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(4. August abends und 5. August: Diskussionsleitung Prof. W. Eichrodt).
Am Schluss der Nachmittagssitzung am 4. August stand man allgemein unter dem Eindruck, dass man von einer befriedigenden Antwort auf die zahlreichen angeschnittenen Fragen noch sehr weit entfernt war. Das biblische Material lag vor uns. Es waren auch Ansätze zu einer systematischen Weiterführung gemacht worden. Aber der Hinweis auf den Unterschied zwischen unserer geschichtlichen Lage und der biblischen Situation hatte den Zusammenhang zwischen den biblischen und den systematischen Erwägungen deutlich bedroht. Man sah aber noch nicht, wo die verschiedenen Linien möglicherweise zusammenlaufen würden. So wurde eine besondere Abendsitzung eingeschaltet. Und sie brachte eine überraschende Wendung.
Zunächst ergriff noch einmal einer der Neutestamentler (N.A. Dahl) das Wort, um zu erklären, wie nach seiner Meinung die Einwirkung der Kirche auf das Rechtsleben vor sich zu gehen habe. Indem die Kirche in ihrer eigenen Mitte Recht schafft (1. Kor. 6), wirkt sie in die Welt hinein. Es ist eine “Heiligung vom Eschaton” her. Als konkretes Beispiel wurde das christliche Verständnis der Ehe genannt: die weitere Debatte zeigte, dass an diesem konkreten Beispiel die Einheit der Konferenz in überraschender Weise zutage kam — trotz der Unterschiede in der systematischen Begründung.
Diese Unterschiede kamen zunächst noch einmal zum Vorschein, als ein Systematiker das Votum des dänischen Prof. Søe (am Schluss der vorigen Sitzung) angriff: wir machten die christliche Ethik unmenschlich, wenn wir behaupten würden, dass das Gute immer christlich bestimmt sein müsse. Hier müsse man doch wohl eine Lanze für die Menschlichkeit brechen. In Wirklichkeit hinke die Kirche oft hinter den Erkenntnissen nichtchristlicher Politiker und Gesetzgeber hinterher, statt ihnen voranzugehen. Deshalb könnten sich die christlichen Abgeordneten in einem Parlament wie dem von Bonn gewöhnlich nicht auf “christliche Grundsätze” berufen, sondern müssen von dem Gedanken der Universalität des Gottesgesetzes (z.B. des Dekalogs) ausgehen.
Offenbar lag aber hier ein Missverständnis vor. Denn gerade die “christologische” Ethik will ja besonders menschlich sein. Es ist also gar nicht nötig, ihr gegenüber eine Lanze für die Menschlichkeit zu brechen. Ein Verteidiger der “christologischen” Ethik betonte dann auch, dass jenes Missverständnis nur möglich sei, wenn man sich völlig daran gewöhnt habe, in zwei Bereichen zu denken. Dann allerdings müsste die Alternative
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lauten: entweder “christliche” Lösung (z.B. christliches Naturrecht) oder christliches Ghetto. Die rechte Christologie führt gerade zu einer Bejahung des Menschlichen. So müssten sich die Abgeordneten im Bonner Parlament vom Evangelium her — unter Umständen gegen überkommene “christliche” Lösungen — für die Gleichberechtigung der Frau einsetzen. Als Christen müssten sie da unter Umständen gegen die C.D.U. (Christliche Demokratische Union) mit den nichtchristlichen Rationalisten stimmen. Menschlichkeit heisst hier: sich von Christus sagen lassen, was mein Menschsein bedeutet. 1)
Ein Teilnehmer erklärte daraufhin, dass sich hier offenbar die scheinbar unversöhnlichen Gegensätze berühren: die Verteidiger der “christologischen” Ethik gehen grossenteils in ihrer Weltlichkeit mindestens genau so weit wie die Verteidiger des Naturrechts. Somit stünde nun dem — schon lange erwarteten — Bündnis zwischen der Naturrechtstheologie (besonders der Angelsachsen) und der christologischen Theologie der “Barthianer” nichts mehr im Wege. Der eigentliche Gegensatz sei der zwischen diesen beiden Gruppen (der christologischen und der naturrechtlichen Theologie) auf der einen Seite und einer heilsgeschichtlich-“dualistischen” Theologie auf der andern Seite. 2)
Der vorige Sprecher stimmte dem im Ganzen zu: die Gegnerschaft der “christologischen” Theologie gegen das Naturrecht sei nicht so auszulegen, als könne vom Naturrecht nichts aufgegriffen werden. Den Juristen, die nach “Weisungen” in der Bibel suchten, könne nicht auf direkte Weise geholfen werden. 3) Es ginge zuerst und vor allem um die rechte Freiheit der Christen — worin gerade die Freiheit, die Rationalität zu gebrauchen, mit eingeschlossen ist. Um der Barmherzigkeit willen müsse der Christ seine Freiheit auch oft dazu gebrauchen, mit gutem Gewissen Kompromisse zu schliessen. Dabei kann er sich nicht auf starre Grundsätze festlegen. Es geht bei der christologischen Begründung zunächst und vor allem um jenes gute Gewissen; wir reden also “ad personam”.
Ein anderer Systematiker griff nun noch einmal als Beispiel das Verhältnis der Christen im Eherecht hinaus und entwickelte dabei die Gedanken, die später in den Schlussteil des
1) Dies Votum zeigt deutlich, wie gross der Abstand
zwischen der Barth’schen christologischen Ethik und der
fundamentalistischen Auslegung der Bibel ist; dieser Unterschied
muss in der Ökumene beachtet werden.
2) Vgl. dazu oben S. 8.
3) Vgl. dazu oben S. 9 und S. 59 ff.
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Konferenzberichts aufgenommen wurden (vgl. unten S. 54). Es zeigte sich, dass alle Anwesenden diesem Schema der schrittweisen Konkretisierung zuzustimmen vermochten; vor allem war man sich auch darin einig, dass der Christ aus Barmherzigkeit gegenüber den Schwachen sogar auf diesem Gebiet zu Kompromissen bereit sein muss, soweit die öffentliche Gesetzgebung in Frage kommt.
Es scheint für die heutige ökumenische Gesprächslage überaus bezeichnend zu sein, dass auf dieser Konferenz an einem praktischen Beispiel zum ersten Mal wirkliche Einmütigkeit sichtbar wurde. In der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit hatte sich gezeigt, wie eine Anwendung des biblischen Gesetzes im Geist des Evangeliums in Freiheit und Gehorsam möglich ist. Nur von der Mitte der biblischen Botschaft her kann das wirkliche Verhalten der Christen bestimmt werden. Ebenso können die einzelnen biblischen Gebote nur von dieser Mitte her recht verstanden und jeweils der Lage entsprechend recht angewandt werden.
Am Schluss der Abendsitzung wurde ein Ausschuss ernannt, der das weitere Programm festlegen sollte; er hat später die Funktion des Redaktionsausschusses übernommen und bestand aus den Prof. Brunner, Eichrodt, Horton und Ernst Wolf 4), Canon Richardson und dem Schriftführer der Konferenz, Dr. Schweitzer. Dieser Ausschuss stellte fest, dass die wichtigste, nun noch vor der Konferenz liegende Aufgabe darin bestehe, den Weg sichtbar zu machen, der von der Bibel zu dem praktischen Verhalten geführt hatte, das zuletzt erörtert worden war. Prof. P. Brunner wurde gebeten, am 5. August morgens in einem ausführlichen systematischen Votum die Frage zu beantworten: Wie ist es zu begründen, dass die Kirche sich um das Recht und die Staatsgewalt kümmert? In welchem Sinn tut sie es und woher hat sie hier ihre Vollmacht? Prof. P. Brunner führte dazu etwa folgendes aus:
1. Unser Standort ist die eine Kirche Jesu Christi, aus den Völkern um Wort und Sakrament versammelt. — Wir setzen also nicht ein bei der Philosophie oder bei den Schöpfungsordnungen, und auch nicht im Alten Bund. Zwar gibt es eine Kontinuität vom Alten zum Neuen Bund, aber entscheidend ist doch, dass Gott einen Schritt vorwärts gemacht hat, indem er den Neuen Bund über uns aufrichtete. Wir dürfen hier nicht rückwärts gehen und “joudaizein”!
2. Die Kirche Jesu Christi, von der wir reden, umspannt die eschatologische Frist zwischen dem ersten und dem zweiten Advent Christi. Das Alte Testament sieht beide in eins; sie fallen durch eine perspektivische Verkürzung für die alttestamentliche Eschatologie zusammen. Erst vom Neuen Testament aus
[40] 4) Prof. Ernst Wolf hat die Konferenz vor der Abfassung der Schlussthesen verlassen müssen (vgl. dazu aber unten S. 62). Andererseits haben sich noch Bischof Neill, Prof. Schlink und Prof. Søe an der Schlussredaktion des Berichts beteiligt.
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erkennen wir, dass es sich hier um eine Gnadenfrist zwischen den beiden Adventen handelt.
3. Durch die Art und Weise wie der Messias Jesus zu uns Menschen gekommen ist, hat Gott und deutlich gemacht, dass Jesus Christus das Amt des weltlichen Richters noch nicht in eigener Person ausübt. Christus hat die irdischen Richterstühle noch nicht umgestürzt; der erniedrigte Sohn Gottes tritt noch nicht die Kelter des Zornes Gottes. Bis zum Tage des letzen Gerichts bleiben die irdischen Richter in ihrem Amt. — So ist das Königsregiment Christi jetzt noch unter dem Kreuz verborgen, und zwar realiter, nicht nur in unserer begrenzten Erkenntnis. Der Weltenrichter selbst hält sich in gnädiger Herablassung noch zurück und schafft so den Raum, innerhalb dessen auch heute noch irdische Throne (Staatsgewalten), Schwerter und Richterstühle möglich sind.
4. Die Vollmacht dieser irdischen Gewalten quillt nicht aus dem Leibe Christi hervor, der seine Kirche ist. Die Kirche geht hier den Weg des Kreuzes. — Anders steht es mit der Beziehung Christi zur Schöpfung: insofern Christus der Schöpfungsmittler ist, besteht nach biblischer Anschauung ein Zusammenhang zwischen Christus und diesen Gewalten. Aber dies darf mit dem irdischen Leib Christi, mit der Kirche nicht verwechselt werden. Die Kirche hat zu verkündigen, dass es jene Vollmachten gibt, dass sie aber nicht zu den Vollmachten gehören, die dem Leib Christi hier verliehen sind (weil Christus sein Königsregiment noch verborgen hält).
5. Nur in der Kirche Christi sind diese Vollmachten in ihrem Wesen, ihrem Ursprung und in ihrer Begrenzung als Anordnungen des dreieinigen Gottes recht erkannt: sie sind ein Damm gegen die chaotische Selbstzerfleischung. Wir müssen sehr ernsthaft auch mit den diabolischen Kräften der Zerstörung rechnen.
6. Die Kirche muss diesen Willen Gottes (5) mit dem Evangelium
zusammen verkündigen, denn
a) auch die Christen sehen in der Kirche noch im
leiblich-geschöpflichen Leben. diese geschöpfliche Fundamente
sind nicht einfach ausgelöscht, sondern in der Wiederherstellung
begriffen — auf die Auferstehung hin;
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b) auch die Christen sind nicht nur “neue Menschen”;
c) es gibt nicht nur Christen auf dieser Welt zwischen dem ersten
und dem zweiten Advent Christi; Gott erhält alle Menschen durch
jene rettenden Anordnungen.
Die Kirche hat also eine Verantwortung dafür, dass diese
Vollmachten gemäss dem Willen Gottes ausgeübt werden. Das Motiv
der Kirche ist dabei die Liebe.
7. Ein besonderes Problem ergibt sich daraus, dass die Kirche
diesen von Gott gesetzten Institutionen immer in bestimmten
geschichtlichen Ausprägungen begegnet. Was geschieht
hier?
a) Zunächst stellt die Kirche fest, dass in jenen Institutionen
schon etwas wirksam ist von dem Willen Gottes, um den die Kirche
kraft der Offenbarung weiss.
b) In dieser Begegnung muss es auch zu einer Reinigung kommen:
die heidnisch sakrale Umkleidung jener Institutionen wird
notwendig fallen müssen. Der Idealfall wäre wohl die Bejahung des
Gebotes Gottes durch die Vollmachtsträger im weltlichen Regiment
und eine dem entsprechende Verwirklichung (sacrum imperium?).
c) Das Wichtigste ist der Zeichencharakter der Kirche in
exemplarischer Ordnung; indem die Kirche ein beispielhaftes
Zeichen ist, wirkt sie zugleich auf den sozialen Bereich ein.
In der nun folgenden sehr lehrhaften Aussprache meldeten sich zunächst die Verteidiger der “christokratischen” Anschauung zu Wort: Mitten in der Verborgenheit sei das neue Reich Christi bereits angebrochen. Von da aus müsste dann auch These 7a) bei P. Brunner revidiert werden: die Kirche nehme an den sich vollziehenden Erlösungswirken Christi Anteil. Gerade das verstärke ihre Freudigkeit auch im Bereich des Rechts. Ein Neutestamentler unterstützte diesen Gedanken durch den Hinweis darauf, dass die Kirche ja keineswegs machtlos in der Welt stehe: ihr Schwert ist das Wort Gottes. Auf die Frage, ob die christokratische Anschauung nicht auf eine Klerikalisierung der Welt hinauslaufe, erwiderte ein Kirchenhistoriker: so kann man nur reden, wenn man sich an die Vorstellung von zwei Bereichen gewöhnt hat, nicht aber da, wo diese Vorstellung gefallen ist.
In Gegensatz hierzu hatte ein anderer Neutestamentler dennoch die Sorge, dass die Kirche hier “überfordert” werde. Er wurde bezeichnenderweise von einem Amerikaner unterstützt, der darauf hinwies, dass die Predigt der Kirche gerade in sozialen und politischen Fragen meist sehr unvollkommen ist. Besser stünde es da, wo die Kirche gegen Unrecht Stellung zu nehmen habe. Dem schloss sich der kanadische Teilnehmer an: aus mangelnder Sachkenntnis habe die Kirche sich schon oft zu gefährlichen Vorschlägen verleiten lassen. Es sei deshalb besser, sich in der
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Predigt auf die Verkündigung der Grundsätze zu beschränken sowie auf die Blossstellung von Verstössen gegen diese Grundsätze. Dies seien die zwei Funktionen der Kirche zwischen dem ersten und dem zweiten Advent Christi.
Prof. Schlink versuchte nun, den bestehenden Konsensus
und den Dissensus anzugeben:
1. Man sei sich darin einig, dass Gott den Menschen nicht nur die
Gnade in Christo schenken sondern ihn auch in der gegenwärtigen
Gnadenfrist erhalten wolle. Daraus folgt die Mitverantwortung der
Kirche für den Bereich des Rechts.
2. Man sei sich darin einig, dass das weltliche und das
geistliche Schwert eine verschiedene Bestimmung zu erfüllen
hätten, wenn auch jeweils gewisse Entsprechungen vorliegen (z.B.
der bevollmächtigte Freispruch im Juristischen entspricht dem
bevollmächtigten Freispruch durch die Rechtfertigung in
Christus).
3. Man sei sich darin einig, dass Jesus sich um Fragen, die dem
Erhaltungsbereich angehören, nicht gekümmert habe; ebenso sei
deutlich, dass die neutestamentlichen Briefe sich nur am Rande
mit solchen Fragen beschäftigen, und zwar aus der Perspektive des
Untertanen-Verhältnisses heraus. Dennoch habe die Kirche aus
diesen Ansätzen ganz richtig Grundregeln für die Gestaltung des
Rechts weiterentwickelt. Dies werde zwar verschieden begründet,
aber man sei sich immerhin auch darin noch einig, dass es sich
hier um eine zweitrangige, uneigentliche Aufgabe der Kirche
handelt.
4. Ein Dissensus bestehe hinsichtlich der theologischen
Begründung des Rechts:
a) für die “christokratische” Gruppe folgt die politische
Verantwortung der Kirche unmittelbar aus der Offenbarung Christi
im Evangelium;
b) eine andere Gruppe denke nicht nur von einem Faktum,
sondern von den verschiedenen Taten Gottes in der Geschichte und
seinen verschiedenen Bundesschlüssen aus. — Es müsse allerdings
beachtet werden, dass auch bei dieser Gruppe das weltliche Recht
nicht einfach von Christus gelöst sei, wie P. Brunner ja mit
seinem Hinweis auf die Schöpfungs-Mittlerschaft Christi und den
wiederkommenden Christus dargetan habe.
Die zwei folgenden Sprecher bestritten nun zunächst die Richtigkeit dessen, was unter 3. am Schluss gesagt worden war: Man dürfe die “eigentliche” und die “uneigentliche” Aufgabe der Kirche nicht voneinander scheiden — genau so wenig wie man die Diakonie Christi und der Kirche von ihrer Verkündigung scheiden dürfe. Prof. Søe erklärte sich mit dem einverstanden, was P. Brunner über die Zeit zwischen dem ersten und dem zweiten Advent Christi gesagt hatte. Dagegen erregte Brunners
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Unterscheidung zwischen Christus, dem Erlöser und Christus dem Schöpfungsmittler, die einer Unterscheidung zwischen dem Christus incarnatus und dem Christus incarnandus gleichkomme, seine Bedenken.
Überraschenderweise erklärte nun Prof. Ernst Wolf, dass die Einheit zwischen Søe und ihm auf der einen Seite und P. Brunner und Schlink auf der andern Seite in Wahrheit noch weiter gehe, als Schlink angedeutet hatte. Schlink hatte die christozentrische der heilsgeschichtliche Ontologie gegenübergestellt und als Klammer zwischen beiden die Lehre von der Schöpfungs-Mittlerschaft Christi bezeichnet. Es ginge ihm und Søe aber vor allem um den Gedanken, das der Christus pro nobis der illuminator mentis et rationis nostri sei. Die christologische Begründung des Rechts sei also nicht ontologisch gemeint, sondern noetisch: In Christus ist enthüllt, was das Recht von Gott her ist. Hieran müsse vor allem gegenüber allen Versuchen einer metaphysischen Rechtsbegründung festgehalten werden. 5)
Es wurde nun gefragt, ob K. Barth nicht über das Noetische hinaus gehe. Die Unmöglichkeit einer zu engen Verquickung zwischen dem Dienst Christi und dem Einsatz für das Recht wurde dann an dem Beispiel des Krieges in Korea durchexerziert: die Kirche dürfe den dort kämpfenden Soldaten doch keinesfalls sagen, dass sie hier für Christus kämpfen; sie kämpfen für das Recht. Christus dienen heisst dagegen unter Umständen: Um der Gerechtigkeit willen leiden (nicht kämpfen!). — (Schlink zu Søe:) “Sie anerkennen das reformatorische ‘simul peccator et iustus’! Warum verbieten Sie uns, ebenso dialektisch über das Verhältnis der beiden Aeonen zu reden?”
An dieser Stelle wandte Bischof Neill ein, dass alles, was wir in der Kirche tun, sich immer auf beide Aeonen bezieht. Wir können sie praktisch nicht voneinander trennen, wenn wir das theologisch auch tun müssen. In der Mission könne man deutlich beobachten, dass die Predigt des Evangeliums immer zugleich eine die heidnische Gesellschaftsordnung sprengende Wirkung habe. Dies verpflichtet die Kirche dann zum Einsatz für eine bessere Neuordnung. 6)
5) Vgl. hierzu oben S. 12 und S. 25, sowie unten die
Schlussthesen B I, 1 und 3 (unten S. 48 f.).
6) Vgl. These C I, 3, S. 53.
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Dem sei beizupflichten, erklärte ein Neutestamentler, solange man sich über den Unterschied zwischen Rechtsordnung und Reich Gottes im Klaren bleibe. Eine Analogie zwischen beiden (im Sinne Barths) könne nicht behauptet werden.
In der Nachmittagssitzung am 5. August wurde der Versuch gemacht,
auf das Problem Liebe und Gesetz einzugehen. Ein
Neutestamentler eröffnete die Aussprache dadurch, dass er die
folgenden 5 Punkte anführte:
1. Gnadengerechtigkeit Gottes (Röm. 3, 21 ff.) und die Agape (1.
Kor. 13) sind ein und dasselbe: Agape Gottes.
2. Zwischen dieser Agape als Leidens- und Kreuzesnachfolge (Mark.
8, 34 ff.) und der iustitia civilis bestehe in der Zeit zwischen
dem ersten und dem zweiten Advent Christi ein unüberwindlicher
Gegensatz.
3. Aus Eph. 5, 22 ff. und ähnlichen Stellen sei zu entnehmen, wie
die Agape auf die Ordnungen dieses Aeons einwirkt. Hier werden
z.B. das Gegenüber von Mann und Frau in der Ehe nicht aufgehoben.
Und doch bleibt dies Verhältnis nicht einfach, was es war: die
Persongerechtigkeit hat sich gewandelt, und davon wird auch das
Ordnungsverhältnis mitbetroffen (was dem einleuchtet, der die
platonische Auffassung der Ordnungen aufgegeben habe).
4. Die Frage sei nun, ob wir noch wie Luther von einer doppelten
Liebe Gottes reden, d.h. also ob wir neben der rettenden Liebe
eine richtende und zornige Liebe Gottes in den Ämtern sehen
könnten.
5. Sicher schiene zu sein, dass der Gegensatz zwischen Agape und
iustitia civilis erst im Endgericht aufgehoben werde, denn hier
werde erst der endgültige Sieg der Gottesliebe sichtbar werden.
Es zeigte sich, dass die meisten Teilnehmer mit den ersten drei Punkten im Ganzen einverstanden waren. Zwar protestierte einer der anwesenden Juristen gegen den theologischen “Aberglauben”, dass das Recht vom Zwang lebe — und deshalb notwendig zur Liebe im Gegensatz stehen müsse. In gleichem Sinne erinnerte ein anderer Teilnehmer an das, was G. Aulén und Reinhold Niebuhr über die enge Verbindung zwischen Liebe und Gesetz gesagt hatten. Da aber keiner der Anwesenden sich deren Standpunkt zu eigen machte, wurde der Gegensatz zwischen Liebe und Gesetz stärker betont als ihre Zusammengehörigkeit. Es wurde jedoch anerkannt, dass die Liebe ein wesentliches Motiv für das Handeln des Christen als Gesetzgeber sein müsse. — Nachdem man sich so den verschiedenen Charakter von Liebe und Gesetz klar gemacht habe, erklärte Bischof Neill, müsse nun auch über einen Einfluss der Agape auf die Gestaltung des Rechts gesprochen werden: Sie bringt ein
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Element des Mitfühlens, der Gnade (mercy) in die Rechtsgebarung. Trotzdem bleibe aber das Gesetz Gesetz und werde nie ein vollständiger Ausdruck für jene Liebe werden können — vor allem deshalb nicht, weil zu seinem Charakter die Androhung von Strafe gehört.
Auf die oben unter 4 und 5 genannten Fragen ging man in der Aussprache nicht mehr ein. Dies lässt sich vielleicht später einmal nachholen; überhaupt zeigt die Debatte zu diesen Fragen, dass hier noch eine Reihe von Punkten ungeklärt blieben, die aufzugreifen die Konferenz nicht mehr in der Lage war. Es ist kein Zufall, dass das Problem “Liebe und Gesetz” im Schlussbericht sehr stark in den Hintergrund tritt. —