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Die Einheit der Christenheit und die Spaltung der Welt

 

Die ungewöhnliche Lage der Welt in der Gegenwart zwingt auch den evangelischen Christen in Deutschland zu einer unzweideutigen Stellungnahme. Es kann sich für ihn allerdings nicht darum handeln, taktische oder technische Gesichtspunkte zu erörtern, sondern darum, den Ort festzustellen, von dem aus die Kirche grundsätzlich zum Verhältnis der Völker untereinander Stellung nehmen kann. Hier gibt es in der Tat nur wenige mögliche Standpunkte; und für jeden dieser Standpunkte gibt es bereits ein geschichtliches Vorbild.

Die erste Form der Stellungnahme ist der hierarchische Anspruch der Kirche, autoritativ als letzte oberste Instanz, wenn auch ohne äußere Gewalt, in schiedsrichterlicher Form die Geschicke der Völker zu beurteilen. Dieser Versuch, den die alte vorreformatorische Kirche gemacht hat, führte jedoch gerade zu dem Sturz ihrer eigenen Autorität im Entscheidenden. Kirche und Staat, geistliche und weltliche Macht stehen nicht im Verhältnis der einfachen Abhängigkeit, sondern in einem gegenseitigen Anziehungs- und Abstoßungsverhältnis, einem Gravitationsverhältnis wie große Himmelskörper. Treten sie sich zu nahe, so zerstören sie einander; entfernen sie sich voneinander, so zerfällt das ganze System menschlicher Ordnungen.

Die zweite Form kann man als die des Klerikalismus bezeichnen. Klerikalismus ist grundsätzlich betrachtet der untaugliche Versuch, eine universelle Idee mit den Mitteln der Parteibildung zu verwirklichen. Mit diesem Versuch steht die christliche Kirche und die Christenheit nicht allein. Wir sehen in der Gegenwart eine ganze Reihe von internationalen universalen Ideengemeinschaften. Liberale sowohl wie Sozialisten versichern uns, daß wir uns ihrem System zu folgen brauchten, um die gestörte Harmonie der Welt wiederherzustellen. Sie alle übersehen nur das eine, daß außerhalb ihres Ideenkreises Anliegen und Geistesmächte vorhanden sind, welche sie eben nicht einzubeziehen vermögen. Und so enthüllt sich die scheinbare Harmonie ihrer Systeme nur als eine großartige rationale Illusion. Auch die ökumenische Gemeinschaft der Christenheit ist etwas anderes als eine CDU-Internationale

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oder der geistige Oberbau einer grundsätzlich mittelparteilichen Politik.

Der Aktivität unserer amerikanischen Freunde liegt eine dritte Form nähe. In ihrem Kreise ist der Gedanke entstanden, eine Art zwischenstaatliches kirchliches Außenministerium zu schaffen, eine Stelle, welche auf Grund hervorragender Sachkunde imstande wäre, zu den internationalen Problemen mit eigenen Vorschlägen Stellung zu nehmen und diese etwa in der Art diplomatisch zu vertreten, wie der Heilige Stuhl sich seit jeher diplomatisch vertreten läßt. Es wird hier also weder ein hierarchischer Herrschaftsanspruch erhoben — denn es soll nur vermittelt werden; man greift auch nicht zur Parteibildung, weil man gerade versucht, alle gegensätzlichen Strömungen gegeneinander auszugleichen und zum Frieden zu wirken. Auch diesem Versuch stehen grundsätzliche Einwände entgegen. Es ist schon fraglich, ob eine solche Organisatin über den hinreichenden Stab unterrichteter Mitarbeiter verfügen kann. Dies ist nur scheinbar ein technischer Einwand; in Wahrheit drückt sich darin die Tatsache aus, daß eben im allgemeinen nur derjenige zur Vertretung einer Sache legitimiert ist, den sie unmittelbar angeht. Die weltlichen Angelegenheiten können aber letztlich nicht in den Raum der Kirche verlagert werden. Versucht man es dennoch, so führt gerade dies zu einer Sprengung der kirchlichen Gemeinschaft.

Wollen wir zu einer Lösung unseres Problems kommen, so müssen wir uns vor Augen halten, daß die entscheidende Störung des Verhältnisses von Kirche und Welt gerade dadurch entstanden ist, daß der moderne Mensch sich gegen jeden Anspruch der Kirche, zu den öffentlichen Angelegenheiten verbindlich Stellung zu nehmen, mit mehr oder minder großer Schärfe wehrt. In der Gegenwart wird zwar die Forderung an die Kirche, zu nationalen und sozialen Fragen Stellung zu nehmen, in außerordentlich weitem Umfange erhoben, fast noch mehr von Menschen, die ihr fernstehen, als aus ihrem Kernbestande. Aber dieselben Menschen erklären sich regelmäßig dann für nicht befriedigt, wenn die Bischöfe dieser Forderung nachzukommen versuchen. Die Entdeckung des souveränen Menschen und des souveränen Staates als Folgeerscheinung ist die entscheidende Tatsache, die einem kirchlichen Einfluß entgegensteht. Indessen ist die Behauptung, daß die Souveränität des Staates, seine letzte Unabhängigkeit der machtpolitischen Entscheidung das Kennzeichen der modernen Geschichte sei und jeder Bändigung der politischen Kräfte

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entgegenstehe, doch nur in sehr bedingtem Maße richtig. Die moderne Staatsrechtslehre wiederholt in immer neuen Wendungen die Behauptung von der Wiederentdeckung des Souveränitätsbegriffes im 16. und 17. Jahrhundert. In Wahrheit ist jedoch der Souveränitätsbegriff niemals aus dem staatsrechtlichen Denkens des Abendlandes ganz verschwunden. Das ganze Mittelalter hindurch wurde dem römischen Kaiser die superioritas, die plenitudo potestatis allein zugeschrieben. Mit dieser Tatsache hat die moderne Staatsrechtslehre nichts anzufangen vermocht, weil ihr scheinbar oder tatsächlich nur sehr geringe oder formelle Befugnisse entsprangen. Ihre Bedeutung war dessen ungeachtet eine außerordentlich hohe. Sie symbolisierte nämlich die Einheit der Christenheit in einem eminent praktischen Sinne. Sie bedeutete zwar nicht die Aufhebung der einzelnen Staatsgewalten feudaler oder nationaler Grundlage, nicht die Aufhebung des Rechts der Könige von Frankreich und England, Kriege zu führen und Frieden zu schließen. Wohl aber waren im Bereich der abendländischen Christenheit bei aller Schärfe der Auseinandersetzungen gewisse letzte Schranken für die Machtanwendung gegeben. Das große Beispiel hierfür bietet der deutsche Orden. Diese führte mit Unterstützung und Billigung der gesamten Christenheit zwei Jahrhunderte hindurch Kriege gegen die heidnischen Litauer. Als diese das Christentum annahmen, fiel jene moralische und praktische Unterstützung fort, und der Orden erlitt eine tödliche Niederlage. Im Bereich der Christenheit gab es keine Vernichtungskriege. Vernichtungsaktionen sind jeweils nur geführt worden gegen Sektierergruppen, welche, als außerhalb der sakramentalen Gemeinschaft der Kirche stehend, jenen Schutz nicht genossen. Insofern war also die Souveränität jedes denkbaren Teilstaates in sehr wirksamer Weise eingeschränkt; und diese Einschränkung wurde garantiert durch die Gemeinschaftlichkeit der religiösen Ordensregeln des abendländischen Rittertums. Der Rest dieser Ritterlichkeit hat bis in die Kriege der Gegenwart nachgewirkt, und ihre Durchbrechung ist um so schärfer empfunden worden. Jene christliche Gemeinsamkeit und mit ihr die Einschränkung der äußeren Machtanwendung durch gewisse verbindliche Kampfesregeln wurde im 19. Jahrhundert abgelöst und verallgemeinert in die Gemeinsamkeit der zivilisierten Völker. Dieser Gemeinsamkeit nicht mehr christlicher, sondern humanitärer Art entsprangen die Haager und Genfer Konventionen, deren sinngemäße Anwendungsgrenze dort lag, wo von einem nichtzivilisierten Gegner die Anwendung der

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gleichen Grundsätze nicht erwartet werden konnte. Die Allgemeinheit dieses humanistischen Weltbildes ist nun in der Gegenwart sichtbar zerbrochen. Die Nichtanerkennung der genannten Konventionen durch die Sowjetunion ist der deutliche Ausdruck dafür, ganz unabhängig von der Frage, wie sich nun die Sowjetunion praktisch verhält. Auch der Nationalsozialismus hat jene Konventionen nicht mehr oder nur noch bedingt anerkannt. Damit erst war eine schrankenlose Machtanwendung gegeben, die die Ausrottung und Vertreibung ganzer Bevölkerungen ermöglicht. Dazu konnte es aber nur deswegen kommen, weil an Stelle des Humanum als höchsten Wertes der höchste Wert einer bestimmten politischen Ideologie gesetzt worden ist. In dem Augenblick aber, wo diese Gemeinsamkeit zerbricht, wird auch derjenige zur schrankenlosen Anwendung der Kampfmittel gezwungen, der sonst bereit wäre, diese einzuschränken. Die Frage nach der Souveränität ist also im eminenten Sinne eine weltanschauliche, ja eine theologische. Von der Souveränität des Einzelmenschen über die Souveränität der Einzelnation sind wir zur Souveränität der Ideologie gekommen, deren Macht und Verbindlichkeit in der Gegenwart die Eigenständigkeit der Einzelnation bereits deutlich aufzuheben beginnt. Diese souveränen Ideologien aber stehen einander unvereinbar und unversöhnlich gegenüber. Ueber der Welt hängt das Damoklesschwert eines tödlichen, alles zerstörenden Krieges. Diese gegenwärtige Welt muß kämpfen oder ihre Aufspaltung in zwei große Machtbereiche anerkennen. Uns sind diese Vorgänge nicht gleichgültig. Aber was wir zu ihnen zu sagen haben, gilt unterschiedslos — gleich, welche Möglichkeit auch die Herren dieser Welt wählen mögen. Es wäre ein falsches und sichtbar widerlegtes Machtdenken, wenn wir die gegenwärtigen politischen Kämpfe ebenso betrachteten würden wie andere Machtkämpfe der Vergangenheit. In dem alten System der großen Mächte sicherte die annähernde Gleichheit der Kräfte zwar nicht den ständigen Frieden, aber die ständige Fähigkeit, doch noch immer wieder Frieden zu schließen. In der Gegenwart ist genau umgekehrt die Ausgeglichenheit der Kräfte ein Hindernis desselben Friedens, dabei zugleich ein Hemmnis für den physischen Krieg. Die Lage hat sich genau umgekehrt. Warum können die großen Mächte der Gegenwart nicht mehr Frieden schließen? Weil sie geistig-grundsätzlich nichts Verbindliches mehr miteinander gemein haben, nicht einmal mehr die formale Logik und Vernunft; eine jede von ihnen behauptet, diese allein zu besitzen, und ihre diplomatischen Noten sind Proteste und Monologe.

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Es zeigt sich, daß nicht die formale Gemeinsamkeit der Vernunft als ein Merkmal der gemeinsamen Eigenschaft als Mensch, sondern die Gemeinsamkeit des Weltbildes der Humanität, die Gemeinsamkeit des Glaubens, der einzige Garant des Friedens war. Sie hatte bis zu den totalen Kämpfen des zweiten Weltkrieges die äußerste Machtanwendung, die Niederreißung der letzten Schranken verhindert. Die Fähigkeit, Frieden zu schließen, und damit der Friede selbst ist in einem sehr viel grundsätzlicheren Maße eine theologische Frage, als dies General Mac Arthur in seinem berühmten Wort bei der japanischen Kapitulation vielleicht gemeint hat.

Die Folgen der heutigen Friedlosigkeit gehen in einem besonderen Maße zu Lasten des deutschen Volkes. Es entbehrt auf unabsehbare Zeit der Einheit, und es hat nicht mehr Hoffnung auf deren Wiederherstellung als Polen nach dem Wiener Kongreß. Seine beiden Hälften werden unweigerlich zu bloßen Anhängseln der beiden großen Machtgruppen. Weil man sich über westliche und östliche Demokratie nicht einigen kann, muß Deutschland auf nationale Existenz und damit auf demokratische Selbstbestimmung überhaupt verzichten. Es gibt keine deutsche Demokratie, sondern eine Demokratie nach den Grundsätzen, dem Gutdünken und dem Maße der politischen Einsicht der östlichen oder westlichen Beherrscher. Krieg und Nichtkrieg — denn von Frieden kann man ja nicht reden, sondern nur von Verzicht — bedeuten also grundsätzlich genau das Gleiche: man gesteht zu, daß man einander nicht begreift, d.h. man versteht einander nicht nur nicht mehr intellektuell, sondern man vermag einander nicht mehr in eine gemeinsame Ordnung einzu„begreifen”. Wenn Präsident Truman vor kurzer Zeit erklärte, es sei die größte Enttäuschung der Nachkriegspolitik, daß die Sowjetunion sich nicht zu einem Abkommen bereitfinde, so müssen wir feststellen, daß diese jetzt zerstörte Illusionen niemals die unsrigen gewesen sind. Dies hätten wir schon vor Jahren sagen können und haben es gesagt. Aber diese Illusionen haben uns unsere nationale Existenz gekostet. Wenn aber die Westmächte heute immer wieder versuchen, die Verbindlichkeit internationaler Abmachungen gegenüber dem Osten aufrechtzuerhalten und wiederherzustellen, so befinden sie sich in der gleichen Lage wie die katholische Kirche,die noch heute die Tatsache nicht anzuerkennen bereit ist, daß sich außerhalb ihrer große Teile der Christenheit befinden, welche niemals und unter keinen Umständen in ihren Schoß zurückzukehren willens und in der Lage sind.

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Die Ursachen jener Friedlosigkeit, die heute die Lage der Welt so hoffnungslos macht, werden von kirchlicher Seite meistens mit den Stichworten Abfall und Säkularismus gekennzeichnet. Diese Beurteilung jedoch enthält in einem gefährlichen Maße den Keim einer pharisäerhaften Ueberheblichkeit. Sie ist unzulänglich. Wir werden die Erscheinungen der Gegenwart um so eher zutreffend würdigen, je mehr wir uns dabei von moralischen oder halbmoralischen Noten freimachen.

Die Beurteilung des Ostens hat zwar insofern eine Fortentwicklung erfahren, als man weithin bereit ist anzuerkennen, daß in diesen Bewegungen ein religiöser Kern vorhanden ist. Diese Feststellung wird jedoch zu einer gefährlichen journalistischen Halbwahrheit, solange man nicht mit voller Deutlichkeit sagt, um welches religiöse Anliegen es sich dort handelt. Der Typus des revolutionären Menschen ist mir in einer sehr eindrücklichen Form in den Jahren vor 1933 in der Person des Führers des sogenannten Widerstandskreises, Ernst Nikisch, in Berin entgegengetreten. Nikisch vertrat die radikale These, daß eine Befreiung Deutschlands vom Joch des internationalen Kapitalismus nur durch ein Bündnis mit Sowjetrußland möglich sei auf die Gefahr einer völligen Zerstörung aller bisherigen und traditionellen Werte. Meine Freunde und ich haben damals diesen Mann, der heute ein Prominenter der SED ist, bei allem menschlich anständigen Verhältnis als einen zerstörenden Ideologen bekämpft. Aber wir sind ihm viellicht nicht ganz gerecht geworden. Was den revolutionären Menschen treibt, ist nicht die Vorstellung einer bestimmten politischen Möglichkeit auf der praktischen Ebene, über die man letztlich streiten kann. Der Revolutionär ist vergleichbar mit dem Herkules, dem sein ungetreues Weib Dejanira das tödlich vergiftetet Hemd aufgelistet hat. In rasendem Schmerz versucht er, dieses Hemd, das sich in seine Haut eingefressen hat, sich um jeden Preis vom Leibe zu reißen. So sieht sich der Revolutionär eingefangen in eine unrettbar verdorbene Welt, aus der er sich nu durch eine radikale Zerstörung um jeden, aber auch wirklich um jeden Preis retten kann. Diese verderbte Welt muß durch das Endgericht einer radikalen Zerstörung durchgehen, damit wieder ein lebenswertes Leben in Freiheit existieren kann. Für diese Haltung kann es keine Rast und keinen Frieden geben. Mit ihr aber berührt sich eng die religiöse Enderwartung des johanneischen Christentums des Ostens, die leidenschaftliche Spannung auf die Vollendung der Welt durch die Zerstörung aller verderbten und vergänglichen Form im Endgericht. Diese Eschatologie, die das christliche Glaubensbekenntnis als eine

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transzendente Tatsache darstellt, ist hier im Bolschewismus ins Diesseitige verkehrt und für sich allein und absolut gesetzt.

Das zweite Element jedoch, das sich damit verknüpft, ist die Vorstellung des gemeinsamen Heils. Der Gedanke, daß das ewige Heil den Menschen nicht eine Frage eines höchst individuellen Schicksals, sondern ein Gesamtschicksal ist, liegt dem theologischen Denken des Westens überaus fern. Berdjajew hat in einer neueren Studie zur Vorbereitung der Weltkirchenkonferenz gerade darauf hingewiesen, daß dieser Gedanke des gemeinsamen Heils, des sobornost, in der griechischen Kirche lebe und ebenfalls eine Voraussetzung oder, anders gesagt, einen Berührungspunkt mit dem Bolschewismus darstelle. Es sind sehr tiefe Vorstellungen, die sich damit verknüpfen. Der Gedanke, daß das Gerechte das Böse sei, weil es sich doch letztlich um eine verruchte menschliche Selbstgerechtigkeit angesichts des völligen Unwürdigkeit des Menschen vor Gott handelt, ist eine tiefe Kraft, die man vielleicht als drittes religiöses Element mit anführen kann, welches im Bolschewismus seinen radikalen Umschlag ins Weltliche vollzogen hat. Aber es wird schon damit verständlich, aus welchen Gründen der Westen diese Erscheinung nicht zu begreifen vermag. Die Religion vollends im Rahmen der bloßen Vernunft weiß nichts von Gnade und Gericht; das Endliche ist nach dem Satz von Thomas von Aquino nicht fähig, das Unendliche in sich aufzunehmen. Daß der Marxismus eine diesseitige Erlösungsreligion ist und aus den fehlgeleiteten invertierten religiösen Kräften der Gegenwart seine Kraft zieht, wird trotz allem immer noch verkannt. Neben allen anderen Wesensmerkmalen der Glaubensgemeinschaft, die er an sich trägt, zeigt sich dies auch daran, daß er vor den gleichen theologischen Problemen steht, welche die Dogmatiker des Christentums seit anderthalb Jahrtausenden beschäftigen. Die Frage, ob das ewige Heil des Menschen allein durch die Gnade Gottes gewirkt werde oder ob dabei die Werke des Menschen ins Gewicht fallen, Prädestination oder Synergismus, Augustin oder Pelagius, kehrt genau wieder in den marxistischen Lehrstreitigkeiten. Ob die Dialektik der Oekonomie zwangsläufig abrollt oder nur vollzogen werden oder ob sie planmäßig reformistisch beeinflußt werden kann, scheidet Sozialisten und Kommunisten, wie das Problem der Werke Protestanten und Katholiken.

Die gleiche Bereitschaft, religiöse Triebkräfte in einer radikal diesseitigen politischen Bewegung anzuerkennen, die wir heute gegenüber dem Bolschewismus feststellen können, hat gegenüber dem Nationalsozialismus niemals bestanden.

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Sein Anliegen war ein grundsätzlich anderes. Nach der tiefempfundenen sozialen Unzulänglichkeit des Bismarckschen Reiches, nach der offenkundigen Leere der Republik, nach der ewigen Gestaltlosigkeit des Protestantismus, nach einer siebenhundertjährigen Geschichte des Zerfalls und der steckengebliebenen Reformen endlich einmal zu Gestaltung zu kommen, das heilige Reich zu erneuern, ein positives Anliegen, nicht das revolutionäre der Zerstörung, das setzte Deutschland in Bewegung. Aber wie die religiöse Endhoffnung des Ostens in einen brutalen Materialismus, so wurde der Gedanke der Gestaltwerdung widerchristlich in einen brutalen Naturalismus verkehrt und durch die Uebernahme der marxistischen Endkampfideologie gefährlich ausgeweitet. Wie an die Stelle des göttlichen Endgerichts die menschliche Revolution, so tritt an die Stelle der Gnade und der Fleischwerdung des Ewigen die rücksichtslose Selbstsetzung der physischen Kraft. Auch diese Erscheinung, das ganze Problem als solches schon paßt nicht hinein in das Weltbild und die Theologie der Vernunft, und daraus entspringt das grundsätzliche Unvermögen, diese Erscheinung zu begreifen, geschweige denn sie zu heilen; und damit erklären sich die unausgesetzen nicht relativen, sondern absoluten Fehler in der Behandlung auch des deutschen Problems. Dieses Unvermögen hat Deutschland in den vergangenen drei Jahren zu dem heutigen moralischen Trümmerhaufen gemacht, der schlimmer ist als die Zerstörung der Städte und der Wirtschaft. Was dem entgegengesetzt wird, ist einerseits eine Ideologie, die auf keiner grundsätzlich anderen Ebene steht, die Ideologie der selbstgesetzlichen und freien Vernunft. So wie jene beiden Bewegungen die diesseitige Verkehrung der christlichen Wahrheiten des dritten und zweiten Artikels bedeuten, bedeutet jene Ideologie der Vernunft die diesseitige Verkehrung der Wahrheiten des ersten Artikels, der Wahrheiten des Gesetzes und der Schöpfung.

Die angelsächsischen Völker haben sich weitgehend die französischen Irrtümer über Deutschland zu eigen gemacht und sich die Dinge in einem Klischee vereinfacht und verzerrt. Man unterscheidet zwischen dem guten, vernünftigen, geformten und formbaren und dem bösen, unvernünftigen, ewig formlosen und irrationalen Deutschen. Diese Bösen werden niedergehalten, die Guten zu Optimismus und Fortschritt, zu Vernunft und Aufklärung erzogen. Dieser pädagogische Wahn ist der folgenschwerste Selbstbetrug, dem je Menschen unterlegen sind. Er entspringt einem doppelten Irrtum, einem geschichtlichen und gegenwärtigen Fehlurteil. Man verkennt geschichtlich,

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daß es gerade Deutschlands Aufgabe — und wenn man will, fluchartiges Schicksal — ist, Form und Inhalt, Vernunft und Gefühl, Westen und Osten miteinander zu verbinden, auszugleichen, zur Gestaltung zu binden, ohne zu erstarren oder der Auflösung zu verfallen. Gestaltwerdung, nicht Auflösung und Protest ist die ewige Aufgabe der Vermittlung, das schwierige und ewig gefährdete Grenzerdasein des Deutschen. Trennt man eines der beiden Elementen vom anderen, so zerstört man die deutsche Existenz in ihrem eigentlichen Sinn. Gerade das aber tun heute Westen und Osten in genau gleichem Maße, indem sie auf die Bewältigung des ganzen deutschen Problems verzichten, zum Teil nicht ohne eine gewisse Erleichterung trotz allen Proklamationen über die praktisch unerreichbare deutsche Einheit. Indem man sich den Teil angleicht, der erreichbar ist, zerstört man mit dem Sinn des Ganzen auch das Wesen dieses Teiles. Es ist das Kennzeichen der westmächtlichen Politik in Europa seit langem, daß sie stets stark genug war, eine ihr nicht genehme Lösung des Problems zu tragen. Niemals ist dieser Unzulänglichkeit so deutlich hervorgetreten wie heute. Es drückt sich in dieser Tatsache mehr aus als ein machtpolitisches Mißverhältnis zwischen Wollen und Vollbringen. Sie ist zugleich Ausdruck eines religiösen Schicksals. Es ist von jeher der Fluch aller religiösen Gesetzlichkeit und gesetzlichen Religion, daß man immer genau weiß, was man tun sollte, aber nicht die Kraft der Gnade zum Vollbringen hat. Der Zöllner kennt nicht das Gesetz, aber er tut Buße und glaubt. Man hat die Massenvernichtung von Auschwitz und Sibirien nicht auf dem Gewissen, aber man wird aus Schwäche „in humanen Formen” mitschuldig an dem dritten großen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Gegenwart, der Millionenaustreibung der Ostdeutschen.

Entscheidend ist, daß der hoffnungslose Widerstreit der Gegenwart gerade nicht der Widerstreit der Bösen, sondern der Widerstreit religiöser Triebkräfte ist, der Widerstreit der großen Religionen der Selbsterlösung. Der moderne weltliche Mensch setzt mit einer ungeheuren Glaubensinbrunst alles an den großartigen Versuch der Selbsterlösung und zerstört gerade dadurch mit um so tödlicher Sicherheit sich selbst. Jenen drei Ideologien ist nur das eine gemeinsam, die Verwerfung der christlichen Grunderkenntnis von der radikalen Sündhaftigkeit des Menschen und seiner Gnadenbedürftigkeit. Dieser Mensch vermag den anderen zwar als böse, aber sich

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nicht selbst als Sünder zu erkennen. Sie alle unternehmen es deshalb gleichermaßen, mit dem radikalsten und großartigsten Mitteln das real Böse in Gestalt bestimmter Menschengruppen aus der Welt zu schaffen, mögen es nun die Kapitalisten, die Juden oder solche sein, welche so verrucht sind, aus böser Lust und Willkür das Gute zu stören. Die Tragödie des modernen Menschen ist nicht, daß er der Kraft sich zu eigen gebe, welche stets das Böse will und doch das Gute schafft. Es ist die Tragödie des Liberalismus, daß er stets das Gute will und das Böse schafft. Was die gegenwärtige Menschheit in jenem Versuch der Selbsterlösung an sich selbst leidet, hat noch kein Dichtermund auszusagen vermocht. Alle gegenwärtige Literatur, nicht zuletzt aller Versuche, die Enderscheinungen des Nationalsozialismus zu schildern, erscheinen uns schal und platt gegenüber der Wirklichkeit, welche wir durchleben und von deren Tiefe dort noch kaum etwas ergründet ist. Sie darzustellen, bedürfte es mehr als eines Dante und eines Goethe.

Jede dieser Bewegungen nun erzeugt auch gleichermaßen innerhalb der Christenheit die Erscheinung, welche wir in Deutschland als die Bewegung der Deutschen Christen kennengelernt haben. Diese Leute waren Idealisten, welche die religiöse Antriebskraft des Nationalsozialismus oft besser erkannt hatten als seine Gegner, die sich aber der Illusion hingaben, sie benutzen zu können. Diese Bewegung ist sehr schnell und unbarmherzig zwischen den großen Mühlsteinen der Kirche und der Partei zerrieben worden, und es hat hier nicht wenige wahrhaft erschütternde Tragödien des Idealismus gegeben. Aber die gleichen Erscheinungen sehen wir in der Gegenwart. Wenn im Schoße der Kirche Salon-Marxisten auftreten, wenn in Leitartikeln einer Zeitung zu Ostern und Pfingsten diese großen Ereignisse der Heilsgeschichte ins Fortschrittliche verfälscht werden, so ist dies im Grundsätzlichen völlig die gleiche Haltung. Eine Christenheit verliert vollends ihr Gesicht, die erklärt, daß der Monopolkapitalismus eine vergleichsweise harmlose Angelegenheit sei. Wir sind jedenfalls heute in nicht geringerem Maße in der Gefahr, unsere Seelen zu verlieren, als jemals.

Die drei großen Ideologien der Vernunft, der Natur und der Materie sind allerdings nichts Zufälliges. Sie sind die ins Diesseitige verkehrten Widerbilder, die isolierten Bruchstücke der einen christlichen Wahrheit von Gesetz, Gnade und Gericht. Noch in ihrer Bruchstückhaftigkeit tragen sie den Stempel ihres Ursprungs an der Stirn. Auch die Geister des Abfalls

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müssen wider Willen in ihrer Friedlosigkeit der friedevollen Herrschaft des dreieinigen Herrn zur Verherrlichung dienen.

Auf dem Hintergrund dieser ungeheuerlichen Aktualität gewinnt auch das Schisma der Kirche ein ganz anderes Gesicht. Es ziemt uns nicht, uns pharisäisch über die Abgefallenen zu erheben. Die Schuld der nicht bewahrten Einheit blickt die Kirche an wie die Fratze seiner Laster den ewig jungen Dorian Gray und seinem Bildnis. Der Friede und die Zwietracht der Welt sind in der Tat theologische Tatsachen, in einem viel umfassenderen Sinne, als dies vielleicht jemals auch nur geahnt worden ist. Eine Welt, der sich der Gnade nicht mehr bedürftig wähnt, ist in Wahrheit ein gnadenloser, heilloser Haufen, eine massa perditionis geworden. Demgegenüber hat die Kirche auf allen Völkern gleichmäßig das große Metanoeite des Täufers zu verkündigen. Mit der Flammenschrift eines Menetekels schreibt über die Parlamentshallen und Konferenzsäle das Word der Abendmahlsliturgie: „Erkennet euch in dem Herrn, vergebet, wie euch vergeben ward”!

Wenn wir jedoch aus der Erfahrung der Christen Deutschlands einen Beitrag zur Deutung der Gegenwart und der Aufgabe der Kirche in ihr zu leisten vermögen, so ist es dieser: mit dem Nationalsozialismus ist auch jede andere Ideologie als widerchristliche Heilslehre entlarvt. Der falsche Messianismus unseres Volkes ist nicht darum abgetan worden, damit wir dem gleichen Messianismus eines anderen Volkes, sei es des Westens oder des Ostens, unsere Seelen hingeben. Das Grußwort des Vertreters des amerikanischen Kirchenbundes, Professor Bodensieck, auf der Evangelischen Woche in Frankfurt a.M. in Juni 1948 ist uns dafür eine tief befriedigende Bestätigung. Er sagte an der historischen Stätte in der Paulskirche: „Die Christen der Ostzone haben gelernt, in keinem Betracht mehr auf Menschen, sondern allein auf Gott zu bauen. Die Christen der Westzone müssen dies in wesentlichem Maße erst noch lernen.” Uns ist damit das härteste Schicksal aufgeladen worden. Während John Foster Dulles noch versucht, Christentum und Liberalismus in Beziehung zu setzen, während Berdjajew die russischen Bedingtheiten des Bolschewismus aufzeigt, während die Christen des Westens und des Ostens in nur bedingtem Gegensatz zu den politischen Ideen und Lebensformen ihrer Völker stehen, ist uns der volle Gegensatz zu den weltlichen Ideen unseres Volkes aufgelastet gewesen.

Wir sind keine Nationalisten, die die Welt an ihrem Wesen genesen lassen wollen. Wir sind Christen, die, geschlagen wie Hiob, den religiösen Sinn dieses Geschehens um

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keinen Preis aus den Augen verlieren wollen. Wir haben nicht das Schillersche Pathos, daß der Mensch frei sei, und sei er auch in Ketten geboren. Die tiefere Weisheit sagt Raabe aus: alles Große wird in Ketten geboren. In unseren Ketten und unserer Hoffnungslosigkeit will die Freiheit des Christenmenschen neu geboren werden. Denn die Welt ist nicht weniger unfrei als am Ausgang der alten Kirche und reif zu einer Reformation an Haupt und Gliedern. In einem ebenso äußerlichen Sinne wie damals der Kirche dient heute alles der allein selig machenden Ideologie. Die Hochschule dient nicht mehr allein der Wissenschaft, der Richter nur dem Rechte; alles wird ideologisch verbrämt. Man empfängt wissenschaftliche Ehrungen für fragwürdige politische Verdienste und erkauft Ablaß für ideologische Sünden. Dieselbe Welt aber zerfleischt sich in Glaubenskämpfen, die die Glaubwürdigkeit der Werte, um die dort angeblich gerungen wird, aufs tiefste in Frage stellen. Deshalb ist die echte Entscheidung des europäischen Menschen der Gegenwart, der alles dies durchlebt, nicht diejenige für oder gegen dieser Lehren. Er erträgt entweder mit stoischem Heroismus „existenzialistisch” die Unvernunft der Menschen und Verhältnisse, oder er gewinnt aus dem Glauben eine neue Freiheit. Darum aber wird es in Zukunft wieder möglich sein, den Christen in der Welt zu erkennen. Lange Zeit zeigte sich die geschichtliche Unmächtigkeit des Christentums darin, daß die Gemeinschaf der Christenheit nicht mehr sinnfällig und deutlich erkennbar war. Dies wird in Zukunft anders sein.

Wir stehen am Scheidewege zwischen Selbstzerstörung und einem neuen Leben. Apokalyptische Propheten haben allzuoft die Menschheit genarrt, als daß man nicht selbst in der apokalyptischen Situation der Gegenwart zögern müßte, sie zu erneuern. Aber ebensowenig ziemt uns ein sogenannter Optimismus. Das Christentum ist der einzige Realismus, den es gibt. Es verbietet seinen Gläubigen Pessimismus sowohl wie Optimismus. Auch jene Befreiung wird wie alles Große Blut, Schweiß und Tränen kosten. Um so mehr wenden wir uns mit Leidenschaft gegen zweierlei. Wir wenden uns gegen jede Verharmlosung und Verschleierung unserer tödlich ernsten Lage. Wir wenden uns aber ebenso leidenschaftlich gegen den Defaitismus einer jungen Generation, welche glaubt, hinter den geschichtlichen Entscheidungen als bloße Objekte im toten Raum zu stehen. Im Gegenteil: die wesentlichen Entscheidungen liegen mit der ganzen Größe der Aufgabe unserer Generation noch vor uns. Wir bauen auf das Wort, daß wir nicht

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über Vermögen versucht werden sollen, und wagen, aus einem großen Schicksal eine große Frucht zu erhoffen.

Zur Existenz des Menschen und zum Verhältnis der Völker vermag die Kirche nur das eine entscheidende Wort der Buße und Vergebung zu sagen und hat dies auch getan. Nicht die eifernden Stimmen der großen und kleineren Theologen, denen die Lehre, sondern die Stimme der Bischöfe, denen die Menschen anvertraut sind, habe sich vor und nach 1945 mutig für Wahrheit und Recht erhoben. Was das Wort beispielsweise des französischen Kirchenpräsidenten Boegner jenseits jeder praktischen Auswirkung moralisch bedeutet hat, vermag nur der zu ermessen, der die Situation der Kriegsgefangenenlager von 1945 kennengelernt hat. In einem Meer des Hasses und der physischen und moralischen Vernichtung wirkten diese Stimmen wie ein Leuchtturm in finsterer Sturmnacht.

Es ist das Kennzeichen der gegenwärtigen ökumenischen Bewegung, daß sie nicht aus Indifferenz, sondern aus dem Kern der Kirchen entstanden ist, daß sie nicht modernen Organisationstrieb, sondern einer echten Entwicklung ihr Leben verdankt. Nachdem die Konfessionen sich jahrhundertelang voneinander fortentwickelt haben, sind sie aus einer divergenten Linie sichtbar und spürbar ein eine konvergente Entwicklung eingetreten. Einer tödlich zerspaltenen Welt steht eine sich wiederfindende Christenheit gegenüber. Je mehr sie die Wahrheit des Christentums wieder im ganzen zu erfassen und zu leben vermag, desto mehr wird sie mit der Freiheit zum Dienst auch entscheidende Einsichten, fruchtbare Möglichkeiten wiedergewinnen.