darunter dann die Rechtsprechung verstanden, jene dritte Potenz oder Funktion, von welcher Montesquieu tiefsinnig und vieldeutig gesagt hat, sie sei „en quelque façon nulle”, sie stelle keine eigene, sondern nur eine abgeleitete Position dar.

Von einer dritten Kraft wird dort gesprochen, wo schwerwiegende Gegensätze sich gefährlich polarisiert haben, so daß nach einer Vermittlung mit hinreichendem Gewicht gesucht wird. Sie darf sich nicht auf jene Gegensätze verrechnen lassen, muß aber zugleich stark genug sein, um auch tatsächlich einwirken zu können.

In unserem Zusammenhange soll unbeschadet möglicher Beziehungen zu jenen Bedeutungen in einem weiteren Sinnen von „dritten Kraft” gesprochen werden. Wir haben oben schon mehrere Formen deutlich abgrenzbarer sozialer Gefüge beschrieben, die, mit Vorbehalt, gesagt, einen geschlossenen Charakter tragen. Dies waren:
die Hierarchien ohne Dychotomie, welche aber
auf Hierarchien mit Dychotomie verweisen,
Gesamtordnungen, in welchen Hierarchie und Deliberation sich in einer zirkulären Verbindung zusammenfinden.

Gleichwohl zeigen sich Phänomene, die unabweislich zu den hier beschriebenen Tatbestand gehören, ohne in dem bisher Beschriebenen hinreichend berücksichtigt zu sein. Dies ist sowohl eine quantitative wie eine qualitative Frage.

Quantitativ bedeutsam werden solche Erscheinungen erst dann, wenn sie in einer gewissen Ausdehnung und Regelmäßigkeit auftreten. Man muß also damit rechnen, daß Anfänge und Teilerscheinungen von geringerem Gewicht sich vor und außerhalb unserer Erwägungen schon nachweisen lassen, ohne hier berücksichtigt werden zu müssen.

Qualitativen Wert haben solche Erscheinungen, wenn das Besondere des bisher Entwickelten von ihnen berührt wird. Nun sind sowohl Hierarchie wie Deliberation Strukturen der Entscheidung in unterschiedlichen, sich ergänzenden und bezüglichen Formen. Bedeutsam sind daher weitere Gebilde, wenn sie diese Entscheidungen mit betreffen. Die Frage nichtspezifischer Verrichtungen wurde schon früher kurz berührt. Sie sind hier solange unbeachtlich,

|62|

als sie in der Allgemeinheit der Verrichtungen gerade vermöge ihrer Ununterschiedenheit aufgehen können. Die jetzt gemeinten Erscheinungen aber sind gerade dadurch wesentlich, daß sie sich weder in der Stufenordnung von Hierarchie, noch in die Form der Deliberation, noch in die Allgemeinheit des Laos, der ununterschiedenen Verrichtungen eingliedern lassen. Positiv gesagt, sind es solche Verrichtungen, die durch ihre hervorragende Bedeutung auf die Entscheidung einwirken, also entscheidungsrelevant sind, ohne daß ihre Träger am hierarchischen Status oder am Recht der Deliberation teilnehmen.

In dem früher berührten Beispiel moderner Industriebetriebe tauchte dieses Problem solange nicht auf, als immer neue Kreise an selbständigen Entscheidungen beteiligt werden und damit mindestens in eine ähnliche Lage eintreten, wie sie für die Angestellten beschrieben wurde. Ein einsichtiges Modell für unsere Frage aber bildet etwa die Ausbildung der modernen Beamtenschaft. Sie geht vermöge ihrer amtlichen Funktion nicht in der Allgemeinheit der Staatsbürgerschaft auf, sondern ist aus ihr herausgehoben. Sie besitzt aber vermöge ihres funktionalen Charakters keine eigene politische Position, kein Eigenrecht im Sinne des Status, ebensowenig Sitz und Stimme in deliberativen Körpern. Trotzdem und gerade deswegen ist ihre Funktion für die Entscheidungsbildung von hervorragender Bedeutung. Diese besondere Stellung des Beamtentums tritt noch deutlich hervor in Mißachtung und Vorurteil des grundbesitzenden Adels gegenüber dem bürgerlichen Beamtentum, den Leuten „ohne Ar und Halm”. Dies war altständisch gedacht, wo die Stände politisch ihr Eigenrecht und ihr fundiertes reales Interesse geltend machten. Sie verstanden sich im Gegensatz sowohl zu der akademischen Theorie der Universitätsjuristen wie zu der Abhängigkeit des Beamten von der Krone. Nun ist es ein vielerörtertes Problem, daß die Sachkunde und die Kompetenzen solcher Funktionärsgruppen als Bürokratien ein Eigengewicht erlang, welches die Entscheidung der politisch Verantwortlichen, sei es in hierarchischer, sei es in deliberativer Form wesentlich einschränkt oder womöglich in unberechenbarer Weise präjudiziert. Diese Form läßt sich in fast unabsehbarer Weise auf zahllose Formen von Sachverständigen und Technikern ausdehnen.

|63|

Dies ist in gewissem Umfange auch ein quantitatives Problem. Wenn die Sachgebiete jener Funktionäre so spezialistisch, vielfältig und ausgedehnt werden, daß der Entscheidende die ihm vorgetragenen Informationen und Ratschläge selbst in ihren Grundzügen nicht mehr zulänglich überprüfen, nachvollziehen und kontrollieren kann, so hebt sich die Urteilsmöglichkeit sowohl für die Hierarchie wie für die Deliberation in eben dem Maße auf. Hier bedeutet die Quantität des nicht beherrschbaren Stoffes zugleich eine Qualität der Entscheidbarkeit und Verfügbarkeit. Vielfach macht der Sachverständige Sachzwänge geltend, deren Stringenz nicht nachprüfbar ist. Ob es möglich ist, durch ein zweites System von Begutachtung und Information das Votum der ersten zu kontrollieren und zu überprüfen, ist dann eine weitere, nicht selbstverständlich zu bejahende Frage. Damit gewinnen aber die Urteile, die in dem Kompetenzbereich des scheinbar rein objektiven Sachverstands liegen, eine verdeckte Eigenständigkeit, welcher nicht wirksam begegnet werden kann. Der Einrichtung solcher Arbeitsgefüge aber ist durch die Zahl der geeigneten Personen eine enge Grenze gesetzt. Es ist nach dieser Beschreibung deutlich, daß das vorbehaltene Wissen im Gefüge der Hierarchie und die mehr oder minder öffentliche Erörterung in der Deliberation als solche diesen konzentrierten Sachverstand nicht einfach ersetzen können, daß sie dafür als Formen der Urteilsbildung nicht spezifisch sind. Dies verleiht also jener dritten Kraft eine unentbehrliche, aber schwer zu bewältigende Machtposition. Zugleich führt diese über die systematische Geschlossenheit des Zirkels von Hierarchie und Deliberation hinaus.

Gleichwohl ist die Wirkung dieser dritten Kraft auch wieder begrenzt und ambivalent. Sie muß die von ihr beigebrachten Daten und Vorschläge in jedem Falle auf die Entscheidung, sei es der Hierarchie, sei es deliberativer Gremien so zuspitzen, daß diese entscheiden können. Ihr selbst ist die Entscheidung nach ihrem eigenen Begriffe versagt, auch wenn sie die Tendenz hat, die Entscheidung zu präjudizieren. Sie kann diese Vorschläge so formulieren, daß den Entscheidenden kaum noch eine ernsthafte Alternative, kein Spielraum der Wahl bleibt. Trotzdem bleibt bestehen, daß der Ort der Entscheidung selbst nicht bei ihr liegt. An irgendeiner

|64|

Stelle muß entschieden werden, und wenn es sich allein um die Prioritäten zwischen verschiedenen Möglichkeiten handelt, die nicht gleichzeitig wahrgenommen werden können und in eine Rangordnung der Bedürfnisse gebracht worden müssen.

Diese Fortbildung steht nun in einem besonderen Zusammenhange zur Hierarchie. Denn diese ist gerade entstanden, um ein konzentriertes und sorgsam tradiertes Sachwissen aus einer intensiven Bindung an den Gegenstand mit größter Wirkung zur Geltung zu bringen. Die Entstehung einer solchen dritten Kraft liegt also der Hierarchie näher als der Deliberation. Aber eben darum ist die dritte Kraft selbst niemals hierarchisch! Die Verwahrlosung des Sprachgebrauchs verdeckt diese Einsicht in bedenklicher Weise. Umgekehrt hat die Deliberation die Bedeutung, gegenüber der unvermeidlichen Betriebsblindheit von Hierarchie und dritter Kraft in möglichst hohem Maße die Vielfalt der Möglichkeiten und das ganze Ausmaß der Folgen anstehender Entscheidungen rechtzeitig zur Geltung zu bringen. Eben darum besteht die Gefahr der Deliberation darin, daß entweder mangelnder Sachverstand den realen Bedingungen ausweicht oder aber die Konzentration auf folgerichtige Lösungen durch sich überkreuzende Gesichtspunkte sachwidrig auflöst. Die Erfahrung der Bildung solcher Größen ist zugleich mit einer Reihe psychologischer Schwierigkeiten verbunden. Einmal weigern sich die Glieder der Hierarchie, aber auch die Träger der Deliberation, die reale Bedeutung der hier konzentrierten Sachzusammenhänge hinreichend anzuerkennen, und versuchen mit unzulänglichen Mitteln, diese dritte Funktion zu ersetzen. So hat etwa das deutsche Heer im Ersten Weltkriege durch die traditionelle Mißachtung militärischer Planung außerhalb der fechtenden Truppe schwer gelitten.

Umgekehrt erzeugt das Eigengewicht solcher bürokratischen und technokratischen Gebilde die deterministische Vorstellung, als ob es keine Bereiche der Entscheidung mehr gäbe, als ob die Sachzwänge der Dinge, eine rein immanente Sachlichkeit imstande wäre, die Setzung von Zielen oder mindestens Prioritäten zu ersetzen oder ganz auszuscheiden. Die sehr weitgreifende Einschränkung der Entscheidungsmöglichkeiten wird ideologisch mit ihrer Aufhebung verwechselt. Dieser Ideologisierung der Technokratie stehen dann

|65|

wieder politische Tendenzen gegenüber, welche rücksichtslos auch anerkannte Gesetze der Ökonomie und Technik zu überspielen und auszuschalten versuchen. Die Frage wird schließlich noch dadurch erschwert, daß in dem Votum der Sachverständigen unterhalb ihrer fachlichen Argumentation im breiten Maße unbewußte politische Positionsinteressen wirksam werden, die mindestens zum Teil von außen erkannt werden können. Sodann gibt es vom Berufsbild her habituelle Einschränkungen der Spontaneität. Die Justiz darf nur vorliegende Sachverhalte beurteilen, unterdrückt daher die gestaltende Initiative. Die Administration versucht mit vorgegebenen rechtlichen Mitteln initiativ zu werden; ihr ist aber die Gestaltung der politischen Situation verweht. Die beste Verwaltung aber ersetzt nicht gute Politik. Politik und Gesetzgebung stehen in der Gefahr, Sachverhältnisse und Recht zu überspielen.

Die Frage kompliziert sich noch um einen weiteren Grad durch die moderne Einschränkung der Entscheidungsmöglichkeiten auf den verschiedenen territorialen Ebenen. Die Entscheidungen im politischen Bereich der Einzelstaaten sind in diesem Felde bereits durch explizite internationale Bindungen eingeschränkt, aber keineswegs einfach aufgehoben. Entscheidung wird hier zu einer gebrochenen und relativen Größe. Das Gleiche etwa vollzieht sich noch einmal in dem Verhältnis zwischen Staat und Kommunalverbänden, die einerseits selbst wirtschaften und andererseits durch große Zusammenhänge der Finanz- und Steuerpolitik in ihrer Entscheidungsmöglichkeiten einschneidend begrenzt sind. Es gibt nirgends mehr integrale Vollexistenzen, die das jeweils Besondere ihrer Position selbständig wahrnehmen können.

Da der Hauptzweck der vorliegenden Untersuchung die Frage der kirchlichen Hierarchie ist, verlasse ich diesen Gegenstand hier, um ihn im zweiten Teil mit besonderer Anwendung auf die kirchlichen Gefüge wieder aufzunehmen. Als Ertrag verzeichne ich jedoch die These, daß die bedeutende Wirkung und Ausdehnung der dritten Kraft doch immer auf Entscheidung zielt und auf sie zuläuft. Es bleibt also eine Spannung zwischen diesem Gebilde und jedem denkbaren, regelmäßigen Zuge des Verfassungsaufbaues bestehen, wobei einer deterministischen Auslegung dieses Tatbestandes gewehrt werden muß.