Wir haben auf unserer Konferenz versucht, das Thema “Gerechtigkeit in biblischer Sicht” in ökumenischer Zusammenarbeit zu behandeln. Es wurden zwei Vorträge, einer über das Alte und einer über das Neue Testament gehalten; aus dem dort vorgelegten Material versuchten wir dann gemeinsam, gewisse Folgerungen zu ziehen. Die Aussprachen zeigten, dass wir uns in der Exegese der in Frage kommenden biblischen Texte zunächst in weitem Masse einig waren. Ebenso bestand unter uns eine weitgehende Einmütigkeit, sobald wir über das miteinander sprachen, was die Kirche zu diesen Fragen heute tatsächlich sagen kann und sagen muss. Als wir aber daran gingen, diese unsere Aufgabe von der Bibel her systematisch zu begründen, zeigten sich in der Aussprache Unterschiede zwischen uns, die wir nur teilweise überwinden konnten. Wir sind jedoch dankbar für das Mass der Einheit, das wir auf dieser Konferenz festgestellt haben, und hoffen, dass wir durch weiteres gemeinsames Hören auf das Wort Gottes auch die noch bestehenden Differenzen überbrücken werden.
Die folgenden Thesen wurden während unserer Konferenz von einem Redaktionsausschuss 1) verfasst und am letzten Konferenztag von allen Teilnehmern durchberaten. Für den Teil C I und den Schluss war englisch die Originalsprache; die übrigen Teile wurden in deutscher Sprache abgefasst. Auf Grund der Aussprache wurden vom Redaktionsausschuss noch eine Reihe von Veränderungen am Text vorgenommen; es war jedoch nicht mehr möglich, den verbesserten Text der Konferenz zur Genehmigung vorzulegen. Die Teile B II und B III wurden nicht im einzelnen durchberaten,
1) Über die Zusammensetzung dieses Ausschusses vgl. oben S. 39 u. S. 40, Anm. 4.
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sondern je einem Vertreter der Mehrheit bzw. der Minderheit zur Abfassung übertragen. Es ist wichtig zu beachten, dass nur an dieser Stelle — d.h. also da, wo es um eine nähere Erläuterung der Sätze unter B I geht — die Meinungen der Konferenz auseinandergingen.
Die Thesen gehen — wie es ja nicht anders sein kann — nur auf die Fragen ein, die in unseren Aussprachen tatsächlich eine Rolle gespielt haben. Wir sind uns dessen bewusst, dass noch vieles zu ergänzen sein wird und dass auch manches anders gesagt worden wäre, wenn unsere Konferenz eine andere Zusammensetzung gehabt hätte. Wir laden deshalb alle, die diesen Bericht erhalten, ein, zu seinem Inhalt Stellung zu nehmen und so an unseren Aussprachen teilzunehmen, sodass wir ihn vielleicht später einmal verbessern können.
Die Tatsache, dass wir zwar in vielen exegetischen Einzelfragen und in praktischen Fragen weithin übereinstimmen und dennoch in der systematischen Grundlegung teilweise auseinandergehen, hängt nach unserer Meinung mit einer Beobachtung zusammen, an die wir ständig erinnert wurden: Die Frage nach der Neubegründung des Rechts hat in der Form, wie sie uns heute beschäftigt, weder bei den Verfassern des Alten noch bei denen des Neuen Testaments eine Rolle gespielt. Weil ihre Fragen nicht die unseren ware, ist unsere Aufgabe nicht so zu lösen, dass wir einfach das wiederholen, was vom Worte Gottes her zur Zeit der Abfassung der biblischen Schriften zu den damaligen Rechtsfragen zu sagen war. Nur in der Zusammenarbeit aller theologischen Disziplinen können wir den Weg von der Bibel zu den Problemen unserer Zeit bahnen, und dies eben ist unter uns bisher auf verschiedene Weise geschehen. Wir hoffen, dass wir immer deutlicher erkennen, dass wir auch hier im letzten Grunde einig sind.
Die Schlussthesen der Tagung lauten:
“Vorbemerkung: Wenn wir nach der Gerechtigkeit Gottes und ihrer Beziehung zur menschlichen Recht fragen, so sind wir uns bewusst, dass wir diese Frage nur als Glieder der Kirche, die in der Erlösungstat des Gottessohnes begründet ist, stellen und beantworten können. Darum suchen wir die Antwort auf diese Frage weder in der Rechtsphilosophie, noch in der Rechtsgeschichte, noch im positiven Recht, deren Daseinsrecht wir an ihrem Platz nicht leugnen wollen, sondern in der Heiligen Schrift. 2) Es kann nicht unsere Aufgabe sein, in eine
2) Vgl. dazu Erik Wolf, unten S. 60.
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Auseinandersetzung mit den verschiedenen rechtsphilosophischen Systemen einzutreten, sondern wir fragen: Welches Licht fällt von der biblischen Botschaft als ganzer, in deren Mitte Jesus Christus der Herr ist, auf die Fragen nach Recht und Gerechtigkeit? Dies ist die Botschaft, die der Kirche aufgetragen ist. 3)
In der Antwort auf diese Frage haben wir in folgenden Punkten
Einmütigkeit erzielt:
1. Gottes Gerechtigkeit ist im NT wie im AT Gottes Heil für uns
(iustitia salutifera). 4)
2. Als heilbringende Gerechtigkeit ist sie für Kirche und
Menschheit richtende Gerechtigkeit.
3. Gottes Erlösungstat in dem um unserer Sünde willen
gekreuzigten Christus erweist sich als treues Festhalten an der
Israel gegebene Verheissung, indem sie im Neuen Bund das im
Noah-Bund und im Bunde mit Israel gesetzte
Gemeinschaftsverhältnis zwischen Gott und Mensch zur Vollendung
bringt. 5)
4. Gottes Gerechtigkeit kommt zu uns als Rechtfertigung des
Gottlosen auf Grund der Eingabe des Gottessohnes in den Tod und
seiner Auferweckung von den Toten. 6)
5. Diese Gerechtigkeitserweisung Gottes an uns will sich im
Denken und Handeln der Glieder des Neuen Bundes auswirken. Sie
versetzt dieselben als Partner des in Christus aufgerichteten
Gottesbundes in einem neuen Stand der Gerechtigkeit, der sich in
ihrer ganzen Lebensgestalt ausprägen wird. Dadurch wird der
Wandel der Christen in Christo zu einem Wandel in der Liebe, die
Gott geboten hat. 7)
6. Durch die Gerechtigkeitserweisung Gottes wird alle auf eigene
Leistung aufgebaute Gerechtigkeit des Menschen entmächtigt und
zerstört; das in getrennte, eigengesetzliche Bereiche
3) Diese Vorbemerkungen stehen im Einklang mit den
“Richtlinien für die Auslegung der Hl. Schrift”, die von der
ökumenischen Studientagung in Wadham-College, Oxford 1949,
aufgestellt worden waren; vgl. unten S. 71 Nr. 2.
4) Vgl. oben S. 16.
5) Vgl. oben S. 25.
6) Vgl. oben S. 12.
7) Zu 5 und 6 vgl. oben S. 28 ff.
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zerfallene Menschenleben wird zu seiner von Gott gewollten
Ganzheit zurückgeführt; endlich wird der Christ durch seine
unmittelbare Verbindung mit der in Christus erschlossenen
Lebenskraft befreit von sündlichen Bindungen und befähigt zu
einem dienst Gottes in Geist und Wahrheit. 7)
7. Das Ziel dieser neuen Gerechtigkeit ist die Herstellung eines
Gottesvolkes, in welchem die sozialen Beziehungen ihre rechte
Gestalt erhalten und der Einzelne zu seiner gottgewollten
Vollkommenheit geführt wird. Die innere Einheit von AT und NT
tritt darin hervor, dass im Alten wie im Neuen Bund eine durch
Gottes Erlösungstat geschaffene Gemeinde unter dem göttlichen
Liebesgebot durch die geschichtliche Bewährung hindurch einer
Vollendungstat Gottes entgegenschreitet. 8) Von diesem
Ziel her erhält das fragmentarische und in sich selbst wertlose
Handeln der Bundesglieder stets Spannung, Sinn und Wert. Das im
Liebesgebot zusammengefasste Bundesgesetz ist das gleiche im
Alten wie im Neuen Bund, aber aus dem äusserlich zwingenden
Gesetz einer Volksgemeinde in das Gesetz der Freiheit einer durch
den Geist geleiteten neuen Menschheit verwandelt, das von ihrem
Haupt, Christus, vollkommen erfüllt ist und nun als aufbauende
Macht wirken kann. 9)
In der Antwort auf diese Frage ist eine weitgehende, aber nicht vollständige Übereinstimmung erzielt worden. Die folgenden Sätze können wir als unsere gemeinsame Überzeugung aussprechen:
1. Unsere Erkenntnis von Wesen, Ursprung, Gültigkeit und Funkion des menschlichen Rechts entspringt aus dem Glauben an das Evangelium von Jesus Christus. Darum ist rechtes Verständnis des menschlichen Rechts nur dort möglich, wo die Gerechtigkeit Gottes, die in Jesus Christus und in seinem Evangelium erschienen ist, vom Menschen im Glauben empfangen wird. Der wahre und wirkliche Mensch, wie Gott ihn in seiner Schöpfung gewollt hat, ist Jesus Christus. Nach diesem vollkommenen Ebenbild Gottes wird der Christ umgestaltet und neu geschaffen. Weil das wahre menschliche Recht dem gottgewollten Wesen des Menschen
7) Vgl. oben S. 29.
8) Vgl. dazu Prof. Ernst Wolf, unten S. 62.
9) Vgl. oben S. 33 und S. 39.
10) Die Sätze unter B II bezw. B III sind als Erläuterung des
hier Gesagten heranzuziehen.
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entsprechen soll, kann es allein im Glauben an Jesus Christus
erkannt werden. 11)
2. Alles, was unter Menschen wahres Recht ist, kommt aus dem
Willen Gottes, der sich uns vorlaufend in seinem Heilshandeln an
Israel und abschliessend in Jesus Christus geoffenbart hat.
3. Gott hat sich auch den Heiden nicht unbezeugt gelassen . In
den institutionellen Ordnungen des Gemeinschaftslebens lässt er
trotz aller Verderbnis unter den Heiden seinen Willen wirksam
werden. So bewahrt Gottes Geduld die Heiden in ihrem
irdisch-zeitlichen Leben vor einer Selbstzerfleischung und
chaotischen Auflösung. 12)
4. Die Heilstat, die Gott uns in Jesus Christus, in seiner
Menschwerdung, in seinem Leiden, Sterben und Auferstehen erwiesen
hat, kann nicht recht bezeugt werden, ohne dass auch über das
menschliche Recht verbindliche Aussagen gemacht werden. Daher
schliesst die Predigt des Evangeliums von Jesus Christus auch
verantwortliche Aussagen über die Ausrichtung des positiven
menschlichen Rechtes ein. Was die Kirche über das menschliche
Recht zu lehren hat, darf nicht isoliert neben der Predigt von
dem gekreuzigten, auferstandenen und wiederkommenden Herrn
stehen. 13)
5. In der Verkündigung des Evangeliums an die Völkerwelt wird ein
königlicher Herrschaftsanspruch Jesu Christi gegenüber dem
weltlichen Recht geltend gemacht (vgl. C I, 1-3).
6. Das geistliche Leben der Kirche übt einen ständigen
unwillkürlichen Einfluss aus auf die Ordnung der bürgerlichen
Gesellschaft einschliesslich ihrer Rechtsverhältnisse (vgl. C I,
4). 14)
7. Die Sorge der Christen für die Erhaltung, die Reinigung und
den Vollzug des menschlichen Rechts kommt aus der gleichen Liebe,
die für die Erhaltung, die Reinigung und den Vollzug der Predigt
von dem rettenden Evangelium sorgt. Denn die Liebe, die das ewige
Heil des Menschen sucht, sucht auch die Bewährung und Wohlfahrt
des irdischen zeitlichen Lebens des Menschen. 13)
11) Der Unterschied zwischen dieser These und der zweiten
These von Göttingen ist zu beachten; vgl. oben S. 12, dazu die
Aussprache in Treysa oben S. 25 und S. 43.
12) Vgl. oben S. 14 ff. (zum Thema “Bibel und Naturrecht”) und S.
24.
13) Damit wird die Lehre abgelehnt, dass die Kirche die
Gestaltung des Rechts den staatlichen Mächten einfach überlassen
soll.
14) Vgl. oben S. 36.
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8. Wenn der Christ menschliches Recht gestaltet und handhabt, so
wird dadurch seine Gliedschaft am Leibe Christi und sein
Dienstverhältnis zu Jesus Christus, seinem Herrn nicht
beeinträchtigt oder gar zerstört. Vielmehr wird die Art und
Weise, wie der Christ menschliches Recht gestaltet und handhabt,
durch seine Gliedschaft am Leibe Christi mitbestimmt sein und
daher auch die Einwirkung der Agape aufweisen. 15)
9. Das heute geltende menschliche Recht hat seinen
heilsgeschichtlichen Ort in der Gnadenfrist zwischen dem ersten
und zweiten Advent Jesu Christi. 16) In seinem ersten
Advent kam Jesus Christus in Niedrigkeit. Irdische
Gerichtsbarkeit übte er nicht in eigener Person aus, er
unterstellte sich ihr vielmehr. Bis Christus in seinem zweiten
Advent wiederkommen wird in Herrlichkeit, muss menschliches
irdisches Recht seine Funktion ausüben.
Die Mehrheit der Konferenz ist sich auch in den folgenden Punkten
einig, die zu dem vollen Verständnis des in I. Gesagten
unentbehrlich sind: 17)
1. In der Gnadenfrist zwischen dem ersten und zweiten Advent Jesu
Christi stehen die Anordnungen des dreieinigen Gottes, durch die
er die Menschheit in ihrem irdischen zeitlichen Leben erhält,
noch in Kraft. Diese Anordnungen dämmen die Mächte des Bösen und
der Sünde, gegebenenfalls unter Androhung und Anwendung von
zwingender Macht und Gewalt, soweit ein, dass das irdische
zeitliche Leben der Menschen nicht in einer chaotischen
Selbstzersetzung untergeht. Zu diesen Anordnungen gehört auch das
menschliche Recht. Aber diese Anordnungen erlösen nicht vom Bösen
und bringen nicht die Vergebung der Sünde. Sie sind daher von dem
Amt, das der Versöhnung predigt, zu unterscheiden.
2. Jesus Christus ist zu uns Menschen gekommen in der Niedrigkeit
des leidenden Gottesknechtes. Er hat die Richterstühle der
irdischen Richter nicht umgestossen, sondern sich selbst ihnen
unterstellt. Auch der zur Rechten des Vaters erhöhte Herr hält
sein königliches Weltregiment noch verborgen. Er hält mit
15) Vgl. oben S. 44 f.
16) Vgl. oben S. 39 und S. 41.
17) Zu beachten ist, dass im Folgenden die Thesen 2, 4, 7 und 8
aus dem Abschnitt B I nicht noch einmal kritisch ergänzt werden:
an diesen Punkten wurde also die Einmütigkeit der Konferenz auch
nicht durch verschiedene Interpretationen in Frage gestellt. — Im
übrigen ist zum Abschnitt B II oben S. 39 f. zu
vergleichen.
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der Ausübung seines Gerichtes noch zurück und schafft dadurch
nicht nur den Raum für die Gnadenfrist des Dienstes am
Evangelium, sondern gleichzeitig den Raum für eine Frist, in der
irdische Krongewalt und irdische Schwertgewalt und irdische
Richtergewalt als eine von der geistlichen Gewalt des Evangeliums
unterschiedene Anordnung des dreieinigen Gottes noch in Kraft
steht. Die Exousia irdischer Krongewalt, irdischer Schwertgewalt
und irdischer Richtergewalt geht nicht aus dem pneumatischen
Leibe Jesu Christi hervor, der seine um Wort und Sakrament
versammelte Kirche ist; sie gehört nicht zu der Exousia, die
Jesus Christus durch sein stiftendes Wort seiner Kirche auf Erden
verliehen hat.
3. Die Exousia der irdischen Krongewalt, Schwertgewalt und
Richtergewalt gründet in dem Wort des Schöpfers und Erhalters.
Gott der Vater spricht dieses Wort auch im Werke seiner Schöpfung
und Erhaltung durch den Sohn, der das All trägt mit seinem
allmächtigen Wort. Darum steht die Ausübung jener Exousia unter
dem Willen und dem Gebot Gottes, darum ist ihre Funktion der
Erhaltung teleologisch hingerichtet auf die Erlösung, darum kann
ihre geschichtliche Ausgestaltung in einem kritischen
Reinigungsprozess geprägt werden von den der Kirche durch die
Wiederherstellung des göttlichen Ebenbildes geschenkten
Einsichten und Kräften, darum werden bei der Wiederkunft Jesu
Christi alle irdischen Krongewalten, Schwertgewalten und
Richtergewalten aufgehoben werden, wenn der König aller Könige
und der Herr aller Herren selbst die Völker richten wird mit
seinem eisernen Stabe.
4. In jenen Anordnungen des dreieinigen Gottes ist überall, wo
sie geschichtliche Wirklichkeit werden und ihre Funktion der
Erhaltung ausüben, auch ausserhalb des Bereiches der
Heilsoffenbarung der Wille Gottes inmitten des Reiches der Sünde
bald mehr und bald wenige wirksam geworden, zum Beispiel in
altorientalischen Gesetzen oder hellenistischen Morallehren.
Dadurch erklärt sich die Tatsache, dass solche Gesetze und Lehren
im AT und NT zur Veranschaulichung göttlicher Anordnungen benützt
sind. 18) Doch ist allein in Gottes Geboten, wie sie
im Glauben an das Evangelium von Jesus Christus erkannt werden,
in Reinheit und Klarheit enthüllt, was Gott als seinen Willen in
diese Ordnungen hineingelegt hat. 19)
5. Positive Ausgestaltungen des menschlichen Rechts haben ihre
Gültigkeit zum Teil dadurch, dass sie bestimmten konkreten
18) Vgl. oben S. 14 ff. und S. 24.
19) Vgl. These B I, 1.
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Situationen entsprechen. Die Anwendbarkeit dieses praktischen bezw. pragmatischen Kriterium steht in Beziehung zu Gottes Liebe, die jede Kreatur in ihrer Besonderheit umfasst. 20)
Auf der Konferenz war auch die Überzeugung vertreten, dass das in
der bürgerlichen Gesellschaft von Gott allein gewollte Recht nur
aus dem Heilshandeln Gottes in Jesus Christus verstanden werden
könne und insofern aus der in Gottes Heilstaten geoffenbarten
Agape allein abzuleiten sei, und zwar im vollen Erkennen des
vorher erwähnten Unterschiedes zwischen dem ersten und dem
zweiten Advent. Das in dieser Zwischenfrist von der Kirche
Christi geltend zu machende Recht wurde hier als ein Ausfluss der
in Christus erschienenen Liebe und als ein Zeichen seiner
königlichen Herrschaft verstanden.
Gemäss dieser Auffassung soll hiernach das von Gott gewollte und
somit von seiner Kirche zu verkündigende Recht in der
bürgerlichen Gesellschaft in seinem Wesen, in seinem Ursprung und
in seiner Funktion nicht grundsätzlich unterschieden werden von
den charismatischen Diensten und Ordnungen, die aus dem
pneumatischen Leib Jesu Christi und aus seiner Herrschaft
unmittelbar hervorgehen. 22) Das von der Kirche unter
voller Berücksichtigung der Tatsache, dass der alte Aion noch da
ist, geltend zu machende menschliche Recht soll vielmehr hier in
der gleichen Weise als ein Erweis der Herrschaft Jesu Christi, so
wie er sie in der Zwischenfrist bis zum zweiten Advent von der
Kirche verkündigt wissen will, und somit als eine Funktion seines
pneumatischen Leibes verstanden werden wie das Amt, das die
Versöhnung predigt, und wie die Agape selbst.
I. Der Kirche geht es nicht in erster Linie um das Gesetz sondern um die Gnade. Ihre wichtigste Aufgabe ist die, die Erlösung zu bezeugen, die Gott in Jesus Christus offenbart hat. Im apostolischen Zeitalter bestand die Kirche aus Untertanen des römischen Weltreiches, die im öffentlichen Leben keine Verantwortung zu tragen hatten. Infolgedessen beschränkte sich ihr Einfluss auf das menschliche Recht hauptsächlich auf das Fürbittengebet, einen ordentlichen und anständigen Lebenswandel innerhalb des Rahmens der bestehenden
20) Vgl. hierzu oben S. 26.
21) Vgl. oben S. 35 f.
22) Vgl. dazu Ernst Wolf, unten S. 63 f.
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Gesetze und Ordnungen und auf die Bezeugung des kommenden Gottesreiches und seiner vollkommenen Gerechtigkeit in Wort und Tat. Und doch war es den Christen von Anfang an deutlich, dass sie für die weltliche Regierung mit verantwortlich sind und dass die Kirche deshalb auch die Pflicht hat, sich für die Aufrechterhaltung von Ordnung und Gerechtigkeit einzusetzen. Die Durchführung dieser Verpflichtung nimmt notwendigerweise verschiedene Formen an, je nachdem ob der betreffende Staat sich ausdrücklich zum Christentum bekennt, halb christlich, heidnisch oder diabolisch-antichristlich ist. Allgemein ist zu sagen, dass da, wo Christen zu Regierungsgeschäften herangezogen werden, die Verantwortung der Christen und der Kirche dementsprechend wächst.
Die Kirche kann ihre öffentliche Verantwortung auf verschiedene
Weise wahrnehmen: 23)
1. Die Kirche muss unter allen Umständen ihren von Gott gegebenen
Auftrag ausführen, das Evangelium in Wort und Tat (Kerygma und
Diakonia) zu verkündigen. Wenn eine irdische Autorität die
Verkündigung des Evangeliums verbietet, überschreitet sie ihre
Vollmachten. Unter solchen Umständen müssen die Christen Gott und
nicht den Menschen gehorchen und müssen bereit sein, um der
Gerechtigkeit willen zu leiden. *)
2. Die Kirche muss an sozialer Ungerechtigkeit und an
öffentlichen Massnahmen, die dem Willen Gottes zuwiderlaufen, in
prophetischer Weise Kritik üben. Ein Staatsgesetz darf nichts
verbieten, was Gott gebietet, noch gebieten, was Er verbietet.
24)
3. Durch die Predigt des Evangeliums sprengt die Kirche selbst
oft die Struktur einer heidnischen Gesellschaft. Wo dies
geschieht, scheint die Kirche die Pflicht zu haben, durch ihren
Dienst einen Beitrag zum Wiederaufbau der sozialen Ordnung zu
leisten. 25)
4. Das Ziel der Christen sollte sein, so viel wie möglich von
dem, was von Gottes Geboten in menschlichen Gesetzen ausgedrückt
werden kann, in das staatliche Gesetz des Landes, in dem sie
leben, hineinzubringen. Dies darf aber nicht durch Gewalt
geschehen und auch nicht in der Weise, dass in den Gesetzen
23) Zu den folgenden Punkten C I, 1-3 vgl. oben B I, 5 und
6 mit Anmerkungen.
*) Die Frage nach dem Recht zur Revolution wurde auf dieser
Konferenz nicht diskutiert (Anmerkung des
Redaktions-Ausschusses).
24) Vgl. dazu Erik Wolf, unten S. 61.
25) Vgl. oben S. 43.
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Forderungen proklamiert werden, die die öffentliche Meinung noch
nicht ertragen kann. 26)
a) In Ländern, in denen die christliche Tradition noch in
bestimmter Weise aufrecht erhalten wird, kann die Kirche einen
grossen Einfluss auf das öffentliche Leben ausüben: Hier kann
z.B. die christliche Liebe, die auch den Sünder und den Feind
umschliesst, die Härte und den unpersönlichen Charakter des
öffentlichen Rechts humanisieren; die Ordnungen des kirchlichen
Lebens und der Kirchenleitung, dazu bestimmt, das gemeinsame
Leben derer zu regeln, die “simul iusti et peccatores” sind,
haben die bürgerlichen Rechtsordnungen in mannigfacher Weise
beeinflusst, und zwar of t in gutem Sinne; 27) in
christlichen Ländern gilt der Regierende nicht mehr als einer,
der seine Untertanen willkürlich unterjochen darf, sondern als
ihr Diener, der vor Gott für ihre Wohlfahrt verantwortlich ist.
“So soll es unter euch nicht sein” kann sinngemäss übersetzt
werden: “So soll es in dem Volk nicht sein, in dem ihr lebt.”
28)
b) In der gegenwärtigen Zeit ist durch die moderne Technik und
die industrielle Entpersönlichung ein ganzes Lebensgebiet der
Leitung und Kontrolle des christlichen Gesetzes fast ganz
entglitten. In diesem Gebiet ist es die erste Aufgabe der Kirche,
das Gesetz Gottes dafür wieder zu entdecken und des geduldig und
in wirksamer Weise wieder in die Gesellschaft einzuführen.
c) In einer heidnischen Gesellschaft ist der Einfluss der Kirche
natürlich viel geringer. Sie hat hier vor allem dadurch Zeugnis
abzulegen, dass sie wirklich Kirche ist. Aber selbst hier kann
und muss die Kirche einen tiefen Einfluss auf die Gestaltung der
nichtchristlichen Gesellschaft ausüben, indem sie erzieherisch
auf die öffentliche Meinung einwirkt und eine Verbesserung der
Gesetze in der Richtung auf das Gesetz Gottes erstrebt.
II. Als Beispiel sei das theologische Problem der menschlichen Ehegesetzgebung genannt: 29) In der Heilsoffenbarung Gottes in Christo begegnet dem Menschen zugleich aufs neue das Gebot Gottes des Schöpfers, der die Ehe als unauflösliche Gemeinschaft zwischen einem Mann und einer Frau begründete und erhält. In Gehorsam gegen Gott den Schöpfer und Erlöser ist die Ehe ein Abbild der Gemeinschaft zwischen Christus und der Kirche. Die Kirche muss ihre Erkenntnis vom gottgewollten Wesen der Ehe inmitten des menschlichen Rechts geltend machen und die rechtliche
26) Vgl. dazu Ernst Wolf, unten s. 64.
27) Vgl. oben S. 32 und S. 36.
28) Vgl. dazu Ernst Wolf, unten S. 64.
29) Vgl. oben S. 38 und Ernst Wolf, unten S. 64, sowie Ellul S.
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Anerkennung derselben fordern. Das heisst zum mindesten: Sie muss darauf dringen, dass das menschliche Eherecht nichts fordert, was dem geoffenbarten Wesen der Ehe widerspricht (z.B. die Scheidung wegen Kinderlosigkeit oder Krankheit oder die Verpflichtung zur Polygamie oder zum ausserehelichen Zeugen und Gebären). Darüber hinaus muss die Kirche darauf dringen, dass das weltliche Recht den gröbsten Entartungen der Ehe die Anerkennung entzieht und den von Gott geforderten Gehorsam in der Ehe nicht nur nicht hindert, sondern schützt. In welchem Masse das menschliche Eherecht die christliche Lehre von der Ehe anerkennt, wird davon abhängen, wie weit das betr. Volk den christlichen Glauben anerkennt. Wenn dies nicht oder kaum der Fall ist, wäre die Kirche unbarmherzig, wenn sie z.B. die Unauflöslichkeit der Ehe zum Inhalt menschlichen Rechtes machen wollte. Aber selbst in sogenannt christlichen Völkern kann grundsätzlich niemals das göttliche Gebot in seinem vollen Umfang juristisch paragraphiert werden, sondern das menschliche Recht kann dem Gehorsam gegen Gottes Gebote nur mittelbar dienen. Wollte das menschliche Recht z.B. bereits den begehrenden Blick nach der anderen Frau (Matth. 5) unter Strafe stellen, so würde es seine Grenzen überschreiten. Jeder Versuch des menschlichen Rechtes überhaupt, Gesinnungen unter Strafe zu stellen, würde die Möglichkeiten des menschlichen Rechtes überschreiten.
Alle unsere Versuche, das menschliche Gesetz vollständig mit dem Gesetz Gottes in Einklang zu bringen, können niemals zu einem vollständigen Erfolg führen. Die Kirchen haben in der Vergangenheit oft gefehlt, haben der Ungerechtigkeit Raum gegeben und sind gegen Gottes Forderungen taub gewesen. Christen sind nicht unfehlbar. Sie können auch heute irren oder ihre Berufung verleugnen, Gottes Zeugen gegenüber der Gesellschaft zu sein. Und doch kann vieles geschehen, um die Gesellschaft dem näher zu bringen, was sie nach dem Willen Gottes sein soll. Aber wir setzen unsere Hoffnung nicht auf das, was der Mensch tun kann, sondern auf das, was Gott tut. Unser Glaube ist, dass der Gott der Liebe, der in Christus Fleisch geworden ist, der wirkliche Herr aller Völker ist. Wenn diese Welt und mit ihr alle Probleme der menschlichen Ordnung vergehen werden, wird Sein Reich in Herrlichkeit offenbar werden.” 30)
30) Über die hier angeschnittene eschatologische Frage entspann sich im Redaktionsausschuss noch eine heftige Debatte, die hier leider nicht wiedergegeben werden kann.