|59|
In „Readers Digest” erschienen Vorabdrucke eines in den Vereinigten Staaten erscheinenden Buches „Nichts als ihre Ketten”. Es schildert ungeschminkt die Verhältnisse in den 10-14 Millionen Menschen umfassenden Zwangsarbeitslagern der Sowjetunion als die Wiedereinführung der Sklaverei in Europa. Viele dieser Dinge, mit denen sich auch kürzlich die „Frankfurter Hefte” beschäftigen, sind der Oeffentlichkeit seit langem bekannt. Es ist nicht der Sinn dieses Aufsatzes, sie noch einmal zu wiederholen. Der zitierte Aufsatz sagt nun weiter nach Schilderung der wahrhaft grauenhaften Einzelheiten:
„Warum diese ungeheuerlichen Dinge bis jetzt von der Weltpresse nicht gebracht worden, ist Geheimnis”, und schildert weiter, wie dreist und geschickt selbst führende leute wie Wallace und Willkie hinter das Licht geführt wurden.
Aber diese Erklärung ist im Grunde eine ganz oberflächliche. Keine Kunst im Bau Potemkinscher Dörfer, keine raffinierte Agentenarbeit, keine Illusionsseligkeit bürgerlicher Fortschrittsspießer erklärt die Tatsache, daß Geschehnisse derartiger Größenordnung verborgen gehalten werden konnten und heute noch trotz teilweiser Aufdeckung mit Erfolg weiter aus dem Bewußtsein der Weltöffentlichkeit ferngehalten werden können. Vieles erklärt gewiß die Großräumigkeit Rußlands und die langfristige Absperrung. Aber wer erinnert sich nicht unwillkürlich daran, daß mitten unter uns Dinge geschahen, die die meisten Menschen noch vor wenigen Jahren als in Deutschland vollkommen unmöglich ins Reich der Fabel verwiesen haben?! Wie war es möglich, daß Millionen Menschen verschleppt und umgebracht wurden, ohne daß mehr als ein dünnes Geflüster durch das Volk ging, kein Schrei, aber auch kein unterirdisches Lauffeuer?! Wie ist es heute noch möglich, daß jene aus Sowjetrußland bekannt gewordenen Dinge an allen Enden der Welt mit den größten Unbefangenheit verleugnet werden und aus dem Bewußtsein der Oeffentlichkeit wieder verschwinden wie ein flüchtiger Regentropfen? Was befähigt alle diese Leute, das alles so zu bagatellisieren, abzuleugnen, zu verkleinern, zu beschönigen? Keine Psychologie der Verdrängung erklärt dies zur Genüge, aber ebensowenig der Hinweis auf irgendeine geheimnisvolle raffinierte
|60|
Organisation. Beides ist in gewisser Weise natürlich vorhanden, aber beides sind nur zweitrangige Erscheinungen. Was sichert dieses geradezu automatenhafte Funktionieren der Abriegelung? Es liegt eine psychologische Bezüglichkeit bestimmter, praktisch ganz unbeteiligter Menschen zu diesen Ereignissen vor, die sie zwingt, sich schützend und verdeckend davorzustellen, ein geheimnisvoller Rapport.
Die Tatsache, daß hier Menschen vernichtet werden, hat bis an den Rand des Stumpfsinns die Frage ausgeschaltet, wen es betrifft und warum es geschieht und geschah. In den Lagern und Irrenanstalten des Dritten Reiches wurden die Angehörigen als minderwertig angesehener fremder Rassen und die als minderwertig angesehenen Angehörigen der eigenen Rasse vernichtet, nicht ohne daß ein Teil von ihnen im medizinischen Experiment als lebensunwertes Leben dem lebenswerten dienstbar gemacht wurde. In der Sowjetunion werden Klassenfeinde aller Art, Bürger, Bauern, angebliche und tatsächliche Saboteure und solche die aus Arbeitermangel hierzu ernannt werden, als Schädlinge des Klassenstaates — auf dem ökonomischen Wege, also ganz dogmentreu — durch Zwangsarbeit bei geringsten Unkosten aufgebraucht. Beides dient einem ideologischen Ziele. Die Befreiung der arischen Völker kann nur durch Vernichtung der Fermente der Zersetzung, des Judentums und Abstoßung aller eigenen entarteten Elemente gesichert und erkämpft werden, und ebenso muß der ökonomische Fortschritt, die Erfüllung gigantischer planwirtschaftlicher Aufgaben und die Vollendung des proletarischen Klassenstaates mit der, wie es so schön heißt, „Liquidierung” aller bourgeoisen und sozialschädlichen Elemente Hand in Hand gehen. Es ist die Vernichtung des realen Bösen, und dieses hat Heilsbedeutung für die Erlösung der Macht vom Fluche des Judentums oder des Kapitalismus. Eine moderne Ersatzreligion bringt ihre Menschenopfer nicht umsonst oder im Kern aus sadistischen Motiven, sondern mit voller rationeller Ueberlegung zur Abwendung des Bösen ihrem Gotte dar.
Erst von daher werden jene psychologischen Erscheinungen voll verständlich. Es handelt sich um die religionssoziologische Erscheinung der Arkandisziplin. Man versteht darunter das religiöse Gebot und die Uebung, das Kultgeheimnis, das Heilsmittel vor den Nichtgläubigen zu verbergen. Alle Religion ist anstößig für den profanen Geist des Ungläubigen. Auch das Christentum lebt von dem anstößigen und vernunftmäßig ganz unverständlichen Opfertode Christi und nichts anderem, es ist ein Aergernis und eine Torheit, und wo es das nicht
|61|
mehr ist, ist es gewiß kein Christentum mehr. Der diesseitige Mensch der höchsten geistigen wie der niedrigsten materiellen Stufe vermag nicht zu begreifen, daß man sich einer so ungreifbaren Macht hingeben, für sie leiden und sterben kann, und hält das im besten Falle für eine achtenswerte, aber zwecklose ethische Anstrengung. Auch die Heilstatsachen und Heilsmittel der modernen Ersatzreligion der Rasse und der Oekonomie werden von den Ungläubigen nicht verstanden, mit ihrem Verstand zersetzt und befleckt und müssen deshalb geheimgehalten werden, damit diese ihren Vollzug nicht aus Unverstand behindern. Nur der Gläubige versteht ihre Heilsnotwendigkeit, er ist bereit, für sie alles aufzuopfern und darum auch alles andere um des einen großen transzendenten Ziels willen gering zu achten, auch Einsicht und Gewissen. Und weil er dies tut, so verdeckt sich ihm und verdeckt er anderen mit Selbstverständlichkeit und Ueberzeugung das Bild der grauenhaften Wirklichkeit durch das goldene Bild des Jenseits, des Jenseits nach der endgültigen Befreiung, das auch der dogmentreue Marxist in seiner Art besitzt. Dieser Glaube aber verbindet seine Träger zu einer echten selbstverständlichen Gemeinschaft und befähigt sie überall wie auf ein Stichwort einheitlich zu handeln, so daß die bürgerlichen Aufklärer, für die Glaube lediglich als Moral begreiflich ist, an eine riesige phantastisch organisierte Verschwörung glauben.
Eine ähnliche Wurzel, wenn auch etwas anderer Art, im Unbewußten hat die Tatsache, daß die prominenten Politiker aus USA ebenso wie die prominenten Theologen aus Westeuropa so leicht und gründlich auf alles das hereinfallen, was ihnen von sowjetischer Seite gezeigt wird, daß ihrer Hellhörigkeit für Nazigreuel plötzlich zur Schwerhörigkeit wird. Das Unbewußte im politischen Urteil ist eine sehr viel größere Macht, als diese klugen Leute wahr haben wollen. Denn auch für sie kann eine Sache, die sich mit einigem Geschick als radikal fortschrittlich, als rational und aufgeklärt gibt, doch ganz gewiß höchstens kleine Schönheitsfehler, aber keine gefährlichen Dämonien in sich tragen.
An diesen Beispielen großen Umfanges und großer Bedeutung ergeben sich Erkenntnisse von bedeutender Tragweite. Es zeigt sich einmal, daß die politisch-sozialen Lehren der Gegenwart, die großen Geschichtsphilosophien, in Wahrheit echte diesseitigen Ersatzreligionen sind, mit allen Merkmalen der Glaubenslehre und Glaubensgemeinschaft. Es zeigt sich weiter, daß der Geheimcharakter religiöser Heilsmittel nicht
|62|
Sache esoterischer Sekten, sondern auch unter den Bedingungen moderner Massenbewegungen radikaldemokratischen Charakters gegeben ist. Entscheidend aber ist erst die Folgerung, daß die Formen menschlicher Gemeinschaft immer und überall dieselben sind und zwar Formen der Glaubensgemeinschaft, daß nur die Inhalte wechseln. Glaube macht Geschichte, und der Mensch lebt in der Formen der Glaubensgemeinschaft, sofern er geschichtlich und nicht rein vegetativ-nihilistisch im nackten Daseinskampfe lebt. Kein Handeln von Fall zu Fall, kein existenzielles „Sich-Entwerfen” erspart ihm die Entscheidung des Glaubens, wem er sich zu eigen gibt, Gott oder dem Götzen der eigenen Vernunft, der Rasse oder der Oekonomie. Verzweifelt und allzuoft enttäuscht versucht sich der moderne Mensch mit allen Mitteln philosophischer Dialektik an dieser Entscheidung vorbeizudrücken oder unterwirft sich ebenso leidenschaftlich unter Aufopferung der besseren Einsicht dem Papste irgendeiner Lehre. Zwischen heroischer Skepsis und leidenschaftlichem Selbsterlösungsglauben schwankt er hin und her. Wer aber zeigt ihm den wahren und leibhaftigen Herrn?
Ein führenden anglikanischer Geistlicher, Demant, schrieb schon 1935:
„Der Staatstotalismus ist keine Erscheinung, zu der die Kirche pharisäerhaft nein sagen kann. Es ist ein Phänomen, welches die Kirche wegen ihrer Apostasie zu einer Buße von geradezu revolutionärer Tiefe führen sollte.”
Welch ein Ereignis, und welch ein Gericht, wenn zwei der größten Völker sich von einem bürgerlich und moralistisch gewordenen Christentum losreißen und mit der ganzen unverbrauchten Glaubensbereitschaft in ungeheure Pseudomorphosen stürzen und dabei in einem verzweifelten Nihilismus enden?! Der größten religionsgeschichtlichen Erscheinung Europas seit der Reformation mit rein säkularen Mitteln gegenüberzutreten, ist eine völlige Verkennung der Sachlage.
Der gleiche Demant sagte schon 1937 mit Recht:
„Dem säkularen Totalitätsanspruch kann man nicht wirkungsvoll durch sein säkulares Gegenstück des Liberalismus begegnen, sondern nur durch ein erneutes Bekenntnis zu jener Synthese, für deren Behauptung die Kirche angesichts der zersetzenden Mächte im menschlichen Geistesleben immer wieder alles einsetzen muß.”
Wie groß müssen die Mittel, wie groß die gläubigen Herzen sein, um dieses Unheil zu wenden!