(Diskussionsleitung am 3. August: Prof. W.M. Horton.)
Die Aussprache über das alttestamentliche Referat wurde mit der Frage eröffnet, ob dem König nicht eine grössere Bedeutung in der Rechtsprechung und Rechtsetzung zukomme, als die These A 4) vermuten liess. Der Fragesteller erinnert an Absaloms Anmassung (2. Sam. 15). Demgegenüber hielt der Referent an seiner Auffassung fest, dass die Könige nicht als Träger des Rechts angesehen wurden. Sie hatten zwar gewisse rechtliche Kompetenzen, so etwa im Kriege (Heerbann). Aber als z.B. Josia seine Reform durchführte, rief er den Qahal zusammen (2. Kön. 22 f.).
Auf die weitere Frage, ob nicht das individualistische Element gegen Schluss des Referates zu stark betont worden sei (da in Wahrheit doch ein bestimmter Kollektivismus, oder richtiger: das Bleiben im Bundesvolk unangetastet blieb), erwiderte der Referent, dass er im Gegensatz zu Kunkel und Balla nicht ein modernes Ich produziert habe. Der Unterschied zwischen dem vorexilischen und dem nachexilischen Stand des Einzelnen vor Gott müsse allerdings beachtet werden.
Ein Alttestamentler, Prof. Scott, plädierte in einem ausführlichen Votum für die Einbeziehung des Begriffes “mischpath” in die Untersuchung und versuchte, ihn dem Ganzen des Vortrages beizuordnen. Wenn das Konferenzthema laute: Was ist die geistliche Grundlage für die Gerechtigkeit in der menschlichen Gesellschaft? so ergebe sich folgende Antwort aus dem Alten Testament: Die geistliche Grundlage einer guten Ordnung liegt (a) in der Erkenntnis Gottes des Gerechten (d.h. also in der Erkenntnis, dass Gerechtigkeit zum Wesen Gottes gehört), (b) in Gehorsam gegen Gott, den die Gemeinschaft leistet, die jene Gottesgerechtigkeit anerkennt. Hieraus folgt dann (c), dass die Gemeinschaft nun ihrerseits diese Gottesgerechtigkeit in ihrer
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Lebensordnung widerspiegelt. — Wichtig sind in diesem Zusammenhang die Stellen, an denen ṣedaqa und mischpath miteinander verbunden werden, z.B. Amos 5, 24 und Jes. 5, 7; ebenso die Stellen, an denen Jahwe und mischpath aufeinander bezogen werden, z.B. Jes. 30, 18 und Ps. 33, 5. — Mischpath ist also die Ordnung des Lebens in der Gemeinschaft unter Gottes Fürsorgen, denn sie gehört zu ihm. Gott sorgt für diese Gerechtigkeit durch das Mundstück der shopheth, der Richter. — Lev. 19 und Deut. 24, 10 f. zeigen darüber hinaus, dass “Gerechtigkeit tun” inhaltlich zusammenhänge mit dem Respekt vor der Person des Mitmenschen.
In seiner Antwort erklärte der Referent, er habe den Begriff mischpath in seine Untersuchung nicht einbezogen, weil er überaus komplex sei: Gelegentlich habe er die Bedeutung: Gesetzesparagraph, in andern Fällen: Rechtsspruch in der Gerichtsversammlung, und schliesslich käme er auch oft dem nahe, was wir einfach als “Brauch” bezeichnen.
Im Anschluss daran formulierte ein Systematiker (Prof. Schlink)
folgende Fragen an die Alttestamentler:
1. Wie verhalten sich das apodiktische und das konditionale Recht
zueinander? Was heisst das, dass auch das bürgerliche Recht von
Jahwe definiert wird?
2. Welche Bedeutung kommt der Tatsache zu, dass im AT
altorientalische Gesetze “übernommen” werden? Was heisst in
diesem Fall “übernommen”? Werden die Gesetze bei dieser Übernahme
in irgendeiner charakteristischen Weise verändert?
3. Welche Begründung gibt das AT selbst um solche Übernahme zu
rechtfertigen? Wird hier z.B. auf Gottes Rechtsanspruch an alle
Völker verwiesen? Welche Bedeutung haben in diesem Zusammenhang
Amos 1 f., Gen. 9 und Gen. 20?
4. Falls eine klare Antwort auf die Frage 3 aus dem AT nicht zu
geben sei, und falls der Gedanke des Rechtsanspruches Gottes an
alle Völker — wie es scheint — im AT nirgends als selbständiges
Thema behandelt werde, müsse doch die Frage beantwortet werden,
wieso die Propheten diesen Rechtsanspruch einfach als
selbstverständlich voraussetzen konnten.
Ein anderer Systematiker fügte u.a. noch die Frage hinzu, wie der noachitische und adamitische Bund sich zum Sinaibund verhalten, insofern die Frage nach dem allgemeinen Recht zu stellen ist. — Schliesslich fragte ein Neutestamentler, ob nicht der Begriff “tora” in die Betrachtung einbezogen werden müsse, wenngleich seine Wiedergabe durch nomos = “law” sicher fragwürdig sei.
Die letzte Frage wurde vom Referenten dahin beantwortet, dass tora im AT zunächst ein terminus technicus der priesterlichen
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Praxis gewesen sei und dort kultisch-rituelle Weisungen bezeichnet habe. Erst vom Deut. an erfahre der Begriff eine generelle Ausweitung bis hin zu einem Sprachgebrauch, bei dem tora fast mit “Offenbarung” gleichzusetzen sei. Soweit das AT in Frage käme, sei deshalb der Begriff für diese Untersuchung wenig geeignet, womit allerdings nicht bestritten werde, dass seine spätere Verwertung dem Neutestamentler besondere Probleme aufgebe.
Der Referent und Prof. Eichrodt gingen dann nacheinander auf die von den Systematikern gestellten Fragen ein:
1. (Jahwe und das bürgerliche Recht:) Das apodiktische Recht und das konditionale Recht seien wohl meist in unreflektierter Weise aufeinander bezogen worden. In den Gerichtsverhandlungen “im Tor” sei das Wort Jahwe vielleicht niemals gefallen; man habe den Eindruck, dass es dort “erfrischend weltlich” zugegangen sei. Ein interessanter Fall von Vermischung zwischen apodiktischem und konditionalem Recht liege andererseits Ex. 21 vor: V. 14 und V. 23 sind apodiktische Sätze, durch die das bürgerliche Recht von Jahwe korrigiert wird! Prof. Eichrodt: Man müsse sich vor Augen halten, dass die Frage nach dem bürgerlichen Recht nur ein Stück der Lebensordnung des Gottesvolkes darstelle. Die Frage, warum Gott das menschliche Recht in besonderer Weise legitimiert, müsse deshalb durch den Hinweis auf den Totalitätsanspruch Gottes beantwortet werden. Von da aus gesehen, sei alles Recht in Israel immer vom sakralen Recht umklammert gewesen; gerade diese Grundanschauung habe auch die Übernahme fremden Rechts (Frage 2 und 3) möglich gemacht. Als der “Sitz im Leben” für die Begegnung zwischen sakralem und weltlichem Recht könne vielleicht die Gauversammlung angesehen werden: hier mussten sich auch die Priester kritisch zu den Rechtssatzungen äussern.
2. (Zur Übernahme altorientalischen Rechts:) Die Uebernahme sei meist unbewusst vollzogen worden, so erklärte der Referent. Merkwürdig sei, dass mit der Übernahme durch die Israeliten nicht ohne weiteres eine Erhöhung des Rechtsstandards verbunden war. Der Kodex Hammurabi sei vielmehr in vieler Hinsicht “kultivierter” als das altisraelitische Recht. Das israelitische Gesetz sei z.B. besonders unerbittlich in der Frage des Schutzes von Blut und Leben, was zur Folge hatte, dass das Gesetz der Blutrache in Israel besonders lange in Kraft war. — Im Unterschied zu diesem Votum des Referenten wies Prof. Eichrodt auf eine Reihe von Verbesserungen hin, die dem altorientalischen Gesetz bei der Übernahme durch Israel widerfuhren: a) Israel kennt keine Klassenjustiz (Bevorrechtungen) mehr, b) im Unterschied
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zu dem sonstigen altorientalischen Gebrauch ist die Todesstrafe in Israel auf besonders schwere Verbrechen beschränkt (ausser bei Entführung eines Sklaven keine Todesstrafe bei Eigentumsdelikten), c) das israelitische Recht sei durchgehend durch eine Rücksicht auf die Schwachen gekennzeichnet, d) hierher gehört auch das Verbot der Sklavenverstümmelung, e) im Unterschied zum Kodex Hammurabi lehnt das israelitische Gesetz die indirekte Vergeltung ab, f) vor allem sei es auffällig, dass das israelitische Gesetz — wie ja auch im Referat festgestellt wurde — durch die Jahrhunderte hindurch Sakralrecht geblieben sei. Da, wo dieses Sakralrecht sich in Landrecht weiterbildete, handelte es sich doch nicht nur um einfache Übernahme, sondern um Umbildung nach dem Willen Gottes.
3. (Theologische Begründung der Übernahme:) Der Referent betonte, dass Reflektionen über diese Frage kaum nachweisbar seien. — Prof. Eichrodt war der Meinung, dass die — wenn ach unausgesprochene — Voraussetzung für die Übernahme fremden Rechts der Gedanke gewesen sein müsse, dass Gott an alle Völker einen Rechtsanspruch habe und ihnen allen auch die Gabe des Rechts verliehen habe. 1) Anspielungen darauf finden sich im Deut. und bei Jes.; vor allem aber liegen solche Gedanken implicit der Geschichtsdarstellung des Jahwisten zugrunde: Gottes Handeln mit der Menschheit wird hier eindeutig an den Afhang gestellt, und die Erwählung Abrahams wird wiederum zum Segen der Menschheit durchgeführt. Der priesterliche Bericht von Noah habe eine ähnliche Bedeutung, und schliesslich sieht auch der dem Elohisten nahestehende Prophet Hesekiel Jerusalem inmitten der Völkerwelt, die das über die Stadt ergehende Gottesgericht zu verstehen vermag (Hes. 5). — Die prophetische Eschatologie stellt gleichsam die komplementäre Ergänzung hierzu dar: der Friede des Löwen aus Juda erstreckt sich auf alle Völker (Gen. 49), sie alle fragen nach Jerusalem (Jes. 2).
Im Anschluss an diese Voten unterstreicht ein Neutestamentler noch einmal die Bedeutung des Gedankens der Gerechtigkeit der Heiden im Alten Testament. Jesus weise ganz ähnlich auf die Nineviten und auf die Königin von Saba hin. — Ein Problem, was bisher überhaupt nicht berührt sei, sei die Frage nach dem Verhältnis von Gerechtigkeit und Liebe: es scheine, als fänden sich beide im AT häufig nebeneinander, während z.B.
1) Der Sprecher bestätigte damit die von der vorausgehenden Konferenz über “Bibel und Naturrecht” aufgestellte Thesen. Vgl. oben S. 15.
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E. Brunner zwischen beiden eine scharfe Trennung vollzogen habe.
Die Aussprache wandte sich am Schluss der von dem zweiten Systematiker aufgeworfenen Frage nach der Bedeutung der verschiedenen Bundesschlüsse zu. Ein Teilnehmer wies darauf hin, dass die historische Schriftforschung uns gezeigt habe, dass die Berichte von den Bundesschlüssen mit Abraham und Noah Rückprojektionen der geschichtlichen Bundes-Erfahrung Israels sind. Die Erlösung aus Ägypten und der Bundesschluss am Sinai sind demnach historisch der Ausgangspunkt auch für diese Erzählungen gewesen; C.H. Dodd sei sogar der Meinung, dass es noch richtiger sei, von den Erfahrungen beim Ende des Exils auszugehen. Es fragt sich nun, ob durch diese Erkenntnisse nicht die übliche heilsgeschichtliche Auffassung der Bibel in Frage gestellt sei — oder anders ausgedrückt: ob nicht auch Gen. 1-11 in den in Christus geschlossenen Bund hineingenommen und von ihm her ausgelegt werden müsse. Dies würde für unsere Erwägungen zum Thema “Bibel und Naturrecht” oder “Gerechtigkeit der Heiden” weitreichende Konsequenzen haben.
Hierauf antwortete Prof. E. Schlink: der oben erwähnte historische Tatbestand sei insofern theologisch bedeutsam, als sich hier zeige: erst im Wissen um den Bund Gottes mit Israel erhellt sich die Situation der Heiden. Insofern können wir Gen. 1-11 nicht isoliert betrachten. Aber es wäre nicht richtig, wenn man aus diesem noetischen Vorgang folgern würde, dass die Faktizität des Noah-Bundes als solche im AT nicht ernst genommen würde. Es handelt sich hier keineswegs um eine Erfindung, die dem Bedürfnis der Vervollständigung der Weltanschauung Rechnung tragen sollte. Gerade von der Offenbarung an Israel her sei die Faktizität des Noah-Bundes erkennbar, während die Heiden im Sinne von Röm. 1 verkennen, dass es sich hier um einen von Gott gegebenen Bund handelt.
Das noetische Problem — so ergänzt ein anderer Systematiker — sei also durch die historische Erkenntnisse erhellt worden: die “früheren” Bundesschlüsse sind nur vom Bund Gottes mit Israel her verständlich. Aber der ontische Tatbestand werde dadurch nicht berührt: das Alte Testament weiss von einem Handeln Gottes mit der Menschheit auch vor und ausserhalb der Erwählung Israels. 1)
1) Diese wichtige Unterscheidungen haben, wie die Schlussthesen (besonders B I, 1 und 3) zeigen, die ganze weitere Debatte entscheidend beeinflusst.
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Im Zusammenhang mit diesen heilsgeschichtlichen Erwägungen erinnerte ein Neutestamentler noch einmal daran, dass in der Bibel des Recht niemals eine abstrakte Idee sei, sondern im jeweiligen Handeln Gottes seine Wurzel habe. Wir stehen deshalb immer wieder vor der schwierigen Aufgabe, Gottes Recht für die Gegenwart zu erkennen. 2)
Die Aussprache schloss mit einem Votum des Referenten ab, der anstelle eines Schlusswortes eine ungelöste Frage aufwarf: Inwieweit ist das Gottesrecht Evangelium? Hat Calvin recht gehabt, wenn er die Bundesschlüsse Gottes in einer Linie sah? Sind diese Bundesschlüsse einander im Wesen gleich, und nur in der Modalität verschieden? Es sei doch auffällig, dass ṣedaqa niemals im Zusammenhang mit dem Gericht Gottes, sondern ausschliesslich in soteriologischen Zusammenhängen vorkomme. Infolgedessen könnte man dazu geneigt sein, Gesetz und Evangelium sehr nahe zusammenzuschauen. Wie aber können wir vom AT her den Begriff des Gesetzlichen fixieren, der im NT doch in einem deutlichen Gegenüber zum Evangelium steht?
2) Vgl. Schlussthesen B II, 5 unten S. 51 f.