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Wenn man über den Sinn evangelischer Orden sprechen will, muß man wenigstens in gewissen Umfang auch die Bedeutung des Ordenswesens für die Kirchengeschichte überhaupt würdigen. Damit aber stößt man bereits auf die erste Schwierigkeit. Die Reformation hat für ihren Bereich das Ordenswesen vollständig beseitigt. Das Verhältnis des Protestantismus zur vorreformatorischen Kirchengeschichte jedoch ist ungeklärt. Er ist zwar um nichts weniger traditionsgebunden als andere christliche Kirchen, aber er vertritt eine andere Tradition. Als legitim gilt alles das, was sich von den Reformatoren herleitet, dazu alles, was mehr oder minder scharf abgegrenzt als urchristlich gelten kann. Einige Kirchenväter wie Augustin und Athanasius erhalten noch eine leidlich gute Bewertung; die übrigen müssen die Reinheit ihrer Lehre erst noch nachweisen. Häufig wird für die ersten fünf Jahrhunderte ein Lehrconsensus angenommen. Aber eine Klarheit besteht nicht. Wir müssen diese Dinge deshalb zurückstellen und versuchen, das Ordenswesen in seiner art zutreffend zu erfassen.
I. Das früh in der Kirche entstandene Mönchtum hat in dem Augenblick kirchengeschichtliche Bedeutung erlangt, in dem es der festen Regel eines gemeinschaftlichen Lebens, einer Ordnung unterworfen wurde, in dem es ordo wurde. Dann aber hat es in immer neuen Ansätzen große, über die ganze Oekumene verbreitete Ordensbildungen erzeugt. Diese Ansätze entsprachen den Epochen der Kirchengeschichte in dem Sinne, daß jeweils bestimmte Aufgaben vorlagen, die von der bischöflichen Gemeindekirche nicht erfüllt werden konnten. Diese Aufgaben nahmen die Orden auf und bewältigten sie sozusagen mit außerordentlichen Mitteln. Das gilt für die Benediktiner wie für die Orden des Hochmittelalters, sodann für die Lehr- und Predigtorden der Dominikaner und Franziskaner, und schließlich für die Jesuiten. Mit dieser letzten großen und gerade theologisch fragwürdigsten Ordensbildung aber hat sich die ordensbildende Kraft der alten Kirche erschöpft. Mit den großen Orden, nicht zuletzt mit den Jesuiten, hat sich die
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gesamte Christenheit in Für und Wider auseinandersetzen müssen. Die nachfolgenden kleinen Orden der Salesianer und Theatiner usw. sind interne Privatangelegenheiten der römischen Kirche ohne geschichtlichen Rang. Nichts zeigt klarere als dies, daß die römische Kirche mit der Vollendung ihres Dogmas im Tridentinum gegen alle formale Rechtsansprüche zur Konfession geworden ist. Eine vergleichbare Tatsache liegt darin, daß mit dem Abschluß des calvinistischen Dogmas auf den Synoden von Dordrecht und Westminster im 17. Jahrhundert die dogmenbildende Kraft der Gesamtkirche sich offensichtlich erschöpft hat. Hinterher kamen nur noch geschichtslose Mennoniten, Pietisten und Quäker. Nur eine bekenntnisbildende Kirche lebt geschichtlich.
Mit dem Ende der christlichen Ordensbildung ging das Ordensprinzip jedoch auf weltliche Bewegungen über. Die große umfassende Bewegung des Freimaurertums brachte die Orden der allgemeinen, leiblosen, unsichtbaren Kirche der Aufklärung hervor. Ausdehnung und Macht dieser Orden hat erst in der Gegenwart durch den Zusammenbruch des bürgerlichen Rationalismus einen wesentlichen Rückgang genommen. Die außerordentliche geschichtliche Wirksamkeit dieser beiden letzten Orden, der Jesuiten und der Freimaurer, hat die populär-soziologische Meinung erzeugt, man müsse nur einen Orden gründen, um mit der Stoßkraft dieses Prinzips den gewünschten politisch-weltanschaulichen Erfolg zu erzielen. Aus dem Gefühl einer dämonischen Bedrohung durch jene beiden gegnerischen Gruppen war ein gewisser nicht kleiner Teil des deutschen Protestantismus bereit, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben und in Gestalt der NSDAP ganz unevangelische, „katholisierende” Gemeinschaftsformen anzunehmen, einen unfehlbaren Führer, einen herrschsüchtigen Parteiklerus, das kanonische Fastengebot und vieles andere. Dieser feiste Parteiklerus wäre jedoch bald einer vernichtenden Verachtung anheimgefallen, wenn nicht hinter ihm mit der rigorosen kämpferische Härte eines Erwählungsglaubens in Gestalt der SS ein Orden von unheimlicher Durchschlagskraft entstanden wäre. Auch die Weltanschauung des Naturalismus hat also ihre sehr bewußte Ordensbildung besessen. Wir würden es leichter haben, diesen Sachverhalt zu erkennen, wenn die dringend notwendige Religionssoziologie und Konfessionskunde des Säkularismus schon zur Verfügung stände. So hoch man auch die unausgeschöpften Erkenntnismöglichkeiten der Religionssoziologie einschätzen mag, muß jedoch zum Ordenswesen
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nicht auf der soziologischen, sondern auf der geistlichen Ebene Stellung genommen werden.
II. Die Regel des ordensmäßig zusammengefaßten Mönchtums hat ihren allgemein-gültigen Ausdruck in dem dreifachen Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams gefunden. Dies ist ohne Zweifel eine bewußt trinitarische Formel, die eine entsprechende Lehre vom Menschen voraussetzt. Der Sinn dieser Gelübde erschöpft sich nicht in den äußeren Forderungen der Besitzlosigkeit, Ehelosigkeit und des formalen Gehorsams gegenüber den geistlichen Oberen. Diese Forderungen sind gewiß streng real als äußere Bedingungen der radikalen Loslösung von der Welt gedacht, zur „Einordnung” benutzt und weithin im gesetzlichen Sinne als Leistung angesehen worden. Aber das ist nur die äußerste und darum vor allem sichtbare Schale.
Unter der Armut ist vielmehr zu verstehen die geistliche Armut im Sinne der Bergpredigt, der vollkommene Verzicht auf das eigene geistliche und geistige Vermögen und die daraus fließende Macht über Menschen und Dinge; es ist die Haltung des vollkommen Empfangenden, die hier vorgezeichnet wird.
Das Gelübde der Keuschheit meint auch die Unbeflecktheit des Gemütes, das keiner anderen Liebe Raum gibt als derjenigen zu Jesus Christus. Hierher gehört alles das, was in der Heiligen Schrift und im Kirchenlied in dem Bilde der Braut und des Bräutigams gesagt wird. Armut und Keuschheit entsprechen Glauben und Liebe in ihrer eigentümlichen spannungsreichen Bezüglichkeit.
Die Forderung des Gehorsams bedeutet ihrem Kern nach ein Verbleiben an der von Gott gewiesenen Stelle, aber auch ein Bleiben, eine Einordnung in den Consensus, in das Gesamtleben der Kirche. Es ist eine höchst bemerkenswerte Erscheinung, daß die Orden nirgends auch nur den Ansatz oder die Neigung zur Sektenbildung gezeigt haben. Obwohl sie häufig genug und teilweise bis heute eine erheblich von der Lehre der Gesamtkirche abweichende und heftig bestrittene eigene Theologie vertraten, obwohl sie häufig in schwere Spannungen zu der päpstlichen und bischöflichen Gewalt gerieten, sind sie doch nirgends aus der Kirche herausgetreten. Keine äußere Disziplin könnte einen solchen Vorgang erklären und hätte eine Absplitterung verhindern können. Vielmehr ist das Wesen des Ordens überhaupt mit dem der Sekte unvereinbar.
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Orden und Sekte sind kontradiktorische, einander unbedingt ausschließende Gegensätze. In der Geschichte interessieren auch die Dinge, die nicht geschehen sind, obwohl sie hätten geschehen können. Ein Orden, der sektenhafte Neigungen zeigt, sich zur eigenen Denomination entwickelt, ist in eben dem Maße kein Orden mehr. Ein Orden kann auch niemals mit Willen eine kirchenpolitische Größe sein, wenn er seinen Sinn nicht verfehlen will. Er steht genau in der Mitte zwischen Gesamtkirche und Sekte. Der Verzicht auf eine eigene Machtbildung ist ihm durch sein eigenes Wesensgesetz geboten.
Jene Haltung des vollkommen Empfangenden ist der radikalste Ausdruck des Prinzips der sola gratia. Das ist in seinem vollem Sinn nicht zu verstehen ohne eine Deutung des Gedankens der militia Christi. Das Mönchtum hat die Tradition des römischen Soldatentums bewußt übernommen. Wenn wir die Stundengebete beten, so hallt darin noch immer der Wachruf der römischen Legionssoldaten wider, die sich von vier zu vier Stunden ablösten wie noch heute auf See. Jedes Kloster ist ein Kastell, ein Heerlager, aber nicht wider den äußeren Feind, sondern wider die listigen Anläufe des Teufels. Aber auch hier ist nicht allein die äußere zweckhafte Disziplinierung des militärischen Dienstes gemeint. Der Soldat und der Mönch leben in der Bereitschaft des Todes, angesichts der letzten Dinge; sie haben kleine bleibende Statt, sie haben immer ihr Sterbekleid an. Was dieses Leben angesichts des Todes bedeutet, vermag vielleicht nur der zu begreifen, der jahrelang hinter seinem Maschinengewehr oder Scherenfernrohr am Rande der gleichsam saugenden Leere des Niemandslandes gelebt hat, wo der nächste Schritt schon in den Tod führt. Diese tiefe Wirklichkeit des Todes ist es, die zusammen mit der Inanspruchnahme des ganzen Menschen die bannende Kraft des Soldatentums ausmacht. Die Gegenüberstellung mit dieser tiefen Wirklichkeit hat zu allen Zeiten die Menschen aus der Belanglosigkeit des Alltags herausgelöst und viele von ihnen zum Glauben geführt. Die Frömmigkeit des Soldatentums und genau so der Seeleute stammt aus dieser Quelle, und zu den ersten in der Heiligen Schrift genannten Heidenchristen gehören römische Offiziere.
III. Aber gegen diese Haltung des vollkommen empfangenden Glaubens besteht ein letzter entscheidender Einwand: diese Vollendung ist nicht in menschliche Macht gegeben; sie ist die Haltung der erlösten Gemeinde vor Gottes Thron nach dem Bilde der Offenbarung. Es ist zu fragen, ob sich nicht
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der leidenschaftliche Protest der Reformatoren gegen die Werkerei der Mönche im tieferen Grunde viel mehr gegen diese selbstgemachte Vollkommenheit richtet. Die Unvollkommenheit dessen hat auch das alte Mönchtum erkannt, indem es neben die drei Gelübde die Regel des „Bete und arbeite” setzte. Das ist ganz etwas anderes als eine Art kirchliche Beschäftigungstheorie für das faule Fleisch des kontemplativen Menschen. Der durch die Askese aus der Welt herausgenommene Mensch wird mit um so stärkerer Kraft in die Welt hineingesandt. Er wird damit zugleich unter den Bußfluch der Arbeit, in die Vorgegebenheit der irdischen Existenzbedingungen wieder hineingestellt. So rechtfertigt sich im letzten Grunde der ordo des Mönchtums durch den Dienst an der Kirche und der Welt, ohne daß dies unter Umgehung des asketischen Weges durch eine bloße Anspannung der Willenskräfte ersetzt werden könnte.
Aber noch ein zweiter Einwand besteht gegen das Mönchtum: wer so ganz als Empfangender leben will, kann die Regel des Apostels nicht erfüllen, allezeit zu haben, als habe man nicht. Wer überhaupt nicht hat, kann lebensmäßig in Wirklichkeit nicht verstehen, wie es ist, wenn man hat, genau wie umgekehrt. Darum verfällt der Arme entgegen der populären Theorie genau so leicht der Dämonie der Macht und des Besitzes, und oft leichter. Die Kirche hat oft zur Abwehr ihrer eigenen Verweltlichung Mönche auf hohe Kirchenämter berufen, ist aber gerade aus jenem Grunde häufig, wenn auch nicht immer damit gescheitert. Weder milde Ireniker noch eifernde Zeloten haben sich der Verantwortung der geistlichen Macht gewachsen gezeigt.
Das führt auf die Funktion der Orden in der Kirche. Ich sagte eingangs, daß die großen Ordensbildungen mit Epochen der Kirchengeschichte zusammenfallen und zur Bewältigung solcher Aufgaben dienten, denen die Gemeindekirche nicht gewachsen war. Aber mit dieser großen — von Kulturhistorikern gern mit geistlichem Mißverstehen gepriesenen — Leistung erschöpft sich nicht ihre Bedeutung. In einer langen schrittweisen Entwicklung ist das Mönchtum für die Bildung auch der Weltgeistlichkeit form- und richtunggebend geworden, auf welche das zweite und dritte Gelübde übertragen wurde. Aber auch der andere Stand des besonderen Dienstes an der Welt, der ordo des Rittertums ist von daher aufs tiefste und wirksamste beeinflußt worden. Wenn im alten Indien ein Maharadscha in feierlicher Staatsprozession auf
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einem weißen Elefanten einherreitet, so läuft ihm ein Herold voran, der die Macht und Herrlichkeit des Königs der Könige verkündet. Hinter ihm aber kommt ein Derwisch in Sack und Asche und ruft dreimal: Dieser großmächtige Herrscher muß sterben! Auch in der christlichen Kirche repräsentiert das Mönchtum das eschatologische Moment. Mit seinem Lebensprinzip der Demut und Selbsterniedrigung verhält es sich zur Gesamtkirche wie diese sich als Ganzes zur weltlichen Macht des Staates. Jene anderen ordines des Priestertums und des Rittertums nun dienen der durch die Gnade verliehenen geistlichen oder weltlichen Gewalt: ihre eigentliche Rechtfertigung liegt in diesem Dienst, und hier treffen sie mit dem ordo des Mönchtums sachlich zusammen. Ordo heißt dienende Form.
IV. Die Reformation hat nun für ihren Bereich sämtliche ordines, nicht allein das Mönchtum, vernichtet. An die Stelle des besonderen trat das allgemeine Priestertum, an die Stelle des christlichen Ritterideals als prototypisches Leitbild trat das allgemeine Ethos des Amtes und Berufs, das gleichermaßen für alle Stände gilt und mit so großer Kraft bis in die Gegenwart wirksam geblieben ist. Kein Begriff hat im theologischen Denken so große Verwirrung hervorgerufen wie der des Standes. Im kanonischen Recht war die Ehe das sacramentum laicorum, die Priesterweihe dasjenige des Klerus. Daraus entstanden der Priesterstand und der Ehestand als korrespondierende ordines. Aus dem Gedanken des allgemeinen Priestertums traten die Reformatoren als geweihte Priester der römischen Kirche in den Ehestand und hoben damit die Scheidung zwischen den beiden ordines bewußt auf. Die geistliche Vollexistenz des Menschen wurde im Ehestand, das Priesteramt im Priestertum des christlichen Hausvaters gesehen. Deshalb hat der evangelische Pfarrerstand mit einer fast gesetzlichen Ausnahmslosigkeit geheiratet. Die Allgemeinheit der Ehe mußte jedoch schließlich die Spannung zur Welt aufheben, auf der gerade der orde beruht. Das Entsprechende gilt für den Begriff des Standes als Beruf. Da im Zuge der Revision unseres Geschichtsbildes auch die Bedeutung der Reformation für die Entwicklung des Ständegedankens kritisiert worden ist, muß zur Steuer der Wahrheit gesagt werden, daß die nominalistisch-unterschiedslose Verwendung des Ständebegriffs auf Bauernstand, Ehestand und Stand der Betrüger usw. schon vor der Reformation angelegt war.
Aus diesem Grunde hat das allgemeine Priestertum nur eine sehr begrenzte Formkraft und Auswirkung, vorzugsweise
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in der patriarchalischen Hausgemeinde besessen. Kraft jenes eigentümlichen Gefälles von den letzten Dingen her, das schon in der alten Kirche das Mönchtum ohne äußere Macht zur formenden Kraft für die übrigen Ordines werden ließ, wurden die protestantischen Konfessionen zu solchen des allgemeinen Mönchtums, wurden sie unter dem Prinzip der innerweltlichen Askese vom Geiste des Mönchtums durchdrungen. Wie die Flutwelle nach dem Dammbruch einer Talsperre haben tiefste aufgestaute Kräfte die abendländische Welt von da ab umgewandelt, neue Lebensformen geschaffen, Kontinente besiedelt und die konfessionellen Weltkriege des 17. und 18. Jahrhunderts durchgestanden. Die berühmten Arbeiten Max Webers in ihrer einseitigen Ausrichtung auf die Wirtschaftsethik des Calvinismus und die Untersuchungen von Troeltsch, der mit dem Luthertum eigentlich nichts anzufangen wußte, haben diesen Tatbestand fast mehr verdunkelt als aufgehellt. Die zwischen Luthertum und Calvinismus völlig gegensätzliche Wirtschaftsethik ist nur ein und nicht einmal der bedeutendste Ausschnitt der Gesamtbewegung, die sich ebenso auf kirchliche, staatliche und allgemein geistige Bereiche erstreckte. Die religions-soziologische Seite der preußischen Staatsbildung scheint mir beispielsweise darin zu liegen, daß zwei bedeutende Fürsten, der Große Kurfürst und Friedrich Wilhelm I., es vermocht haben, einen Teil dieser großen Flutwelle wieder in eine Turbinenanlage, in eine geschlossene Form einzufangen und zur Antriebskraft werden zu lassen. Wenn heute noch der letzte Schrankenwärter der Bundesbahn seinen Dienst nicht als „job”, sondern als Dienst auffaßt, so ist das die späte Auswirkung einer innerweltlichen Askese, die dem Menschen in sehr allgemein verständlicher Form, aber mit großer ethischer Strenge Bändigung des Erwerbstriebs, saubere Lebensführung und gehorsame Hingabe an die Sache als Ideal vorzeichnete, also die drei Gelübde in eine weltliche Form übersetzte. Aber wie jede Flutwelle, ist auch diese in der Gefahr, sich zu verlaufen, nachdem sie mit ihrer Kraft der Welt gedient hat, statt sich immer wieder zu erneuern.
Diese Dinge beruhen auf tiefen theologischen Hintergründen. Die Reformation ist aus einem geradezu ungeheuerlichen Entsetzen über die Verweltlichung und den Machtmißbrauch der römischen Kirche entstanden. Die inbrünstige glaubende Hingabe sah sich kühl mißbraucht. Seither verstanden sich beide evangelischen Konfessionen in hervorragendem Maße als Kirchen der Buße. Dies ist bis heute der Quellpunkt ihres
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Seins, auf den jeder gläubige Protestant gleichviel welcher Kirchenzugehörigkeit anspricht. Der Buß- und Bettag ist der einzige gebotene kirchliche Feiertag, den der Protestantismus dem Kirchenkalender hinzugefügt hat. Die harte alttestamentarische Gesetzes- und Bußpredigt des Calvinismus verhärtete sich zuweilen bis zur Lebensfeindschaft. Der lutherische Katechismus fordert vom Christen ein Leben in täglicher Buße, ein tägliches Hineinkriechen in die Taufe — Taufe und Buße sind theologisch unmittelbar bezügliche Dinge. So bekam das Luthertum ein besonderes Verhältnis zu Johannes dem Täufer. Auf seinen Namen, der demütig sagt: „Er muß zunehmen, ich aber muß abnehmen”, und der als Vorläufer aus der Heilsgeschichte verschwindet, haben viele Generationen des 17. und 18. Jahrhunderts ihre zahlreichen Söhne vor ihren sonstigen Namen getauft; Bach und Goethe sind Belege dafür. Diese Härte der Buße hat dem Protestantismus seine Nüchternheit, die gesetzliche Sauberkeit der Lebensführung, die intellektuelle Redlichkeit des Denkens und die Treue des Handelns gegeben, aber zugleich einen Rigorismus erzeugt, der gern und leicht aus falschverstandener bürgerlicher Wohlanständigkeit den Nächsten fallen läßt und den Menschen tief vereinzelt. Denn jeder stirbt den Tod seiner Buße allein, aber gewinnt das Leben in der Gemeinschaft. Dieser Bußgedanke ist bis in die Gegenwart bestimmend und zuweilen bis an die Grenze einer ungeistlichen öffentlichen Selbstpreisgabe getrieben worden. Ein römisch-katholischer Dogmatiker, dem die reformatorischen Bekenntnisschriften durch ihre strenge Bezogenheit auf Christus tiefen Eindruck machten, vermißte in ihnen nur eins: die Agape.
V. Was bedeutet, dies vorausgesetzt, nunmehr die Entstehung evangelischer Orden? Solche Orden sind in den letzten beiden Jahrzehnten in allen protestantischen Ländern entstanden oder in der Entstehung begriffen. Eine Ausnahme macht lediglich Holland. Die Allgemeinheit dieser Erscheinung schließt es aus, sie als eine Zufälligkeit anzusehen oder sie auf einzelne Bekenntnisse oder theologische Richtungen zurückzuführen. Besondere Merkmale innerhalb dieser Bewegung weisen die Community of Jona auf dem Boden der schottisch-presbyterianischen Kirche und die französisch-reformierte Communauté de Cluny insofern auf, als sie eine Art zeitweiligen Mönchtums darstellen, während die auf dem Boden des Luthertums entstandenen Gemeinschaften mehr in die Richtung auf eine Erneuerung des priesterlichen Amtes tendieren. Die
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meisten dieser Gemeinschaften jedoch ohne Rücksicht auf ihren bekenntnismäßigen Standort haben gemeinsam, daß im Zentrum ihres Lebens die Feier der Messe steht.
Was bedeutet nun die Entstehung solcher Gemeinschaften auf dem Boden des Protestantismus? Nach der sachlich zutreffenden Unterscheidung des kanonischen Rechts handelt es sich bei einzelnen von ihnen um Orden, bei den meisten um Bruderschaften. Beides aber liegt in der gleichen grundsätzlichen Richtung. Ohne den geringsten Hauch der Sektenbildung sind hier auf Grund persönlicher Berufung und konkreter Bindung Gemeinschaften des geistlichen Lebens entstanden. Der Gemeindebegriff in der negativen Ausschließlichkeit, daß nur der Ortsgemeinde oder die ihr entsprechende Anstaltsgemeinde Gemeinde sei, ist durchbrochen. Jener eigentümliche Gemeindebegriff hat wesentlich zur Entstehung des landes- und nationalkirchlichen Kirchentums beigetragen, welches den Blick auf die Einheit der Kirche verlor und der römischen Kirche den Titel der Katholizität einfach überließ. Er hat auf den anderen Seite ebensosehr jede lebendige Besonderung vernichtet. In keiner Richtung ist der Protestantismus so empfindlich, ja unduldsam wie in dieser.
Diese Durchbrechung eines falsch verstandenen und verabsolutierten Gemeindebegriffs war nur möglich, weil Einzelne aus der Not der Kirche eine echte Berufung empfanden. Nur wer die größere Last dieses Berufs auf seinen Schultern weiß, kann diesen Weg beschreiten. Deswegen ist er notwendig der einer aktiven Minderheit, die sich zum Gesetz der kleinen Zahl bekennt.
Nach dem Gesetz der Ordensbildung kann der Auftrag dieser Gemeinschaft nur aus der Lage der Gesamtkirche verstanden werden. Gegenüber einer Kirche, die ihren Auftrag immer ausschließlicher in der Wendung ad hominem als Verkündigung auffaßte und dabei das allmächtige lebenschaffende Wort Gottes zur menschlichen Rede verengte, wagte man es wieder, die ebenso notwendige Wendung ad deum zu vollziehen — grundsätzlich und liturgisch. Beides zusammen erst macht das Leben der Kirche aus.
Durch diese Wendung ad deum und zum objektiven Handeln der Kirche eröffnete sich ein Erfahrungsbereich, aus dem sich die reformatorischen Kirchen in zunehmendem Maße selbst ausgeschlossen hatten. Sie stehen damit heute auch bei formaler Orthodoxie in einem verborgenen Gegensatz zu den
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Reformatoren, denen die betende und sakramental handelnde Kirche in ganz anderer Weise selbstverständlich war. Diese Revolution fällt zusammen mit einer grundsätzlichen Veränderung der Stellung der Kirche in der Welt und zur Welt. Die Zeit des konstantinischen Bundes ist sichtbar am Ende. Die vorbehaltlose und selbstverständliche Hingabe des Christen an die Welt im Sinne der innerweltlichen Askese beginnt einem komplementären Verständnis des Verhältnisses von Kirche und Welt zu weichen; die Wirklichkeit der Kirche ist wieder entdeckt worden. Aber weder geschichtliche noch soziologische Deutungen erschöpfen den Vorgang. Wir bekennen uns zu der Auffassung, daß solche Erscheinungen aus einem nicht voll deutbaren Kairos entstehen, daß die Kirche immer neue Ansätze ohne Preisgabe und Verachtung ihrer Tradition erlebt. Diese relative Ablösung der Kirche von der Welt in der Gegenwart ist ohne unser Zutun geschehen. Es heißt heute, trotz vieler tastender und unzulänglicher Versuche zur Umschreibung der Stellung des Christen in der Welt, wieder sichtbar etwas, ein Christ zu sein. Infolgedessen ist es aber auch wieder möglich geworden, in einer geistlichen Lebensgemeinschaft einem sehr bestimmt geprägten Bilde geistigen Lebens nachzuleben und dies zugleich vorzuleben.
Die Aufnahme der Messe bedeutet zugleich die Rückkehr zum Vollgottesdienst und das Ernstmachen mit dem sakramentalen Charakter der Kirche. Es ist daher an der Zeit, den ständigen Versuchen entgegenzutreten, die Ordensbewegung als eine liturgische zu bezeichnen. Ein Orden ist weder eine ständige liturgische Konferenz noch ein kirchenmusikalisch-ästhetischer Reformverein. Diese Ablenkung auf ein sozusagen fachliches Gleis dient lediglich dazu, einer Auseinandersetzung mit dieser unbequemen Erscheinung aus dem Wege zu gehen. Ebensowenig lassen sich diese Dinge auf eine Konfession oder theologische Richtung abschieben oder einordnen. Die heutige Neigung, alle Dinge richtungsmäßig abzustempeln, bedeutet eine gefährliche maskenartige Abschirmung gegenüber der Wirklichkeit. Mehr noch: die gedankenlose Primitivität und unbrüderliche Gehässigkeit, mit der das Unverstandene und Neue abgeurteilt werden, sind erschreckend. Die Fähigkeit, zu sehen und zu hören, ist einer kirchenpolitischen Verhärtung zum Opfer gefallen. Auch Formeln derart, daß die römische Kirche das Sakrament, die lutherische Wort und Sakrament, die calvinische das Wort allein habe, gehen gänzlich fehl und besitzen nicht mehr als einen äußeren Schein der Berechtigung.
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Sie sind wider die Schrift und das Glaubensbekenntnis. Was könnten die Sakramente bedeuten, was nicht das Wort gibt, und umgekehrt, und wie könnten sie ohne einander bestehen? Hierzu bemerkt Karl Barth (Dogmatik I, 2, S. 249, gekürzt):
„Es hat nicht nur historischen Wert, wenn wir uns daran erinnern, daß der Begriff Sakrament (als Uebersetzung von mysterium) ursprünglich in einem umfassenderen Sinn als später die der Menschheit in der Kirche dargebotenen Glaubensgeheimnisse als solche bezeichnet”.
Aber allerdings werden die Dinge, um die es geht, in besonderem Maße in der liturgischen Besinnung sichtbar. Hierbei wird immer wieder das Buch von Paul Graff über den Zerfall des protestantischen Gottesdienstes zitiert und dieser Zerfall als Erscheinung des Säkularismus gedeutet. Indessen meine ich, daß dieser allein nicht im Stande gewesen wäre, den jetzigen Zustand herbeizuführen, wenn nicht auch aktive theologische Antriebe mitgewirkt hätten.
Das geistliche Haus des Gottesdienstes zerfiel, weil man es nicht mehr bewohnte. Warum zog man aus ihm aus? Der christliche Gottesdienst ist eine Darstellung des Heilsweges, des Lebensweges Christi von der Taufe zum Abendmahl, ist Sinnbild und Anleitung zur Nachfolge. Im Laufe der Geschichte hat jener Bußgedanke ein solches Uebergewicht bekommen, daß die Gemeinde vom Altar zurückgewichen und jenen liturgischen Weg gewissermaßen zurückgegangen ist. Im Puritanismus ging man in der Heilsgeschichte bis in die Prophetie des Judentums, hart bis an den Rand des Rückfalls in dieses, bis zur physischen Gleichsetzung mit dem auserwählten Volk. Bei den Zwinglianern haben sich die Dinge darin verkehrt, daß an der Stelle der weggeräumten Altäre der Taufstein steht, der Anfang zum Ende gemacht ist. Diese Kirchen sind also nicht ohne Sakrament, aber sie besitzen eigentlich nur noch eins von ihnen. Das Luthertum mit der geschilderten Bezüglichkeit zu Johannes dem Täufer bleibt mit seinem Schwerpunkt im Vorraum der Kirche, in der Buß- und Taufkapelle, und dringt mit dem Predigtgottesdienst kaum noch bis zum Altare vor. Man möge die Pressung des Bildes verzeihen; was gemeint ist, ist sicherlich verständlich.
Die römische Kirche hat einen entgegengesetzte Entwicklung durchgemacht. Die Zurückdrängung der Predigt, die Ablösung der Messe als objektive Kulthandlung von der
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Gemeinde sind die äußeren Zeichen einer Verkürzung, welcher auch dort eine liturgische Bewegung entgegenzuwirken versucht. Die Bestrebungen dieser Bewegung auf Einbeziehung der Gemeinde in die Messe haben eine sie enttäuschende Zurückweisung und Einschränkung durch den Papst erfahren. Evangelisierende Neigungen werden vorsichtig zurückgedämmt. Der Herstellung des Vollgottesdienstes stehen dort die umgekehrten Hindernisse entgegen wie im Protestantismus. Aber auch hier wird der Kern der Dinge durch eine vorzugsweise liturgische Betrachtung nicht getroffen.
Wird nun mit einer Einbeziehung des Altarssakraments in den Gottesdienst als Zentrum der reformatorische Ansatz preisgegeben? Bischof Stählin hat sich in einem viel beachteten Vortrag schon vor Jahren mit dem Vorwurf katholisierender Tendenzen auseinandergesetzt und weit verbreitete populäre und zum Teil sehr abwegige Einwände abgewehrt. Dennoch müssen wir diese Dinge noch einmal mit großem Ernst aufnehmen. Wir sind es uns selbst ebenso wie den ernsthaft um die Einheit der Kirche ringenden Katholiken schuldig, einmal in aller Liebe, aber mit letzter Offenheit den Gründen dieser unausrottbaren Verdächtigungen nachzugehen. Nach Abzug aller gegenseitigen Unkenntnis, die sich aus der Verschiedenheit der Frömmigkeitsformen ergibt, nach Ausscheidung alles dessen, was Ressentiment und Dummheit zwischen die Kirchen legt, bleibt doch ein bis heute sich immer wieder neu entzündender Protest. Wo Rauch ist, ist auch Feuer. Was liegt jener leidenschaftlichen Abwehr zu Grunde, was ist der Grund für das landläufige Urteil, daß — einmal grob gesagt — der Katholik unzuverlässig, unwahrhaftig und machtgierig sei!? Was läßt jeden Schein der Katholizismus sofort ablehnen, wie falsch er auch immer verstanden sein möge?
Diese Dinge gehen auf etwas ganz Zentrales zurück. Handelte es sich nur um die natürlichen menschlichen Unzulänglichkeiten und Organisationsgegensätze, so würde bald kein Mensch mehr davon reden. Die bindende Kraft des im Zentrum des katholischen Lebens stehenden Sakramentsgottesdienstes ist so groß, daß er alles andere überschattet und das Verhältnis des von ihm einmal erlebnismäßig ergriffenen Menschen zur Welt völlig umgestaltet. Damit wird die Zugehörigkeit zu dieser sakramentalen Gemeinschaft und damit zur Kirche als solcher schlechterdings entscheidend. Das hat zur Folge, daß der lehre der Kirche zum Trotz alle übrigen Momente des
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christlichen Lebens, insbesondere Gesetz und Buße faktisch mehr oder minder entwertet werden.
Im Protestantismus wird das Abendmahl so sehr in den Bußgedanken hineingezogen, daß es fast mit ihm verschmilzt und seine Freudigkeit verliert, zu einem Gegenstand der Scheu und schließlich ganz fremd wird. In der römischen Kirche sind die Sakramente der Buße und des Altars völlig getrennt. Aber ihre Bezüglichkeit besteht, und beide zusammen üben sehr sichtbare psychologische und soziologische Wirkungen aus. Von daher genießt auch der moderne katholische Laie einen Rest von Ausnahmestellung, der Exemtion vom weltlichen Gesetz, welche ehedem der Klerus formalrechtlich genoß.
Der äußerste Fall dessen ist der einer Frau, die regelmäßig beichtete und kommunizierte und ebenso regelmäßig stahl. Das Erlebnis dieses Falles hat zu einer mir bekannten Konversion geführt. Gewiß gilt der Satz „Abusus non tollit usum”. Aber dieser vollkommene Mißbrauch zeigt die Richtung der inneren Gefahr. In den weniger krassen und deswegen ernster zu nehmenden Fällen führ jene eigen artige psychologische Exemtion durch die sakramentale Gemeinschaft dazu, daß das Bewußtsein schwerer sittlicher Verfehlungen weder vom Täter noch von seiner Umgebung noch ernsthaft realisiert wird. Solche Dinge werden zur Privatsache, die im forum internum der Beichte und mit einer unrealen Buße erledigt wird. Für den Außenstehenden wird der Katholizismus zu einer Gemeinschaft begnadigter, aber allzu häufig unbußfertiger Sünder. Fast immer bleibt ein feiner Riß zwischen Gesetz und Evangelium wie zwischen Buße und Gnade. Aus diesem Hintergrunde stammt ein gewisser Teil des starken antistaatlichen Affekts, den der Katholizismus mit dem Liberalismus ebenso gemeinsam hat wie mit dem Marxismus und Faschismus. Denn gerade dies bindet außerordentlich stark. Ich habe oft mit katholischen Juristen über die katholische Tendenz zur vorsichtig-laxen Zurückhaltung in der Beurteilung strafrechtlicher und außerstrafrechtlicher Verfehlungen gesprochen; sie sagten mir: „Sie sind ein harter Mann”, und ich mußte ihnen erwidern: „Es gilt das Gesetz nicht aufzulösen, sondern zu erfüllen”.
Die Gemeinschaft des Altars gleicht einem Kreise, in den man scheinbar von jeder Seite eintreten kann. In Wahrheit gibt es jedoch als legitimen Zugang zu ihr nur einen Weg, nur den Weg der Erniedrigung und des Todes in der Buße, in der
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Nachfolge. In die Gemeinschaft des erhöhten Herrn tritt man allein durch die Gemeinschaft des erniedrigten ein. Weil und soweit dies mißachtet und der tödlichen Schärfe des Gesetzes, der Buße die Spitze abgebrochen wird, tritt jene eigentümliche Verschiefung des Verhältnisses zur Wirklichkeit ein. Aus der Liebe zum Herrn und zu seiner Kirche wird dann die sublimierteste Eigenliebe, deren Erscheinungsformen und Auswirkungen sich in nichts von einem integralen Nationalismus unterscheiden. Diese Dinge fallen dem evangelischen Christen am römischen auf und stoßen ihn ab. Mangels sakramentaler Erfahrung vermag er aber ihren echten Grund nicht zu verstehen. Infolgedessen versucht er diese Dinge dann in unzulänglicher Weise mit äußeren sekundären Gründen zu erklären. Keine der beiden Glaubensformen hat die volle Spannung zwischen jenen beiden Polen zu ertragen und aufrechtzuerhalten vermocht. Aus der gegensätzlichen Haltung zum gleichen Problem erklärt sich die ebenso gegensätzliche Entwicklung des Frömmigkeitstypus und der innerweltlichen Haltung. er scheint in der Christenheit nur noch Buße ohne die freudig ergriffene und wirkliche Gemeinschaft bringende Gnade, oder die verdächtige Berufung auf eine sakramentale Gnade ohne den vollen Ernst der Buße zu geben, ohne daß sich der Mensch der vollen Wirklichkeit zuvor stellt. Deswegen ist es für uns so erschreckend, wie leicht und selbstverständlich der Katholizismus von jeher eine synkretistische Verbindung mit dem Humanismus eingegangen ist. Deswegen führen auch alle lebhafte Kritiek an der eigenen Kirche, alle Bußbekenntnisse und Selbstbeschuldigungen den Protestantismus nur immer tiefer in seine Vereinseitigung hinein. In meist ganz primitiven Reaktionen wehrt man sich gegen Liturgie und Sakrament, weil man fürchtet, auf die eigenen unverstandenen Fehler noch die der römischen Kirche zu häufen. Der Blick auf das Ganze christlicher Existenz wird nicht gewonnen.
So haben wir die paradoxe Tatsache vor uns, daß der Protestantismus, der unablässig von der Freiheit vom Gesetz redet, eine Gemeinde besitzt, die trotz aller Beimengung bürgerlicher Konventionen mit recht hohem Ernst gesetzestreu lebt, während andererseits die als gesetzlich verschrieene römische Kirche mit ihrem ungeheuren Aufwand an kasuistischer Moraltheologie und ihrer ganzen vielberufenen Macht nicht imstande gewesen ist, den unverkürzten Ernst der Gesetzesforderung bei ihren Gläubigen aufrechtzuerhalten. Das ist ein
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gänzlich anderes Bild als das gewohnte; aber es ist dem Leben entnommen und kann wohl kaum wesentlich bestritten werden. Ich verzichte hier darauf, es noch weiter durch Beispiele zu belegen. Diese Dinge müssen aber einmal in ungeschminkter Deutlichkeit ausgesprochen werden. Wir können es nur tun, weil wir uns ebenso offen zu den entgegengesetzten Fehlern liebloser Vereinzelung, freudloser Gemeinschaftsfremdheit und puritanischer Selbstgerechtigkeit bekennen.
Aus jener Verkürzung der Wahrheit des Gesetzes und der Buße ist die Unfähigkeit der römischen Kirche entstanden, ihre zugestandenen schweren Mißbräuche ohne die schwerste und absolute Bedrohung ihrer Existenz zu überwinden. Man verkürzt die entscheidende Bedeutung der Reformation für die römische Kirche, den harten Zwang zur Umkehr, wenn man heute noch sich selbst und dem gutgläubigen Kirchenvolke vormacht, mit etwas Kirchenreform auf der einen und etwas wenige deutschen Grundsätzlichkeit auf der anderen Seite wäre die unheilvolle Spaltung zu vermeiden gewesen. Im Gegenteil: Es ist unvorstellbar, was dann aus der Kirche geworden wäre.
Weder konfessionelle Vorurteile, die wir ungern mit unseren Feststellungen bestärkt sehen möchten, noch religionssoziologische Erkenntnisse sollten dem Ernst des Gesagten auch nur das Geringste abbrechen. Dieser Ernst gilt für beide Teile. Er darf am allerwenigsten durch längst überholte negative theologische Frontstellungen zerredet werden. Schon 1937 sprach Karl Barth aus:
„Es wird vielleicht eine von dem Protestantismus gestellten Entscheidungsfragen der nächsten Zukunft sein, ob es gelingt, den evangelischen Gottesdienst seiner von Luther wie von Calvin intendierten Ganzheit entgegenzuführen, das heißt die unsinnige Trennung von Predigt und Sakrament aufzuheben und ihre natürliche Zusammenordnung wieder herzustellen.” (Dogmatik I, 2, S. 853.)
Er führt diesen Gedanken folgendermaßen weiter:
„Darum muß man allen Ernstes sagen, daß das Sakrament ein unentbehrliches „Gnadenmittel” ist. (Man muß in diesem Begriff nur das Wort „Gnade” betonen, um recht zu verstehen!) Und man wird sich dann durch die Klage über „römischen Sakramentalismus” den Satz nicht verwehren lassen: Die Kirche ist nach ihrer objektiven Seite sakramental, das heißt nach
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Analogie von Taufe und Abendmahl zu verstehen. Sakramentaler Raum will sagen: der Raum, in welchem sich der Mensch zu verstehen hat, als auf dem Weg von der ihm schon gespendeten Taufe zu dem ihm zu spendenden Abendmahl. Und eben in diesem Raum hat auch die Theologie ihren Anfang und ihr Ziel zu suchen, und nach seinem Gesetz hat sich ihre Methode zu richten.” (Ebenda S. 253 verkürzt.)
Man wird nach alledem wirklich nicht mehr sagen können, daß die Forderung nach dem Vollgottesdienst Sache einer liturgischen Reform sei. Aus unseren Fragestellungen ergeben sich jedoch weitere Fragen. Wenn nach so langen intensiven theologischen Bemühungen und formeller Rechtgläubigkeit die Lehre beider Kirchen die tiefe lebensmäßige Verkürzung und Vereinseitigung nicht hat verhindern können, so sind wir an die Grenzen der Wirksamkeit theologischer Besinnung überhaupt gekommen. Diese Erfahrung kann durch die Rückgewinnung besserer Erkenntnis allein nicht aus der Welt geschafft werden. Sie zwingt uns, die Stellung des Lehramts in der Kirche neu zu durchdenken. Lehre und Recht haben das Gemeinsame, daß sie ihren Gehalt nicht selbst produzieren, sondern den gegebenen Gehalt nur reproduzieren und ihn dadurch schützen und abgrenzen. Es liegt eine Verkehrung der Dinge vor, wenn die Sakramente aus dem Kirchenrecht, und nicht das Kirchenrecht aus den Sakramenten abgeleitet wird. Die Kirche Luthers, der 1517 gewagt hat, neben der Bannandrohungsbulle auch das kanonische Recht zu verbrennen, sollte an die Stelle des juristischen Rationalismus nicht den der formalen reinen Lehre setzen — beides gibt einander nichts nach. Es sollte endlich klar werden, daß die Kirche nicht aus der Theologie, sondern die Theologie aus der Kirche lebt. Das Lehramt der Kirche kann nicht existieren, wenn es nicht seinen Grund in einer jeder theologischen Aussage vorangehenden geistlichen Lebensgemeinschaft besitzt. Die große Mehrzahl der theologischen Fakultäten, gleichviel welcher Richtung, ist davon grundsätzlich und tatsächlich weit entfernt. Schon in der alten Kirche haben die Orden das theologische Lehramt aufs stärkste beeinflußt und befruchtet. Die neue Ordensbildung sollte alle Fakultäten und Lehrkörper zwingen, ihre Stellung in der Kirche, den geistlichen Titel ihrer Existenz, neu zu prüfen.
Die Erkenntnis, daß beide großen Kirchen sich zu einer eigentümlichen komplementären Gegensätzlichkeit der Verkürzung
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entwickelt haben, sollte jede der beiden aufrufen, dem Vollmaß der rechten Ganzheit nachzustreben. Es ist wohl klar geworden, daß die Folgerungen aus den beschriebenen Gefahren nicht in einer neuen Sakramentsangst, nicht in einem neuen Zurückweichen vom Altare bestehen dürfen. Gleichwie mit einem Eide sind wir gehalten, der ganzen christlichen Wahrheit, der Wahrheit von Taufe und Abendmahl nichts Menschliches hinzuzusetzen, aber auch nichts abzubrechen, nichts zu verschweigen. Beides macht unsere Aussage zu einem Meineid, verfehlt unser Leben. Am Ende einer Bewegung des kritischen christlichen Existenzialismus, der mit seinen Verneinungen so vielen alten Denkgewohnheiten entgegenkam, ist es uns nun aufgegeben, die christliche Existenz positiv zu leben. Das ist nicht Katholisierung im Sinne der römischen Kirche, aber materiell-inhaltliche Katholizität aus dem Ganzen der Heiligen Schrift, im Sinne des Dritten Artikels und in nichts wider die Reformation. Dies ist eine realere Aufgabe als Grenzüberschreitungen und Grenzverwischungen; auch die Einheit geht aus dem Leben der Kirche hervor und nicht umgekehrt.
Der Sinn evangelischer Orden ist der Dienst an den Kirchen, in denen sie entstanden sind. Dieser Dienst zielt überall auf die Ganzheit der Kirche, und zwar in drei Richtungen:
1. Ganzheit des Gottesdienstes, des Raumes der Kirche zwischen
Taufe und Abendmahl. Das trinitarische Selbstzeugnis des Herrn in
Johannes 14, 6 enthält zugleich die entscheidende Aussage über
die Kirche der Nachfolge: auf dem Weg der Taufe, der Buße, der
Erniedrigung wird der Mensch in die Wahrheit, in die Gemeinschaft
des Lebens mit dem Blick auf die Zukunft des Herrn geführt. Hier
liegt gleichermaßen der Grundriß des Gottesdienstes und des
Kirchbaus.
2. Ganzheit der Lehre als einer durchgängig trinitarischen, im
Sinne jenes zuerst zitierten Satzes von Karl Barth.
3. Ganzheit der Kirchenordnung aus einer neuen Erfassung ihrer
geistlichen Notwendigkeit, in der Verbindung von Kontinuität und
Diskontinuität.
Worum es geht, ist keine Frage der Taktik oder eines zweckhaften Bemühens. Wir können an der Kirche nur bauen, wenn wir selber Kirche sind. Auch wir würden einer falschen Katholisierung verfallen, wenn wir aus der überwältigenden Freude einer neuen sakramentalen Gemeinschaft sagen würden: „Es ist ganz leicht, sich dem hinzugeben.” Es ist nicht leicht,
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es ist aber auch nicht schwer: es ist ohne die Gnade des Heiligen Geistes überhaupt unmöglich. Die Spaltung der Kirche offenbart ein Unvermögen des menschlichen Bemühens, das man tragisch nennen könnte, wenn dieses Wort im Raum der Kirche Platz haben dürfte. Aber das vor unseren staunenden Augen wieder sichtbar gewordene Ziel hat die Verheißung dieser Gnade:
Totus Christus — tota ecclesia.