6. Thesen und Auszug aus dem Referat “Gerechtigkeit in biblischer Sicht: Neues Testament” von Prof. K.L. Schmidt, Basel

(3. August, nachmittags)

 

“1. Die Themafassung “Gerechtigkeit in biblischer Sicht” gibt auf die Frage nach menschlichem Recht und menschlicher Gerechtigkeit die Antwort von der Gerechtigkeit Gottes und der Rechtfertigung des Menschen her (vgl. Matth. 6, 33; Luk. 18, 14; Röm. 1, 17 = Hab. 2, 4; Röm. 3, 5; 3, 21-26; 4, 15; 5, 9; 9, 31 f.; 10, 2-8; 2. Kor. 3, 9; 5, 21; Gal. 3, 11; Phil. 3, 9; Hebr. 10, 38 = Hab. 2, 4; Jak. 1, 20).

2. Ob und wie das Recht christlich-neutestamentlich begründet werden kann und darf, ist wohl einer Frage würdig (positiv), aber doch fragwürdig (negativ).

3. In mannigfacher Weise werden in der biblischen Verkündigung und Theologie des Neuen Testaments Recht und Gerechtigkeit problematisiert.

4. Die Problematisierung von Recht und Gerechtigkeit geht davon aus, dass diese radikalisiert werden (vgl. die Bergpredigt Jesu in ihrer Einheit mit der paulinischen Rechtfertigungslehre).

|27|

5. Die Problematisierung von Recht und Gerechtigkeit zeigt auf, dass diese desillusioniert werden (vgl. Matth. 23, 23; Luk. 3, 10-14; 17, 10; Joh. 8, 1-11; Gal. 3, 28; Kol. 3, 11).

6. Die Problematisierung von Recht und Gerechtigkeit wirkt sich dahin aus, dass diese konkretisiert werden (vgl. die neutestamentlichen, insbesondere paulinischen Tugend- und Lasterkataloge und Haustafeln).

7. Die in solcher Weise umschriebene Problematisierung von Recht und Gerechtigkeit (Thesen 4, 5, 6) betrifft das Gesetz als Natur-, Sitten- und Ritualgesetz, das bei alledem, soweit sich das Gesetzliche wie das Moralische von selbst versteht, benutzt wird (zum Naturgesetz vgl. die urchristliche Stellungnahme zu Staat und Gesellschaft im Bereich des Emanzipationsproblems für Frauen und Sklaven; zum Sittengesetz vgl. den Appell an Gewissen und Vernunft, Nüchternheit, Gesundheit gerade bei Paulus; zum Ritualgesetz vgl. das Verhalten Jesu und seiner Apostel zum Kultus).

8. Für das Handeln des Menschen der christlichen Gemeinde in der Welt ist nicht entscheidend die oberflächenhafte Vereinerleiung von Gott und Mensch, von Reich Gottes und menschlicher Gesellschaft, von Kirche und Staat, auch nicht deren leerlaufender Gegensatz, sondern deren kritisches Gegenüber (vgl. die biblischen Aussagen über den “Staat” und die himmlische Polis).

9. Der Mensch als imago Dei und die Kirche als der Leib Christi, wobei Christus die imago Dei ist, und zwar vordringlich in seiner Unterwerfung unter das Gesetz Gottes (vgl. Matth. 3, 15; Gal. 4, 4; Phil. 2, 5-8; Hebr. 5, 8), haben die für das richtige Handeln einzusetzende Macht nicht als eine dämonisierte Selbstmacht, sondern als eine von Gott abgeleitete Macht; nur in Verbindung mit dieser Macht gibt es ein menschliches Recht als ein göttliches Recht.

10. Das Doppelgebot der Liebe umfasst Begrenzung und Erhebung des richtig handelnden Menschen im Sinne von Gericht und Gnade (vgl. Luk. 10, 25-37; Röm. 13, 8-10).

Nachtrag: Diese Sicht der Gerechtigkeit Gottes und des Menschen im Neuen Testament leitet sich von der Sicht im Alten Testament ab (die entsprechenden Thesen von G. von Rad habe ich erst nachträglich kennengelernt), wo die Gerechtigkeit Gottes als Bundestreue ihre Wurzel nicht allein im Forensischen hat, weil solche einschränkende Erfassung dem Sein Gottes als des deus activus, non otiosus im Gegenüber zu dem von ihm erwählten Volk Israel nicht entsprechen würde. Wie überhaupt bedeutet der

|28|

typologische Zusammenhang zwischen dem Alten und dem Neuen Testament auch für das “Recht” eine Überhöhung des Alten durch den Neuen Bund (vgl. Ri. 8, 23 und Joh. 6, 15 — die prophetische Problematik des israelitischen Königtums und Tempeldienstes, wie sie in der Gestalt Jesu messianologisch gelöst ist).”

 

In seiner Erläuterung dieser Thesen wies der Referent zunächst darauf hin, dass das Wort dikè, das wir mit “Recht” zu übersetzen gewohnt sind und das uns sonderlich vertraut ist, im ganzen NT nur 3 bis 4 mal vorkommt und jedenfalls nicht den Umfang hat, den wir mit Wort und Begriff “Recht” verbinden. Dafür finden sich dikaios, dikaioun, dikaioma, dikaiosis, dikaiosynè recht oft im NT, und zwar nicht nur bei Paulus. Schon von diesem Befund her sei deutlich, dass im NT Recht, Ordnung, Sitte problematisiert werden, wie das gleich These 1 und alle folgenden Thesen 2-10 auszudrücken versuchen.

Es folgte eine Einzelexegese der in den Thesen genannten neutestamentlichen Stellen. Besonderes Gewicht legte der Redner auf Röm. 10, 2-8, weil Luther aus der dortigen dikaiosynè idia, iustitia propria, seinen Begriff iustitia aliena abgeleitet hat und auf Röm. 13, 8-10 (nur Jesus Christus als die imago Dei in seinem Erdendasein hat das Gesetz erfüllt!). Im Einklang mit den Ergebnissen der vorausgegangenen deutschen Konferenz erklärte er weiter: Im NT in seiner Verbindung mit dem AT werden zwar das “Naturgesetz” bis hin zur vielberufenen “theologia naturalis” benutzt (vgl. die Areopagrede und Röm. 2), aber sie wird nicht als letzte Instanz angesehen. Deshalb liege eine wirkliche “theologia naturalis” tatsächlich nicht vor.