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III
Analyse säkularer Hierarchie

 

1. Königtum und Lehnswesen

Religiöser Hierarchie stehen die älteren Formen politisch-sozialer Machtordnung sehr nahe. Gerade hier aber wird durch den Vergleich die Bedeutsamkeit des rationalen Elements für die Ausbildung von Hierarchie sichtbar, weil es jenen älteren Formen weitgehend fehlt. Im sakralen Königtum finden wir ohne hierarchische Formen, d.h. ohne eine rational durchgebildete Vermittlung die oben entwickelte Antinomie. Das Königtum ist nur denkbar aufgrund der präsumtiven und zugleich im Prototypus des Königsgeschlechts vorgezeichneten Identität der Abstammung; sie wird zugleich dadurch ermöglicht, daß dem Königsgeschlecht als solchem eine ausgezeichnete Bedeutung beigemessen wird, an der der gemeine Mann, ihm durch jene Gemeinsamkeit verbunden, zugleich keinen Anteil hat9. Dieses Verhältnis aber ist nicht hierarchisch, weil es nicht durch rational definierte Zwischenglieder vermittelt ist. Der Adel übt nur praktisch, nicht aber im rationalen Sinne eine gewisse Mittelfunktion aus.

Dagegen finden wir eine sehr weitgehend rationalisierte hierarchische Struktur im Lehnsystem. Hier ist jedes Verhältnis von Vor- und Nachordnung in der gleichen definierten Weise vermittelt. Das ist insofern bedeutsam, als hier ein großes, alle ökonomischen, politischen, gesellschaftlichen und religiösen Bezüge formendes System über einen historisch feststellbaren Zeitraum hin realisiert ist. Das Lehnsystem ist jedoch an jener beschriebenen Spannung historisch zugrunde gegangen. Denn einerseits wurden die eingeräumten


9 Vgl. hierzu H. Dombois, Strukturelle Staatslehre (Berlin 1952) S. 79 ff.

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Statusrechte in dem Sinne als Eigenrechte verstanden, daß ihre Tauglichkeit als Glieder des Systems in Frage gestellt wurde; andererseits konnte aus zwingenden Gründen der politischen Selbsterhaltung die Bindung der legitimierenden Gewalt an die Unaufhebbarkeit der eingeräumten Statusrechte nicht eingehalten werden.

Die Verwirklichung eines so umfassenden Systems von innerer gedanklicher Schlüssigkeit ist unter gewissen Bedingungen der Geschichte zwar zeitweilig möglich, aber nicht auf die Länge durchzuhalten gewesen.

Konnte also, wie dieses historische Beispiel zeigt, die politische Gewalt die eingeräumten Statusrechte nicht einfach als einmal begründet bestehen lassen, die Eigentendenz dieser Rechte sich aber nicht sinngemäß an die veränderten Bedingungen politischer Selbstbehauptung anpassen, so kommen wir damit von allein auf die strukturellen Bedingungen von Hierarchie zurück:

Die Funktionsgehalte jeder nachgeordneten hierarchischen Stufe müssen, damit Hierarchie besteht, in einem Mindestmaße rational definiert und deshalb auch konkret beurteilter sein. Der Träger dieser hierarchischen Stellung muß dieser Beurteilung auch ständig unterworfen werden, eine rationale Disziplin mit klaren Maßstäben muß effektiv bleiben. Das System muß daher zugleich einen gewissen Spielraum von Veränderungen wie Fehlentscheidungen zu tragen imstande sein. Kant hat Aufklärung als den Ausgang aus der selbstverschuldeten Abhängigkeit definiert. Dies ist — von seinem philosophischen Gehalt abgesehen — eine exakte Beschreibung der Verfassungslage unter dem Absolutismus. Selbstverschuldet war die Abhängigkeit der Staatsbürger, weil die ständische Verfassung als System wohlerworbener Rechte zu einer entscheidungshindernden Interessenverfilzung geführt hatte, demgegenüber sich die jederzeit präsente Entscheidung aus zwingenden politischen, militärischen und ökonomischen Gründen durchsetzen mußte und konnte. Dies aber bedingte die Herstellung voller Abhängigkeit der nachgeordneten Schichten, deren Status — unter Wahrung ihrer wohlerworbenen Rechte — entpolitisiert wurde.

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2. Die militärische Hierarchie

Sie konnte erst entstehen, nachdem das Heerwesen aus dem vorrationalen Stadium der Volksheere, des Lehnswesens und des Söldnertums in eine rationale Form überführt worden war, also erst etwa vom 17. Jahrhundert ab.

Die militärische Hierarchie wird transzendiert von der sie legitimierenden politischen Gewalt, die sie weder ersetzen noch entbehren kann. Die Situation des Krieges, in welchem die Selbstbehauptung des Gemeinwesens auf dem Spiele steht, ist aber eine unbedingte, welche alle Einzelverhältnisse mehr oder minder direkt betrifft. Deshalb muß durch die militärische Hierarchie die Anspannung aller Kräfte, die Unbedingtheit des Gehorsams und damit der kriegerischen Entscheidung gewährleistet werden.

Für die militärische Hierarchie ist der triadische Aufbau dreier je in sich abgeschlossener hierarchischer Einheiten bemerkenswert: Subalternoffiziere, Stabsoffiziere, Generalität, die sich in ihrem Aufbau genau entsprechen (Wachtmeister, Leutnant, Hauptmann) und jeweils in einem Vollrang enden: Hauptmann, Oberst, (Voll-)General.

Hier wird zugleich sichtbar, daß Hierarchie immer in Bezug auf jemand, auf die zu Leitenden hin entsteht, daß also ein hierarchischer Aufbau ein soziales Gefüge nie ganz von unten bis oben durchgliedern kann. Unterhalb der Chargen stehen die Mannschaften, die, wenn auch gliedernde Unterschiede nicht fehlen, jedenfalls keinen Anteil an der Befehlsgewalt haben10.


10 Einen sehr merkwürdigen triadischen Aufbau zeigte die Organisation des preußisch-deutschen Heerwesens in der Anordnung der Sachbereiche wenigstens bis zum Ausgang des Zweiten Weltkrieges. Der Ia versieht im (General-)Stab die aktive Führung der eigenen Truppe, der Ib deren Versorgung und Verwaltung, der Ic die Erforschung des Gegners. Auch die weitere Geschäftsverteilung lehnte sich an dieses Schema an. Daß es nicht ganz zufällig ist, zeigt die Analogie zu den Leitungsämtern der älteren studentischen Korporationen, die mindestens auf das späte 18. Jahrhundert zurückgehen und zugleich sehr viel ältere Formen der Hochschulverfassung aufbewahrt haben. Hier ist der erste Chargierte der eigentliche Vorsteher, der zweite keinesfalls einfach der Stellvertreter, sondern vor allem sachlich der Verwalter aller materiellen Interessen einschließlich der Leibesübungen; der dritte ist der Träger der Außenbeziehungen.

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Für die Struktur der militärischen Hierarchie ist wesentlich die Spannung zwischen der höchstmögliche Festlegung aller denkbaren Verrichtungen durch Reglemente, die die Übertragbarkeit und Kontrolle der exakt definierten Handlungen sicherstellen, auf der einen, und der Auslösung eines Höchstmaßes von Entscheidungsfähigkeit auf der anderen Seite, deren Inhalte durch kein Reglement vorherbestimmt werden kann. Nur der Soldat, der voll in die Truppe integriert ist und bei dem jeder Griff „sitzt”, kann in der Unberechenbarkeit des Kampfes bestehen. Das Eine bedingt das Andere, und nur so wird das Ganze einsatzfähig. Es ist verständlich, daß diese Spannung von schwachen oder primitiven Charakteren nicht durchgehalten werden kann und daß diese geistig der bloßen Reglementierung anheimfallen.

Deutlich sind Status und Substitution. Der vorüberkommende Chef kann jeden Befehl des Unteroffiziers auf der Stelle korrigieren, ohne daß dessen Stellung dadurch infrage gestellt wird oder damit systemwidrig gehandelt wird. Der Unteroffizier, der einmal die Tressen bekommen hat, kann nur wegen ehrenrühriger Verfehlungen degradiert, aber seiner Stellung sonst nicht mehr enthoben werden. Erweist es sich, daß er nicht befehlen kann, so muß er an einer Stelle verwendet werden, wo unbeschadet seines Ranges dieser Mangel nicht in Erscheinung tritt.

 

3. Hierarchie in der Gerichtsverfassung

Mit der Rationalisierung des Gerichtswesens und der Ablösung aus dem archaisch-agonalen Parteienprozeß (wie ihn das angelsächsische Recht bis auf unsere Tage gebracht hat), entsteht in Gestalt des rechtsstaatlichen Verfolgungszwangs ein Moment unbedingter Dringlichkeit, welches zur Ausbildung einer hierarchischen Form führt. Unter diesen Voraussetzungen sind die Staatsanwaltschaften, nicht aber die Gerichte hierarchisch verfaßt. Der Verfolgungszwang mit Untersuchungsmaxime bedeutet eine Unbedingtheit und Unverfügbarkeit der zu bewährenden Rechtsordnung. Durch ihn ist die Staatsanwaltschaft gezwungen, unverzüglich Täter und Beweismittel sicherzustellen, weil ein Versäumnis

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mit Verlust der Verfolgungsmöglichkeit gleichbedeutend wäre. Diese sofortige Entscheidung über Verfolgung oder Nichtverfolgung erzeugt die Hierarchie, während dem deliberierenden Gericht die Streitfragen und Beweismittel vorgelegt, angedient werden. In dieser Gerichtsverfassung gibt es keine Staatsanwaltschaften, sondern nur Leitende Staatsanwälte, in deren Namen nach gewissen abgestuften Kompetenzen gezeichnet wird. Der Nachgeordnete kann sich niemals darüber beschwert fühlen, daß vom Vorgesetzten abweichend entschieden wird, auch wenn er sich sachlich im Recht glaubt, und unabhängig von der Frage, ob er es objektiv ist. Die Legitimation deckt den Inhalt der Entscheidung; formelle und materielle Legitimation fallen ineinander, ohne daß damit die Frage der Richtigkeit überhaupt berührt wird. Die hierarchische From der Staatsanwaltschaften ist nur möglich und sinnvoll, weil die sachliche End-Entscheidung beim Gericht liegt. Wenn die Rechtsordnung den Vervolgungszwang statuiert, so muß sie auch die lückenlose Verfolgung durch entsprechende Organisation gewährleisten. Die Verantwortung für Grenzentscheidungen liegt dann notwendig an einer zentralen Stelle. Die Forderung der Weisungsfreiheit der Staatsanwälte ist (abgesehen von der statistischen Bedeutungslosigkeit der Frage) ein systemwidriger Denkfehler. Übrigens herrscht in den Staatsanwaltschaften eine sehr viel stärkere kollegiale Gesinnung als in den Gerichten. Kameradschaft liegt dem Soldaten näher als dem Bürger. In den hierarchisch verfaßten Gemeinwesen, der preußischen Militärmonarchie, wie in den sozialistischen Staaten schlägt die politische Staatsstruktur in einer Höherwertung der Staatsanwaltschaften durch (Kavallerie der Justiz). Die strenge Zweckrichtung des Staates wird hier deutlicher repräsentiert als in der abwägenden Deliberation der Gerichte.

In den sozialistischen Staaten, die auf Grund ihres Rechtsverständnisses prinzipiell keine Selbstbindung des Staates kennen, bedeutet die Entscheidung der Staatsanwaltschaft über die Einleitung der Strafverfolgung einen politischen Akt der Parteihierarchie, welcher das entscheidende Gericht in höchstem Grade, nahezu unausweislich vor den Zwang positiver Entscheidung als Solidarisierung nach dem Grundsatz der Parteilichkeit stellt. Die

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Dialektik des Prozesses ist vorweg — wie sich auch in der Einschränkung der Verteidigung zeigt —, aufgehoben.

Moderne rationale Verwaltungen haben zwar aufsteigende Kompetenzordnungen sogenannter bürokratischer Form. Bürokratisch ist die merkwürdige Bezeichnung für Weisungsgebundenheit, genauer den Entscheidungsvorbehalt des Vorgesetzten ohne eigenen Status des Nachgeordneten. Aber diese Behörden sind deshalb nicht hierarchisch, weil der Ausgleich höchst unterschiedlicher Zwecke und Interessen ihrem Gegenstand die Unbedingtheit nehmen, für sie zugleich aber auch die Präsenz der Entscheidung, das Zeitmoment nicht die gleiche grundsätzliche Rolle spielt.

Gerichtshöfe sind nirgends hierarchisch, sondern überall kollegial aufgebaut. Die Kollegialität der Gerichte ist nicht einfach egalitär: es gibt Rangunterschiede zwischen den Mitgliedern, beispielsweise in dem Schema: Präsident, Direktoren, Räte. Diese justizförmige Schema ist vom 17. bis zum 19. Jahrhundert für die Struktur gerade administrativer Behörden bestimmend gewesen. Obwohl sie zweckhaft auf Verwaltungsentscheidungen ausgerichtet waren, wurden sie strukturell justizförmig, als an der Beurteilung bestehender und weiter zu gestaltender Rechte orientiert. Die statusrechtliche Unterschiedenheit der Mitglieder von Kollegien kann in verschiedenen Formen berücksichtigt werden. Entweder wird secundum ordinem von oben nach unten votiert; dann bestehen Vorstimmrechte, welche den ranghöheren wie den älteren Mitgliedern ermöglichen und ermöglichen sollen, die Entscheidung zu präjudizieren. Die Stimme der Jüngeren und Nachgeordneten kommt dann oft nicht mehr zur Geltung. Diese Abstimmungsform galt im römischen Senat. Oder aber die Abstimmung erfolgt uni actu unter völliger Suspension aller Unterschiede. Oder die Rangordnung wird, um das Votum der Jüngeren unbeeinflusst zur vollen Geltung kommen zu lassen, gerade umgekehrt. So etwa in der Stimmordnung der gemischten Gerichte, z.B. der Schwurgerichte. Die erste Form kann als Seniorität, das dritte als Juniorität bezeichnet werden. Die zweite hat sich erst allmählich herausgebildet, weil der Gedanke der Gleichheit sozialgeschichtlich sich spät durchsetzt, teils als positiver, teils als kritisch-skeptischer Gedanke gegen alle vorausgreifenden Wertungen der Person. So lange aber

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in einer dieser Formen die Ungleichheit Relevanz besitzt, besteht eine diagonale, sozusagen schräg abfallende Anordnung, nicht die vertikale Stufung, die ein unabdingbares Merkmal der Hierarchie ist.

Der aufsteigende, vertikale Instanzierung der Gerichte wiederum ist nicht hierarchisch, weil die Vorentscheidung der unteren Instanz die unabdingbare Voraussetzung der höheren Entscheidung ist. Die Freiheit der unteren Entscheidung wird durch die Kompetenz der oberen Instanz nicht aufgehoben; die obere Entscheidung kann der unteren auch nicht durch einen unmittelbaren Vorgriff der Oberinstanz auf den unteren Prozeß substituiert werden.

In älteren Gerichtsverfassungen kann zwar der König als oberster Gerichtsherr jede Entscheidung fällen, die er an sich zieht, oder per missionem aut delegationem fällen lassen, also an die Stelle des ordentlichen unteren Richters treten. Hier ist aber wiederum die Rationalisierung der Stufung und der volle Statuscharakter aller einzelnen Entscheidungsträger noch nicht ausgebildet. Der Vorbehalt bestimmter schwerwiegender Zuständigkeiten (Blutbann, politische Gerichtsbarkeit) für höhere Instanzen ist ebensowenig hierarchisch zu verrechnen. Diese fast in allen Kulturstaaten verbreitete Scheidung zwischen mehrinstanzlichen und eininstanzlichen Strafsachen zeigt eine strukturelle Spaltung an. Die unterinstanzlichen Verfahren vertragen eine langdauernde Problematisierung, die eininstanzlichen erfordern eine bündige Demission, insbesondere wegen ihres politischen und allgemeinen Gewichts. Entscheidungszwang und Stufung, die in der Hierarchie zusammentreffen, treten hier auseinander. Eine gewisse Bindung der Unterinstanz an die Rechtsprechung der Obergerichte kommt im Grundbuchrecht vor, weil hier der freie Austrag unterschiedlicher rechtlicher Beurteilung durch die Instanzen inzwischen für die Partei zum irreparablen Rechtsverlust (Rangverlust) führen kann. Dieses Motiv ist typisch. Aber auch hier wird nicht im obigen Sinne substituiert.

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4. Hierarchie in politischen Parteien

In den politischen Parteien des bürgerlichen Zeitalters finden wir kaum hierarchische Elemente, höchstens in einer labilen, informellen Form. Diese Formen stabilisieren sich in dem Maße, in dem die Partei in eine politische Gesamtverantwortung eintritt, zur staatstragenden oder Einheitspartei wird, weil damit der Entscheidungszwang zunimmt, und in noch höherem Maße, sofern ihre Programmatik dogmatisch-ideologischen Charakter annimmt. Beansprucht die Partei für die von ihr geführte Gruppe, zugleich aber für die Menschheit eine letzte Sinnverwirklichung zu verfechten, so erzeugt diese im formellen Sinne eschatologische Struktur der politischen Urteils- und Willensbildung sowohl den Zwang zu absoluter Letztentscheidung wie deren Legitimation. Diese Form kann entweder dogmatisiert oder punktualisiert werden. Im ersten Falle müssen Gedankensysteme ausgebildet werden, welche die jeweilige Entscheidung durch rationale Auslegung der geschichtlichen Situation zugleich als schlechthin richtig, womöglich als „wissenschaftlich” erweisen. Demgegenüber erscheinen abweichende Meinungen nicht als freie Entscheidungen oder als Zweckmäßigkeitsfragen, sondern als Irrtümer, die den Charakter des Schuldhaften tragen, der eigensüchtigen Verstockung gegenüber einer offen zutage liegenden Evidenz und Abschließung vom gesunden Gemeinsinn der Gesamtpartei. Der sog. wissenschaftliche Sozialismus, genauer sein Ziel und Anspruch „wissenschaftlich” zu sein, entspringt nicht einem rationalistischen Wissenschaftsaberglauben, sondern entspricht der eschatologischen Struktur seines Denkens, der These, die Menschheit im Endkampf von ihrer Entfremdung zu befreien. Dogmatik ist hier wie anderwärts rationalisierte, systematisierte Eschatologie

Kein spekulativer Trieb kann die Kräfte zu einer solchen Bildung auslösen, die immer wieder ihre Probleme reflektiert, unendlich mit ihren eigenen Begriffsschwierigkeiten beschäftigt ist und doch nur zusammen mit jenem Bedeutsamkeitsanspruch sinnvoll ist.

So stehen kommunistische Parteien unter dem Systemzwang, jede ihrer Entscheidungen dogmatisch zu begründen und als in ihr

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schon vorentschieden darzustellen. So ist die ermüdende Scholastik zeitraubender Parteitagsreden zu erklären, in welchen das verpönte Element kontingenter politischer und ökonomischer Entscheidung verdeckt und verdrängt wird. Trotzdem hält diese Scheinrationalität das hierarchische System über gewisse Strecken funktionsfähig, weil dieses geistige Rauhfutter einen unermeßlichen Diskussionsstoff abgibt und unter dieser Decke im beträchtlichen Maß freie Entscheidungen möglich werden.

Dem steht die Form der Punktualisierung gegenüber. Hier wird die ebenso notwendige, schicksalhafte Entscheidung in der Eingebung eines einzelnen Mannes oder allenfalls Gremiums, in der Jeweiligkeit treffender Situationsbeurteilung gesucht und gesehen. Ein rationaler Nachvollzug dieser Entscheidungen oder gar ein dogmatischer Beweis für ihre grundsätzliche Richtigkeit gehört nicht zu dieser Struktur, wohl aber die Bewährung des Erfolges.

Die erstere Form der Parteibildung, wesentlich verwirklicht in sozialistischen Staaten, beruht theoretisch auf dem Versuch zu machtloser Herrschft, in der alles aus dem nur interpretationsbedürftigen geschichtlichen Gesamtsinn der Gruppe hervorgeht. In Wirklichkeit erzeugt diese Konzeption Systeme, welche hierarchischen Formen sehr nahe sind. Stufungen sowohl der Mitgliedschaft in der Partei wie in wesentlichen Leitungsgremien (Kandidaten und Vollmitglieder) gehören hier zusammen. Der Phänotypus ist fast völlig hierarchisch. Gänzlich unhierarchisch ist dagegen der Rechtsbegriff, der jede Bindung an einmal verliehenes Recht (Status) ausschließt. Infolgedessen wechselt das Bild von unbegrenzter Vollmacht zur physischen Vernichtung der Abweichenden, der die sich durchsetzende geschichtliche Wahrheit mit dem Risiko seines Lebens verfehlt hat. In den sozialistischen Staaten hat diese Quasihierarchie die streng dogmatische Form des sog. demokratischen Zentralismus angenommen. Auffälligerweise ist diese für die geschichtliche Durchsetzung des Kommunismus in der politischen Wirklichkeit ausschlaggebende Institutionalisierung eines gleichsam vom Himmel gefallenen Prinzips bisher kaum erörtert worden. Es ist fast so wie mit der beiderseitigen Tabuierung der Hierarchie in den streitenden Konfessionen. Die Phänomene werden verständnislos als eine banale Anhäufung von Macht und

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deren allzu menschlicher Mißbrauch angesehen. Jedenfalls verleiht dieser Grundsatz den Parteigremien von oben nach unten eine Art von Infallibilität, die der Argumentation grundsätzlich unzugänglich ist. Dabei ist es strukturell gleichgültig, ob es sich um von Einzelnen oder von Kollektiven getragene Entscheidungen handelt. Neigt sich die Entscheidung zu einer Mehrheit, so wirkt diese Kollektiv ebenso als hierarchische Einheit wie eine einzelne Person. Dieser ordo ist freilich nicht unzerstörbar. Daß zwischen Infallibilität und Ächtung nur wenig Raum für ein Überleben ist, zeigt die Entschiedenheit dieser hierarchischen Struktur an. Denn es geht immer angeblich um Entscheidungen von geschichtlich-existenzbestimmenden Charakter, nicht um diskutable Zweckmäßigkeit. Die ideologische Fiktion ständiger Bedrohung von außen ist deshalb keine propagandistische Frage, sondern ein konstituierendes Merkmal, ohne welches die Entscheidungen ihre Notwendigkeit und Stringenz und damit ihre Legitimation verlieren würden. Es ist ein dramatisiertes System oder systematisiertes Drama in einem weltgeschichtlich-eschatologischen Horizont.

Robert Havemann, der Wanderer zwischen beiden Teilen Deutschlands, beschreibt in seinem Erinnerungsbuch „Fragen — Antworten — Fragen, Aus der Biographie eines deutschen Marxisten” die marxistische Bürokratie folgendermaßen:

„Die Partei- und Staatsbürokratie bildet keinen besonderen Körper innerhalb der Gesellschaft. Sie ist vielmehr einem verästelten und wuchernden System vergleichbar, dessen Fasern sich dem Mittelpunkt zu in immer mächtigeren Strängen vereinen. Sie ist dem Myzel eines Pilzes vergleichbar, das seinen Nährboden durchzieht und aussaugt. Dieses Geflecht hat zwar, hierarchisch gesehen, keine echte Schichtstruktur, denn in den verschiedenen Etagen dieser Hierarchie existiert kein oder fast kein System von Querverbindungen. Alle Verbindungen sind nur in zentraler Richtung gezogen. Aber doch gilt, daß jede der Quasi-Schichten dieses Systems von der über ihr liegenden Schicht beherrscht wird und ihrerseits eine unter ihr liegende Schicht selbst beherrscht. Die gesamte gesellschaftliche Macht wird durch diese Struktur auf das Zentrum hin orientiert. Eine demokratische Meinungsbildung von unten ist absolut ausgeschlossen.”

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Dieser von ihm leidvoll erfahrene Tatbestand ist, wie ersichtlich, erstaunlich wenig reflektiert — weder nach der Struktur noch nach den Triebkräften. Die Beschreibung bietet aber Anhaltspunkte für die weiteren Analyse. Diese Hierarchie ist im Sinne der bloßen Befehlsabhängigkeit mechanisiert. Niemand hat hier mehr einen rechtlich gesicherten Status. Die Dialektik von Status und Substitution ist aufgelöst. Nicht nur die bürgerliche Rechtsordnung ist beseitigt, sondern der Rechtsgedanke im Verfassungsgefüge selbst in der Wurzel getroffen. Die positive Funktion der Verrechtlichung solcher Gefüge, die der liberale Protestantismus nicht abzuschätzen vermag, wird hier deutlich. Aber dieses Befehlsmechanismus wäre sicher außerstande, sich als System zu erhalten, wenn nicht ein eigener Antrieb der Beteiligten vorhanden wäre. Havemann nennt ihn deutlich:

„Innerhalb des Machtapparats vollzieht sich ein unaufhörlicher Aufstieg der einzelnen Funktionäre, ein Aufstieg, der bei den meisten eines Tages mit einem jähen Absturz endet. … Solange der Funktionär zuverlässig und zweifelsfrei alle von oben kommenden Weisungen befolgt und nach unten überträgt, ist seine Karriere gesichert. Ein einziger selbständiger Gedanke, der auch nur eine Spur von Zweifel an der Richtigkeit der Staatsmeinung erkennen läßt, kann das Ende seiner Laufbahn bedeuten. Mit Argusaugen bewachen seine Konkurrenten jeden seiner Schritte und hören auf jedes seiner Worte. Dieser Druck von unten, dieses dauernde Nachdrängen der Anwärter auf seinen Posten veranlaßt ihn, lieber päpstlicher zu sein als der Papst, um ja nicht in den Verdacht zu kommen, er sei ein Versöhnler, ein Liberaler oder gar ein Aufweichler. Dieser Mechanismus des Mißtrauens und des Karrierismus bewirkt, daß jeder noch so entschiedene Schritt der Führung in Richtung auf eine Demokratisierung oder ‘Liberalisierung’ sich immer wieder totläuft und in einer neuen Periode der harten Linie endet. Die stalinistische Struktur reproduziert sich auf diese Weise immer wieder”

Das Eigeninteresse, welches im ökonomischen Bereich als Quelle der Entfremdung systematisch ausgeschlossen worden ist, wird hier in der Form entwürdigender Unfreiheit als Treibstoff und Sicherung des Systems zugleich wieder eingesetzt.

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Weder hier, wo die Tatbestände offen beschrieben werden, noch sonstwo im Bereich marxistischer Kritik, zeigt sich eine systematische und phänomenologische Analyse. Die Schärfe marxistischen Denkens wird an bestimmten Grenzpunkten unversehens stumpf. Der prinzipiell pharisäische Charakter der linken Machtkritik tritt hervor: Gegenstand kritischer Untersuchung ist immer hier die Macht anderer, nie die — unvermeidlich anfallende — eigene Macht, auch dann nicht, wenn man selbst deren rechtloses Opfer geworden ist.

Die Frage des „demokratischen Zentralismus” behandelt auch Friedet Naschold11. Er verkennt nicht, daß das Selbstverständnis, das dieser Konzeption zugrunde liegt — „freie Diskussion bei gleichzeitiger Einheit der Aktion” Widersprüche enthält, die „teilweise zu Tendenzen führen, die im Gegensatz zum erklärten Ziel standen”.

Solche Widersprüche sind freilich das tägliche Brot der Soziologie: daß Zielvorstellungen und soziologische Gesetze zweierlei sind, ist ihre wesentlichste Voraussetzung. Die Erhellung dieses Widerspruchs bleibt hier ganz unzulänglich. Weder werden die Formen analysiert, die so entstehen, noch die weitreichenden geschichtlichen Folgen beim Namen genannt. Daß das ideologische Organisationsziel „eher Leerformel als operationale Zielfunktion darstelle”, verkennt völlig die Tragkraft und das Wesen solcher


11 Fr. Naschold, Organisation und Demokratie (Stuttgart 1969). Naschold behandelt (S. 76/77) das „Demokratisierungspotential bei Krisenentscheidungen”. Er schlägt für solche Lagen drei Lösungen vor. Man solle die Dringlichkeit der Entscheidungserwartung der Umwelt ignorieren oder reduzieren. Oder man solle die Krise in kleinere Einzelkrisen zerstückeln und nacheinander lösen. Schließlich könne man auf gespeicherte Informationen, Entscheidungsmaximen, die demokratischer erwachsen seien, zurückgreifen.
Diese Ausführungen bringen sehr gut die drei Elemente des Entscheidungszwanges heraus: Zeitdruck, Existenzbedrohung und Neuheit der Lage. Die vorgeschlagenen Hilfsmittel bestehen also allein darin, daß er die gestellte Frage entschärft, sich ihr nicht stellt. Man stelle sich dies im Kriege vor! Angesichts des starken Interesses an innovierenden Antrieben wird hier im übrigen gerade verkannt, daß die Neuheit der Zwangslage auch zu neuen Lösungen nötigt.
Der Autor weigert sich also, eine von ihm selbst völlig sachgerecht umschriebene Frage zu beantworten. Für dieses Demokratieverständnis darf es also wirkliche Krisenlagen nicht geben.

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Programme. Es ist überhaupt kein soziologisches Argument: denn hier kommt es allein auf die Fähigkeit zur sozialen Fortbildung an. Schon das gewaltige Gewicht dieser geschichtlichen Bildungen verbietet diese Bagatellisierung. Daß hier kein Spielraum für die freie Diskussion von sekundären Entscheidungen und ihrer Durchführung verbleibt, ist völlig richtig. Aber Grund wie Stellenwert dieser Einengung wird nicht deutlich. So verbleibt am Ende der vergleichsweise harmlose Gegensatz, daß die Rätekonzeption das Problem der Zentralisation kaum beachte, der demokratische Zentralismus es dagegen überbetone. Die Herrschaft der Parteihierarchie erscheint ebenso harmlos als „verengter Demokratiebegriff”.

Umgekehrt bejahen faschistische Parteien in mehr oder minder bewußter Anlehnung an militärische und klerikale Vorbilder offen die Hierarchie. Aber ähnlich wie die erste Form pseudodemokratisch, ist diese Gestalt pseudohierarchisch. Jede von beiden erreicht das Gegenteil von dem, was sie anstrebt. Denn neben der nackten Macht, ihrer Durchsetzung, Behauptung und prunkvollen Darstellung hat die faschistische Hierarchie keinen rationalen Gehalt, der der ständige Gegenstand der Entscheidung sein könnte. Eine allgemeine und notorisch sehr flache Ideologisierung vermag das nicht zu ersetzen. Zur Struktur jedoch gehört die Neigung, bis zur Komplicenschaft selbst untauglichen Gliedern der Hierarchie die erlangte Position oder wenigstens noch ihre materiellen Vorteile zu erhalten. Diese Neigung ist im Faschismus im Folge seines Verhältnisses zur Macht um einige Grade deutlicher ausgeprägt, aber in beiden Systemen aufweisbar. Gefährlicher als diese Folgeerscheinungen systemimmanenter Selbstkorruption ist die Anfälligkeit dafür, politisch mittelmäßige und moralisch unterwertige Funktionärstypen herauszustellen. Die Schnellebigkeit solcher Bewegungen, ihr Massencharakter und ihr radikaler Funktionalismus treffen hier mit höchst negativen Wirkungen zusammen.

Die vielbemerkte Unfähigkeit faschistischer Parteien, die Sinneinheit ihrer politischen Handlungen durchzuhalten, beruht auf dem irrationalen Charakter oder Element ihrer politischen Theorie. Sie waren zwar in sehr viel höherem Maße imstande, größere Kreise folgerichtig zu indoktrinieren, als ihre intellektuell klügeren Gegner meinen, erwiesen sich aber als nicht imstande, in

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unvorhergesehenen Entwicklungen ein folgerichtiges Handeln zu organisieren. Sie haben die hierarchische Form in ihrer äußeren Erscheinung um der scheinbar unbegrenzten, aber nur eine Strecke weit reichenden Machtchance willen bewußt übernommen, ohne ihre geistigen Voraussetzungen erfüllen zu können. Die nüchternen, aber soziologisch unreflektierten Erinnerungen eines Technokraten wie Albert Speer liefern eine Fülle von Belegen für das Gesagte. Die spiegelverkehrte Entsprechung faschistischer und marxistischer Hierarchiebildung zeigt, daß Hierarchie sich hier bildet sowohl bei Betonung und Übersteigerung personaler Macht wie bei ihrer dogmatisch-theoretischen Ausschließung. Eine gemeinsame Mangelerscheinung beider ist die Zerstörung des Rechtselementes, das heißt die Fähigkeit zur Selbstbindung. Trotzdem ist die Darstellung von Hierarchie in bestimmten Trägersubjekten ein wesentliches Element. Dafür ist jedoch konstituierend der Rechtscharakter ihrer Position, genauer die Korrespondenz von Rechten und Verantwortlichkeiten. Unter Preisgabe der gesamten rechtsgeschichtlichen und rechtsphilosophischen Tradition unseres Kulturkreises, welche Macht und Recht in den verschiedensten Formen theoretisch und praktisch verbinden und ihr Verhältnis als ständiges Problem begriffen haben, outriert der Faschismus als konsequente Gegenbildung zur linken Macht-Verneinung die Macht in einer bisher unerhörten Weise, die dann wieder die gesamte Linke provoziert und ihr als negativ-absoluter Festpunkt dient.

 

5. Hierarchie in der Großwirtschaft

Große Industrieunternehmen stehen unter dem doppelten Zwang des Wettbewerbs wie des technischen Fortschritts. Daher bilden sie in ihren Leitungssystemen hierarchische Strukturen aus. Die Frage der Rentabilität ist bei ihnen nicht das Schicksal eines einzelnen Kaufmanns, der Konkurs machen kann, sondern Existenzgrundlage für Tausende und das Risiko großer Werte. Die Einheit der Disposition muß in ihnen unter dem Zeitdruck der ständigen Progression gesichert werden.

Diese historische Struktur hat im Gegensatz zu den bisherigen

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Beispielen einen sehr informellen Charakter, ohne damit besonders flexibel zu sein. Die typenbildende Kraft dieser Form ist ebenfalls nicht sehr groß. Der informelle Charakter belastet aber diese Strukturen mit ständigem internen, legitimen und illegitimen Wettbewerb durch Leistung und Gunst, die das innere Gefüge bis in sehr tiefe Schichten hinein betreffen und menschlich stark belasten. Es wird hieran sichtbar, daß auch in informellen Gestaltungen unter der Voraussetzung des elementaren Entscheidungszwanges die hierarchische Struktur nicht abgestoßen wird, daß aber der Mangel an stabilen Formen auch einen Verlust an sozialer Befriedung bedeutet.

Gerade hier muß deutlich werden, daß die Ausbildung hierarchischer Strukturen nicht primär auf der Stämmigkeit großer Gefüge beruht. Dies könnte zu sehr viel flacheren Bildungen führen und erklärt nicht die sozusagen steilen, großen Formen der Konzentration und Stufung. Aber jener doppelte Zwang des Wettbewerbs und des technischen Fortschritts nötigt zur Ausbildung eindeutiger Führung, welche möglichst wenig von sachfremden Zufälligkeiten gefährdet wird, in den nachgeordneten Dispositionen sinngemäß durchgeführt und am Erfolg überprüft werden kann. Die Versuche der jugoslawischen Betriebsselbstverwaltung machen deutlich, was durch die hierarchische Strukturform zurückgedrängt oder ausgeschlossen wird: das gemütliche Beharren in gewohnten Arbeitsformen, die zufällige Sympathie für vertraute Personen, die längst nicht mehr den erforderlichen Leistungsstand besitzen, rein partikulare Gruppeninteressen und die Vernachlässigung der Rentabilität.

Andererseits wirkt eine zentrale Kommandowirtschaft, die über jene Zufälligkeiten hinweggeht, lähmend, weil sie die Beobachtung ökonomischer Sachkriterien in den Unterinstanzen nicht in hinreichendem Maße zuläßt. In dieser Rationalität treffen sich die Anforderungen der Wirtschaft und alle Merkmale hierarchischer Struktur. Umgekehrt fallen die sozialistischen Versuche in Staatsabsolutismus und Ständewesen auseinander; weder das Eine noch das Andere ist hierarchisch; keins von beiden vermag, Leitungseinheit mit selbständiger Entscheidung im Gefüge hinreichend zu verbinden. Aber schon die Unterbietung eines möglichen

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Höchststandes ist heute systemwidrig, obwohl sie sich nur als begrenzter Ausfall darstellt.

Die Untersuchung zeigt also, daß religiöse und weltliche Hierarchien durchaus vergleichbar sind. Trotzdem gilt dies nicht ohne eine weitere Differenzierung, die jetzt auf Grund der vorgetragenen Erwägungen deutlich gemacht werden kann. Die Ausprägung der Merkmale von Hierarchie ist merklich verschieden. Nicht in allen Vergleichsfällen können alle Merkmale mit gleicher Deutlichkeit nachgewiesen werden. Diese relative Unschärfe auch solcher Gebilde, die in der Hauptsache mit Grund hier eingereiht werden, hat die gedankenlose Verallgemeinerung des Begriffs und seine Anwendung auf ungeeignete Tatbestände begünstigt. Dabei zeigt sich, daß die Sichtbarkeit der hierarchischen Ränge eine signifikante Bedeutung hat. Mindestens wichtige Hauptformen von Hierarchie bekennen sich ausdrücklich dazu, daß sie eine solche sind und drücken dies daher in sichtbaren Formen der Kennzeichnung ihrer Träger aus. Würde man dieses Merkmal zu den konstituierenden rechnen, was nicht ohne weiteres zu behaupten ist— so würden religiöse Hierarchie und Heerwesen, die von einem gewissen Grad rationaler Entwicklung ab dieses Merkmal der Sichtbarkeit zeigen, allein im strikten Sinn Hierarchie sein. Die betonte Unauffälligkeit der Rangunterschiede in anderen Gebilden, die Verdeckung ihres gleichwohl nicht ernsthaft bestrittenen Vorhandenseins bedeutet demgegenüber schon eine Abschwächung.

Sind allein Kirche und Heer unter gewissen Voraussetzungen fähig, hierarchischer Formen in diesem Sinne auszubilden, so erweist sich, daß der religiöse Charakter von Hierarchie im engeren Sinne nicht fundamental ist. Das tertium comparationis zwischen beiden liegt vielmehr in der Entscheidung auf Leben und Tod: im Krieg und in der Kirche ist alles gefährlich. Diese Duplizität läßt sich aus historischen Übertragungen des soziologischen Typus nicht erklären. Die Entlehnung dieser sozialen Form durch die Kirche aus dem Bestand des römischen Heerwesens, einer rationalen Organisation wäre denkbar und ist sogar eine Strecke weit anzunehmen, würde her unter so vielfach veränderten historisch-sozialen Umweltbedingungen nicht durchgehalten haben, wenn nicht eigene und sogar primäre Triebkräfte diese Form weitergetragen hätten.

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Dabei ist nach dem Gesagten wesentlich, daß diese Entscheidungen, wenn auch streng sachbezogen, sich doch unmittelbar zwischen Personen vollziehen. Daß weittragende Sachentscheidungen mit Wirkungen für zahllose Personen von konkreten Subjekten gefällt und verantwortet werden müssen, ist niemals aus der Welt zu schaffen, reicht aber noch nicht zum hierarchischen Typus aus. So wird erneut verständlich, warum sakramentales wie jurisdiktionelles Handeln — unter Hinzutritt weiterer Elemente — hierarchiefähig ist. In der Moderne bildet sich dann aber unter Zurücktreten der personalen Komponente eine weitere rationale Form der Dispositionshierarchie aus. Dies erklärt dann wiederum die Übertragung des Begriffs auf säkulare Formen ohne jene signifikante Sichtbarkeit, wie sie Klerus und Militär aufweisen. Aber man versteht das Ganze doch nur auf dem Wege über diese ausgezeichneten Formen.

Dispositionshierarchie meint die Befugnis zum Setzen von Prioritäten, zur Klärung von Alternativen in entscheidenden Momenten, zu zentralen richtunsweisenden Initiativen. Hier tritt der Eingriff in nachgeordnete Verbände, im Sinne des vorigen, also die Substitution stark zurück; die Kompetenz der Zentrale bleibt jedoch unbestritten und unbehindert. Diese noch stark in der Bewegung befindliche Formen sollen hier jedoch nur angedeutet, nicht thematisch verhandelt werden (vgl. auch S. 97 ff.).

Es ist nicht meine Sache, naturwissenschaftliche Erkenntnisse hier einzubringen. Jedoch weise ich auf die Frage hin, ob es nicht vergleichbare biologische Gesetzlichkeiten gibt. Ich habe mich dahin informieren lassen, daß bei allen Lebewesen einschließlich des Menschen der Hunger zu einem schrittweisen Abbau der Kräftereserven und Organe führt, die im umgekehrten Sinne eines hierarchischen Aufbaus verläuft. Zunächst werden die entbehrlichen Bestände etwa an Depotfetten aufgelöst, dann die im Verhältnis zum Zentrum sekundären Organe angegriffen, zuletzt aber das Gehirn, in diesem aber zunächst die Zentren differenzierender Willensbildung, schließlich der Sitz primärer Regulationen. Offenbar entspricht dieser Wertordnung der Rückläufigkeit nicht ohne weiteres der genetische Aufbau.