Literatur: Friedberg, Die geltenden Verfassungsgesetze der ev. d. Landeskirchen. Freiburg 1885. Mit mehreren Ergänzungsbänden (jetzt in der DZKR.) [mit wertvollen, über die Verfassungsgeschichte und die geltende Verfassung der einzelnen Landeskirchen orientierenden Einleitungen]; Derselbe, Das geltende Verfassungsrecht der ev. d. Landeskirchen. Leipzig 1888. Richter-Dove-Kahl, Kirchenrecht. 8. Aufl. S. 175ff. Sohm, Kirchenrecht 1, 679ff. Rieker, Die rechtl. Stellung der ev. Kirche Deutschlands. Leipzig 1893. Kirchenkunde, ev., Das kirchl. Leben der d. ev. Landeskirchen, herausg. von P. Drews. Tübingen 1902 ff. Erich Förster, Die Entstehung der preuß. Landeskirche unter der Regierung König Friedrich Wilhelms III. Bd. 1. Tübingen 1905.
Die neuere Entwicklung ist gekennzeichnet durch das Hervortreten der Prinzipien des Kollegialismus, des Konstitutionalismus und der Selbstverwaltung.
1. Wer ein historisch richtiges Bild von den heutigen Zuständen zeichnen will, hat von dem Territorialsystem auszugehen. Unter seinem Zeichen stehen Kirchenrecht und Kirchenpolitik an der Wende der neuesten Entwicklung. Der absolute Staat kennt keine Gewalt neben sich an; an die Stelle der religiös-theologischen Gesichtspunkte, welche das 16. und 17. Jh. beherrschten, sind weltlich-politische getreten. Der Landesherr leitet seine Kirche nach staatlichen Rücksichten, die Staats-raison ist der oberste Leitstern. Die Folgen dieser Betrachtungsweise zeigen sich auch äußerlich in dem Behördenorganismus. Die Behörden für die Kirche nehmen jetzt mehr und mehr den Charakter von Staatsbehörden an, sie werden eingefügt in die Beamtenorganisation des Staates, und auch für sie werden die staatlichen Interessen bestimmend, höchstens daß man letztere für konform mit den kirchlichen hält, sie leben und handeln im staatlichen Geiste, ja vorübergehend werden die Konsistorien ganz aufgehoben (in Preußen von 1808 bis 1817).
So lagen die Dinge, als das 19. Jh. schon in seinen Anfängen wichtige Umwälzungen
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hervorrief. Die deutsche Bundesakte brachte die Parität für die drei großen christlichen Religionsparteien. Der deutsche Staat hörte damit auf, ein konfessioneller (katholischer oder lutherischer oder reformierter) zu sein, er wurde nunmehr ein christlicher Staat ohne bestimmten konfessionellen Charakter. Es standen im Staate mehrere Religionsgesellschaften gleichberechtigt nebeneinander als öffentliche Korporationen. Oberste Grundgedanken der Reformationszeit waren damit über den Haufen geworfen; die Obrigkeit war jetzt gar nicht mehr in der Lage, für die reine Lehre im Staate zu sorgen, selbst wenn sie es wollte, sie mußte mehrere Konfessionen gleichmäßig schützen. Damit war ein Anstoß für den Staat gegeben, auch der evangelischen Kirche gegenüber sich auf den Kreis derjenigen Rechte zu beschränken, die er gegenüber der katholischen Kirche ausübte, auf die staatlichen Schutz- und Aufsichtsrechte, und dem Kollegium seine Gesellschaftsrechte freizugeben. Noch mehr mußte aber das Jahr 1848 mit seinen politischen Umwälzungen klärend und umgestaltend wirken. Wenn man auch nicht mit den Grundrechten sogleich bis zur vollen Freiheit der Kirche schreiten wollte, so durfte man doch der veränderten Sachlage gegenüber die Augen nicht verschließen. Wollte man nach wie vor das kirchliche Regiment des Landesherrn als einen Teil, als einen Ausfluß seiner Staatsgewalt betrachten, so mußte man auch den neuen Ständen den verfassungsmäßigen Anteil am Kirchenregimente zugestehen, der ihnen am Staatsregimente zukam. Ein solcher Anteil der Volksvertretung, in welcher Katholiken, Protestanten und Nichtchristen gleichberechtigte Mitglieder sind, verträgt sich aber wiederum nicht mit dem Prinzip der Parität, von rein kirchlichen Gesichtspunkten ganz abgesehen.
So ändern sich naturgemäß die Anschauungen über das Wesen des landesherrlichen Regiments, der Territorialismus wird überwunden, und es zeigen sich die Ansätze zur Umwandlung des landesherrlichen Kirchenregiments in ein genossenschaftliches Selbstregiment. Zu diesen drei Momenten seien folgende Ausführungen gestattet.
Kollegialistische Gedanken treten mit Macht auf den Plan. Man unterscheidet im Gegensatz zum Territorialismus scharf zwischen den Begriffen der Kollegialrechte und der staatlichen Hoheit. Die letztero handhabt der Landesherr als einen Ausfluß seiner Staatsgewalt und ist dabei im konstitutionellen Sinne beschränkt; die ersteren handhabt er zwar auch als Landesherr und nur deshalb, weil er Landesherr ist, aber doch nicht als einen Bestandteil seiner Staatsgewalt, sondern als ein historisches Annexum derselben. Das landesherrliche Kirchenregiment ist ein innerkirchliches Amt, welches historisch dem Landesherrn zu seiner staatlichen Stellung hinzugeflossen ist; es heißt also theoretisch und praktisch diese Doppelstellung des Landesherrn wohl auseinanderzuhalten.
Mejer1) bezeichnete diese Konstruktion als „keinen glücklichen Versuch”. In ihrer Eigenschaft als Landesherren und in keiner anderen hätten die Landesherren das Kirchenregiment zur Reformationszeit überkommen; damit sie es heute auf einer anderen Basis besäßen, müßte diese Veränderung historisch und rechtsgenügend motiviert sein; aber an solcher Motivierung fehlt es. Hiergegen ist zu bemerken. Von einer Veränderung kann überhaupt nicht gesprochen werden. Die Tatsache, daß die Landesherren das juristische Regiment ausüben, ist unverrückt die Jahrhunderte hindurch dieselbe geblieben und ebenso die historischen Ursachen dieser Erscheinung. Nur die theoretischen Unterlagen, die Anschauungen der Zeitgenossen über das Wesen haben sich mehrfach geändert. Und darin hat ja Mejer recht, die Idee des praecipuum membrum ecclesiae ist heute ebenso unbrauchbar, als wie die Unterstellung eines stillschweigenden oder ausdrücklichen pactam subiectionis. Aber sind diese Konstruktionen
1) S. Artikel „Kirchenregiment” in Realenzyklopädie f. protest. Theol. 2. Aufl.; Rechtsleben der ev. Kirche. S. 61ff.
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wirklich jemals eigentliche Rechtsgründe gewesen? Waren sie nicht vielmehr stets lediglich theoretische Erklärungs- und Rechtfertigungsversuche? Welchen anderen Wert haben denn überhaupt jene drei bekannten Systeme? Wenn Mejer meint, daß es nicht genüge, sich auf das „wohlerworbene Recht” als Rechtsgrund zu berufen, so übersieht er, daß häufig genug im staatlichen, wie im Leben der Völker, ja auch im Privatrecht das „wohlerworbene Recht” den einzigen, also auch einen genügenden Rechtsgrund für die bestehenden Zustände abgibt und abgeben muß. Welchen Rechtsgrund will denn Mejer übrigens selbst für seine Auffassung, daß das landesherrliche Kirchenregiment ein „Staatsamt” sei, anführen, nachdem er die alten Erklärungsversuche für unanwendbar erklärt hat? Sehr mit Recht weist auch Friedberg1) darauf hin, daß man einen genügenden Rechtsgrund für die Veränderungen in den Gesetzen erblicken kann, durch welche die Kirchenverwaltung von der staatlichen getrennt und als eine eigenartige hingestellt worden ist. Denn daß sich die Handhabung des Kirchenregiments heute in einor vom staatlichen Organismus durchaus (in dem einen Staate mehr, in dem anderen weniger) verschiedenen Weise vollzieht, ist klar und das gestattet uns doch auch Rückschlüsse auf die rechtliche Natur. Das landesherrliche Amt ist kein Staatsamt, sondern — und ein drittes gibt es nicht — ein Amt in der Kirche, also für den Landesherrn ein Nebenamt.2) Eine Analogie bietet der Erwerb der Stellung des Familienoberhauptes durch den Regierungsantritt, oder die Würde des deutschen Kaisers durch den Erwerb der preußischen Krone. Nur auf der Basis unserer Konstruktion scheint das Grundprinzip der Parität den verschiedenen Religionsgesellschaften gegenüber gewahrt. Im übrigen sollte man den Wert der Konstruktionsversuche, denen häufig genug die Schwäche menschlicher Erkenntnis anhaftet, nicht überschätzen und lieber auf die Sprache hören, welche die Tatsachen selbst reden.
Die praktischen Konsequenzen jener durch die neuere Kirchengesetzgebung geschaffenen Doppelstellung des Landesherrn zeigen sich vor allem im Behördenorganismus. Das Kirchenregiment wird durch eigene kirchliche Behörden gehandhabt, die vollkommen unabhängig von staatlichen Behörden unmittelbar ihrem summus episcopus unterstellt sind, der in seinen Entschlüssen, unbekümmert um staatliche Rücksichten, lediglich kirchlichen Impulsen folgt, und die lediglich kirchliche Aufgaben zu lösen haben. Dieses kollegialistische Ideal ist zwar zurzeit noch in keiner Landeskirche voll erreicht, aber fast überall sind Ansätze zu solcher Entwicklung gegeben; die Kompetenz der kirchlichen Behörden ist in der einen Landeskirche weiter, in der anderen enger gezogen, die Einverleibung dieser Kirchenbehörden in den staatlichen Organismus, die Unterstellung unter Staatsbehörden (Ministerien) ist in dem einen Staate mehr (z.B. in Sachsen, Altpreußen), in dem anderen weniger (z.B. in Bayern) aufgegeben — aber es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß die Verfassungswünsche, die sieb in so mancher Landeskirche in dieser Richtung bewegen, berechtigter Natur sind und gewiß auch in der Zukunft, hier schneller, dort langsamer Erfüllung finden werden. Wie sehr die Dinge allüberall noch im Flusse sind, ersieht man auch aus dem Finanzwesen der Kirche. Wenn z.B. der preußische Staat zu den Ausgaben der „selbständigen” evangelischen Kirche jährlich über zehn Millionen Mark zuschießt, so ist das historisch namentlich aus dem Territorialismus zu erklären und es kann kein Wunder nehmen, daß, wie Niedner3) gezeigt hat, in der Behandlung der Kirche auf
1) Lehrbuch des Kirchenrechts. 6. Aufl. S. 229 Anm. 4.
2) Das oben Gesagte ist bestritten. Vgl. z.B. Rieker,
Rechtsstellung. S. 471 ff. Simons, Freikirche, Volkskirche,
Landeskirche. Freiburg 1895. Es kann auf diese und andere
Konstruktionsfragen an dieser Stelle nicht weiter eingegangen
werden. An den historischen Tatsachen vermögen sie wenig zu
ändern. Vgl. auch Sehling in Realenzyklopädie f. protest. Theol.
3. Aufl. Artikel „Kirchenregiment”.
3) Niedner, Die Ausgaben des preuß. Staates für die ev.
Landeskirche der älteren Provinzen. Stuttgart 1904.
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dem finanziellen Gebiete durch die preußischen Behörden am alten sich nichts geändert hat. Nichtsdestoweniger darf man hieraus allein noch keinen Schluß auf den Charakter der kirchlichen Behörden und des kirchlichen Organismus und seine Stellung zum Staate ziehen; denn auch der katholischen Kirche gegenüber leistet der Staat Zuschüsse. Seine Leistungen an die evangelische Kirche erklären sich historisch aus der Entstehungsgeschichte der evangelischen Kirche und nicht bloß aus dem Territorialismus; sie finden für die Gegenwart in der Bedeutung der Kirche für den Staat und für das öffentliche Leben ihre innere Rechtfertigung und in der fortgesetzten, gewohnheitsrechtlichen Betätigung des Staates ihre formalrechtliche Begründung.
Aber auch der moderne Gedanke der Dezentralisation, der Selbstverwaltung, hat in den evangelischen Kirchenkörpern Platz gegriffen. Zu einem genossenschaftlichen Selbstregimente fehlte es ja, wie wir oben gesehen haben, nicht an reformatorisch-theologischen Anknüpfungen und das reformierte Beispiel lag ja nahe, wenn man auch diese reformierte Verfassung falsch verstand und beurteilte. In der Tat haben denn auch, hier früher, dort später, hier mit größerer Konsequenz durchgeführt, dort nur schüchtern eingeleitet, die lutherischen Gemeinden presbyteriale Vertretungen erhalten, sind Vertretungen größerer kirchlicher Verbände (Kreise, Provinzen) geschaffen (Synoden) und endlich sind Landessynoden eingeführt worden, welche als kirchliche Parlamente, den Landesherrn konstitutionell beschränken.1) Auch hier eröffnet sich die Perspektive in die Zukunft: Gewährung größerer Rechte an die Vertretungen, Ausbildung des Synodalwesens sind Programmpunkte künftiger Entwicklung.
2. Nicht unerwähnt wollen wir lassen jene Periode heftiger literarischer Auseinandersetzungen, die mit den Jahren 1848/49 anhebt und namentlich auch durch das vernichtende Urteil König Friedrich Wilhelms IV.2) über das landesherrliche Kirchenregiment beeinflußt wurde. Welches waren die „richtigen Hände”, in welche das Regiment zu legen war, welches war die richtige, die den Ideen der Reformatoren entsprechende Verfassung? Sollte die evangelische Kirche in eine presbyterial-synodal organisierte Freikirche auslaufen, oder sollte die Lehre Stahls vom seelsorgerischen bischöflichen Kirchenregimente als schriftgemäße Lehre auf den Schild gehoben werden? Während in der ersten Hälfte der sechziger Jahre theologischerseits die Kirchenregimentsfrage wesentlich aus den Gesichtspunkten der Freikirche behandelt wurde, traten auch die Verteidiger des landesherrlichen Kirchenregiments auf den Plan, wie Scheubl, Dove und besonders Mejer. Die theoretischen Fragen sind seit 1866 wesentlich gegen die praktische Fortbildung zurückgetreten; die lutherische Kirche hat ihre vereinskirchliche Organisation erhalten, aber überall ist das landesherrliche Kirchenregiment noch in der Hand des Landesherrn, die Synoden haben daran nur einen gewissen Anteil erhalten, der allerdings da und dort, z.B. in Preußen, zu einer nicht unwichtigen Einschränkung auch solcher Rechte des Landesherrn geführt hat, die man sonst überall sogar zu den Reservatrechten des Landesherrn rechnet.3) Nirgends aber ist das landesherrliche Regiment ganz beseitigt. Dasselbe hat aber auch heute noch in kirchlichen Kreisen viele Gegner; zwar tritt diese Gegnerschaft zumeist in der Formel des Wunsches nach größerer Selbständigkeit der Kirche gegenüber dem Staate hervor, aber darüber darf man sich keiner Täuschung hingeben, daß diese Bestrebungen, wie sie sich in Preußen lange Jahre an die Namen Kleist-Retzow und v. Hammerstein angeknüpft haben, im letzten Endziele auf Beseitigung des
1) Eine Übersicht über den geltenden Verfassungsstand der
evangelischen Landeskirchen ist hier natürlich nicht
beabsichtigt. Man vergleiche darüber Friedberg, Das geltende
Verfassungsrecht der ev. Landeskirchen. Leipzig 1888; Derselbe,
Die Verfassungsgesetze der ev. Landeskirchen.
2) Vgl. Richter, König Friedrich Wilhelm IV. und die Verf. der
ev. Kirche. (Berlin 1861.) Ranke, Werke 50, 370. Leipzig
1887.
3) Ich denke z.B. an die Wahl der Superintendenten durch die
Synoden.
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landesherrlichen Kirchenregiments hinauslaufen. Und da seien folgende kurze Bemerkungen gestattet. Die Bedenken, welche Wasserschleben1) gegen den Summepiskopat vorbringt, werden jedenfalls zurzeit durch staatliche wie kirchliche Vorteile der Institution aufgewogen, die Nachteile sind durch die neueren gemischten Verfassungsformen bedeutsam gemildert. Unzulässig erscheint es, wenn, wie es Steinmeyer2) tut, ohne Anknüpfung an die Geschichte, lediglich mit exegetischen Mitteln gekämpft wird. Wenn Sohm3) das landesherrliche Kirchenregiment als im Widerspruche zu Luthers Gedanken stehend, ein Produkt des Kleinglaubens der Epigonen genannt hat, so ist vielmehr das Gegenteil richtig, wonach gerade die intimste Verbindung der weltlichen Obrigkeit mit der Kirche den Gedanken Luthers entspricht. Die Anschauung, daß das landesherrliche Kirchenregiment die Herrschaft eines nichtkirchlichen Faktors in der Kirche bedeute, ist nicht lutherischen, sondern, wie die Ausführungen Riekers4) treffend nachweisen, reformierten Ursprungs und in die lutherische Kirche erst durch den Pietismus und den Kollegialismus hineingetragen worden. Daß der Staat die bestehende Verbindung nicht aufgeben will, hat naheliegende Gründe. Er will einmal die gemeinschädliche Verwirrung verhindern, welche durch eine plötzliche Änderung der seit Jahrhunderten bestehenden Regierungsform der Kirche notgedrungen eintreten wird, und zum anderen will er auf den gewaltigen Einfluß, den ihm das Kirchenregiment auf religiöse und sittliche Volkszustände verleiht, nicht verzichten. Mit diesem zweiten Moment erkennt der Staat aber auch zugleich die Natur der Kirche und ihre Bedeutung an und übernimmt zugleich die Verpflichtung, das Regiment dieser Natur gemäß zu führen und ihr feindliche Einflüsse fernzuhalten. Da einerseits der Staat der Kirche aus angedeuteten Gründen bedarf, und andererseits auch die Kirche den Staat nicht entbehren kann, so sollten Staats- wie Kirchenfreundliche die Lösung dieses Verhältnisses, die seit zwei Jahrhunderten immer näher rückt und vielleicht nicht aufzuhalten ist, jedenfalls nicht zu beschleunigen versuchen. Der Hinweis auf den rein weltlichen Charakter des modernen Staates, der wohl hier und da laut wird, ist verfehlt; der moderne Staat, wenigstens der deutsche, ist zwar kein konfessionelles, aber doch ein christliches Gemeinwesen, das nicht lediglich materieller Zwecke wegen geschaffen ist. Der deutsche Staat wird das Experiment der heutigen französischen Republik kaum nachahmen. Zwar für den Calvinisten ist das nicht genügend; die Staatsgewalt soll sein Ideal vom Gottesstaate verwirklichen und, da der moderne Staat hierzu außerstande ist, bricht sich der Gedanke der Trennung von Staat und Kirche hier mit Macht Bahn.6) Anders die lutherische Kirche. Sie besitzt kein Verfassungsdogma; sie kann sich in jeder Verfassung ausleben. Erst dann, wenn für sie die Gewißheit vorhanden wäre, daß in dem geltenden äußeren Rahmen Wort und Sakrament in ihrer Freiheit gehindert sind, wäre für sie die Pflicht gekommen, die Verfassungsfrage als Lebensfrage aufzurollen. Solange die Obrigkeit die Interessen des Evangeliums fördert und die evangelische Kirche schützt, ist dazu keine zwingende Veranlassung gegeben. Zwar braucht die Verfassung der lutherischen Kirche nicht zu stagnieren; es liegt ja gerade eine Hauptstärke ihres Rechtes darin, daß es sich den Zeitverhältnissen anschmiegen und anpassen kann; aber diese Umgestaltung soll sie in ruhiger, stetiger, gesetzmäßiger Entwicklung vor sich gehen lassen; zu plötzlichen, und in ihrer Tragweite unübersehbaren, gewagten Experimenten hat die Kirche weder die Zeit noch vielleicht auch die Kraft. Und sie soll stets bedenken: Nicht die juristische Form, sondern das Evangelium gründet die Kirche.
1) Das landesherrliche Kirchenregiment. Berlin 1873.
2) Der Begriff des Kirchenregiments in Beitr. zur prakt. Theol,
V. Berlin 1879.
3) Kirchenrecht. Leipzig 1892.
4) Vgl. Rieker, Grundsätze reform. Kirchenverf. S. 187.
5) Vgl. Rieker, ebd. S. 201 ff.
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3. Wie die zwingende Not die protestantischen Landesherren und damit die einzelnen Landeskirchen zusammengeführt hat, lehrt die Geschichte. Der Westfälische Friede brachte den ersten offiziellen Zusammenschluß, er schuf den evangelischen Ständen im Corpus Evangelicorum ein Organ zur Vertretung ihrer gemeinsamen Interessen. Schon früher längst wirkungslos geworden, wurde dieses Band mit Aufhebung des Deutschen Reiches auch formell gelöst. Erst im Jahre 1846 traten sich die Regierungen wieder näher.1) Auf Anregung des Königs von Württemberg fand in Berlin eine Konferenz von Vertretern der Landeskirchen statt zur Beratung über einen Zusammenschluß der Landeskirchen. Es blieb zunächst bei einem Meinungsaustausche. Die politischen Ereignisse des Jahres 1848 lähmten die Tatkraft der Regierungen. Aber aus jener mächtig bewegten Zeit hob sich neben der Sehnsucht nach einer politischen Einigung der Nation auch eine solche nach kirchlicher Einigung hervor. Gruppen evangelischer Männer, die sich in verschiedensten Teilen des Vaterlandes schon zusammengefunden hatten, traten miteinander in Fühlung und beriefen auf den 20. September 1848 den ersten ev. Kirchentag in Wittenberg: v. Bethmann-Hollweg Stahl, Wackernagel, Schmieder, Dorner, Nitzsche, Müller und Krummacher waren die führenden Geister. Als ein freies kirchliches Parlament faßte dieser Kirchentag Beschlüsse, die als ein Zukunftsprogramm für ferne Zeiten bezeichnet werden können und daher hier ihre Stelle finden sollen:
1. Die ev. Kirchengemeinschaften Deutschlands treten zu einem Kirchenbunde zusammen. 2. Der ev. Kirchenbund ist nicht eine die konfessionellen Kirchen aufhebende Union, sondern eine kirchliche Konföderation. 3. Der ev. Kirchenbund um-faßt alle Kirchengemeinschaften, welche auf dem Grunde der reformatorischen Bekenntnisse stehen, namentlich die lutherische, die reformierte, die unierte und die Brüdergemeinde. Über die Fähigkeit, dem Bunde beizutreten, entscheidet jedoch bei entstehendem Zweifel nicht die eigene Versicherung der betreffenden Gemeinschaft sondern der Bund. 4. Jede ev. Kirchengemeinschaft, welche zum Bunde gehört bleibt in bezug auf Anordnung ihres Verhältnisses zum Staate, ihres Regiments und ihrer inneren Angelegenheiten in Lehre, Kultus und Verfassung selbständig 5. Die Aufgabe des ev. Kirchenbundes: Pflege und Förderung aller gemeinsamen Interessen der zu ihm gehörigen Kirchengemeinschaften, insbesondere a) Darstellung der wesentlichen Einheit der ev. Kirche, Pflege der Gemeinschaft und des brüderlichen Sinnes; b) gemeinsames Zeugnis gegen das Unevangelische; c) gegenseitiger Rat und Beistand; d) Vermittelungsamt bei Streitigkeiten zwischen Kirchengemeinschaften die zum Bunde gehören; e) Förderung christlich-sozialer Zwecke, Vereine und Anstalten insbesondere der inneren Mission; f) Wahrung und Verteidigung der Rechte und Freiheiten, welche den ev. Kirchengemeinschaften nach göttlichem und menschlichem Rechte zustehen; g) Knüpfung und Festhaltung des Bandes mit allen ev. Kirchen außerhalb Deutschlands. 6. Der Kirchenbund tritt ins Leben durch eine erste, mit Abgeordneten aller zu demselben gehörigen Kirchengemeinschaften beschickte ev. Kirchenversammlung Deutschlands. Diese wird sich als rechtmäßige Kirchenversammlung der ev. Kirche konstituieren durch die von einem jeden Miede derselben abzugebende Erklärung, daß er mit seinem Glauben auf dem Grunde der reformatorischen Bekenntnisse (seiner Kirche) stehe und nur auf diesem Grunde verhandeln wolle.
Der Evangelische Kirchentag, welcher sechzehnmal getagt hat, ist eingeschlafen, nachdem er zuletzt noch einmal im Jahre 1872 im inneren Zusammenhange mit der
1) Vorher war der Wunsch nach einer Einigung schon hier und da in der Literatur hervorgetreten. Vgl. z.B. Planck, Über die gegenwärtige Lage und Verhältnisse der kath. und der protest. Partei in Deutschland. Hannover 1816. S. 167ff.
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politischen Einigung des deutschen Volkes zu einem kurzen Dasein neuerwacht war. Für die Hebung des ev. Bewußtseins, für die Klärung vieler die ev. Kirchen gemeinsam bewegenden Fragen, insbesondere auch Verfassungsfragen, hat er nicht vergeblich gewirkt. Zwar den Kirchenbund, die Gemeinschaft der ev. Landeskirchen im Deutschen Leiche im Sinne einer Versammlung von Abgeordneten sowohl der Kirchenregierungen, als auch der Synoden hat er nicht zuwege gebracht. Als ein Ersatz dafür fungiert seit 1852 die Evangelische kirchliche Konferenz zu Eisenach. Die Kirchenregierungen hatten sich, den Anregungen der Kirchentage von 1850 und 1851 folgend, über eine regelmäßige Zusammenkunft von Vertretern geeinigt, „um auf Grundlage des Bekenntnisses wichtige Fragen des kirchlichen Lebens in freiem Austausch zu besprechen und unbeschadet der Selbständigkeit jeder einzelnen Landeskirche ein Band ihres Zusammengehörens darzustellen und die einheitliche Entwicklung ihrer Zustände zu fördern”. Seit 1852 tagt diese Konferenz in Eisenach. An ihren Beratungen haben sich sämtliche deutschen Kirchenregierungen, wenn auch einige mit Unterbrechung beteiligt; auch der Evangelische Oberkirchenrat in Wien nimmt an ihr teil. Ihre Protokolle veröffentlicht das „Allgemeine Kirchenblatt für das ev. Deutschland”. Ihre Beschlüsse sind zwar als solche einer freien Konferenz für keine der Kirchenregierungen formell bindend, immerhin wohnt ihnen ein nicht geringes moralisches Gewicht inne und zum mindesten ist der Meinungsaustausch wohl geeignet, die gemeinsamen kirchlichen Interessen zu fördern. Die Eisenacher Konferenz bildet das einzige formolle Band der ev. Landeskirchen; aber, ganz abgesehen von der inneren Gemeinsamkeit, dokumentieren auch noch äußere Einrichtungen, wie die Liebeswerke der äußeren und inneren Mission, die Gustav Adolfstiftung, die deutsche Lutherstiftung, die ev. Kirchenstiftung „Deutsche Pfarrerhilfe” die Zusammengehörigkeit. Das Bedürfnis nach einem engeren Zusammenschlüsse machte sich um so mehr fühlbar, je mehr die Notwendigkeit der Wahrung gemeinsamer Interessen im Leiche und in den Bundesstaaten gegenüber anderen Religionsgesellschaften, besonders aber auch die Notwendigkeit der Begehung der im Auslande und den Kolonien entstehenden kirchlichen Aufgaben deutlich erkennbar wurde; man wünschte nicht bloß einen Gedankenaustausch, sondern ein gemeinsames Handeln der Kirchenregierungen zu ermöglichen. An Anregungen von den verschiedensten Seiten hat es nicht gefehlt. Genannt seien besonders die Verhandlungen der dritten preußischen Generalsynode von 1891, die Beschlüsse verschiedener preußischer Provinzialsynoden von 1899. Ganz besonders ist es aber dem Regenten von Sachsen-Coburg-Gotha, dem Erbprinzen von Hohenlohe-Langenburg zu verdanken, daß diese schwierige und wichtige Frage in Fluß kam. Allerdings ist das Ergebnis zunächst noch kein besonders bedeutendes: Aus den Beschlüssen der Eisenacher Konferenz über den Zusammenschluß der deutsch-ev. Landeskirchen ist der „Deutsche ev. Kirchenausschuß” hervorgegangen. Er ist das geschäftsführende Organ, welches die Aufgabe hat, die Konferenz in der ihr obliegenden Förderung einer einheitlichen Entwicklung der Zustände der einzelnen Landeskirchen zu unterstützen und ferner die gemeinsamen ev.-kirchlichen Interessen gegenüber anderen deutschen und außerdeutschen Kirchengemeinschaften und den nichtchristlichen Religionsgesellschaften, sowie in bezug auf die kirchliche Versorgung der Evangelischen in den deutschen Schutzgebieten und bezüglich der Förderung kirchlicher Einrichtungen für die ev. Deutschen im Auslande, sowie der Seelsorge unter den deutschen Auswanderern und Seeleuten zu vertreten. Trotz der so geringen Zuständigkeit des Ausschusses und trotz der ausdrücklichen Bestimmung, daß sich seine Tätigkeit auf den Bekenntnisstand und die Verfassung der einzelnen Landeskirchen nicht erstrecken und daß die kirchenregimentlichen Rechte der Landesherren unberührt bleiben sollen, ist die Einrichtung nicht überall in ev. Kreisen ohne Mißtrauen aufgenommen worden, vielfach allerdings aus
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Gründen, die in konfessionellen Befürchtungen wurzeln. Ist also die Frage des Zusammenschlusses der ev. Landeskirchen zu einer Konföderation — denn ein Weiteres erscheint ausgeschlossen1) — zurzeit von einer Lösung noch weit entfernt, so ist sie-jedenfalls in Fluß gekommen. Zunächst gilt es zur Wahrung der über die einzelnen Landeskirchen hinausreichenden gemeinsamen kirchlichen Interessen, insbesondere zur Vertretung nach außen hin unter Aufrechterhaltung der vollsten inneren Selbständigkeit, insbesondere der Verfassung, des Konfessionsstandes und der Kultusformen jeder einzelnen Landeskirche, ein gemeinsames Organ zu schaffen und mit der nötigen Machtfülle zu eigener Initiative und selbständigem Handeln auszurüsten. In welcher Weise dieses Organ zusammenzusetzen ist, ob es im Sinne der Kirchentagsbeschlüsse, der preußischen Generalsynoden von 1891 und 19032), der Versammlung der Synodalen zu Worms vom Oktober 1904, auch aus Vertretern der Synoden zu ergänzen ist, ob also im gewissen Sinne ein im Geiste der heutigen ev. Kirchenverfassungen erweitertes und umgestaltetes Corpus Evangelicorum wieder erstehen soll, das sind Fragen, deren Schicksale ebenso im Schöße der Zukunft liegen, wie diejenigen zahlreicher anderer Verfassungsprobleme der protestantischen Kirche.
1) Vgl. Braun, Zur Frage der engeren Vereinigung der
deutschen ev. Landeskirchen. Berlin 1902. S. 31 ff.
2) Vgl. Kahl in Deutsche ev. Blätter. 29. (Halle 1904.) S.
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