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Religionssoziologische Betrachtungen zum Europaproblem
Die gesamte Christenheit in allen Völkern bekennt „eine heilige allgemeine christliche Kirche”, und sie baut auf die Verheißung der Schrift, daß die Pforten der Hölle diese Kirche nicht überwältigen werden, daß sie „perpetuo mansura sit”. Beides erscheint uns unter den Erlebnissen der Gegenwart in einem besonderen Lichte. In einer Welt, die sich äußerlich zu einer höchst fragwürdigen und unvollkommenen Einheit zusammengefunden hat, in der die Ereignisse eines Kontinents mehr denn je auf jeden anderen zurückwirken, ist sich heute auch die Christenheit als Ganzes in einer neuen Weise begegnet. Sehr unmittelbar hat diese Einheit geistig und materiell in die Existenz der einzelnen Kirchen eingegriffen und alte Schranken langsam schwinden lassen. Dennoch erscheint diese reale Einheit der Christenheit mehr denn je als eine endzeitliche. Mehr denn je erinnern wir uns daran, daß große Bereiche der christlichen Kirche, Nordafrika mit dem Bischofsstuhl des Heiligen Augustin, Vorderasien mit seinen altchristlichen Gemeinden schon frühzeitig dem Islam anheimgefallen sind. Der lebendige Glaube der jungen Kirchen Afrikas und Asiens, der auf der Weltkirchenkonferenz von Amsterdam 1948 kraftvoll und überzeugend hervortrat, stellte die alten Mutterkirchen des Abendlandes vor die Frage, ob ihnen eines Tages um ihres Kleinglaubens willen das Evangelium genommen und anderen Völkern auf die Schultern gelegt werden wird. So steht scheinbar diese Einheit der Christenheit jenseits eigentlicher geschichtlicher Betrachtungen und Urteile. Dennoch hat diese Einheit sich doch zugleich im Raume des Abendlandes in einer ganz besonderen Weise manifestiert und ausgeprägt, und diese Erscheinung hat von jeher Historiker und Philosophen, vor allem aber die Geschichtsphilosophen angezogen, fasziniert und nicht losgelassen. Jeder Versuch, sie gedanklich zu durchdringen, steht freilich unter einem Zwiespalt: Auf der einen Seite steht er unter dem Verdacht und der Versuchung der Spekulation, ja der unzulässigen Vereinfachung. Auf der anderen Seite bedeutet nur zu leicht der Verzicht auf eine
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solche Erfassung die Auflösung des Geschichtsbildes in eine sinnlose Fülle kontingenter Einzelheiten: und dieser Verzicht ist nicht weniger eine grundsätzliche Wertung als selbst die ausschweifendste Spekulation. Ein jeder solche Versuch ist deshalb ein Wagnis und eine Gefahr — und dennoch muß dieser gefährlicher Weg beschritten werden, wenn wir nicht darauf verzichten wollen, jene Einheit überhaupt in den Blick zu bekommen, wenn wir nicht vor der bloßen Tatsächlichkeit der Geschichte kapitulieren wollen.
Jede solche Betrachtung geht von dem als evidente Tatsache empfundenen Erlebnis aus, daß die scheinbar unübersehbar vielfältigen Spaltungen der Christenheit keine geschichtlich zufälligen sind, sondern einer inneren Wesensgesetzlichkeit des christlichen Glaubens entspringen, den in ihm enthaltenen geistigen Möglichkeiten entsprechen. Nicht an sekundären und Teilfragen entzünden sich die Glaubenskämpfe, vollziehen sich die Spaltungen, sondern an zentralen dogmatischen Problemen, die zugleich echte Lebensentscheidungen sind. Diese Fragen sind in den großen altchristlichen Bekenntnissen, die allen rechtgläubigen Christen noch heute gemeinsam sind, zu einer Einheit verbunden. Die Formulierung der altchristlichen Symbole, die unter so höchst fragwürdigen und allzu menschlichen Umständen zustande gekommen sind, stellt weltlich betrachtet eine der größten, vielleicht die größte geistige Leistung des Abendlandes dar, deren Gehalt von keiner Zeit erschöpft, vielmehr von jeder Epoche eigentlich nur in ihrer Art verdunkelt werden konnte. Dem Tiefsinn des trinitarischen Dogmas ist noch kein Theologe und Philosoph gewachsen gewesen. Diese Formulierung zeigt, geistlich beurteilt, daß wahrhaftig die Kirche Christi „hominum confusione, dei providentia” geleitet und erhalten wird.
Es sind also theologische Grundfragen, an denen sich die Geister jeweils scheiden; das schließt nicht aus, daß häufig ganz sekundäre Fragen zu Sonderbildungen Anlaß gegeben haben; jedoch kaum oder nie haben diese echten geschichtlichen Rang erlangt. Als die dogmenbildende Kraft der Kirche sich mit den großen Synoden des Calvinismus in Dordrecht und Westminster in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts einstweilen erschöpft hatte, war auch ihre geschichtliche Kraft entscheidend erlahmt. Die späteren Zeiten sind nur noch mit dem Abbau dieser dogmatischen Positionen, der Verweltlichung des christlichen Weltbildes beschäftigt. Das naturwissenschaftliche Weltbild der Folgezeit war eine Säkularisation theologischer Begriffe, und das Gleiche hat Carl Schmitt in der
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Gegenwart für die Begriffe der Staatslehre nachgewiesen. Nach jenem einstweiligen Ende kamen nur noch Mennoniten, Pietisten und Quäker. Eine undogmatische Kirche ist eine geschichtslose, geschichtsunfähige Kirche. Erst recht ist ein liberales Christentum nicht mehr Subjekt, sondern Objekt der Geschichte, gibt nur noch einen sich langsam verlierenden Einschlag in andere Geistesbewegungen, verfällt einem Synkretismus.
Die erste große Konzeption für eine solche Deutung der Sinneinheit des Zerfalles der Christenheit ist eine trinitarische. Eine geschichtliche Untersuchung würde wohl sehr frühe Wurzeln dieses Gedankens zu Tage bringen. Weite Verbreitung hat sie jedenfalls gefunden, seitdem Schelling sie in der Philosophie der Offenbarung zu einem Teil seiner Geschichtsphilosophie erhoben hat. Es ist der Gedanke, daß die Christenheit sich in einen petrinischen, paulinischen, und johanneischen Zweig gliedere. In breiter Entfaltung hat dann wieder Spengler diesen Gedanken in Bd. II des „Untergang des Abendlandes” aufgenommen. Bei diesen Versuchen treten nun freilich große Schwierigkeiten und Unterschiede bei der Zuweisung der geschichtlichen Erscheinungen auf das Schema hervor. Allzu einfach erscheint die Auffassung, daß die petrinische Kirche die römische, die paulinische die protestantische und die johanneische die griechisch-orthodoxe Kirche sei. Im Gegensatz dazu setzt sich Spengler mit der Tatsache auseinander, daß jene großen Gebiete Afrikas und Vorderasiens, gerade die ursprünglichsten Ausbreitungsgebiete des Christentums, so schnell und widerstandslos dem Islam verfallen sind. Er leitet dies aus der Tatsache ab, daß die streng monotheistische, monophysitische Tradition der vom Judentum her bestimmten Gebiete sich dem Monophysitentum des Islam eng verwandt gefühlt habe. Das Christentum habe sich hier sozusagen wieder auf den ersten Artikel reduziert. Dabei ist zu beachten, daß das vorchristliche Judentum mit seiner Messiaserwartung trinitarisch angelegt war und sich nach Christus monophysitisch verhärtet hat, und daß der eschatologische Charakter des Christentums im Islam erhalten ist. Spengler verknüpft diese Auffassung mit seiner Theorie vom magischen Zeitalter der abendländischen Kultur, innerhalb dessen der Islam eine Spät- und Endform gebildet habe. Wie immer man auch zu jener, in der Geschichtswissenschaft bisher nicht aufgenommenen Theorie stehen mag: sicher ist, das der Islam mit seinem strengen Erwählungsglauben, mit seinem gestaltfeindlichen Rigorismus alle geistigen und soziologischen Merkmale einer Spätreligion
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trägt, wie vor ihm das prophetische Judentum, nach ihm Calvinismus und Marxismus. Von hier aus gesehen erscheint dann das gesamte lateinische Christentum, also alles, was auf dem verbliebenen Boden der lateinischen Kirche sich weiter entwickelt hat, als paulinisch. Das negative Urteil Spenglers, daß es sich hier um eine Pseudomorphose des Christentums handele, interessiert in diesem Zusammenhang weniger. Gerade hier aber tritt ein grundsätzliches Problem auf. Vom Spenglerschen Standpunkt aus erscheinen die so grundlegend verschiedenen Bildungen des römischen Katholizismus und des protestantischen Kirchentums als eine Einheit, während sie von jedem anderen Gesichtspunkt aus sich als Ausprägungen verschiedener Prinzipien, als petrinisch und paulinisch darstellen. Ist die Gründung und Berufung der römischen Kirche auf beide Apostelfürsten echt oder nur ein falsche angemaßter Anspruch gegenüber einer ganz anderen Wirklichkeit? Weitgehende Einigkeit besteht auf der Ebene dieser Betrachtung und damit geradezu für ein populäres Bewußtsein darüber, der Ostkirche den johanneischen Charakter zuzusprechen. Der relative Gegensatz zwischen den synoptischen Evangelien und der Mysterientheologie der johanneischen Schriften scheint hier eine geschichtliche Ausprägung gefunden zu haben.
Die Schwierigkeit, diese Dinge zutreffend zu erfassen, liegt besonders darin, daß ja keine Teilkirche, wenn anders sie christliche Kirche bleiben will, das trinitarische Glaubensbekenntnis preisgeben kann; es handelt sich immer nur um sehr starke Verschiebungen des Schwerpunkts innerhalb dessen.
Jenes monophysitische Christentum hat das trinitarische Dogma preisgegeben, ist damit aber aus dem Bereich des Christentums ausgeschieden. Auch wenn das Judentum direkt religionsgeschichtlich dort keine entscheidende Rolle mehr gespielt hat, bedeutet jene Entwicklung sachlich den Rückfall in ein nie ganz in der Tiefe überwundenes Judentum. So verschieden nachchristliches Judentum und Islam sind, in der antitrinitarischen Haltung sind sie ganz einig. Es war also nicht der Rückfall in die Nationalreligion, sondern in einen eschatologisch-universalen Monotheismus. Hier ist ein großer Zweig der Christenheit rückwärts gegangen, ausgebrochen gegenüber der anstößigen Tatsache der Inkarnation, wie der Arianismus und ähnliche immer wieder auftretende Bewegungen, wie heute der gesamte ethisch-liberale Protestantismus und alle Richtungen, welche eine primäre Ethik lehren.
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Man könnte nun sagen, daß die griechisch-orthodoxe Kirche eine entgegengesetzte Entwicklung durchgemacht hat wie jenes vorderasiatisch-afrikanische Monophysitentum. Hier herrscht nicht die Bilderfeindschaft, sondern die Bilderverehrung in einer Art, wie sie in der lateinischen Kirche niemals möglich gewesen ist. An die Stelle des Monophysitentums, das die Inkarnation ablehnt, steht die mystische Identifikation des Geistlichen und Weltlichen. Das Weltliche wird vom Geistlichen durchdrungen, sublimiert. So wird auch die Scheidung von Kirche und Staat in ihrer dialektischen Zuordnung aufgehoben, und frühzeitig entwickelt sich in Byzanz schon der Cäsaropapismus. Der Kaiser ist nicht mehr in tiefsinniger Verschlingung der weltliche Herr und Schützer der Kirche, aber ihr geistlicher Untertan, sondern Papst und Herrscher in einem. Die fruchtbare, aber auch gefährliche Spannung, die der abendländischen Geschichte ihre Triebkraft gegeben hat, ist hier aufgehoben. Mit dieser eschatologischen Haltung, die zugleich die Welt eigentümlich entwertete, ist auch der Ansatz für die große rechtliche und rechtsstaatliche Entwicklung des Abendlandes für diesen Bereich abgeschnitten. Mit Recht hat Jellinek in seiner Staatslehre hervorgehoben, daß die Entwicklung eines Verfassungs- und Rechtsstaates im Abendland — ähnlich wie im israelitischen Staatsrecht — von dem Gegensatz von Staat und Kirche, von Gottesbund und Königsherrschaft abgehangen habe. Wir dürfen diese Aussagen ruhig annehmen, wenn selbst ein liberaler, theologisch ganz uninteressierter Gelehrter sich zu ihnen genötigt gesehen hat. Also auch in der Ostkirche ist man — das ist in unserem Zusammenhang wichtig — der ganzen Tiefe der Problematik des Miteinander von Kirche und Welt aus dem Wege gegangen.
Jene beiden großen Gruppen des Christentums sind also dem Zentralproblem ausgewichen, das sich mit dem Einbruch des Göttlichen in die geschichtliche Welt für alle nachfolgenden Zeiten gestellt hat — sie haben es den anderen Zweigen überlassen, dieses Problem gestaltend in der Nachfolge zu lösen — und daran schuldig zu werden. Die lateinische Christenheit, — um sie von der nachtridentinischen römischen Kirche im heutigen konfessionellen Sinne zu unterscheiden — hat dieses Problem allein in der ganzen Schwere auf sich genommen. Was römische Kirche und Protestantismus dabei gemeinsam haben, ist die Rechtfertigungsproblematik und Theologie des Paulus. Ob dieses Problem thomistisch, lutherisch oder calvinistisch gelöst wird, ist dabei zunächst ein sekundäre Frage. Aber mit
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der Rechtfertigung des Sünders vor Gott verknüpft sich immer zugleich die Rechtfertigung des Gläubigen gegenüber der Welt, die Rechtfertigung seines geschichtlichen, und damit vor allem seines rechtlichen, staatlichen, politischen Handelns in der Welt. Aus der Rechtfertigungstheologie entsteht immer auch eine bestimmte Rechtstheorie, sei es das System des Naturrechts und des ius divinum aus der thomistischen Formel „gratia naturam non tollit, sed perficit”, sei es die Theorie des Berufes und Amtes aus der lutherischen Formel „simul iustus simul peccator”, sei es die der Menschenrechte aus der Lehre von der Prädestination. „Rechtsidee und konkrete Rechtsordnung folgen stets der (religiösen oder pseudoreligiösen) Rechtfertigungsidee, das heißt dem geglaubten Grundverhältnis des Menschen zu Gott, oder dem an seine Stelle gesetzten geschichtsphilosophischen Prinzip.” (Dombois, Menschenrechte und moderner Staat Seite 59, ferner ders. Naturrecht und christliche Existenz S. 11).
Immer aber ist die Lösung des Problems eine notwendig doppelschichtige: Natur und Uebernatur, Gesetz und Evangelium, die beiden Reiche treten in schwierigen Verschlingungen zueinander. Hier entsteht kein radikaler, kein eindeutiger und primitivierbarer Glaube, sondern eine ernsthaft und tief im Gewissen zu erwägende, den Menschen vor schwierige Entscheidungen und Verantwortungen stellende Anschauung. Die gemeinsame paulinische Grundlage des römischen und protestantischen Christentums wird nicht dadurch aufgehoben, daß sie entgegengesetzte Lösungen gefunden haben. Die Lehre vom freien Willen und das Naturrecht und diejenige vom unfreien Willen und vom Beruf, von der Erwählung treten sich wie Position und Negation, wie plus und minus gegenüber, ebenso Rechtskirche und rechtsfreie Kirche. Diese Gegensätze stehen immer auf der gleichen Ebene, in Beziehung zur gleichen Problemstellung — der Rechtfertigung des Sünders vor Gott und Rechtfertigung seines geschichtlichen Handelns in dieser Welt.
Und doch trägt der Boden dieser Problemstellung nicht die ganze Breite der geschichtlichen Erscheinungen. In der römischen Kirche hat sich ein weiteres Element mitentwickelt. Sie steht in der eigentümlichen Tradition eines sakralen und zugleich rationalen Gesetzes. Vor und neben der Rechtfertigung steht die Heiligung und überwiegt im römischen Frömmigkeits- und Kirchentypus. Insofern ist sie mindestens nach der einen Seite und im Schwerpunkt petrinisch, und es zeigt sich, daß die Aufnahme des Rechtfertigungsproblems sich mit der
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Gesetzlichkeit jenes Erbteils verschmelzen läßt. Dies gibt ihr zugleich den Charakter des Widersprüchlichen, des Komplexen. Erst dort, wo das Rechtfertigungsproblem in radikaler Schärfe bis in die Tiefe durchgefochten wird, mußten jene Elemente notwendig abgestoßen werden. So ergibt sich jene eigenartige Erscheinung im Luthertum, die man als „Monophysitentum des zweiten Artikels” bezeichnen könnte, eine Einengung und Konzentrierung auf das Heilsgeschehen in Christus selbst, in dem Sinne, daß alles Gesetzliche auf der einen Seite ebenso radikal verneint wird wie jene schwärmerische Vorwegnahme des Reiches Gottes auf der anderen, aber mit der strengen Verweisung auf das Jetzt und Hier auch ein wesentlicher Teil des eschatologischen Bezugs verloren geht. Die Vereinzelung der Staats- und Landeskirchen, die Schwäche des Interesses an einem gesamtkirchlichen Denken erklären sich daher. Die abgestoßene Nationalreligion des Gesetzes hat das Luthertum in seiner engen Verknüpfung mit den Volkstümern auf illegitime Weise wiedergefunden.
Auf der anderen Seite tritt der Calvinismus in seinen geschichtlichen Erscheinungen schon mit einem Schritt von der Ebene dieser Problemstellung herunter. Je ausschließlicher die Lehre von der Prädestination entwickelt und gefaßt wird, desto mehr kommt man in Versuchung, das Heil vorbei an Christus in dieser Erwählung zu sehen; die Tat Christi und folgeweise die Sakramente werden schrittweise und tendenzmäßig entwertet und zu Zeichen statt zu Wirklichkeiten. Gerade Karl Barth hat sich in seiner Kirchlichen Dogmatik mit großer Entschiedenheit gegen diese Fehlentwicklung gewendet und dem Erwählungsgedanken eine entschlossenen christologischen Bezug wiedergegeben. Hier interessiert jedoch nicht die dogmatische Richtigkeit der verschiedenen Lehren, sondern die geschichtliche Ausprägungen mit ihren weitreichenden sozialethischen Auswirkungen. Die Ablehnung der religiösen Ethik Benjamin Franklins durch Barth schafft nicht die Tatsache aus der Welt, daß diese Haltung für ganze Länder und Völker geschichtlich typisch geworden ist.
In der Sozialethik prägen sich jedenfalls die dogmatischen Positionen mit der Präzision eines Münzstempels aus, aber nicht nur in ihr allein — das gesamte Weltbild ist von daher bestimmt. So bedeutet die Lehre von der Ubiquität (des Leibes Christi) ein reines Raumdenken, das alle zeitlich-geschichtlichen Gesichtspunkte verdrängt, zugleich aber den Raumgedanken selbst aufhebt, also z.B. die Vorstellung von heiligen
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Stätten ausschließt. Ein rein zeitliches, zielgerichtetes, eschatologisches Denken gibt umgekehrt allein rationalen Antrieben die stärkste Kraft und hebt die Bindung an das Jetzt und Hier gerade von der Wurzel her auf. Luthertum und Calvinismus verhalten sich wie Raum und Zeit. Ihnen voraus geht jedoch die Setzung der Kirche überhaupt, ihre „Institution”, die sie in Raum und Zeit hineinsetzt. Die Infragestellung dieser Konkretion verbindet den Protestantismus, während Katholizismus und Luthertum wiederum ein besonderes Verhältnis zu allem Leiblich-Konkreten gemeinsam haben. Das Luthertum steht also genau in der Mitte zwischen Katholizismus und Calvinismus. Heiligung, Rechtfertigung allein durch den Glauben, Erwählung sind die drei Lösungen auf dieser Ebene, die eine innere Fortentwicklung und damit einen sachlichen Zusammenhang erkennen lassen; ihnen entsprechen Naturrecht, Berufsgedanken und Rechte der Erwählten (Menschenrechte). (Vgl. Naturrecht und chr. Existenz S. 21.)
Der Sachverhalt ist also, wenn man jene Konzeption einmal in ihrem eigenen Sinne durchzuführen versucht, etwas komplizierter, als es gemeinhin angenommen wird; aber die Konzeption erscheint vereinbar mit den theologischen Problemstellungen und den geschichtlichen Tatsachen, wird von ihnen nicht gesprengt. Wenn aber das Zentralproblem, an dem sich die Konfessionen scheiden, das Problem der Inkarnation ist, in Richtung auf die Welt das Problem der Geschichte im allgemeinen und des Rechtes im besonderen, so zeigen sich nun allerdings innerhalb des Protestantismus so grundlegende Unterschiede, daß eine ganze neue Gruppierung der Konfessionen innerhalb dieser Problematik notwendig wird. Hier spaltet sich nun die Christenheit in ganz anderer Richtung in zwei große Hälften.
Die orthodoxen Teilnehmer der ökumenischen Konferenz haben völlig eindeutig betont, daß die Staats- und Soziallehre der Ostkirche von jeher naturrechtsfremd gewesen sei. (Totaler Staat und christliche Freiheit: Alexejew S. 9, Vycheslavzew S. 144, Dombois a.a.O. S. 53). Ein irrationales Verständnis des geschichtlichen Geschehens schließt eine Verknüpfung von Rechtsidee und Glauben aus. Der Begriff der Sublimierung, der Heiligung der gegebenen diesseitigen Ordnung, ist das immer wiederkehrende Leitwort der Orthodoxie. Hier ist keine Spur einer Rechtsdogmatik. Der juristische Charakter der römischen Kirche wird mit evangelischem Pathos als die Wurzel christlichen
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Verfalls herausgesetzt (a.a.O. S. 54). Obwohl Ontologie und Anthropologie der Ostkirchen derjenigen des Katholizismus engstens verwandt ist, nur wenige präzise dogmatische Unterschiede bestehen, obwohl nur ein Schisma, keine Trennung im Glauben erfolgt ist, ist doch die Gesamtstruktur des orthodoxen Denkens vermöge dieser Irrationalität dem rationalen römischen Denkens geradezu entgegengesetzt. Eine gleiche Spaltung wie die griechische und römische Kirche, also die alten bischöflichen Kirchen, durchzieht den Gesamtbereich des Protestantismus — und zwar an Hand des gleichen Gegensatzes. Der Lutheraner hat ein irrationales, der Calvinist ein rationales Geschichtsverhältnis — und von daher erklärt sich auch ihrer verschiedene Stellung zum Rechtsproblem. Wo die römische Kirche Naturrecht und Widerstandsrecht entwickelt, spricht die Ostkirche von Gehorsam, wo der Puritaner die Menschenrechte verficht, denkt der Lutheraner vom Amt her. Es ist das Amt der Liebe, das Recht zu Gunsten des Nächsten zu wahren, nicht die eigene Befugnis des Menschen, sein Recht als ein göttliches Recht in der Welt zu vertreten.
Naturrechte und Menschenrechte sind also keine gemeinchristliche Position. Sie sind entstanden im Bereich der beiden westlichen Konfessionen und gelten nicht im Bereich der beiden östlichen. Freiheit und Gehorsam, rationales und irrationales Geschichtsverständnis stehen hier einander antithetisch gegenüber. Der Weg, auf dem der Calvinismus in diese Front gekommen ist, ist sehr eigenartig. Der unbedingtesten Unterwerfung des Menschen unter Gott, der absoluten Irrationalität der Erwählungsentscheidung entspricht doch geschichtlich eine höchst rationale Ueberzeugung von der Erkennbarkeit dieser Erwählung, und aus dem Erwählungsglauben ein Freiheitspathos von stärkster Durchschlagskraft, verbunden mit einer streng rationalen Gesetzlichkeit.
Aber diese Ost-West-Spaltung der Christenheit ist doch wiederum nicht die einzige, die sie trennt und gliedert. Der Gegensatz protestantischer und altkirchlichere Denk- und Kirchenformen ist damit nicht aufgehoben. Römische und griechische Kirche sind sich einig in einer ontologischen Weltsicht, in einem kosmischen Verständnis des Heilsgeschehens, aber getrennt durch die Form dieses Denkens; die protestantischen Glaubensformen dagegen sind von ihrer nominalistischen Herkunft her voluntaristisch, personalistisch, auf die Entscheidung Gottes und des Menschen gestellt, sie denken nicht vom Sein, sondern vom Willen her. Diese Gegensätze überkreuzen sich
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nunmehr völlig mit den erstgenannten. So fügen sie sich seltsam über Kreuz zu einem großen vierfachen System zusammen. Jede der vier großen Konfessionen hat mit der ihr zunächst liegenden ein Merkmal gemeinsam, während ein anderes sie gerade unterscheidet. So ergibt sich eine Typenfolge der Dogmatik und des daraus folgenden Geschichtsverständnisses und der Sozialethik in folgender Weise:
Katholizismus: rationale Ontologie — Freiheit
Orthodoxie: irrationale Ontologie — Gehorsam
Luthertum: irrationaler Personalismus — Gehorsam
Calvinismus: rationaler Personalismus — Freiheit
Diese Schema wird noch deutlicher im Raumbilde:
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Rationalität |
Irrationalität |
Voluntarismus |
Calvinismus |
Lutherthum |
Ontologie |
Katholizismus |
Orthodoxie |
Die großen theologisch-philosophischen Gegensätze von Sein und Willen, von Freiheit und Bestimmung haben hier ihre erschöpfende Ausprägung gefunden: je tiefer und zugleich rational schärfer die theologische Besinnung sich ausprägt und alle Möglichkeiten auswertet, desto kontradiktorischer werden diese Gegensätze herausgearbeitet. Er scheint außerhalb dieser Denkmöglichkeiten keinen Standort mehr zu geben. Die geistige Subalternität der Sekten im Verhältnis zu den großen Konfessionen beruht einfach darauf, daß sie für die großen zentralen Fragen des Weltbildes keine eigenständige Antwort haben, aber auch nicht haben können, selbst wenn sie sie haben wollten.
Jener Erkenntnis der systematischen Zusammengehörigkeit der Konfessionen steht nun ein Geschichtsbild entgegen, welches in ihnen geschichtlich kontingente Erscheinungen sieht. Daß sie es zugleich auch sind, gehört zu den unauflöslichen Antinomien des Seins, über die wir nicht hinweg kommen. Diese Sicht relativiert die notvollen Entscheidungen des Gewissens, aus denen diese Formationen entstanden sind, nicht schlechthin, sondern ordnet sie zu einer großen zwingenden Einheit. Aber die Gegensätzlichkeit dieser Entscheidungen entspringt doch zugleich dem Zwang der Logik, dem analytischen Denken, der Unterwerfung unter den Satz vom ausgeschlossenen
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Dritten. Dieses vierfache System kennzeichnet das menschliche Unvermögen, die ganze Wahrheit in ihrer spannungsreichen Einheit zu umfassen, ohne an der Einzelentscheidung des Denkens und Handelns zu scheitern.
Deswegen ist die Frage nach einer synthetischen Sicht unabweisbar. In jenem Aufriß ist nun noch ein Gesichtspunkt der Unterscheidung unberücksichtigt geblieben, der die großen Konfessionen noch in einer ganz anderen Weise gliedert. Diese Unterscheidung führt uns gleichzeitig dazu, dieses vierfache Bild mit dem eingangs erörterten dreifachen in Beziehung zu setzen. Die großen Konfessionen unterscheiden sich nämlich schließlich noch dadurch, ob sie in ihrer Gesamtstruktur monistisch oder dialektisch sind. Die Voraussetzungen für die Unterscheidung sind zum Teil schon entwickelt worden. Aus dem calvinistischen Ansatz der doppelten Prädestination ergibt sich eine eindeutige, eingleisige Lösung, aus dem Evangelium folgt mit der Striktheit des göttlichen Rechts das Gesetz, aus der Erwählung die Pflicht, die Gebote Gottes als ius divinum mit bedingungsloser Härte zu verwirklichen. Aus der radikalen Verneinung der natürlichen Existenz des Menschen folgt doch wieder eine theologia gloriae. Hier gibt es keine ständigen Skrupel und Probleme, sondern einen unzähmbaren messianischen Impuls zur Gestaltung der Welt nach Gottes Willen, eine radikale und inhaltlich rational bestimmte Freiheit zum Handeln.
Daß auf der anderen Seite die Orthodoxie ein eingleisiges System darstellt, genauer: die Doppelgleisigkeit praktisch aufgehoben ist, wurde bereits gezeigt. Wo der Calvinismus den Menschen in eine solche Freiheit stellt, unterwirft die Ostkirche ihn ebenso eindeutig dem Gehorsam.
Zwischen diesen beiden eingleisigen Lösungen in West und Ost stehen mitten inne Katholizismus und Luthertum als dialektische, zweigleisige Systeme, im schwierigen Miteinander und Untereinander von Natur und Uebernatur, vom Gesetz und Evangelium. Im Zentrum des abendländischen Geistesgeschehens und der politischen Geschichte stehend, werden sie beide gewissermaßen von jenen beiden flankiert. Und doch deckt dieses äußere Bild, welches dem gegenwärtigen politischen Geschehen fast eine mathematische Struktur gibt, nicht das Ganze des theologischen Befundes.
Die paulinische Rechtfertigungstheologie, das Problem von Natur und Gnade hat auf dem Boden der lateinischen Kirche
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eine stufenweise Fortentwicklung erfahren. Im Thomismus wird die Natur von der Uebernatur überhöht, vervollkommnet; beide stehen im Raumbild übereinander. Im Luthertum stehen beide, verklammert durch den Gedanken der „Gültigkeit” als Gesetz und Evangelium nebeneinander, also in einer Wendung nur um 90 Grad. Im Calvinismus sind beide um weitere 90 Grad verkehrt, baut sich das Gesetz auf dem Evangelium auf. Calvinismus ist umgekehrter Katholizismus. Die Orthodoxie steht außerhalb dieser Folge. Sie hat keine eigentliche Rechtfertigungstheologie. Schält man die Schwerpunkte noch stärker heraus, so werden diese drei Bildungen entsprechend ihrer historischen Reihenfolge zu Darstellungen der drei Artikel ebenfalls in ihrer Reihenfolge.
Der Rang jeder modernen Theologie und jedes Theologen bestimmt sich danach, wieweit er die Vereinseitigung dessen zugunsten einer trinitarischen Theologie zu vermeiden vermag, wobei doch niemand ohne einen schwerpunktmäßigen Standort sich gedanklich zu entfalten vermag. Je tiefer der Standort, je enger und kleiner das menschliche Gefäß, desto stärker wirken die psychologischen Zwänge zur Vereinseitigung.
So gibt es also systematisch gesehen zwei eschatologische Glaubensformen des Christentums: eine ontologische, kosmoslogische der Gemeinschaft, und eine voluntaristische des Gerichts und der Erwählung. So hat das menschliche Unvermögen sogar noch die dialektische Einheit des dritten Artikels, das Miteinander von Gemeinschaft und Gericht zerspalten. Das Raumbild dieser Spaltungen sieht demzufolge etwa so aus:
I. Artikel |
II. Artikel |
III. Artikel |
Katholizismus |
Luthertum |
Calvinismus |
(Gesetz, Heiligung) |
(Gnade, |
(Gemeinschaft) |
In der geschichtlichen Wirksamkeit dagegen ordnet sich dieses Bild anders:
Calvinismus |
Luthertum |
Orthodoxie |
monistisch |
dualistisch |
monistisch |
Freiheit |
Freiheit u. Bindung |
Gehorsam |
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So verknüpft sich jene verbreitete, meist allzu einfach gesehene trinitarische Konzeption auf unauflösliche Weise mit der vierfachen Spaltung der großen Konfessionen. Der großartigen trinitarischen Synthese der alten Kirche der ersten Jahrhunderte, in der alle diese Gegensätze noch bewahrt und aufgehoben waren, steht im zweiten Jahrtausend die vierfache Spaltung als Frucht des rational-logischen analytischen Denkens gegenüber. Daß wir diese Dinge heute so zu erkennen vermögen, scheint mir ein Zeichen dafür zu sein, daß sich die Divergenz wieder zur Konvergenz wandelt. Noch eine letzte Sicht dieser Zusammenhänge darf nicht unerwähnt bleiben: auf die charismatische irrationale Epoche des Altkatholizismus des ersten Jahrtausends, welche sich in der griechischen Orthodoxie erhalten hat, folgt der vergleichsweise rationale Thomismus im Neukatholizismus; gegen ihn wendet sich das irrationale Glaubens- und Geschichtsverständnis des Luthertums im Rückgriff der Reformation, dem die rationale Form des Calvinismus fast auf dem Fuße folgt. Jene beiden rationalen Formen sind es, welche hauptsächlich die großen Glaubenskriege tragen, weil ihnen die Ueberzeugung eines ius divinum die erforderliche Entschlossenheit zur aktiven Selbstbehauptung gibt, während Luthertum und Orthodoxie nicht herrschende, sondern dienende Kirchenformen bleiben. So ist die große Konfessionsbildung zugleich eine Art Wellenbewegung im Verhältnis von Kirche und Welt.
II.
Das oben Gesagte könnte das Mißverständnis hervorrufen, als ob mit jeder theologischen Dogmatik zwangsläufig eine positive, konkrete, unmittelbare Rechtsdogmatik verknüpft sei. Wenn auch aus jeder Theologie ein ganz bestimmter sozialethischer Ansatz hervorgeht — keine Dogmatik ohne darauffolgende Ethik —, so ist doch im Hinblick auf die Jurisprudenz die Motivrichting eine andere. Der Unterschied liegt in der Blickrichtung. Dem weltlichen Gesetzgeber und Rechtstheoretiker geht es um die positiv-richtige Gestaltung der rechtlich geordneten Machtsverhältnisse, dem Theologen negativ um die Vermeidung der falschen! Der Mensch, der sich von der überwältigenden Macht Gottes ergriffen weiß, hat nur das eine Anliegen, dieses heilbringende, ihm eine neue Existenz gebende Verhältnis nicht dadurch aufzuheben, daß er sich einer falschen Macht von neuem anheimgibt. „Entfallet nicht aus
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Eurer Festung” — diese Mahnung des Apostels gehört zu den notwendigen Folgerungen und Forderungen jedes Glaubens im Verhältnis zur Welt und auch zum Recht. Also nicht, was man will oder wollen zu müssen glaubt, ist das echte Leitmotiv, sondern das, was man bei Verlust der Seligkeit zu vermeiden hat.
Aus jenem Gegensatz der Blickrichtung nun erklären sich die seltsamen Gegensätze, für die ein Aufsatz von Prof. Fischer (Hamburg) Belege liefert: dem Lutheraner erscheint es als „Naturrechtssatz”, daß niemand in eigener Sache Richter sein könne, also seine eigene Rechte nicht selbst verteidigen solle, sondern lieber das tatsächliche Unrecht leiden, statt mit der Wahrnehmung eigenen Rechte dem circulus vitiosus des Streites in Gang zu setzen und damit erst recht Unrecht zu begehen; der Calvinist dagegen — bis hin zu Barths Segnung des Kampfes gegen das Dritte Reich und der Heiligsprechung des bürgerlichen Rechtsstaats — erscheint im Gewissen gebunden, seine eigene Rechte als die Rechte Gottes zu verteidigen. An beiden Beispielen wird zunächst sichtbar, daß es sich garnicht im eigentlichen Sinne um eine Rechtslehre, sondern um theologische Aussagen handelt.
Was muß nun aber aus theologischen Gründen vermieden werden? Dem Lutheraner erscheint — theologisch und ganz unjuristisch — als das Verwerflichste, daß der Mensch sich auf seine eigene Macht stellt. Die Nachbarn und die Obrigkeit dürfen und sollen zwar helfen; aber er selbst soll zunächst der Macht der Gnade Gottes in dieser verlorenen Welt die Dinge anheimstellen, nicht denken, daß in Schlag und Widerschlag das Beste herauskomme, sondern vor allem die Ordnung, auch die schlechte Ordnung gegen die angeblich gerechte Unordnung wahren.
Dem Calvinisten ist es das Hauptmotiv, daß man die Heiligen Gottes, dann aber überhaupt alle Einzelnen als zum Heil Berufenen nicht antaste. Der Orthodoxie will, daß der Zar streng, „schrecklich” regieren soll. Das heißt nicht, daß er willkürlich, tyrannisch herrschen solle; er soll vielmehr als der Repräsentant und Vollzieher der göttlichen Ordnung deren schreckhaften, numinosen Charakter darstellen, damit dem Bösen im Volke gewehrt werde. Die Staatsgewalt ist so etwas wie ein harter Exorzismus. Der ewige Windmühlenkampf gegen die „Sabotage” im Bolschewismus hat neben anderem auch hierin seinen ererbten psychologischen Grund. Diese Austreibung des Bösen geschieht auf ganz irrationale Weise, die man
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rational-rechtlich nicht einengen und begrenzen kann — so wenig wie den Teufel auf die Einhaltung der Strafprozeßordnung. Dem römischen Katholiken wird kooperierende Freiheit des Willens und rechtliche Existenz innerhalb der Kirche sorgfältig gewahrt, er aber doch gleichzeitig immer darauf verwiesen, deren Sinn und Garantie allein in der konkreten Kirche als dem Leibe Christi zu suchen; gestört wird diese Einheit durch die geschichtlich-kontinentalen Kräfte der Völker und Staaten, deren Entfaltung auch in der Gestalt des heiligen Reiches mit Kritik und Mißtrauen verfolgt wird.
Daß es hier nicht um die wohlüberlegte gerechte Ordnung der Welt, sondern um das Heil der Gläubigen geht, zeigt sich an der seltsamen Verengung des praktischen Urteils über die Folgen der eigenen Lehre in der Wirklichkeit dieser Welt. Die Ursünde soll um den Preis auch handgreiflicher weltlicher Nachteile vermieden werden. Jeder Glaube wagt es, zunächst nach dem Himmelreich zu trachten und darauf zu bauen, daß ihm alles andere dann zufallen werde. Diese Ursünde wird sehr verschieden verstanden. Für den Lutheraner ist es — ganz augustinisch und radikal auf den Einzelnen bezogen — der amor sui, der alles befleckt, was er ist und tut. Für den Katholiken ist es der Inbegriff alles dessen, was nicht in den Kosmos der Kirche einbezogen werden kann, für den Orthodoxen ein ganz irrationales Böses innerhalb und außerhalb des Menschen, demgegenüber nur die orthodoxe Kirchen- und Lebensordnung als solche einen Schutz bietet, für den Calvinisten alles, was dem strengen, wörtlich verstandenen Gesetze Gottes nicht unterworfen und gemäß ist. Deshalb nimmt man auch keine tatsächliche Verzerrung der Wirklichkeit eigentlich ernst: die Obrigkeit erscheint grundsätzlich besser als die Eigenmacht, auf die Gefahr des Mißbrauchs dieser Gewalt und der Lähmung des Einzelnen. Die Kirche ist dem Katholiken als solche gut und unfehlbar, als ob sie nicht ohne das Gegenüber der Welt selbst ausartete und ausuferte, wie umgekehrt diese ohne Kirche verfällt; der Orthodoxie unterwirft sich ohne Rücksicht auf die sichtbaren Folgen und vollends der Calvinist ist blind gegen den illusionären Charakter einer totalen Gesetzlichkeit, die meint, mit einem ethischen Rigorismus die Probleme der Welt lösen zu können, und sie dadurch noch umso stärker verwirrt. Dabei hat selbstverständlich — vom praktischen Standpunkt a posteriori gesehen, jede dieser Lehren die Vorzüge ihrer Nachteile und Schwächen ihrer Stärken.
Damit sind wir aus dem Bereiche der systematischen Theologie bereits an den der Religionssoziologie herangekommen.
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Das wird zugleich auf die Frage zuführen, in welcher Form sich die großen Konfessionen säkularisiert haben. Merkwürdigerweise hat sich bisher niemand an die Religionssoziologie des Rechtes, und insbesondere des Staatsrechts herangewagt, obwohl das Verfassungsrecht mit seinen klaren und plastischen Formen eine solche Untersuchung geradezu herausfordert.
In der Tat hat jede der großen christlichen Konfessionen auch ihre spezifischen staatsrechtlichen Formen ausgebildet, die ohne ihr Mitwirken in dieser Form keinesfalls denkbar sind. Daß die griechische Kirche frühzeitig Kirche und Staat in der Person des Kaisers verschmelzen läßt und die Spannung von Kirche und Staat nahezu aufhebt, wurde schon erwähnt; diese Form ist dann in der Nachfolge von Byzanz auf das russisches Reich übergegangen. Hier wurde auch ein rechtsstaatliches Denken älterer Art, die Ausbildung eines vollständigen Lehnsystems, einer wirklich den Herrscher verpflichtenden und beschränkenden Rechtsordnung abgeschnitten, obwohl des Lehnsgedanke selbstverständlich vorhanden war. Die natürlichen hierarchischen Tendenzen aller jungen Völker und der Lehnsgedanke wurden nicht zum System vollendet. Dies jedoch war der Fall auf den Boden der lateinischen Kirche. Geistliche und weltliche Hierarchie stehen hier in voller juristischer Ausbildung einander parallel und wechselbezüglich bis zur genauen Abstimmung der Ränge gegenüber. Die wohlerworbenen Rechte der geistlichen wie der Lehnstitel wurden heilig und hoch geachtet, auch wenn mangels einer rationalisierten Staatsgewalt die faktische Rechtsunsicherheit sehr groß war. Wenn man die quantitative Rechtssicherheit nicht mit der qualitativen Hochhaltung des Rechtsgedankens verwechselt, wird man diese Epoche des Lehnstaates als eine echte rechtsstaatliche bezeichnen müssen, die auf dem Prinzip der transzendent-institutionellen Ungleichheit, nicht auf dem der autonom-immanenten Gleichheit beruht. Diese mittelalterliche Ständehierarchie flacht sich allmählich unter dem Einfluß des theologischen Nominalismus schon vor der Reformation dahin ab, daß nunmehr die Stände nicht mehr so sehr über- als nebeneinander stehen, insbesondere durch das Heraufkommen des Bürgertums. Die Reformation hat dann den Schlußstrich unter diese Entwicklung gezogen, indem sie mit besonderer Betonung die Gleichheit der Stände vor Gott in den Vordergrund stellte, den treuen Straßenkehrer höher wertete als den ungetreuen König. Dieses Nebeneinander der drei historischen Stände, des Adels, der Geistlichkeit und der Städte, also des Bürgertums als der Gesamtheit der dem materiellen
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Erwerbe Dienenden, soweit sie nicht Hintersassen geworden waren, blieb auf katholischen wie lutherischem Boden gleichermaßen bestehen. Sie wurden mit fortschreitender Durchsetzung des modernen Staatsgedankens zurückgedrängt. Der Grad der Durchsetzung des Absolutismus ist in den einzelnen Ländern verschieden, läßt sich jedoch nicht auf die konfessionelle Grundlage zurückführen. Im Ganzen gesehen war das Ständewesen vermöge der ihm anhaftenden Selbstsucht und Schwerfälligkeit im Rückgange. Es ist an einzelnen Stellen ganz beseitigt worden, an anderen obsolet geworden, an anderen in relativ großer Wirksamkeit geblieben. Religionssoziologisch wichtig ist dagegen allein die Tatsache, daß auf der katholischen Seite das Ständewesen in den Sturz der Monarchie verwickelt wurde, wie in Frankreich, daß jedoch auf der lutherischen Seite sich ein neues politische Element darüber hinaus entwickelte, welches dem alten Staatsgedanken fremd war; das Beamtentum. Das Luthertum hat nicht die von ihm proklamierte Idee des allgemeinen Priestertums verwirklicht, sondern kirchenrechtlich und staatsrechtlich den Amtsgedanken ausgebildet. Jeder Handelnde ist im Amt, und nur wer im Amt ist, darf handeln. Jeder hat in seinem Stande, in den Gott ihn setzt, seine Berufung, seinen Beruf zu erfüllen.
Gib, daß ich tu mit Fleiß
Was mir zu tun gebühret
Wozu mich Dein Befehl
in meinem Stande führet.
Dieser Choralvers gibt die lutherische Staatsauffassung klassisch wieder. Dein Befehl — mein Stand, voluntaristisch und auf das Jetzt und Hier gestellt, ohne eschatologische Spekulationen, ohne rationale Zweckerwägungen. Die große politische Form dessen ist das Beamtentum geworden. Müller-Armack hat darauf hingewiesen, daß im 18. Jahrhundert die gesamte kameralistische Literatur in lutherischen, die freihändlerische in calvinistischen Ländern erschienen ist. Kameralistik setzt einen Beamtenstaat voraus, eine Staatsform, die mit hausväterlicher Sorgfalt das Ganze pfleglich verwaltet. Jener Gedanke des Amtes, des Berufs, des Dienstes erstreckte sich auf alle; seine folgerichtige Entwicklung in der Moderne hätte in einem umfassenden Staatssozialismus bestanden, der auch alles wirtschaftliche Handeln zum Staatsdienst machte. Diese Gesinnung hat sich als sehr verbreitungsfähig erwiesen; noch der Schrankenwärter der Bundesbahn von heute faßt seine Arbeit nicht als job im amerikanischen Sinne, sondern
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als Dienst auf. Es ist die Kraft des allgemeinen Mönchtums, das die drei Gelübde in weltlicher Form und im Dienste an der Welt verwirklicht: Armut, d.h. Zurückdrängung und Entwertung des Erwerbstriebes, Keuschheit als peinlich saubere Lebensführung, Gehorsam als Einordnung in das Ganze. Auch der König selbst faßt sich als „Amtmann von Gottes Gnaden” auf (Friedrich Wilhelm I., der trotz seines reformierten Bekenntnisses der Sache nach Lutheraner war).
Der Calvinismus hat ausgesprochen aristokratisch begonnen. Die erwählten Heiligen konnten immer nur eine hart entschlossene Minderheit sein, die das übrige träge und lasterhafte Volk zum Ruhme Gottes unter dessen Gebote zwang. Calvin selbst hat in sorgsamer Abwägung bekanntlich in jenem berühmten Einschub zur „Institutio” der Aristokratie den Vorzug gegeben. Die Hugenotten verbanden sich gegen das werdende absolute Königtum mit der altständisch-aristokratischen Fronde. Cromwell ist nicht zur Ausbildung einer echten Staatsform gekommen. Seine Parlamente, Versammlungen fanatischer kurzsichtiger Prädikanten und Soldatenführer, zersetzten sich fortschreitend. Erst die Säkularisation der puritanischen Gedanken, die Verwandlung der exklusiven Rechte der erwählten Heiligen in die allgemeine Menschenrechte hat eine große politische Form hervorgebracht. Der puritanische Gedanke der gottgegebenen Chance, der kämpferische und emotionale Charakter blieben erhalten. So werden die politischen Kämpfe zu Wettrennen um den Erfolg, und der erfolgreiche Mannschaftsführer erhält neidlos die Macht zugebilligt. Dieses Denken ist nicht ontologisch, sondern personalistisch; der voluntaristische Zug des Protestantismus sit gerade in seiner rationalen Form scharf ausgebildet. Dieses Denken bestimmt bit heute Staatsform und Staatspraxis der beiden großen angelsächsischen Länder und hat sie vor den Zersetzungserscheinungen der parlamentarischen Demokratie des europäischen Kontinents bewahrt. Die Säkularisation dieses Denkens ist so frühzeitig erfolgt, daß kein scharfer Bruch eintrat, ja überhaupt keine Grenze erkennbar ist. So konnte eine unbefangene Gleichsetzung von Demokratie und Christentum erfolgen, die den Angelsachsen jedes Verständnis für die abweichende Struktur und Geschichte des Kontinents, insbesondere Deutschlands, unmöglich macht. Dabei wird mit einiger Naivität das sechshundertjährige Adelsregiment Englands in eine Demokratie umgedeutet; denn in England wie in der Schweiz ist die Ablösung der Aristokratie durch die Demokratie verhältnismäßig jungen Datums, nicht viel älter als
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hundert Jahre. Hier ist des besonderen Einflusses des Anglikanismus zu gedenken. Er ist keine Konfession, sondern eine autokephale Kirche mit einem gemischten dogmatischen Bestande, in dem katholische und protestantische Elemente unausgeglichen miteinander ringen; man bedauert es in ihr als ein Zeichen des eigenen geschichtlichen Versagens, daß man nicht auch die Puritaner in ihr zu halten vermocht hat. Der pragmatische Charakter des englischen Denkens hat dogmatische Schärfen vermieden und ist bei einem gemäßigten Pelagianismus geblieben. Luther selbst, lutherische Theologie und Grundsätzlichkeit sind in ihr im wesentlichen unbekannt und bis heute unverständlich. Der große fruchtbare, typisch englische Kompromiß von 1688 bestätigte die alte politische Hierarchie des mittelalterlichen Staates Königtum, Oberhaus aus Adel und Bischöfen, und Unterhaus. Durch die Entmachtung des Königtums und den Wettbewerbsgedanken in den Parlamentskämpfen war dieses System auch für die gemäßigten Dissenters annehmbar; dieses System stellt eine eigentümliche Verbindung von beiden Elementen dar. Noch stärker und grundsätzlich demokratisiert, aber dem Sinne nach aristokratisch ist dieses System noch in die Präsidentschaftsverfassung der Vereinigten Staaten mit ihrem Königtum auf Zeit übergegangen. Hier ist der Wettbewerbsgedanke wesentlich stärker ausgeprägt, die traditionellen Momente ausgeschieden.
Jede dieser großen Staatsformen macht nun den Prozeß der Verweltlichung, der Rationalisierung durch. Dieser Verfallsprozeß des christlichen Staatsdenkens schreitet von Westen nach Osten fort. Daß die Säkularisation des puritanischen Denkens keine Schwierigkeiten bereitete, das hier ein bruchloser Uebergang erfolgte, wurde bereits gezeigt.
Eine gänzlich andere, ja entgegengesetzte Entwicklung machten die katholischen Länder, vor allem und voran Frankreich durch. Der Katholizismus beruht auf dem Zusammenwirken von göttlicher Gnade und freiem Willen des Menschen. Scheidet man die Gnade aus, so fällt die Hierarchie wie ein Kartenhaus zusammen, und es bleibt nur der freie Wille des Liberalismus übrig, in allen Spielarten von optimistischer Weltverbesserung ethischer Richtung bis zum zynischen Libertinismus. Liberalismus ist rational verebneter Katholizismus. Dies zeigt sich vor allem in der ontologischen Struktur des Denkens. Die Welt ist ein Kosmos der Vernunft, aus dem nur die störenden Kräfte des Bösen ausgeschaltet werden müssen, damit er nach dem freien Spiel der Kräfte seine echte Gestalt zeige,
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seine Güte bewährte. An die Stelle der Ontologie der Transzendenz, die in die Welt hineinragt, sie mit ergreift und umfaßt, tritt die Ontologie der reinen Immanenz. Daraus ist als typische Staatsform der liberale Parlamentarismus hervorgegangen. Das Parlament ist ein kaleidoskopartiges Spiegelbild aller denkbaren Meinungen und ein Kosmos der denk- und Entscheidungsmöglichkeiten, innerhalb dessen die immanente Dialektik der Diskussion das vernünftige oder wenigsten bestmögliche Ergebnis hervorbringt. Keine emotionale Kraft von außen, auch nicht die Initiative des Staatsoberhauptes darf dieses feine Spiel stören. Deswegen ist etwa in Frankreich der Präsident streng auf repräsentative Funktionen beschränkt, er darf höchstens wie ein Schiedsrichtiger beim Fußball den Ball nach der Halbzeit wieder anstoßen, deshalb sind die ständig wechselnden Regierungen eigentlich nur geschäftsführende Ausschüsse des Parlaments.
Die diesem System zugrundeliegende Metaphysik ist in vollem bewußten Gegensatz zu der des Katholizismus im besonderen und des Christentums im allgemeinen entstanden. Sie ist negativ in ständiger Auseinandersetzung an dieser gegnerischen Größe orientiert. Ihr negatives Leitbild, ihr zentrales Motiv ist die Verneinung der Macht. Die Macht ist schlechthin böse. An die Stelle der charismatischen, von Gott verliehenen Macht tritt die Autonomie der menschlichen Vernunft. Da nun aber alle Religion von einem zentralen, überwältigenden Machterlebnis lebt, wird zwar nicht die Religion geleugnet, aber in ihr der Schwerpunkt in die Ethik verlagert. Der persönlich regierende Gott-Vater wird zum geistigen Urheber, der inkarnierte und durch Leiden zur Herrschaft (zur Macht!) erhöhte Christus wird zum ethischen, hervorragenden Menschen. Das Pathos aller Liberalen richtet sich gegen die dogmatische, „statutarische”, d.h. die geschichtliche Kirche. Im Gegensatz dazu bildet sich eine allgemeine Kirche der Vernunft. Sie hat keinen Papst, keine Bischöfe, keine sichtbaren Sakramente; gerade ihr Negativität, ihre Leib- und Gestaltlosigkeit ist ihr Prinzip, ihr Merkmal. Aber sie hat ein weit verbreitetes, wirksames Ordenswesen in Gestalt des Freimaurertums ausgebildet, sie hat ein negatives trinitarisches Glaubensbekenntnis in der Formel „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit”. Freiheit — das bedeutet die Unabhängigkeit von jeder transzendent begründeten Macht, von Papst, König und Bischof; Gleichheit bedeutet ihre Homogenität und Konkretheit, zugleich aber die Verneinung jeder konkreten geschichtlichen Besonderheit, in der sich ja eine besondere
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„Mächtigkeit” real zeigt, also auch der Inkarnation, die sich nur im Geschichtlich-Besonderen zu zeigen vermag. Brüderlichkeit bedeutet die Allgemeinheit dieser Kirche, die sie formal mit der christlichen gemeinsam hat. Aber im Gegensatz zu dieser hat sie neben der positiven Gemeinschaft kein negatives Gericht: alle sind nicht nur berufen, sondern auch auserwählt. Mit der Transzendenz der Schöpfung wird auch die Transzendenz des Gerichts verneint. „In diesen heiligen Hallen kennt man die Rache nicht ...” Die Verneinung des Sühnegedankens im Strafrecht ist eine der Folgerungen aus dieser Metaphysik. Auch die Bösen werden fortschreitend zur Vernunft erzogen, und erst in der Gegenwart, in der Auflösung der liberalen Demokratie in die homogene, und unter teilweisem Rückfall in puritanische Gedanken hat das moderne politische Strafrecht dem Gedanken der negativen Prädestination breiten Raum gegeben. Dies liegt im Grunde schon in einer neuen Phase. Die Zersetzung des liberalen Strafrechts in das der Prädestination habe ich anderwärts rechtsgeschichtliche dargestellt.
— Krise des Strafrechts — Krise des Richteramts im Sammelband
„Gerechte Ordnung”, Band 26 der Schriftenreihe der Evang.
Akademie Bad Boll, Furche Verlag 1948.
— Politische Gerichtsbarkeit, Verlag Kirche und Mann, Gütersloh
1950.
Jenes negative trinitarische Credo ist indessen das Bekenntnis eines monophysitischen Gesetzesglaubens. Alle monophysitischen Richtungen des Abendlandes, Puritaner wie Juden können ihm beitreten, ohne sich etwas zu vergeben. Mit dem Katholizismus steht er auf dem Boden der Lehre vom freien Willen, vom liberum arbitrium; ohne die Härte eines Erwählungsglaubens ist dieser Liberalismus die weltliche Pseudokirche des ersten Artikels.
Diese Bewegung ist die Monarchie in den romanisch-katholischen Ländern, zunächst in Frankreich, zum Opfer gefallen. Zwischen der monarchischen Legitimität und der Demokratie gab es im Grunde genommen nichts, jedenfalls keine eigene Gestaltung. Seitdem schwankt dort zuerst in Frankreich, dann in Spanien und zuletzt in Italien die Entwicklung zwischen Revolution und Restauration. Die Ausschaltung des personalen Elements im Staatsleben läßt immer wieder wie Fieberanfälle Diktaturversuche entstehen — das Unstäte dieser
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Bewegungen, sei es Napoleon III., Boulanger, sei es de Gaulle — läßt die Krankhaftigkeit des Zustandes erkennen. Durch jene Länder geht ein tiefer Riß zwischen Katholizismus und einem strengen und fanatischen Laizismus. Dieser hat einen uns ganz unbekannten Pfaffenhaß hervorgebracht, der sich in den Greueln der spanischen Revolution blutig ausgetobt hat. Die tiefe Spaltung und soziale Zerrüttung dieser Länder zeit, daß die Naturrechtslehren der römischen Kirche, die uns als Heilmittel für alle sozialen Schäden dargeboten werden, in Wahrheit keine Wirksamkeit besessen haben; verwirklicht worden ist doch immer nur das Recht der Kirche. Die Tatsache, daß in den romanisch-katholischen Ländern ebenso wie in den orthodoxen innerhalb der Arbeiterbewegung der Kommunismus eindeutig überwiegt, während in den germanisch-protestantischen der gemäßigte Sozialismus in der Vorhand ist, deutet zunächst auf schwerwiegende soziale Versäumnisse, während der Lutheraner mit Hingabe an ganz praktische Bedürfnisse der Welt im Dienste des Menschen sich mühte. Die tiefe Schwäche dieser Länder zeigt aber darüber hinaus, daß hier Zersetzungserscheinungen vorliegen, die viel tiefer begründet sind, als äußere soziale Verhältnisse zu erklären vermögen. Diese bisher wenig beachteten Strukturunterschiede in der Arbeiterbewegung und ihr Zusammenhang mit den Konfessionsstand der einzelnen Länder sind heute für das politische Leben Europas grundlegende Tatsachen. Gegen das substanzielle Denken der römischen und griechischen Kirche steht heute im Umschlag ein ebenso substanzieller Materialismus auf.
Die Säkularisation des lutherischen Staatsdenkens ist andere Wege gegangen. Es wird zunächst deutlich in Preußen in dem Uebergang von Friedrich Wilhelm I. auf Friedrich den Großen, vom „Amtmann Gottes” auf den „Ersten Diener des Staates”. Dieses so oft gepriesene Wort bedeutete doch die Infragestellung der sakralen Grundlage des Königtums, seine zweckhaft-rationale Umdeutung; sie zeigt zugleich typisch die Wendung vom Institutionellen ins Ethische. Die religiöse Kraft des Dienstgedankens hat in zunehmender Verweltlichung und Ethisierung diesem Königtum die Kraft gegeben, sich zu behaupten, die das katholische Königtum nicht besaß. Es ist bis heute der Stolz des Deutschen, der mit religiöser Inbrunst und nationaler Leidenschaft gehaßten und verachteten Aufklärung länger widerstanden zu haben als irgend ein anderes Volk. Aber man täuscht sich doch dabei darüber, daß man in anderen Formen dieselbe Säkularisation in Gestalt des Idealismus
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durchmachte. Noch ein protestantischer Kirchenrechtslehrer wie Holstein konnte nach dem ersten Weltkriege den Idealismus als die Ergänzung zu der fehlenden Systematik einer lutherischen Sozialethik preisen. In Wahrheit lag hier doch nur ein mit großen geistigen Mitteln durchgeführter Synkretismus vor; hier wie in der Aufklärung des Westens haben die Denker sich doch immer noch aufs stärkste in der Begegnung mit dem Christentum gefühlt, und dieses so hineinzunehmen versucht, wie sie es verstanden, als primäre Ethik.
Mit dem Sturz der Monarchie wurde das deutsche Luthertum politisch heimat- und richtungslos. Die ganze Schwäche des Dienst- und Berufsgedankens zeigte sich. Denn er hat nur Sinn, wenn eindeutig klar ist, für wen dieser Dienst geleistet werden soll, wenn er in eine feste Weltordnung eingefügt wird. Nachdem in der Person Wilhelms I. noch einmal eine wahrhaft königliche Persönlichkeit den Sinn dieser Ordnung repräsentiert hatte, wurde die geistige Entleerung des Systems unter seinem Enkel bereits erschreckend sichtbar. Diese Schwäche lag in der für ihren theologischen Ausgangspunkt kennzeichnenden Verwechslung von guter Politik und guter Verwaltung. England hat mit rückständiger Sozialpolitik und Verwaltung gute Politik gemacht, — auch nach innen, Preußen mit guter Verwaltung und frühzeitiger Sozialpolitik schlechte Politik. Die Macht, der man diente, wurde vorausgesetzt, nicht selbst gebildet und eigentlich erhalten. Deshalb konnte die gut lutherische Hingabe an das Amt und den Dienst die echte politische Integration, die gemeinsame Willensbildung nicht ersetzen, Bethmann-Hollweg war ein ebenso glänzender Verwaltungsbeamter wie ein schlechter Politiker. Die Sehnsucht nach einer solchen Ordnung, der man wirklich unter Hingabe der eigenen Person dienen darf, erklärt erst den ungeheuerlichen Mißbrauch, der mit der Glaubensfähigkeit des Deutschen durch Hitler getrieben werden konnte. Um diesen Vorgang zu verstehen, muß man noch einmal sachlich zurückgreifen.
Die lutherische Ethik war ungesetzlich, occasionalistisch auf das Jetzt und Hier der konkreten Lage gestellt, in der der Mensch Gottes Ruf zu vernehmen und ihm zu gehorchen hat. Die idealistische Ethik Kants ist eine formale, die die konkrete Ausfüllung des Sittengesetzes dem Menschen selbst auferlegt. Beide vereinzeln den Menschen tief und überlasten ihn zugleich in außerordentlichem Maße. Hier wird erneut sichtbar, weshalb die Verknüpfung mit der konkreten traditionellen Ordnung des Königtums so entscheidend wichtig
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für diese Haltung wird. Aus dieser Haltung aber entstehen offene Gemeinschaftsformen, weil die wirklich freie Entscheidung konstitutiv ist; die Verantwortung kann dem Menschen nicht abgenommen werden, insbesondere auch nicht durch einen Befehl. Der Kadavergehorsam ist keine preußische, sondern eine jesuitische Erfindung. Aus dieser Freiheit haben Zieten, Blücher und Moltke es vermocht, ihren Königen zu widersprechen, aus dieser Haltung vermochte es die Oberste Heeresleitung des ersten Weltkrieges, den verlorenen Weltkrieg aus eigener Initiative und Verantwortung zu beenden.
Wie konnte es kommen, daß sich die Dinge in Deutschland in einer ebenso erschreckenden wie tragischen Weise weiter entwickelten? Der Formalismus der Ethik machte, wie gezeigt wurde, nach Wegfall des konkreten traditional-religiösen Bezugs die Frage einer materialen Ethik besonders dringlich. Die Leere dieses Formalismus wurde nun durch die Republik nicht ausgefüllt, sondern sogar noch gesteigert. An die Stelle der formalen Pflichtethik trat der genau entsprechende Formalismus liberaler Selbstbestimmung. Den Idealismus konnte man unmöglich mit der ihm formal gleichwertigen Aufklärung überwinden. Im Gegenteil: der Deutsche war mit gutem Grund überzeugt, die Aufklärung durch die große geistige Leistung der idealistischen Philosophie längst überwunden zu haben, und vermochte umso weniger, den aus diesem System erwachsenen politischen Vorstellungen echtes Gewicht und Rang beizumessen; noch sichtbarer wurde ihm, daß das Prinzip der Diskussion und des freien Wettbewerbs zugleich Kräfte entfesselte, die dem Gedanken des Dienstes und der Hingabe an das Ganze abträglich und ethisch unterlegen waren oder es zum mindesten schienen. Schließlich ließ es sich nicht verbergen, daß der Glaube an die Diskussion sich selbst bereits in Europa in einer Krise befand. Diese Einwände und Hindernisse zu überwinden, fehlte es der Weimarer Republik an den geistigen Kräften. Die eigentlichen geistigen Väter ihrer Verfassung, die demokratische Partei von 1919, erlitt schon 1920 eine vernichtende Niederlage, aus der sie sich nie wieder erholt hat, und zersetzte sich noch laufend in Spaltungen. Die beiden anderen republikanischen Parteien konnten sich behaupten, nicht weil sie republikanisch waren, sondern weil sie eine ganz andere existenzielle Gemeinsamkeit als Grundlage hatten, das Zentrum in der römischen Kirche, die Sozialdemokratie in der Arbeiterklasse. Aus dem Mangel einer echten verbindlichen Staatsidee, die wirkliches Gemeingut gewesen wäre, ist die Republik — man kann nicht
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sagen gestürzt — sondern widerstandslos zusammengebrochen. Kein Finger hat sich für sie gerührt. Nicht die Reaktion der Alten, sondern die Enttäuschung der Jungen, der nach 1918 heranwachsenden Generation, hat dieses Ergebnis zuwegegebracht. Dies ist deutlich an den Ziffern der Wahlen abzulesen, durch die der Nationalsozialismus seinen Durchbruch erzielte. Denn in diese Lücke stieß nunmehr eine Glaubensbewegung hinein, die eine solche materiale Ethik vertrat.
Es ist dem selbstsicheren Illusionismus der Liberalen bis jetzt gelungen, sich selbst und die Oeffentlichkeit über die geistigen Versäumnisse und ihre eigene Unfähigkeit zu täuschen, die zu diesem Ergebnis geführt haben. Zu diesem System der Selbsttäuschung gehört auch die regelmäßig mit einer Spitze gegen den Staatsbegriff vorgetragene Behauptung, daß es sich um Exzesse des „Staates” gehandelt habe. Es wird dabei übersehen, daß die NSDAP mit voller Bewußtheit ein zentrales Verfassungsgesetz geschaffen hat, welches als „Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat” ausschließlich dazu bestimmt war, den Staat in völlige Abhängigkeit von der Partei zu bringen, ihm zur bloßen Apparat, zur Schale herabzudrücken und jeder eigenen Bedeutung zu entkleiden. Was hier vor sich ging, war die grundsätzlichste Unterwerfung des Staates unter eine militante Kirche, die jemals gedacht, geschweige denn durchgeführt worden ist. Diese Kirche bildete einen unfehlbaren Papst aus, einen herrschsüchtigen und korrupten Klerus, ebenso wie ausgesprochene Orden. Sie stellte vom kanonischen Fastengebot des Eintopfsonntags an sehr konkrete und oft sehr unbequeme Forderungen an den einzelnen Gläubigen. Sie sonderte diesen Gläubigen von der staatlichen Allgemeinheit ab und nahm doch in Anspruch, diese Allgemeinheit geistig völlig zu durchdringen. Dieselben Leute aber, die als protestierende Protestanten innerhalb der Kirche auch die leiseste Annäherung an die römische Kirche witterten und leidenschaftlich ablehnten, nahmen diese katholische Lebensformen einer weltlichen Nationalkirche willig auf. Je mehr ihnen ein konkretes Gemeinschaftserlebnis fehlte, — Königtum und Heer waren zerschlagen, die evangelische Kirche spiritualistisch und gemeinschaftsfremd — desto stärker wirkte, zuweilen geradezu überwältigend, das Erlebnis der Bekehrung zur religiösen Gemeinschaft der Bewegung. Nicht zuletzt war es der eschatologische Zug, die dynamische Ausrichtung auf ein zu metaphysischem Rang erhobenes kämpferisches Ziel, welche wirksam an die Stelle der schweren statischen Pflicht der Beharrung,
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des gehorsamen Dienstes im Jetzt und Hier trat. Als rein staatlich-politische Bewegung wären weder der Nationalsozialismus noch der Faschismus und der Bolschewismus imstande gewesen, solche tiefgreifenden Kräfte zu entfesseln und sich durchzusetzen. Es waren überall pseudoreligiöse, nicht primär politische Kräfte; und überall wendeten sie sich mit religiösem Pathos gegen den als formalen Apparat und bürgerlich verderbt empfundenen Staat. Dieselbe Staatsfeindschaft, die den Katholizismus und den Liberalismus eint, wendete sich von einer entgegengesetzten Seite gegen den gleichen Gegner. Der Staat wird überall zum negativen Symbol, zum mythischen Feind.
Was sich hier vollzog, bedeutete soziologisch einen völligen Strukturwandel. Aus der offenen Gemeinschaft der grundsätzlich freien Entscheidung wurde die geschlossene Gemeinschaft einer existenziell und ideologisch vorgegebenen Bindung.
Erst mit dem Nationalsozialismus war der solange gegen die verschiedensten Gegner mit relativem Erfolg abgewehrte offene Durchbruch des Säkularismus in Deutschland erfolgt. Zum ersten Mal konnten in Deutschlands Kernbeständen und in seiner aktiven Führung radikal antichristliche Tendenzen wirksam werden. Zum ersten Mal entstand eine von tiefen Kräften getragene rein säkulare Staatsform.
Es sind die vollendeten religionssoziologischen Züge eines weltlichen Katholizismus. Daß das nicht nur die geschickte Benutzung der erprobten Formen katholischer Menschenführung war, ist für jeden soziologisch Erfahrenen offenkundig. Solche Dinge kann man nur in geringem Grade „machen”. Gerade die radikalsten Ideologen der Bewegung waren zu einem großen Teil, wenn auch nicht ausschließlich abtrünnige Katholiken wie Hitler selbst und Goebbels. Diese katholische Struktur befähigte den Nationalsozialismus, sich mit dem Faschismus der romanischen Länder zu verbinden, der niemals in eine radikale Gegnerschaft zur Kirche gekommen ist, ja sich in Spanien auf sie stützt. Es kann sich nicht darum handeln, nachdem der Nationalsozialismus in einer so platten Weise dem Luthertum in die Schuhe geschoben worden ist, diesen Vorwurf dem römischen Katholizismus zurückzugeben. Es sollte deutlich geworden sein, daß die Dinge wesentlich tiefer liegen. Was hier bewußt gebildet wurde, war nicht ein politisches Ideal, sondern die militante Pseudokirche des Naturalismus. Es war der Versuch der Selbstinkarnation des
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säkularen Menschen, die Widerkirche des II. Artikels. Da es aber keine Inkarnation extra Christum geben kann, so mußte daraus von vornherein etwas ganz Entgegengesetztes werden: eine eschatologische Nationalreligion des auserwählten Volkes, der auserwählten Rasse. So entstand der schon früh empfundene Widerspruch, daß der Nationalsozialismus der Sache nach ein arisches Judentum verkörperte, der Form nach eine katholische Kirche, also Inhalt und Form seiner größten Gegner übernommen hat. Die ironische Gerechtigkeit der Weltgeschichte hat dies damit quittiert, daß das waffenstolze Reichsvolk des Abendlandes keine Schrotflinte führen darf und sich gegen seine Wiederbewaffnung wehrt, aber das 1900 Jahre waffenlose Judentum mit Panzerdivisionen um Jerusalem kämpft.
Es muß hier auch deutlich zu der umstrittenen Frage der Verantwortlichkeit des Luthertums für diese Entwicklung Stellung genommen werden. Sie ist jedenfalls keine aktive und positive. Seine karge Nüchternheit und die Härte seiner innerweltlichen Askese, vor allem die unerbittliche Verneinung alles Schwärmertums, aller diesseitigen Pseudoeschatologie stehen dem entgegen.
Auch in der staatlich-politischen Geschichte Preußen-Deutschlands ist er ohne Vorgang. Ob man ihn überhaupt auf Hegel reduzieren kann, ist sehr zweifelhaft. Bis jetzt ist Hegel keineswegs ohne weiteres als der preußische Staatsphilosoph mit einer realen Wirksamkeit für wesentliche Entscheidungen und politische Formbildungen nachzuweisen. Die Staatstheorie des preußischen Konservatismus stammte nicht von Hegel, sondern Stahl, der im Gegensatz zu Hegel stand. Vor allem war der Hegelschen Identitätsphilosophie die revolutionäre Verneinung des Gegebenen und das eschatologische Pathos des Endkampfs gänzlich fremd. Erst die Umkehrung des Hegelianismus in den Marxismus hat diese geschichtlich in besonderem Maße, ja vielleicht fast allein wirksamen Elemente hervorgebracht. „Es ist eine Frage”, sagt der in dieser Hinsicht gewiß unverdächtige Carl Schmitt (Der Begriff des Politischen S. 50), „wie lange der Geist Hegels wirklich in Berlin residiert hat. Jedenfalls hat es die seit 1840 in Preußen maßgebend werdende Richtung vorgezogen, sich eine „konservative” Staatsphilosophie von Stahl liefern zu lassen, während Hegel über Karl Marx und Lenin nach Moskau wanderte.”
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Am allerwenigsten war Bismarck ein Hegelianer, sondern ein lutherischer Pietist mit größter Abneigung gegen konstruktive Geschichtsphilosophie. Der dilettantische Absolutismus Wilhelms II. war, das ist heute völlig klar, gänzlich richtungslos. Er war deshalb gefährlich für die Sicherheit des Reichs, aber keine geschichtliche Größe von Substanz und Notwendigkeit und entbehrte jeder echten Dynamik. Er besaß keinen Funken von der Hitlerschen Dämonie.
Wohl aber besteht in der schon angedeutete Richtung eine negative Ursächlichkeit und Verantwortung des Luthertums für diese Entwicklung. Weis es nicht wagte und nicht imstande war, eine echte, leibhafte gemeinschaftsbildende Kirche mit eigenständiger geistlicher Autorität zu sein, entstand jene Leere, in die die neue Bewegung mit den Kräften des Naturalismus hineinstieß. Die zeitweilig unklare und schwankende Haltung mancher lutherischen Theologen erklärt sich daraus, daß sie das Problem der Gestaltwerdung als gegebenes wohl erkannten, aber sich selbst außerstande sahen, es von der Seite der Kirche her anzugreifen und die Kirche auch dazu nicht berufen sahen. Daß die gestaltfeindlichen Calvinisten sich gegnerisch einstellten, war sehr viel selbstverständlicher, aber dafür sahen diese die Problematik nicht, die diese Entwicklung trieb.
Mit diesem grundsätzlichsten und zentralsten Problem der Gestaltwerdung hängen zwei äußerlich gesehen kontingent-geschichtliche Tatsachen zusammen, ohne die das Bild unvollständig wäre. Der Deutsche ist wie jedes andere Volk unbewußt von den Kräften und Erfahrungen seiner Geschichte geprägt. Die deutsche Geschichte ist nun seit mindestens 700 Jahren eine unablässige Kette von negativen Erfahrungen, Fehlschlägen und Verlusten. In geradezu providentieller Weise ist immer alles fehlgegangen, was wir beginnen; eigentlich niemals ist ein politisches Problem glatt und ohne Rückstand gelöst worden. Seit Jahrhunderten werden die großen Gegensätze Europas auf unserem Boden und auf unsere Kosten ausgetragen. Jedes Jahrhundert ist mit einem gescheiterten Versuch der Reichsreform verknüpft. Während die Westvölker frühzeitig zu einer selbstverständlichen nationalen und politischen Einheit erwuchsen, legte uns die weise Voraussicht zweier europäischer Staatsmänner vom Range Metternichs und Bismarcks bewußt den Verzicht auf die Vollendung der nationalen Einheit auf, um das Gleichgewicht Europas nicht zu stören. Dies hat neuerdings Wilhelm Schüssler in seinem Aufsatz „Bismarck und die Nationen” (Um das Geschichtsbild,
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Freizeiten-Verlag, Gladbeck 1953) herausgearbeitet. Aus diesen Erfahrungen haben die Deutschen ein tiefes und schwer zu überwindendes Mißtrauen in ihre eigenen Kräfte erworben, das immer wieder durch entsprechende Ueberkompensationen ausgeglichen wird. Vor allem besteht ein Mißtrauen gegen normale Lösungen, Mittel und Menschen; alle Probleme erscheinen so verfilzt, so verzahnt, so kompliziert, so unlenkbar, daß nur außerordentliche Menschen und Maßnahmen einen Erfolg versprechen.
Die Sehnsucht dieses Volkes aber war auf die Herstellung von Einheit und Freiheit gerichtet, die den anderen europäischen Völkern längst selbstverständlich geworden waren. Als sie durch die Gründung des Reichs begrenzte Wirklichkeit geworden waren, fehlte eine darüber hinausgehende Idee. Man hat Preußen nicht mit Unrecht Gegnerschaft gegen die alte Reichsidee, gegen jeden Universalismus vorgeworfen. Preußen war gerade in seiner scharfen Staatlichkeit eine geistig durchaus partikulare Macht. Es hatte mit der Reichsgründung seine Mission erfüllt, seine Ausdehnungsmöglichkeiten erreicht, die ihm bis dahin die Spannkraft eines transzendenten Ziels ersetzt hatten. Von da ab war es nur auf Selbstbehauptung, auf Erhaltung des Errungenen eingestellt. Seine Staatsmänner standen unter dem Albdruck der Koalitionen und versuchten, ihnen durch eine schwierige Balancepolitik zu entgehen; Bismarck mit genialer Kunst, seine Nachfolger mit steigendem Mißgeschick. Der bürgerliche Nationalismus Deutschlands unterschied sich geistig nicht von den entsprechenden Missionsideen der übrigen europäischen Völker, durch die sie ihre nationale Existenz ins Metaphysische hypostasierten. Seine Kolonialpolitik war ein planloses Nachhinken hinter dem Kolonialzeitalter, von Bismarck mit Zurückhaltung und Mißtrauen betrachtet. Bethmann mußte am Tage des Kriegsausbruchs gestehen, daß seine gesamte Politik zusammengebrochen war. Nichts beweist ein größeres psychologisches Unverständnis als die Unterschiebung von Welteroberungsgedanken. Das war in einer Weise universalistisch gedacht, wie es im lutherisch geprägten Deutschland niemals echten Boden haben konnte. Die schweren Opfer des ersten Weltkrieges hätten heilsame Früchte für die europäische Völkergemeinschaft tragen können, wenn man bei nüchterner Prüfung seiner Entstehungsursachen erkannt hätte, wie wenig an Mißtrauen, Ungeschick und Fahrlässigkeit dazu gehörte, um einen solchen Konflikt zu entfesseln. Anstelle dessen suchten die Vertreter einer fortschrittlichen Diesseitsreligion ihre
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Selbstbestätigung darin, daß sie nunmehr in Gestalt Deutschlands oder seiner Führer das real Böse zu erkennen vorgaben und es mit gesammelter Macht aus der Welt zu treiben unternahmen. In genau prinzipiell gleicher Weise haben die Nazis später die Juden, die Bolschewisten die Kapitalisten als das schlechthin Böse zu vernichten unternommen. Der innere Zwang, zur diesseitigen Vollendung der Welt das real Böse zu vernichten, ist ein zentrales Merkmal einer eschatologischen Pseudoreligion der Selbsterlösung. Indem man nun Deutschland durch Versailles unter Quarantäne stellte wie einen Seuchenträger und sich jeder friedlichen Revision dieses starren Systems widersetzte, begünstigte man die ideologische Vorstellung von der grundsätzlichen Niederhaltung Deutschlands, um dann aus der Reaktion sein früheres Fehlurteil wiederum und nunmehr unwiderleglich bestätigt zu sehen. Jeder lebt von der Idee der Verschwörung, die der andere gegen ihn hat, die Weltkriegsentente von der Verschwörung der Junker, die Nazis von derjenigen der Juden, das Nürnberger Gericht von der der Nazis und der Bolschewismus von der Verschwörung aller gegen die proletarische Insel der Seligen, der man ihre Fortschritte neidet. Der Hexenwahn des 17. Jahrhunderts ist harmlos und intelligent gegen diese Erscheinungen der aufgeklärten Gegenwart. Alles darf es geben, nur nicht natürliche und deshalb begrenzte Gegensätze und Motive. Die rationale Verallgemeinerung zwingt, alles in der Welt zum „System” zu vereinheitlichen und verallgemeinern. Niemand aber sieht, daß er damit die Dinge immer weiter treibt. In dem Augenblick, indem man den nationalen Krieg ächtete, hat man den Bürgerkrieg von Religionsparteien allgemein und unausweichlich gemacht.
Schließlich müssen wir die Säkularisation der vierten großen Konfession, der griechischen Orthodoxie, darstellen.
Der liberale Pseudokirche des ersten, der nationalsozialistischen des zweiten Artikels steht im Bolschewismus diejenige des dritten Artikels gegenüber. In Rußland ist die Staatsform der Orthodoxie, der Cäsaropapismus zur selben Zeit abgelöst worden wie die Monarchie in Deutschland; er war schon fast zweihundert Jahre lang in tiefen, untergründigen Zersetzungserscheinungen unterwühlt worden; aber staatsrechtlich hat dies keinen Ausdruck gefunden; die konstitutionelle Periode war kurz und wurzelschwach im Gegensatz zu Deutschland. Das neue System hat nun radikal alle Transzendenz abgestreift; aber wiederum ist nunmehr der
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Mensch in ein großes, objektives, kosmisches Geschehen passiv und rechtlos, im vollkommenen Gehorsam eingeordnet, in die jede Einzelexistenz, jeden Einzelwillen ausschließende selbstgesetzliche Dialektik der Oekonomie. Der Alogismus der Ostkirche ist in einen Panlogismus umgeschlagen. Auch hier lebt wieder ein eigentümlicher Chiliasmus: das Endreich ist im proletarischen Sowjetstaat schon erschienen, für die verderbte übrige Menschheit, — in echtem religiösem negativem Sinne „die Welt”, — wird es zugleich mit kühler Beobachtung und zugleich fiebernder Erwartung in Gestalt der „großen Krise des Kapitalismus” immer wieder erwartet. Keine Abweichung, kein reformistischer Synergismus wird in diesem streng dogmatischen System geduldet. In einer beispiellosen Kumulation von politischer, wirtschaftlicher und ideologisch-pseudoreligiöser Macht ist ein neuer Cäsaropapismus entstanden; Lenin und Stalin besitzen auch absolute ideologische Autorität, Unfehlbarkeit. Und doch haben sie streng nach der Theorie der absoluten Machtverneinung nicht die entscheidenden Aemter inne; auch sie sind der Theorie nach nur Funktionäre des Sowjetvolkes; aber dies kann nicht frei entscheiden; es kann nichts anders als die Dialektik zu steuern. Lenin hat einmal gesagt: „Jede Köchin muß den Staat regieren können.” Das ist kein populäres Ziel der Volkshochschulbildung. Es bedeutet, daß auch der letzte Bürger so in den Sinn und die Entwicklung dieser ökonomischen, prädestinierten Entwicklung eingeführt werden soll, daß er, wie ein Lokomotivführer auf freier Strecke nur die Geschwindigkeit zu regulieren braucht, um fahren zu können. Auch diese Lehre lebt zentral von dem Antrieb der Machtverneinung, und zwar nicht der persönlich-politischen, sondern der als allein entscheidend angesehenen ökonomischen Macht, der Ursünde des Besitzes von Produktionsmitteln und der Ausbeutung. Daß der Bolschewismus nur in einem europäischen Lande, dem der Orthodoxie, zur allgemeinen Durchsetzung und damit zur staatlichen Form durchgebrochen ist, zeigt die tiefen Zusammenhänge, die nur religionssoziologisch zu verstehen sind. Rußland war bekanntlich das Land, in welchem die Voraussetzungen für eine proletarische Revolution am wenigsten gegeben waren. Das chiliastische Schwärmertum der orthodoxen Russen, das schon den alten Panslavismus beseelte, hat sich hier Raum geschaffen, umso gefährlicher als dem Russentum das Erlebnis einer echten Begegnung mit einem gleich starken und deshalb nicht verdrängbaren Volke in seinem eigenen geistigen Raum fehlte.
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Wenn man diese Erscheinungen der allgemeinen Säkularisation im Zusammenhang betrachtet, so zeigen sich deutlich zwei Phasen. Die erste ist die ethische, die trotz allen Gegensatzes zum Christentum und aller Unfähigkeit, seinen wesentlichen Kern, die Inkarnation wirklich zu begreifen und zu bewahren, doch in ganz verschiedenen Formen zu synkretistischen Bildungen geführt hat. Sowohl für die westliche Aufklärung wie für den deutschen Idealismus gilt dieses gemeinsame Merkmal. Erst in der neueren Zeiten hat man bei uns einen schärferen Blick für die Gegensätzlichkeit von Idealismus und Christentum wiedergewonnen. Im Westen bildet sich aus der Verallgemeinerung des puritanischen Ansatzes und seiner Verbindung mit der auf katholischem Glaubensboden erwachsenen Aufklärung eine „Allgemeine Kirche”. Sie fühlt sich so selbstverständlich als die wahre, daß sie bis heute die eigentlichen Motive für abweichende Geistesbewegungen nicht zu begreifen vermocht hat, sondern ebenso apodiktisch ohne echte Auseinandersetzung ihre Thesen wiederholt, wie die römische Kirche die ihren gegenüber dem Protestantismus.
Der Säkularismus der zweiten Phase ist, zeitlich beginnend mit dem Marxismus, nicht ein ethischer, sondern ein prädestinatarischer, ein existenzieller. Diese antiethische Existenzialismus ist dem Bolschewismus und allen Formen des Faschismus gemeinsam. Er verkörpert die tiefere und unmittelbarere religiöse Kraft, den Gläubigen gegen den Pharisäer, das Pathos gegen das Ethos, das Evangelium gegen das Gesetz. Die Zeiten, in denen der Liberalismus auch das gleiche Pathos besaß, sind längst vorbei; bei den Amerikanern ist davon noch ein starker Rest vorhanden. Dieser Existenzialismus hat heute im Westen allein in Frankreich eine starke Verbreitung gefunden, hier aber keine politische Form zu entwickeln vermocht. Er bedeutet hier nur einen weiteren Schritt in der Zersetzung der ursprünglichen katholischen Substanz.
Die Fähigkeit zur Ausprägung politischer Lebensformen ist jedoch ein unerbittlicher Wertmesser für die geschichtliche Echtheit und Legitimation einer Bewegung. Der Zusammenhang beider Phasen zeigt sich nun gerade darin, daß keine von beiden sich im ganzen Bereich in solchen Formen durchzusetzen vermocht hat; die ethische Phase nur im Westen und im konstitutionellen Deutschland, wobei hier immer ein Mißbehagen gegen die existenzielle Unverbindlichkeit der liberalen Lebensformen bestehen blieb; die Formen der zweiten Phase nur in Deutschland, Italien, Spanien, den Ländern
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mit intakterer katholischer Substanz und im Osten. Wir können also beide Phasen nicht einfach voneinander trennen, sondern müssen sie im Zusammenhang sehen. Gerade der Gegensatz zwischen Freiheit und existenzieller Bindung ist es, der hier offenbar wird; es zeigt sich, daß hier eine tiefe Desintegrationserscheinung vorliegt, die das ganze Abendland, den ganzen Raum der christlichen Geistesmacht und Problemstellung durchzieht. Wiederum kommen wir darauf, daß das Zentralproblem christlicher und europäischer Existenz in der Gestaltwerdung liegt, in der Verbindung beider zur ganzen Existenz des Menschen gehörigen Elemente in einem Dritten. Diese Mitte besaß das Abendland, solange es die sakramentale Einheit der Christenheit war, eben daran, daß hier das Göttliche im Menschen, die schlechthinige Freiheit in der Gebundenheit menschlicher Existenz, und ebenso die schlechthinige Bestimmung in der angemaßten Freiheit der gefallenen Schöpfung erschien. Dieser Verlust der Mitte ist die tödliche Krankheit Europas; an dieser Wunde leidet Amfortas unsagbare Qualen ohne selbst mehr zu wissen, woran er leidet.
Daß die angelsächsischen Völker außerhalb dieser Problematik stehen, erklärt sich zur Ganze daraus, daß sie national wie religiös von einem so tiefen Erwählungsglauben durchtränkt, gleichsam immunisiert und imprägniert sind, daß ihrem Liberalismus ein existenzielles Moment mitgegeben ist. So wird bei ihnen das Machtproblem nicht wie auf dem Kontinent zu einem Vehikel der Selbstzerstörung.
Wieder stehen auf den Flügeln die eindeutigen, in der Mitte die gemischten Lösungen. Faschismus und Nationalsozialismus waren als Kompromißversuche zwischen liberaler und sozialistischer Lebens- und Wirtschaftsform angelegt und hätten sich nur als solche behaupten können; universalen Charakter konnte nur eine soziale, nicht eine nationale oder rassische Form erlangen. An diesem Widerspruch ist der Nationalsozialismus zugrundegegangen. Deshalb hat heute weitgehend die europäische Sozialdemokratie das Erbe des Faschismus mit dem Versuche einer dritten sozialen Form angetreten; damit steht in Zusammenhang, daß die sozialistischen Parteien Englands, Frankreichs, Deutschlands, Skandinaviens eine so enge, national beschränkte Linie planwirtschaftlicher Isolierung gegen den Europagedanken betreiben.
Die doppelschichtige Säkularisation Europas läßt sich demnach in folgendem Bilde veranschaulichen:
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Ethische Freiheit |
Westen (liberal) |
nördliche Mitte (idealistisch) |
— |
Gebundene Existenz |
— |
südliche Mitte (katholisch-kommunistisch) |
Osten |
Das gleiche Bild zeigt sich in der Problematik des Verhältnisses von Recht und Macht.
Alle Länder auf dem Boden der lateinischen Kirche haben die Entwicklung zum modernen Rechtsstaat mit geringen Abweichungen durchgemacht — dagegen nicht Rußland. Umgekehrt haben alle Länder des europäischen Kontinents die moderne staatliche Entwicklung über den absoluten Fürstenstaat hinweg vollzogen, mit Ausnahme der angelsächsischen Länder. Auch unter dem Gesichtspunkt dieses Gegensatzpaars haben sich an den Flügeln des Systems eindeutige Lösungen herausgebildet: im Westen ein tatsächlich wirksamer Rechtsstaat, im Osten ein ebenso vollständiger Machtstaat. Allein in der Mitte ist dieses Problem von Recht und Macht nicht zum endgültigen Austrag und zur Ruhe gekommen; professorale Kathederpostulate bedeuten noch keine wirksamen und gültigen Lösungen. So ist in der Widersprüchlichkeit auch dieses Problems dieser Bereich ein Gebiet zerstörter Staaten, deren Tradition und Stil fortwährenden Brüchen und Wechseln unterliegt, ohne zur endgültigen und echten Form zu kommen.
Staat und Kirche, Recht und Macht sind die großen Gegensatzpaare, um die in den nachchristlichen Jahrhunderten in Europa eigentlich gerungen wurde.
Auch rein verfassungsgeschichtlich gesehen, ist die Intaktheit des angelsächsischen Staates nur dadurch möglich gewesen, daß aus dem Glauben an die gottgegebene Chance die personale Handlungsfreiheit und persönliche Handlungsfreiheit und persönliche Macht nicht ebenso grundsätzlich und von der Wurzel her in Frage gestellt wurde wie auf dem Kontinent. Das freiheitsliebende Angelsachsentum ist, wo es staatlich handelt, sehr viel härter und rücksichtsloser als irgend ein kontinentaler Staat, den Osten ausgenommen.
Die typischen, dominanten Lösungen im Rahmen dieser Hauptprobleme stehen in der gleichen Wechselbezüglichkeit zu
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den großen Konfessionen wie oben die Grundprobleme der Dogmatik. Damit erfährt das schon erwähnte Wort Carl Schmitts eine Bestätigung, daß die präzisen Begriffe der Staatslehre säkularisierte theologische Begriffe sind.
In diesen ist zu berücksichtigen, daß alle im Ansatz ethischen Lösungen zu offenen, alle existenziellen Lösungen zu geschlossenen Gemeinschaftsformen führen.
Jede der Gruppen teilt mit ihrem Nachbarn ein Merkmal und scheidet sich durch ein anderes von ihm. Dieses vierfache System analytisch-dialektischer Gegensätze ist jedoch zugleich auch ein eigentümliche dreifaches; die drei großen Ideologien der Vernunft, der Natur und der Materie in ihrer Selbstgesetzlichkeit sind die ins Diesseitige verkehrten Widerbilder, die isolierten Bruchstücke der einen christlichen Wahrheit von Gesetz, Gnade und Gericht. Noch in ihrer Bruchstückhaftigkeit tragen sie den Stempel ihres Ursprungs an der Stirn. Eine Welt, die sich der Gnade nicht mehr bedürftig wähnt, ist in Wahrheit ein gnadenloser, heilloser Haufen, eine massa perditionis geworden. Wieviel Macht ist dem Menschen in die Hand gegeben, daß er das Heil, um das er nicht mehr bittet, so unerbittlich verliert! Und doch läßt uns der erneuerte Blick auf diese Einheit mehr hoffen, als wir begründen könnten.
Der hier gemachte Versuch ist notwendig und unzulänglich. Er kann insbesondere nicht in ausreichendem Maße die kontingent-geschichtlichen Vorgänge und die Probleme der Nationalität einbeziehen. Wer das beanstandet, möge bedenken, daß die Betrachtung solcher Dinge im engeren wissenschaftlichen Sinne fast nirgends wagt, das Ganze wirklich ins Auge zu fassen, und damit einen solchen Versuch geradezu herausfordert. Was zu einer solchen Betrachtung treibt, ist nicht der wissenschaftliche Impuls allein, der sich mit bisherigen Lösungen nicht zufriedengeben kann: es ist die drängende Erkenntnis, daß wir uns im Zuge religionsgeschichtlicher Ereignisse größten Ausmaßes befinden, deren stürmische Entwicklung und praktische Bedeutung bisher keineswegs in ausreichendem Maße ernstgenommen worden ist.