§ 3. Der Abschluß der Verfassung.

Literatur: S. unter § 2.

1. Mit der Einführung eigener kirchlicher Organe, die an die Stelle der katholischen Bischöfe treten sollten, war die Loslösung von der alten Kirche auch formell vollzogen. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Aber gleichzeitig war auch die territoriale Abgrenzung der Kirche vollendet. Die Zeitgenossen haben das auch schon empfunden. Die Leipziger Theologen reden von „der Kirche dieser Lande”1), Georg von Anhalt setzt in einem Gutachten vom 27. November 1544 auseinander, daß es zwar unmöglich sei, für die ganze Christenheit gleiche Gebräuche einzuführen, daß aber diese „fürstenthümer als eine Kirche zu achten, auch die stifft in desselben (sc. des Landesherrn) Schutz begriffen seien, und daß deswegen auch in dieser Kirche eine Einheit der Zeremonien wünschenswert und möglich sei”.2) Die Kirche deckt sich also mit den Landesgrenzen, sie wird von dem Willen des Landesherrn getragen, dieser Wille ermöglicht auch die Gleichförmigkeit der Rechtsentwicklung. Durch diese letztere schließen sich aber die einzelnen Landeskirchen mehr und mehr gegeneinander ab; dogmatische Differenzen, geschärft durch die Lehrstreitigkeiten, tun das übrige. So entwickelt sich der Begriff der „Landeskirche”.

Zunächst empfand man in dieser Entwicklung noch keine allzugroße Entfernung von den Idealen Luthers. Denn in jeder dieser Landeskirchen spiegelt sich der mittelalterliche Einheitsgedanke, das unum corpus christianum, insofern wider, als in einem Lande immer nur ein Glaube, der reine Glaube, gelten darf, und es Pflicht der Obrigkeit ist, sowohl selbst in diesem Glauben zu stehen, als auch die Untertanen zum Bekenntnisse der religiösen Wahrheit zu zwingen.3)

In diesen Landeskirchen herrscht nur ein Wille: derjenige des Landesherrn.

Zwar ist dieser Wille nicht unbegrenzt. Er findet seine Beschränkung in den! Worte Gottes und den Bekenntnissen der Kirche. Da die Auslegung dieser letzteren Sache der Theologen ist, so ergibt sich für sie natürlich ein bedeutsamer Einfluß. Die Landesherren fragen sie um Rat; kein wichtiger Schritt wird, namentlich in der ersten Zeit, unternommen ohne Ratschlag der Theologen. Bei Ausarbeitung der Instruktionen, der Kirchenordnungen bilden sie die natürlichen Berater. Je bedeutender die theologischen Persönlichkeiten waren, um so größer war ihr Einfluß. Luther, der niemals eine offizielle Stellung bekleidet bat, war doch die eigentliche Triebfeder zahlreicher landesherrlicher Maßnahmen, und willig stimmten die Fürsten seinen Vorschlägen bei. Aber diese Schranke war keine rechtlich fixierte, sie entsprang den tatsächlichen Verhältnissen. Und je mehr später die Bedeutung der geistlichen Persönlichkeiten zurücktrat, um so mehr schwand ihr Einfluß auf die Entschließungen des Landesherrn, ohne natürlich jemals ganz aufzuhören. Häufig genug fragten die Landesherren auch später ihre theologischen Fakultäten oder einzelne Geistliche um Rat, oder zogen auswärtige Theologen heran, was dann wohl im eigenen Lande viel böses Blut setzte. Hierbei darf auch nicht übersehen werden, daß in der Zeit der Lehrstreitigkeiten durch die gegenseitigen Verhetzungen das Ansehen der Geistlichkeit stark gelitten hatte, und daß die Obrigkeit bisweilen geradezu gezwungen wurde, mit weltlichen Machtmitteln die streitbaren Theologen in ihre Schranken zu weisen. Wurde doch z.B. das Konsistorium zu Weimar 1561 in erster Linie zur Beseitigung der Lehrstreitigkeiten und zur


1) Sehling, Kirchengesetzgebung S. 10.
2) Sehling, ebd. S. 82.
3) Rieker, a.a.O. S. 139ff.

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Bekämpfung der Übergriffe der Geistlichen in der Handhabung der Zuchtgewalt errichtet.1) Nicht alle Fürsten waren von der gleichen christlichen Demut beseelt, wie Graf Georg Ernst von Henneberg, der sich als praecipuum membrum für seine Person dem Kirchenrat unterordnen wollte (welche Gesinnung in der zweiten Redaktion der Konsistorialordnung allerdings schon stark abgemildert zum Ausdruck gelangt)2), und nicht jeder Fürst wäre, wie er, mit einem Superintendenten verfahren, der im Jahre. 1580 dem Landesfürsten jede Zuständigkeit zum Erlasse oder zur Änderung von Kirchenordnungen oder Agenden bestritt. Kurfürst August von Sachsen z.B. würde dem Superintendenten Streck wohl in anderer Weise gezeigt haben, daß in dem Lande nur eine Autorität gelte und sich nicht, wie der Landesherr von Henneberg, zur Unterwerfung unter einen Schiedsspruch bereit erklärt haben.3) Solche Fürstlichkeiten wie Georg Ernst waren im Ausgange des 16. Jhs. sehr seltene Ausnahmen. Ja, Servilismus hat auch hier dazu beigetragen, die ohnehin schon große Abhängigkeit der geistlichen Behörden vom Landesherrn noch zu steigern. Die Brieger Superintendenten haben schon 1554 die Rechte des Fürsten zum bischöflichen Amt aus der Bibel nachgewiesen, sie suchten dem Fürsten aus Jesaias 49 zu beweisen, daß er allein der wahre Superintendent sei.4)

Eine weitere Schranke erwuchs den Landesherren in den Landständen.

Da die Rechtsgewalt in der Kirche dem Landesherrn als Träger der obrigkeitlichen Gewalt gebührte, so nahmen die Landstände an der ersteren den gleichen Anteil in Anspruch, welchen sie an der letzteren besaßen. Allerdings in den einzelnen Ländern und je nach den politischen Konstellationen sehr verschieden. Die Landstände sind es, die durch ihren Einfluß den bestehenden Bekenntnisstand zu erhalten suchen5), die geradezu durch Verträge den Landesherrn auf den Konfessionsstand festzulegen suchen.6) Sie betreiben die Visitationen7), sie verlangen die Konsistorien8), sie kontrollieren und bemängeln auf den Landtagen die kirchlichen Maßregeln der Landesherren und der Konsistorien9), sie werden auch wohl bei der Beratung der kirchlichen Ordnungen herangezogen10) oder sogar an dem inneren Verfassungsleben beteiligt11), schon durch die finanziellen Bewilligungen war ihnen ein gewisser Einfluß garantiert — aber von Ausnahmen abgesehen, weiß der Landesherr schon gegen Ende des 16. Jhs. sich von dieser Schranke mehr und mehr freizumachen.12)


1) Sehling, Kirchenordnungen 1, 65.
2) Sehling, ebd. 2, 276.
3) Sehling, ebd. 2, 280.
4) Sehling, ebd. 3, 422 unter Liegnitz.
5) Man vergleiche statt aller für Anhalt die Darstellung bei Sehling, Kirchenordnungen 2, 530ff. Kür Württemberg: Eisenlohr, Samml. württemb. Kirchengesetze. (Tübingen 1835) 2, 139ff.
6) Buder, Amoenitates iur. publ. 1743. Observat. III: De statuum provincialium consilio et concursu in causis religionem remque sacram concernentibus 12ff.
7) Vgl. Sehling, Kirchenordnungen 1, 60. 67; 2, 619; Bd. 3 (unter Brandenburg).
8) Vgl. Sehling, ebd. 1, 67; 2, 619.
9) Sehling, Kirchengesetzgebung. S. 88.
10) Sehling, Kirchenordnungen 1, 50. 289. 290. 291; 2, 619; Kirchengesetzgebung. S. 95. 108.
11) Preußische Bischofswahl von 1568 (Sehling, Kirchenordnungen 3, 107): „Mit der Wahl aber obbemeldter Bischoff soll es dergestalt gehalten werden, daß dieselbe mit gutem rath des jederzeit im leben wesenden bischoffs, aller fürstlichen hof- und landrethe, und daneben acht personen von der herrschaft und adel, und dann acht aus den stedten, (welche 16 personen eine landschaft von land und stedten selbst dazu zu deputiren) und dann andern gelehrten gottfürchtigen kirchen-diener erwehlet sollen werden.” — Vgl. ferner Friedberg, Die geltenden Verfassungsgesetze der evangelischen deutschen Landeskirchen. Freiburg 1885. 1, 194 (für das Herzogtum Lauenburg). 1, 356 (für Sachsen).
12) In dem Entwürfe einer geistlichen Polizeiordnung für Brandenburg von 1561 (Mühler, Gesch. der ev. Kirchenverf. in der Mark Brandenburg. Weimar 1846. S. 67) heißt es: „Uns auch als dem landesfürsten aus fürstlicher Obrigkeit, hoheit, und wegen unsers tragenden amtes gebühret und zustehet, rebus sic stantibus nicht allein in weltlichen, sondern auch in geistlichen Sachen recht und gerechtigkeit männiglichen in unserm curfürstenthum und landen mitzutheilen, auch geistliche ordnungen, dadurch zucht und ehrbarkeit erhalten, aufzurichten, und derwegen nicht verbunden sein, unserer landschaft bewilligung zu requiriren, und zu erfordern, vornehmlich da ➝

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Der Landesherr regiert absolut. Er erläßt die Kirchenordnungen in Gestalt von landesherrlichen Verordnungen.1) Die Kirchenordnungen, welche sich auf alle Zweige des Kirchenwesens erstrecken: Verfassung, Kultus und Lehre. Er ernennt die kirchlichen Beamten bis herab zu den Pfarrern. Er setzt die Behörden ein und hält den Betrieb derselben aufrecht. Die Visitationen finden in seinem Namen statt; ihre Ergebnisse werden ihm einberichtet und er erteilt die dadurch nötig gewordenen Befehle, die dann wieder durch eigene Exekutionskommissionen oder die nächste Visitationskommission oder die unteren Organe ausgeführt werden. Alle Beschwerden werden an ihn gebracht und von ihm entschieden. Wo er in den Konsistorien eigene Organe besitzt, werden teils in höherer Instanz, teils über den Kopf des Konsistoriums hinweg, direkt beim Landesherrn Entscheidungen, auch in Ehesachen erholt. Das gesamte Finanzwesen der Kirche wird von dieser Stelle aus geleitet, alle Gesuche um Gehaltsaufbesserungen werden durch die Visitationskommissionen, seltener im geordneten Instanzenzuge durch die Superintendenten dem Landesherrn zur Entscheidung vorgelegt; der Landesherr muß die erforderlichen Mittel flüssig machen. Die Disziplinargewalt über die Geistlichen liegt in seinen Händen. Kurz und gut, das gesamte Rechtsleben der Kirche ist in seiner Hand konzentriert.

Auch die „Kirchengewalt” im Sinne Luthers, welche dieser ausschließlich dem geistlichen Stande zuerkannt sehen wollte, blieb bei dieser Entwicklung nicht unangetastet. Zunächst hatte ja Luther selbst der Obrigkeit das Recht zugesprochen, die erforderlichen Ordnungen für die richtige Handhabung dieser Gewalt zu treffen. In der Vorrede zum Sächsischen Visitationsbuche von 15282) wird gelehrt: „Obwohl seine Kurfürstliche gnaden zu leren und geistlich zu regieren nicht befolhen ist, so sind sie doch schuldig, als weltliche Oberkeit darob zu halten, das nicht Zwietracht, rotten und aufrur sich unter den unterthanen erheben, wie auch der kaiser Constantinus die bischofe gen Nicea foderte, da er nicht leiden wolt noch solt, die zwitracht, so Arrius hatte unter den Christen im kaiserthum angericht, und hielt sie zu einträchtiger lere und glauben.” Als Herzog Moritz durch die Mandate vom 21. Mai 1543 unter anderen kirchlichen Angelegenheiten auch die Handhabung des Bannes regelte und Luther diese einseitige Regelung des Landesherrn auf das entschiedenste tadelte3), befand sich Luther formell betrachtet nicht in Übereinstimmung mit seinen sonstigen Anschauungen und es gewinnt daher den Anschein, als wenn wohl mehr die materielle Regelung des Zuchtrechtes sein Mißfallen erregt habe. In späterer Zeit versteht es sich für die Kirche ganz von selbst, daß, wie alle Zweige des kirchlichen Rechtes, so auch dieser der landesherrlichen Gesetzgebung unterstehe. Allerdings die Anwendung dieser Ordnungen, die Handhabung der Zucht gebührt dem Predigtamte und die Obrigkeit soll


➝ dasselbe allwegs bei den bischöfen und ihren offizialen allein gestanden, in geistlichen bändeln und Sachen männiglich ungehindert, auch wider alle unserer unterthanen willen und nach recht gebühr zu procediren und dann dieselbige geistliche Expedition, wie gehört, jetzt an uns kommen.” Und bei der Beratung der Visitations- und Konsistorialordnung von 1573 wurden die Landstände nicht mehr befragt, worüber sie sich hinterher beschwerten. (Sehling, Kirchenordnungen 3, 20.)
1) Selbst den Titel „Kirchenordnung” monopolisiert der Landesherr vgl. Sehling, Kirchenordnungen 3, 381.
2) Sehling, Kirchenordnungen 1, 151.
3) Vgl. Brief an Pfarrer Greser in Dresden vom 22. Oktober 1543 (de Wette 5, 596): Nihil boni sperare possum de forma excommunicationis in aula vestra praesumpta. Si enim futurum est, ut aulae velint gubernare ecclesias pro sua cupiditate, nullam dabit Deus benedictionem et fiant novissima peiora prioribus, quia, quod fit absque fide, non est bonum, quod autem absque vocatione fit, haud absque fide fit, et dissolvitur. Aut igitur ipsi fiant pastores, praedicent, baptizent, visitent aegrotos, communicent, et omnia ecclesiastica faciant, aut desinant vocationes confundere, suas aulas curent, ecclesias relinquant his, qui ad eas vocati sunt, qui rationem deo reddent . . . . . . satan pergit esse satan. Sub papa miscuit ecclesiam politiae, sub nostro tempore vult miscere politiam ecclesiae. — Vgl. hierzu Georg Müller in Beiträge zur sächs. Kirchengesch. 9, 101 ff. Sohm, Kirchenrecht 1, 603. Rieker, a.a.O. S. 169ff, Sehling, Kirchenordnungen 1, 93.

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dieses, wenn es sich in seiner ihm eigentümlichen Sphäre bewegt, nicht hindern. Das war auch einer der Hauptsätze Luthers. Aber die Geistlichkeit trug selbst die Schuld daran, wenn sie durch ihre Maßlosigkeit der Obrigkeit Anlaß gab, auch in der Ausübung dieses wichtigen Ausflusses der Wortgewalt der Geistlichkeit diejenige Freiheit zu nehmen, welche Luther ihr zugedacht hatte.

Bin Beispiel möge dies illustrieren. Bekanntlich war das Ernestinische Sachsen, zumal seit der Berufung des Flacius 1557 an die Universität Jena, besonders heftig von den Lehrstreitigkeiten heimgesucht. Der Herzog, besorgt um die Beinhaltung der Lehre, publizierte auf Veranlassung von Flacius ein Bekenntnis gegen alle neueren Lehrverderbnisse, in welchem neun Ketzereien verurteilt wurden: Servet, die Wiedertäufer, Schwenkfeld, die Antinomer, Zwingli, Osiander, Stankerus, Major, die Adiaphoristen. Dieses sog. Konfutationsbuch, welches wie ein Symbol der Landeskirche vorgeschrieben wurde, verringerte aber die Streitigkeiten durchaus nicht, und durch die maßlose Handhabung der kirchlichen Zuchtgewalt wurde die Situation nur verschärft; so wurde einst der „christliche Jurist” Wesenbeck in Jena vom Taufsteine zurückgewiesen, weil er sich über das Konfutationsbuch nicht erklären wollte. Welch ärgerliche Formen mußte nicht diese Zuchtgewalt angenommen haben, wenn Johann Friedrich der Mittlere am 22. August 1560 dem neuen Superintendenten bei seiner Einweisung einschärfen ließ, daß er ohne ausdrücklichen fürstlichen Befehl keine Exkommunikation verhängen solle, und wenn er schließlich in der Konsistorialordnung von 1561 die Banngewalt den Geistlichen vollständig nahm und ausschließlich dem in erster Linie zu diesem Zwecke errichteten Konsistorium übertrug. Es ist begreiflich, daß diese Maßnahmen den Zorn der Geistlichen in hohem Maße entfesselten; die Flacianer lehrten und predigten von den Kanzeln, die weltlichen Herren wollten dem Herrn Christus nach dem Zügel greifen, und brachten es schließlich so weit, daß der Landesherr, um Frieden und Buhe zu schaffen, sämtliche Flacianer, im ganzen 40 Geistliche, des Landes verwies.1)

Mußte nicht auch das offensichtliche Bestreben der Geistlichkeit, trotz der klaren Worte in den Schmalkaldischen Artikeln2), den großen Bann mit seinen weltlichen Folgen einzuführen, die Obrigkeit zum Einschreiten veranlassen?3) Wenn die Kirche von der Obrigkeit verlangte, daß sie den geistlichen Strafurteilen den nötigen weit liehen Nachdruck gebe, so mußte dies die Obrigkeit, die doch zu einer kritiklosen Exekution, wie in der katholischen Zeit, nicht mehr bereit war, zur Nachprüfung des ganzen Vorverfahrens veranlassen. Auch die Frage des Zusammentreffens von weltlichen Rechtstraf en und kirchlichen Zuchtstrafen wegen desselben Vergehens gab der Obrigkeit zum Eingreifen Anlaß.4)


1) Vgl. Sehling, Kirchenordnungen 1, 93ff. — Ich verweise noch, auf die sehr lehrreiche Entwicklung in Anhalt, wie ich sie Kirchenordnungen 2, 516ff. 526ff. dargestellt habe.
2) Art. smalcald. p. 3. art. 9. (Müller, Symb. Bücher 323): „den großen bann, wie es der Papst nennt, halten wir für ein lauter weltliche strafe und gehet uns Kirchendiener nichts an. Aber der kleine, das ist der rechte christliche bann, ist, daß man offenbarliche, halsstarrige sünder nicht soll lassen zum Sakrament oder ander gemeinschaft der kirche kommen, bis sie sich bessern und die sünde meiden. Und die prediger sollen in diese geistliche strafe oder bann nicht mengen die weltliche strafe.”
3) Vgl. Reformatio ecclesiae Hassiae 1526 (Richter, Kirchenordnungen 1, 63). Sehling, Kirchenordnungen (zahlreiche Zitate s. im Register unter den Schlagworten: Bann, Exkommunikation, Zucht). — Schrieb doch der Superintendent Ulrich an Joachim Ernst von Anhalt 1574: „den großen bann, anathema, haben wir nicht mehr in unserer kirche, nicht das er unrecht were, wie oben gesagt, sondern das die weit dieses materni flagelli nicht mehr wirdig ist, als die zur ewigen excom-munication mit häufen eilet.” (Sehling, Kirchenordnungen 2, 527.) — Für Lübeck vgl. Sehling, Kirchenordnungen 5, 332.
4) Man vergleiche statt anderer Beispiele die verschiedenen Lösungsversuche dieser schwierigen Präge unter Georg von Anhalt (Sehling, Kirchengesetzgebung S. 8, 85). Vgl. aber auch Form und Weise einer Visitation für die graf- und herrschaft Mansfelt 1554 (Sehling, Kirchenordnungen 2, 192).

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Und auch was die anderen Zweige des Dienstes am Worte betrifft, so ließ sich eine Einmischung der Obrigkeit nicht umgehen. Zwar hatte Luther 1524 an Kurfürst Friedrich und Herzog Johann von Sachsen geschrieben (de Wette 2, 547): „Jetzt sei das die Summa, gnädigsten herren, daß E.F.G. soll nicht wehren dem amt des worts. Man lasse sie nur getrost und frisch predigen, was sie künnten und wider wen sie wollen, denn, wie ich gesagt habe, es müssen sekten sein.” Aber auch hier haben wir es mit dem bekannten hohen Idealismus Luthers zu tun. Es kamen gar bald die Zeiten, wo man nicht jeden Prediger predigen lassen konnte, wie und was er wollte, sondern wo der Wunsch nach Gleichförmigkeit in Zeremonien so mächtig wurde, daß man auch für Anordnung, Einteilung, Methode, Zahl, Zeit, Dauer und Text der Predigten bestimmte Normen für angemessen hielt, wo auch die Sorge um die reine Lehre bei dem üblichen Behandeln dogmatischer Fragen auf der Kanzel gebieterisch ein Eingreifen erheischte, wo Visitationen sich eingehend mit dieser Tätigkeit der Geistlichen beschäftigten, wo die Predigtkonzepte vorgelegt werden mußten1), wo die Bemühungen um Gleichheit der Zeremonien in der Spendung der Sakramente2) zu den vordringlichsten Aufgaben des um reine Lehre und reinen Kultus besorgten Landesherrn zählten, wo der rauhe Arm der Staatsgewalt aus bewegenden Ursachen auch hier die Freiheit, welche Luther als Ideal vorgeschwebt hatte, hemmen mußte, wenn nicht in den Zeiten der Kleingläubigkeit bedrohliche Störungen, ja sektiererische Zerrüttungen eintreten sollten.

Die ganze Entwicklung charakterisiert treffend der Satz der Sächsischen General-Artikel von 15573): „Da auch einer oder mehr anders lehren, oder aber die hochwürdigen sacramente anders reichen oder gebrauchen würden, der oder dieselben sollen in seiner curfürstlichen gnaden landen lenger nicht geduldet, sondern nach gelegenheit des irtum, verfürung und verwirkung in gebürliche straf genommen werden.”

2. Zur Ausübung dieses Regiments bedienten sich die Landesherren, soweit wie sie nicht etwa persönlich entschieden, verschiedener Organe. Daß sie jeden Augenblick auch die geringste Angelegenheit vor ihr persönliches Forum ziehen konnten, war unbestritten. Eine feste Einteilung in iura reservata und vicaria, wie sie das moderne Recht kennt, bestand nicht. Ferner gab es auch die moderne Beschränkung des landesherrlichen Kirchenregiments, nach welcher die Kirchenverfassung gesetzlich festgelegt ist und der Landesherr für bestimmte Angelegenheiten sich bestimmter Behörden bedienen muß, nicht. Der Landesherr konnte auch jede andere Behörde beauftragen. So entschied in Anhalt Ehesachen bisweilen der Fürst persönlich, „wie weiter in ehesachen zu prozediren sei, aus tragendem amt”, bisweilen reskribierten an seiner Stelle auch die „Räthe und Befehlshaber” zu Zerbst, sie erteilten Bat, entschieden auch zuweilen,oder holten ihrerseits Bat ein, teils entschied das Konsistorium.4)

Selbstverständlich sah es in jedem Lande anders aus; und auch in jedem Lande waren die Zustände zu den einzelnen Zeiten wiederum verschieden. So fand z.B. in Anhalt unter Georg von Anhalt ein starkes, persönliches Regiment statt. Dann aber wurde die Ausübung des Regiments mehr den Hofräten und den Superintendenten überlassen. Das Konsistorium, welches neben dem Superintendenten von Zerbst, der


1) Man betrachte besonders Henneberg. Hier fanden zwei Visitationen in den Jahren 1562 und 1566 zu dem Zwecke statt, festzustellen „wie, wo und was die pfarrer auf die Sonntage und in der ganzen wochen predigten”. (Sehling, Kirchenordnungen 2, 270, 271.)
2) Man denke an Fragen wie: Elevation und Chorrock. Wie weit entfernten sieh doch die Späteren von dem erhabenen Standpunkte Luthers! (Vgl. Briefe Luthers an Georg vom 26. Juni 1542 (de Wette 5, 478ff.) und vom 10. Juli 1545 (de Wette 6, 378) „Wer den Chorrock anzieht, der leugnet Christi Lehre”, riefen die Flacianer. „Wie denn der großen Eiferer einer gegen den Fürsten Georgen von Anhalt sich hat hören lassen, er wollte lieber einen Totschlag begehen, denn einen Chorrock anziehen.” Vgl. dazu Sehling, Kirchengesetzgebung S. 63, 67, 77.
3) Sehling, Kirchenordnungen 1, 317,
4) Sehling, ebd. 2, 519 (Anhalt).

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als Generalsuperintendent provisorisch den Bischof vertreten sollte, gebildet war, diente wesentlich als Ehegericht. Superintendenten, wie Fabricius und Amling, waren die maßgebenden kirchlichen Autoritäten und haben der Kirche Anhalts ihre Signatur aufgedrückt. Mit dieser unklaren Verfassung hat sich das Fürstentum Anhalt das ganze 16. Jh. hindurch beholfen, und dank des vortrefflichen Zusammenwirkens der Landesobrigkeit und friedfertiger, hervorragender Superintendenten wohlbefunden. Ja, man gab in Anhalt durch die Landesordnung von 1572 die schwachen Ansätze zu . einer Zentralbehörde, welche das bisherige Konsistorium geboten hatte, sogar wieder preis; das einheitliche Ehegericht wurde aufgegeben; die einzelnen Superintendenten sollten mit Zugeordneten die Streitigkeiten durch Vergleich erledigen, wenn dies aber nicht möglich, die Entscheidung einem auswärtigen Konsistorium oder einem Schöppenstuhle (also einem rein weltlichen Gerichtshofe!) durch Aktenversendung übertragen. Übrigens wurden die Ehesachen nicht immer „verschickt”, sondern auch bisweilen vom Fürsten oder seinen Hofräten erledigt.1) So hat Anhalt das ganze 16. Jh. hindurch kein eigentliches Konsistorium und keine Konsistorialordnung besessen.

Auch anderwärts haben die Konsistorien erst spät Eingang gefunden. So in Pommern; hier wurden zwar im Jahre 1563 landesherrliche Konsistorien errichtet, aber neben dem Generalsuperintendenten haben sie, ebenso wie der Landesherr, nur eine untergeordnete Tätigkeit entfaltet, was sich erst 1593 änderte2); oder in Hessen, wo erst 1610 ein Konsistorium zu Marburg errichtet wurde; bis dahin hatte die Ehegerichtsbarkeit das Hofgericht versehen, die Verwaltung wurde in oberster Instanz von der landesherrlichen Kanzlei geführt, während die eigentliche kirchliche Verwaltung in den Händen der Superintendenten lag. Waldeck hat erst zwischen 1676 und 1680 ein Konsistorium erhalten in Corbach; bis dahin hat sich die Kirche mit den Superintendenten begnügt, die unter der staatlichen Kanzlei standen, welche auch als Ehegericht fungierte. Besonders lehrreich ist auch die Geschichte des Henneberger Konsistoriums, welches der Fürst im Gegensatze zu seinem Generalsuperintendenten, der bis dahin mit einigen gelegentlich beigeordneten Geistlichen und Räten die Konsistorialgeschäfte erledigte hatte, einrichtete. Lehrreiche Gutachten, insbesondere auch von Melanchthon, Bugenhagen und Major mußten den Fürsten über seine Besorgnisse beruhigen, ob durch das Konsistorium nicht etwas entstehe, „das nach papistischem Sauerteige schmecke” und ob nicht dadurch der Arm der Obrigkeit verkürzt werde. Im Fürstentum Liegnitz und Brieg standen zunächst je ein Superintendent, seit Friedrich III. aber für jedes Land je zwei Superintendenten an der Spitze der Kirche.3)

In dem einen Lande früher, in dem anderen später, schließlich hat das Konsistorium doch überall seinen Einzug gehalten und ist die charakteristische Behörde für das landesherrliche Kirchenregiment geworden.

Im einzelnen ist die Bildung selbstverständlich eine sehr verschiedenartige gewesen. Teils waren die Konsistorien sog. formierte Konsistorien, d.h. besondere kirchliche Behörden, die aus Geistlichen und Nichtgeistlichen bestanden, teils nicht-formierte, d.h. Staatsbehörden, die für die kirchlichen Aufgaben durch geistliche Beisitzer verstärkt wurden; teils waren sie ständige, teils nichtständige Behörden. Die Zusammensetzung war sehr verschieden. Bisweilen behielten sich die Landesherren den Vorsitz vor, so z.B. in der Schönburgischen Konsistorialordnung von 1606 oder in der Konsistorialordnung für Weimar 1561.4)

Ebenso verschieden waren überall ihre Kompetenzen geregelt; insbesondere auch ihr Verhältnis zu den weltlichen Behörden. Das war eine besonders schwierige Frage.


1) Sehling, ebd. 2, 528ff.
2) Friedberg, Verfassungsgesetze 1, 7.
3) Sehling, Kirchenordnungen 3, 422ff.
4) Vgl. Sehling, ebd. 1, 230; die Schönburgische Ordnung werde ich demnächst an anderer Stelle publizieren.

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Denn, wenn auch die Konsistorien ebenfalls landesherrliche Behörden, vom Willen des Landesherrn inspirierte Organe waren, so waren die weltlichen Instanzen doch höchst eifersüchtig auf diese neuen Organe, und ebenso wie die Geistlichen über Eingriffe in die kirchliche Sphäre, so klagten umgekehrt, wie es in der Mansfeider Visitationsordnung von 15541) heißt, die „höfischen” über die Geistlichen; gegenüber dem Vorwurfe „wir greifen wiederum nach dem weltlichen schwert und unterfangen uns viel regierens und herrschens” versichern die Mansfelder Theologen: „denn uns wenig daran gelegen, wer schand und laster straft, wenn sie allein gestrafet”, aber sofort heißt es weiter: „Und werden aber gleichwol dem consistorio hiermit seine strafen nicht benommen und bleiben auch der kirchen strafen. Damit also samptlich und eintrechtiglich allen schänden und lästern gesteuert werde, indem die weltliche obrigkeit das ihre tuet, desgleichen auch die geistliche." Gerade die Gerichtsbarkeit der Konsistorien war ein solches streitiges Gebiet. Aber nicht das einzige.

Die Henneberger Konsistorialordnung erstrebt eine genaue Grenzregulierung. Nach kanonischemVorbilde unterscheidet sie rein weltliche, rein geistliche und gemischte Angelegenheiten; bei letzteren soll im Zweifel das Konsistorium die Vorhand haben.2) Damit waren natürlich Ressortstreitigkeiten Tür und Tor geöffnet. Denn darüber, was zu der einen oder anderen der Kategorien zu zählen sei, waren verschiedene Ansichten möglich. Vorbildlich für Henneberg, wie für so manche andere Konsistorialordnung war hierbei die Württemberger große Kirchenordnung von 1559.

So haben denn auch im Laufe der Entwicklung die Kompetenzen der Konsistorien außerordentlich geschwankt. Unter der Herrschaft des Episkopalsystems ausgedehnt, insbesondere auch auf dem Gebiete der Zivil- und Strafgerichtsbarkeit, wurden dieselben unter der Herrschaft des Territorialsystems im 18. Jh. wieder zurückgedrängt. Religiös gestimmte Landesherren mochten, unter dem Einflüsse der Geistlichkeit stehend, mancherlei politische Angelegenheit, als das „heil der seelen mit berührend”, ihrer geistlichen Behörde übertragen. Besser war es schon, wenn man, wie in der Konsistorialordnung zu Wittenberg 1542, oder in der Konsistorialordnung zu Jena 1574, oder in der großen Kirchenordnung des Kurfürsten August von 1580 die Zuständigkeitsfälle im einzelnen aufzählte.3) Es waren dies im allgemeinen: Ehegerichtsbarkeit, kirchliche Strafgerichtsbarkeit, das gesamte Personalwesen sowie die Aufsicht über die kirchlichen Einrichtungen.

Ein großer Übelstand bestand darin, daß den Landeskirchen ein kirchliches Zentralorgan fehlte. Das Land zerfiel zumeist in mehrere Konsistorialbezirke. Die einzelnen Konsistorien standen unabhängig nebeneinander; richteten sich nicht nacheinander, sondern waren in ihrer Rechtsprechung von einer bisweilen recht ärgerlichen Zwiespältigkeit.

Als Beispiel möge hier Kursachsen dienen. Die Konsistorien zu Wittenberg, Meißen und Merseburg (seit 1550 nach Leipzig verlegt) zeichneten sich durch eine sehr verschiedene Praxis aus.4) Auch die „Vergleichung” der drei Konsistorien, welche unter dem Vorsitze Melanchthons 1556 in Dresden versucht wurde und zur Dresdner Eheordnung führte, beseitigte die Mängel nicht, und noch unter Kurfürst August 1580 klagte man über fehlende Gleichförmigkeit.5) Es fehlte an einem Obergerichte, an einer Zentralinstanz. Der Landesherr konnte diese nicht ersetzen, ebensowenig wie er zu Beginn der Reformationszeit überhaupt ohne eigene kirchliche Behörden ausgekommen war. Auch dort, wo nicht mehrere Konsistorien bestanden, fehlte es an einem kirchlichen Zentralorgan zur einheitlichen Leitung aller kirchlichen Angelegenheiten.


1) Sehling, ebd. 2, 192.
2) Sehling, ebd. 2, 293.
3) Sehling, ebd. 1, 204. 250. 405.
4) Sehling, ebd. 1, 97ff.
5) Sehling, ebd. 1, 112.

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Württemberg war es, das zuerst den weiteren Ausbau der Verfassung unternahm.1) In Württemberg hatten bis zum Jahre 1547 die Reformatoren Blarer und Schnepf mit den ihnen als Visitationsräten zur Seite gesetzten herzoglichen Beamten die Verwaltung geführt; bei der Aufsicht über die Geistlichen waren auch Staatsbeamte mit beteiligt, die Lehre war auf Theologenversammlungen festgesetzt worden, Ehestreitigkeiten hatte ein aus Blarer und Kanzleiräten zusammengesetztes Kollegium in Stuttgart entschieden; bei der Beaufsichtigung des Kirchenvermögens waren herzogliche Rentkammerräte mit tätig. Im Jahre 1547 wurde eine landesherrliche Behörde in Stuttgart gebildet, die sechs- bis zwölfmal jährlich zusammentreten, aus einem Theologen, einem Juristen, zwei Adeligen, zwei Bürgern und herzoglichen Visitationsräten bestehen sollte; diese Behörde sollte die allgemeine Aufsicht führen, alle kirchlichen Angelegenheiten erledigen, in wichtigen Fragen aber die Entscheidung des Landesherrn herbeiführen. Gleichzeitig wurde das Land in 23 Dekanate oder Kapitel eingeteilt, deren Vorstände, „Dekane”, von dem Kapitel gewählt werden sollten, und die zweimal jährlich unter den Superintendenten zur Beratung und gegenseitigen censura zusammentreten sollten. Herzog Christoph gestaltete diese Verfassung bedeutsam um. Zunächst den Visitationsrat. An seine Spitze trat der Landhofmeister; außerdem bestand derselbe aus einem weltlichen Direktor, dem Propst und mehreren politischen und geistlichen Visitationsräten. Die weltlichen Bäte allein beaufsichtigten die kirchliche Vermögensverwaltung; zur Beaufsichtigung über Lehre und Leben der Geistlichen und das Armenwesen traten die vier Generalsuperintendenten hinzu. Wie die Generalsuperintendenten dem Visitationsrate, so waren ersteren die Spezialsuperintendenten zur Beaufsichtigung kleinerer Bezirke untergeordnet. Die bei den Visitationen ermittelten Gebrechen wurden in einem halbjährlichen Konvent der vier Generalsuperintendenten, des Landhofmeisters, der Kirchenräte und Theologen an die höchste Justizbehörde des Landes und durch diese an den Landesherrn gebracht. Außerdem waren „politische Visitationen” und eine Landesvisitation vorgesehen.2) An die Stelle des Visitationsrates trat durch die Kirchenordnung von 1559 ein Kirchenrat oder Konsistorium. Diese Behörde, über welche der Landhofmeister und der Propst zu Stuttgart die „oberste Superintendenz und Inspektion” hatten, bestand aus einem weltlichen Direktor, drei Theologen und vier weltlichen Räten und einem „Advokaten in kirchensachen”. Der Direktor, drei Theologen und zwei politische Bäte behandelten die res ecclesiasticae und scholasticae, insbesondere das gesamte Personalwesen der Kirche (Anstellung und Disziplin der Geistlichen und Schullehrer), die res politicae, worunter man namentlich die finanzielle Seite des Kirchenwesens (Kirchengut, Bauwesen usw.) verstand, entschieden die politischen Räte; waren die Gegenstände mixtae, so sollte die erstere Gruppierung einen Ratschlag erteilen. Zur Verwaltung des in Württemberg zentralisierten Kirchengutes wurden noch zwei besondere Verwalter ernannt. Ehegerichtsbarkeit besaß jene Behörde nicht.

In dieser württembergischen Organisation3) ist neben der Zentralisierung der gesamten kirchlichen Verwaltung die Verquickung mit den staatlichen Behörden, die Unterordnung unter den Landhofmeister und der große und komplizierte Visitationsapparat bemerkenswert.

Das württembergische Muster fand vielfach Nachahmung, wobei auch der persönliche Einfluß des Württemberger Theologen Jacob Andreae, der in der Konkordienbewegung sich einen besonderen Namen verschafft hatte, nicht unterschätzt werden darf. So in Henneberg4), so namentlich auch in Kursachsen. Die große


1) Frauer, a.a.O. S. 225 ff.
2) Vgl. Kirchenordnung von 1559 bei Richter, Kirchenordnungen 2, 211 ff.
3) Vgl. Friedberg, Verfassungsgesetze 1, 401.
4) Sehling, Kirchenordnungen 2, 273ff.

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Kirchenordnung von 15801) ist nach dem Vorbilde der Württemberger unter Mitwirkung Andreaes entstanden. Bei der großen Bedeutung dieser Ordnung möge die von ihr vorgesehene Verfassung kurz geschildert werden. Eine kirchliche Zentralbehörde wird dadurch geschaffen, daß das nach Dresden verlegte Konsistorium von Meißen zum Oberkonsistorium erhoben wird, dem die beiden anderen „mit bescheidener maß unterworfen sein sollen". Das Oberkonsistorium sollte namentlich die Einheit in Lehre und Becht garantieren, die die bisherigen Konsistorialpraxis und die weltlichen Regierungsbehörden nicht hatten gewähren können. Im übrigen konnte gegen jede Entscheidung des Oberkonsistorium, wie der beiden anderen Konsistorien, an den Landesherrn direkt appelliert werden. Die Haupttätigkeit des Konsistoriums als Oberkonsistorium entfaltete sich in dem großen Aufsichtsapparate, den der Kurfürst angeordnet hatte, bei dem „synodus”. Hierüber wird unten noch besonders zu reden sein. Die Zentralisierung wurde übrigens in Sachsen bald wieder aufgegeben; schon 1588 wurde das Oberkonsistorium nach Meißen zurückverlegt; 1602 wurde aber vom Kurfürsten wieder ein eigener „geistlicher Rat” in Dresden errichtet und 1606 das Meißener Konsistorium nach Dresden verlegt und zugleich zum „Kirchenrat” erhoben, der im „unmittelbaren Namen” des Kurfürsten die obersten Geschäfte erledigte. Als der Landesherr im Jahre 1697 zur katholischen Kirche übergetreten war und auf die persönliche Ausübung des Regiments Verzicht geleistet hatte, wurde, nach einer kurzen Episode der Übertragung des persönlichen Regiments an den Herzog Friedrich III. von Sachsen-Gotha und 1700 an den Herzog Johann Georg von Sachsen-Weißenfels, diese Zuständigkeit dem Geheimratskolleg übertragen, dem damit die bisherige oberste Kirchenbehörde, der „Kirchenrat”, untergeordnet wurde. Unter diesem Oberkonsistorium standen mehrere Unterkonsistorien.

Brandenburg-Preußen erhielt eine Zentralorganisation erst durch die Instruktion vom 4. Oktober 1750, welche dem Berliner Konsistorium auch die „Aufsicht und Direktion” über die Provinzialkonsistorien als „Oberkonsistorium” überwies.

3. Unter den Konsistorien fungierten als landesherrliche Aufsichtsbeamte die Superintendenten.

Die Superintendenten hatten, wie oben geschildert, die erste Stufe der neuen Verfassung gebildet. Sehr schön hatte schon 1526 Pfarrer Mecum zu Gotha, der Mitvisitator des Tenneberger Kreises, in einem Gutachten an den Kurfürsten das Amt des

Superintendenten charakterisiert2): „. . . . . in iglicher Pflege am fürnehmsten Ort einen Pfarrer einzusetzen, als Aufseher, doch soll er kein Herr über sie sein, nit über sie herrschen, sondern sollen alle gleich sein sich einer des andern diener und mitknecht erkennen und wie solches was Unrechts von dem andern bemerkt, soll er ihn freundlich vornehmen, wo es aber von nöten und mit worten sich nit ändern oder vernehmen lasse, solches der obrigkeit anzeigen, die soll verfügen strafe, denn sie ist eine straferin des bösen . . . . . Examen und verhörung ist zu halten — . . . .” Und ganz in diesem Sinne verfügt der Visitationsbefehl von 15273): „Und damit die prediger, pfarner und die ander personen scheu haben sich ungegründter lehr ader anderer ungleichheit, denn wie vor angezeigt ist, zu entkegen, zu unterstehen ader furzunehmen, so achten wir noth sein, das in etzlichen und den furnehmbsten stetten die pfarner zu superintendenten und aufseher vorordent und denselbigen bevolen werden, in die umliegenden kreise der stett, darinnen sie seint, aufsehen und aufmerk zu haben, wie diesem allen von den andern pfarnern nachgegangen und gelebt, auch wie von denselbigen pfarnern, predigern und andern des kreises in predigen, ceremonien, sacramentreichungen und ires wandeis halber gehandelt würdet . . . .”


1) Sehling, ebd. 1, 130ff.
2) Sehling, ebd. 1, 34.
3) Sehling, ebd. 1, 146.

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Die Superintendenten sind also Aufseher. Diese Aufsieht wird mehr und mehr in feste Formen gegossen. Aber man zieht die Superintendenten anfänglich auch zu anderen Kirchenregimentsgeschäften heran, man überträgt ihnen die Eherecht-sprechung. Ja, vielfach sind sie in oberster kirchlicher Instanz, am Hofe, mittätig, wie in Henneberg, in Anhalt, in Brandenburg, in Liegnitz usw. Nach Errichtung der Konsistorien ändert sich ihre rechtliche Stellung: sie müssen sich wieder mit einer untergeordneten Stellung, als Unterorgane, als Kommissare der Konsistorien, mit der Aufsicht begnügen, und nicht immer vollzieht sich diese Unterordnung ohne Widerstand. Doch finden sich auch wiederum Superintendenten bei den höchsten kirchlichen Organen mittätig. Wie in Kursachsen die Generalsuperintendenten beim Synodus (Kirchenordnung von 1580), in Württemberg die Generalsuperintendenten beim Visitationsrat (Visitationsordnung von 1553) und beim „Konvente” (Kirchenordnung von 1559). Diesen auf höherer Stufe fungierenden Generalsuperintendenten werden dann die Spezialsuperintendenten und diesen wieder bisweilen untere Aufsichtsorgane, Adjunkten, unterstellt.1)

4. Wir kommen damit auf den Aufsichtsorganismus selbst zu reden und, da das Kirchenwesen des 16. Jhs. nicht zum mindesten durch diesen seine charakteristische Gestalt erlangte, so kann hier etwas länger dabei verweilt werden.

Daß die neue Lehre durch die Visitationen eingeführt wurde, ist oben gezeigt. Kein Wunder, daß diese kanonische Einrichtung in der neuen Kirche in hohen Ehren gehalten wurde. Aber auch die Erhaltung des Gewonnenen, die Fortbildung des Geschaffenen war nur im Wege ständiger Aufsicht möglich. So bildete sich denn das Aufsichtswesen in außerordentlich reichen Formen aus.

Die beiden Grundformen sind: Visitationen und Synoden. Bei den ersteren begab sich der Visitator zum Visitandus, bei den letzteren reisten die Visitandi zum Visitator, oder die zu Visitierenden wurden in Versammlungen vereinigt und examiniert.

Es werden unterschieden: General-, Spezial-, Lokal- und Partikularvisitationen bzw. -Synoden. Generalvisitationen sind diejenigen, welche von der Zentralstelle ausgehen und sich über das ganze Land oder einen Teil desselben erstrecken und zumeist organisatorische Fragen betreffen. Spezial Visitationen erstrecken sich auf einzelne Bezirke, Pfarreien, und werden zumeist von den Superintendenten vorgenommen. Daher stammt die Unterscheidung von General- und Spezialsuperintendenten. Spezialvisitationen werden aber auch solche genannt, die einen speziellen Punkt betreffen, z.B. einen Lehrpunkt, und dann möglicherweise von der Zentralstelle aus geleitet werden. Als Lokalvisitationen werden die Visitationen bezeichnet, welche der Superintendent innerhalb seines Amtsbezirks regelmäßig in jährlichem Turnus einmal oder mehrere Male an Ort und Stelle mit Pfarrer und Gemeinde anzustellen hatte. Unter Partikularvisitation oder Partikularinquisition verstehen die evangelischen Quellen diejenige, bei welcher der kirchliche Obere jeden einzelnen Pfarrer für sich nach Lehre und Leben examiniert. (Der Begriff wird also in einem etwas weiteren Sinne gebraucht, als derjenige der particularis inquisito des kanonischen Rechtes, welche das protestantische Recht übrigens auch übernommen hat.) In der Praxis wurde jedoch nicht immer so scharf geschieden.

Bei den „Synodi” werden ebenfalls Generalsynodi und Spezial-Partikularsynodi unterschieden. Erstere veranstaltet die Zentralstelle (der Bischof, das Konsistorium.) mit den Superintendenten oder sämtlichen Pfarrern, oder der Generalsuperintendent


1) Vgl. den Artikel „Superintendent” in der Realenzyklopädie f. protest. Theol. 3. Aufl. Nobbe, Das Superinteridentenamt, seine Stellung und Aufgaben nach den ev. Kirchenordnungen des 16. Jhs. in ZKG. 14, 404ff.; 15, 44ff.

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mit seinen Superintendenten, Spezialsynodi hält der Superintendent mit seinen Pfarrern ab, und da sie zumeist der Partikularinquisition dienen, werden sie auch Partikularsynodi genannt. Doch kann die inquisito particularis auch bei dem Generalsynodus vorkommen, wie sie z.B. Bischof Georg von Anhalt die Mühe nicht verdrießen ließ, beim Generalsynodus jeden einzelnen anwesenden Pfarrer für sich zu verhören.

Diese Synoden dienen ausschließlich Visitationszwecken, weshalb auch Visitation und Synodus identisch gebraucht wird.1)

Eine organische Kombination dieser beiden Grundelemente der Visitation lag ziemlich nahe und wurde auch bald versucht. Berühmt ist hier namentlich das Vorgehen Georgs von Anhalt geworden.2) Die Württemberger Ordnung ist oben skizziert. Als den Höhepunkt dieser Entwicklung müssen wir aber den Aufsichtsapparat nach der kursächsichen Kirchenordnung von 1580 bezeichnen. Er sei deshalb hier kurz geschildert3): Die Spezialsuperintendenten halten jährlich zweimal Lokalvisitationen ab, die Partikularsynodi der Superintendenten sind abgeschafft. Die Superintendenten müssen also stets sich persönlich in die zu visitierenden Pfarreien begeben. Sie werden dabei durch Adjunkten entlastet. Letztere werden von den Spezialsuperintendenten, diese von den Generalsuperintendenten, und diese wiederum von besonderen, vom Kurfürsten aus dem Synodus ernannten Kommissaren visitiert. Der Gang des Visitationsgeschäftes ist folgender: Jährlich finden zweimal Lokal Visitationen statt. Die Superintendenten senden die Visitationsprotokolle an die Generalsuperintendenten, welche nach einer in der Kirchenordnung enthaltenen genauen Anleitung Extrakte aus den Protokollen anfertigen. Diese Extrakte werden im Synodus verlesen. Jeder Generalsuperintendent trägt in seinen Extrakt die Beschlüsse des Synodus ein, „damit er seinem zpezialn und adjunkten nach geschehenem synodo anzuzeigen wisse, was für befel an die amtleut, schösser, gerichts- und lehnherren oder die anderen consistoria auf die eingebrachten mengel ergangen und demnach seine fleißige nachfrage in folgender Visitation haben könne, ob diese exequirt und da es nicht geschehen, solches in dem neheren synodo wieder zu berichten wisse”. Jeder Superintendent erhält die Beschlüsse des synodus, welche seinen Amtsbezirk betreffen, direkt zugestellt. Der Synodus (also der einzige, der noch im Lande stattfinden soll), wird am Oberkonsistorium zu Dresden gebildet. Er besteht aus den Mitgliedern des Oberkonsistorium, den Generalsuperintendenten, sowie etlichen speziell zugeordneten Hof- oder Landräten; die Zahl der weltlichen und geistlichen Räte soll die gleiche sein. Die Verhandlungen leitet der Statthalter oder Kanzler des Kurfürsten, bei Verhinderung der Präsident des Oberkonsistoriums. Es finden jährlich zwei synodi nach gehaltenen Lokalvisitationen statt. Der Synodus hat die Ergebnisse der Visitationen zu prüfen und über die Abstellung der Mängel zu beraten; nicht dagegen hat er die Exekution seiner Beschlüsse vorzunehmen, sondern diese gebührt teils den Konsistorien, teils der weltlichen Regierung. Er hat aber auch darüber zu wachen, daß die Konsistorien, wie die weltliche Obrigkeit ihre Pflichten in der Bestrafung von Lastern nicht versäumen. Die Disziplinargewalt über die Geistlichen handhabt der Synodus. Auch finanzielle Angelegenheiten erledigt der Synodus. Alle Besetzungen bedürfen der Bestätigung durch den Synodus, der also im wesentlichen eine oberste Aufsichtsinstanz darstellt. Der weitere Geschäftsgang sollte folgender sein: Die Beschlüsse des Synodus werden mit sämtlichen Akten der Regierung oder, wenn diese durch Geschäfte verhindert, den „geheimen besonders geordneten rethen” des Kurfürsten überreicht, und von diesen endlich mit ihren eigenen Erwägungen und Beschlüssen dem Kurfürsten „zu endlicher


1) Man vergleiche für das Vorstehende den Exkurs in meinen „Kirchenordnungen” 1, 69ff.
2) Vgl. Sehling, Kirchenordnungen 1, 72; 2, 4. 405; Derselbe, Ein Gutachten des Konsistoriums zu Leipzig vom Jahre 1556 in DZKR. 13 (1003) S. 217ff.
3) Vgl. Sehling, Kirchenordnungen 1, 114ff.

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resolution und exekution” überreicht. Von hier gehen dann die Befehle den ent-. sprechenden kirchlichen oder weltlichen Instanzenzug herab.

Warum dieser komplizierte Apparat nicht funktionieren konnte und schon nach nur einjährigem Bestehen deutliche Spuren des Verfalles zeigte, habe ich in meinen Kirchenordnungen 1, 166 ff. auseinandergesetzt. Überhaupt — und nicht bloß in Kursachsen seit 1580 — war es das Übertreiben dieser an sich so gesunden Grundgedanken, welches eine Reaktion und einen Umschlag in das andere Extrem zur Folge haben mußte, von anderen Momenten, wie z.B. dem Kostenpunkte, ganz zu schweigen.1) Immerhin haben sich die Lokalvisitationen der Superintendenten als ständige Einrichtungen erhalten und bilden auch heute noch eine der wichtigsten Aufgaben des Superintendenten.

5. Unter der unmittelbaren Aufsicht der Superintendenten leitete jeder Pfarrer als Bischof seinen Bezirk. In der Verfassung der untersten Instanz hatte sich in der lutherischen Kirche gegenüber der katholischen Zeit am wenigsten geändert. Zwar wären die Grundlagen zu solcher Änderung wohl vorhanden gewesen. Die Idee des Meßopfers und des heilvermittelnden Priestertums, die eine selbständige Beteiligung der Laienschaft ausschlössen2), waren gefallen; die lutherische, wie die reformierte Kirche betonen die christliche Selbstverantwortlichkeit und die Glaubenspflicht des Einzelnen für reine Lehre und richtige Verwaltung der Sakramente zu sorgen, und lehren für die Gemeinden den göttlichen Befehl, falsche Lehrer zu verwerfen und für die Anstellung richtiger zu sorgen, falls das Kirchenregiment seine Pflicht vernachlässigt. Daher sind, nach lutherischer Lehre, die Gemeindeglieder berechtigt, an Synoden und Kirchengerichten teilzunehmen, den Pfarrer wegen Lehre und Leben zu ermahnen oder sich über ihn zu beschweren, bei der Bestellung dos Pfarrers mitzuwirken, mindestens aber aus zwingenden Gründen einon Pfarrer abzulehnen, die Verwaltung des kirchlichen Stiftungsvermögens auf seine stiftungsgemäße Verwendung zu kontrollieren, endlich auch in der Kirchenzucht einen schriftgemäßen (vgl. 1. Kor. 5) Anteil auszuüben.3) Eine Organisation von Vorständen oder Ältesten für diese Gemeindezwecke ist zwar den Reformatoren und der lutherischen Kirche durchaus nicht unbekannt4), aber es ist nur hier und da zu einer solchen Organisation wirklich gekommen, besonders in denStädten, wie z.B. in Hall, Reutlingen, Ulm, Straßburg.5) Dagegen wurde häufig genug die bürgerliche Gemeindeorganisation für kirchliche Zwecke dienstbar gemacht; hier trat die Obrigkeit als Vertreterin der bürgerlichen Gemeinde auch an die Spitze der kirchlichen, mit jener sich völlig deckenden Gemeinde. Und das nicht bloß in Reichsstädten, sondern auch in landsässigen Städten, die sich vielfach einer großen kirchlichen Selbständigkeit erfreuten und Rechte ausübten, die eigentlich dem landesherrlichen Kirchenregimente gebührten.6) Auch wo reformierter Einfluß sich geltend machte, kam es wohl zu Weiterbildungen. Im übrigen aber waren die kirchlichen Rechte der Gemeindeglieder ziemlich geringfügiger Natur. Ein positiver Anteil an der Pfarrbesetzung war selten; häufiger dagegen wurde das votum negativum zugestanden.7) Größer war der Anteil an der Vermögensverwaltung, liier knüpfte man an vorreformatorische Einrichtungen an, wonach bisweilen das nicht zur Pfründe gezogene Kirchenvermögen durch weltliche Gemeindeglieder (Kirchväter, Altarleute


1) Vgl. auch Sehling, ebd. 1, 73ff.
2) Vgl. auch c. 2 X 2, 1; c. 2 § 1 in VIo 5, 2: c. 12 X 3, 13.
3) Die Belege s. bei Mejer, Kirchenrecht S. 156-159.
4) Vgl. für Luther, Sarcerius (✝ 1559), Johann Quistrop (1659) und Großgebauer (1661) bei Mejer, Kirchenrecht S. 159ff.
5) Vgl. Richter, Gesch. der ev. Kirchenverf, S. 48ff. 157ff.
6) Vgl. z.B. für die Stadt Halberstadt die drei Ordnungen in Sehling, Kirchenordnungen 2, 486ff.
7) Vgl. Sehling, ebd. 1, 381 Spalte 1 unten.

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usw.) verwaltet wurde, die zumeist von den Bischöfen ernannt, in den Städten aber auch wohl von der Gemeinde gewählt wurden. Diese Organisation ist von den evangelischen Gemeinden nicht nur beibehalten, sondern auch weiter entwickelt worden. Man vergleiche die zahlreichen Zitate in meiner Ausgabe der Ev. Kirchenordnungen unter Kirchenvater, Kirchenvorsteher, Gotteskasten, Kastenvorsteher, Kastenordnung. Ein besonders bekanntes Beispiel für die Tätigkeit dieser von der ganzen Gemeinde gewählten Kastenvorsteher bildet die unter Luthers direkter Mitwirkung zustande gekommene Kastenordnung von Leisnig 1523.1) Sie wurden auch namentlich für die mit der Vermögensverwaltung eng zusammenhängenden sozialen Aufgaben dienstbar gemacht, welche die Kirche als kirchliche Angelegenheiten behandelte, für das Armenwesen und das Krankenwesen. Es wurden wohl auch aus dem „Kasten” verarmte Handwerker zur Begründung einer neuen Existenz mit Darlehen unterstützt.2) Ich verweise z.B. auf die „General-Artikel und gemeiner bericht” in Kursachsen vom 8. Mai 1557, dann auf die sehr instruktiven Ordnungen von Halberstadt.3)4)

Kein Wunder, daß man dieses von der Gemeinde gewählte Organ auch für andere Zwecke dienstbar machen wollte. So z.B. als Rügegeschworene; vgl. z.B. für Grimma und Brandis in meinen Kirchenordnungen 1, 533.

Auch ein Anteil der Gemeinde an der Kirchenzucht findet sich gelegentlich. So z.B. in den Kirchenordnungen für Hall (1526 Brenz), Reutlingen (1526 Alber), Stralsund (1525); hier wirkte die ganze Gemeinde mit, jedoch ohne Organisation. In größerem Maßstabe wird dieser Gedanke zu verwerten versucht in der hessischen Ordnung der Kirchenzucht von 1539 (Butzer).5) Die Teilnahme von Ältesten entsprach durchaus dem Wunsche Luthers, den er zu wiederholten Malen zum Ausdruck gebracht hat, so in der Predigt vom Februar 15396), in dem von ihm unterschriebenen Gutachten von 15407), in einem Briefe an Anton Lauterbach von 15438), in welchem er das hessische Muster zur Nachahmung empfahl. Gerade dieser letzte Brief mag mit dafür bestimmend gewesen sein, daß, als es sich um die Organisation der Kirche im Albertinischen Sachsen handelte, die sächsische Geistlichkeit, vertreten durch ihre Superintendenten, ein Ältestenkolleg als notwendiges Organ für jede einzelne Gemeinde forderte und diesen Gedanken wiederholt auf das energischeste verfocht.9)

Da wir es hier im Herzen des Luthertums mit Ideengängen zu tun haben, die


1) Sehling, ebd. 1, 598.
2) Vgl. Sehling, ebd. 1, 536. 579. 582. 602. 608. 697; 2, 66. 491.
3) Sehling, ebd. 1, 330ff.; 2, 487ff.
4) Die Frage, wer Eigentümer des Gotteskastens sei, war allerdings ziemlich unklar, Die Reformation betrachtete gewiß die kirchliche Gemeinde als Eigentümerin und ging nicht von dem Anstaltsbegriff aus. Es ist daher nicht zu verwundern, daß, wenn politische und kirchliche Gemeinde sich deckten und es an einer selbständigen Organisation der kirchlichen Gemeinde gebrach, der Gotteskasten als Teil des „gemeinen guts” erschien, und daher wohl auch zu rein kommunalen Zwecken, wie z.B. zum Brückenbau, zur Unterhaltung der Badestuben u. dgl. (vgl. für Leisnig 1529. Sehling, Kirchenordnungen 1, 609) Verwendung fand. Es ist aber nicht zu übersehen, daß die Zeitgenossen dies häufig genug als eine Verwendung zu fremdartigen Zwecken empfanden; es lag also jedenfalls kein freies, sondern durch seine kirchlichen Zwecke festgelegtes Kommunalvermögen vor. Ja, es ist später eine Strömung deutlich erkennbar, welche dieser kommunalen Säkularisierung entgegenarbeiten und die Selbständigkeit des kirchlichen Eigentums aufrechterhalten will; und zwar mit Erfolg. Das Nähere gehört nicht in diesen Rahmen.
5) Vgl. Richter, Kirchenordnungen 1, 290ff.
6) Werke Frankfurter Ausgabe. Bd. 20, Abt. 1, S. 178.
7) Corp. Ref. III, 965: restituatur et excommunicatio non ut ante in litibus rerum profanarum sed de flagitiis manifestis, adhibitis in hoc iudicium senioribus in qualibet ecclesia.
8) de Wette 5, 551.
9) Sehling, Kirchengesetzgebung S. 3. 4. 52. 53. 56. 69. 65. Allerdings nur für die Städte (das platte Land kam bei den damaligen Zuständen überhaupt nicht in Frage), aber auch für alle Städte. Vgl. den interessanten Exkurs K. Millers in HZ. 1909 S. 23ff., der sieb mit meinen Ausführungen und denjenigen Brandenburgs, Die Entstehung des landesherrl. Kirchenregiments im albert. Sachsen (HZ 4, 195ff.) beschäftigt.

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man sonst gemeiniglich nur in der reformierten Kirche zu finden gewohnt ist, so seien denselben einige Worte gewidmet. Dem Pfarrer zur Seite sollen Älteste stehen, in jeder Stadt zwölf, „bescheidene gottesfürchtige Männer des Rats und vornehmste der gemeine”. Diese seniores sollen mit dem Pfarrer einen „Kirchenrat”, einen „senatus ecclesiasticus” bilden. Der Kirchenrat handhabt die Zucht in der Einzelgemeinde, allerdings nur so weit wie diese der Gemeinde zustehen soll, denn die eigentliche Strafgewalt soll das Konsistorium besitzen; der Kirchenrat soll nur mit dem „Worte Gottes strafen” und wenn seine Ermahnungen fruchtlos sind, dem Konsistorium Anzeige erstatten. Dieser Kirchenrat soll aber auch die Aufsicht über die Verwaltung des Kirchenvermögens führen; vor ihm sollen daher die Kastenherren die Kirchenrechnungen ablegen. Der Kirchenrat sollte aber noch eine weitere Funktion erhalten. Er sollte zusammen mit den Superintendenten eine gewisse Aufsicht über die Pfarrer führen; im Jahre 1545 schreiben die Superintendenten an den Pursten: „das E.F.G. zur förderung der excommunication, achthabung aller kirchengeschäfte und ihres einkommens uns einen kirchenrat wollt geben, wie zuvor bei zeiten der anfänglichen kirchen gewesen1) . . . es würde auch ein senatus ecclesiasticus gut dazu sein, daß ein jeder pfarrherr seine aufseher bei ihm hette, nichts aus eigenem gutdünken anzufahen, und da er wolt hinlessig und faul sein, würde er dessen seine straf und undersager haben.” Und wenn ferner nach dem Vorschlage der sächsischen Superintendenten die Berufung der Pfarrer in den Städten durch den Rat (die organisierte Gemeinde), oder „da kein ordentlicher rat bei den oberherren, edelleuten und patronen samt den vornehmsten der gemein” erfolgen soll, damit „also der beruf in und hei der kirchen sei”, so sehen wir, daß die Geistlichkeit Sachsens in den drei wichtigsten Punkten die Selbstverwaltung der Gemeinde oder vorsichtiger ausgedrückt, die Beteiligung des Laienelements fordert. Daß diese Hereinziehung des Laienelements in den Organismus der Kirche, die Überordnung des Laienelements zur Kontrolle — übrigens ein echt lutherischer Gedanke, s. oben — dem ganz in den Bahnen des kanonischen Rechtes wandelnden Georg von Anhalt höchlichst mißfiel, ist klar, seinem Widerstände ist es auch in erster Linie zuzuschreiben, daß aus dem Projekte nichts oder nur ganz wenig geworden ist; die Superintendenten ließen überdies ihren Plan, wenn auch nur „zur Zeit”, fallen.2) Auch z.B. in Württemberg finden sich presbyteriale Versuche, die aber von Brenz und den weltlichen Beamten mit Erfolg unterdrückt wurden.3)

Man sieht also, auch die lutherische Kirche hat in den untersten Verfassungsstufen wiederholt Ansätze zu einer Beteiligung des Laienelements und einer Ausbildung der Gemeindeverfassung gezeitigt, wobei von dem eigentümlichen, auf der Hornberger Synode angenommenen aber nie verwirklichten hessischen Verfassungsprojekt ganz abgesehen werden soll.4)

6. Was dagegen die höheren Verwaltungsstufen anlangt, so vermissen wir jeden Ansatz zur Heranziehung des Laienelements. Zwar spielen die „Synoden” im Verfassungsleben der lutherischen Kirche des 16. Jhs. keine geringe Rolle. Es kommen


1) Als „ein Ebenbild der alten Kirchen” sagen sie an anderer Stelle. Überhaupt leiten die sächsischen Theologen ihre Forderung aus den Urprinzipien des Christentums ab, genau so wie Luther. Man ersieht hieraus die Richtigkeit unserer Ausführungen über die Bedeutung des „allgemeinen Priestertums”, Vgl. auch Sehling, Kirchengesetzgebung S. 6.
2) Vgl. Sehling, Kirchengesetzgebung S. 65. — Auch Melanchthon sprach sich gegen den Kirchenrat aus, es sei nicht politisch, so viele Kollegien und Konzilien einzuführen; das Konsistorium sei ausreichend; und es sei besser, alles auf die Tätigkeit des Bischofs und der ordentlichen Leiter (ordinariorum gubernatorum) abzustellen. Corp. Ref, V 468.
3) Vgl. Eisenlohr, Samml. württemb. Kirchengesetze 2, 98.
4) Vgl. Richter, Kirchenordnungen 1, 56 ff. Hassenkamp, Hess. Kirchengesch. Marburg 1847. Bickell, in Z. d. Ver. f. hess. Landeskunde 1, 64ff. Credner, Philipp des Großmütigen hess. Kirchenreformationsordnung. Gießen 1852. Friedrich, Luther und die Kirchenverf. der Reform, eccl. Hassiae. Darmstadt 1894. Köhler in DZKR. 1906 S. 199ff.

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General-, Spezial- und Lokalsynodi vor. Dieselben verfolgen aber ganz andere Zwecke als die modernen Synoden; sie dienen der Aufsicht über die Geistlichen und sind nur von solchen besucht; darüber ist oben ausführlich gehandelt worden. Zwar werden diese Versammlungen wohl auch zu Beratungszwecken verwendet; aber sie haben dann stets nur gutachtlichen oder beratenden Charakter. Die sächsischen Superintendenten hatten neben anderem auch eine beratende Synode für den Bischof von Merseburg vorgeschlagen, welche aus den Superintendenten, der theologischen Fakultät zu Leipzig und den Mitgliedern des Konsistoriums bestehen sollte, ein Projekt, mit dem sich Georg von Anhalt einverstanden erklärte.1) Auch sonst kommen beratende ständige oder vereinzelte Versammlungen der Geistlichen unter Mitwirkung von weltlichen Organen des Kirchenregiments vor. Aber eine organische Hereinziehung des Laienelements fehlt. Die Ausbildung der Synodalverfassung blieb der reformierten Kirche vorbehalten.

In einer Verfassung, die sich aus dem Grundgedanken der Verpflichtung der Obrigkeit zur Erziehung der Untertanen in der reinen Lehre herausgebildet hatte, war kein rechter Baum für die Aufnahme gemeindlicher Elemente vorhanden. „War die Gemeinde vorher Gegenstand der seelsorgerisch heilvermittelnden priesterlichen Tätigkeit gewesen, so wurde sie jetzt Gegenstand der seelsorgerisch erziehenden pfarramtlichen Tätigkeit. Wesentlich nur Objekt blieb sie im einen wie im anderen Falle: für ihre aktive Beteiligung an jener Erziehung fehlte das konstitutionelle Motiv, und je mehr das Kirchenregiment im Laufe der Zeit seine reformatorische Bedingtheit beiseite setzte und überwiegend politisch verfuhr, um so mehr verkümmerten auch die einzelnen in der Reformationszeit für die Gemeinden in Anspruch genommenen Rechte.”2)

7. Die Verfassungsbildung war in der oben geschilderten Weise zum Abschlüsse gekommen. Zwar im einzelnen war noch vieles im Flusse begriffen, Die Rechtsverhältnisse des Pfarramtes haben sich z.B. erst allmählich ganz in die evangelischen Bahnen lenken lassen3), das Eherecht und das sonstige materielle Kirchenrecht haben sich beständig umgebildet, doch soll hierauf nicht eingegangen werden. Die Verfassung in ihren großen Zügen lag abgeschlossen da. Jetzt suchte die Theorie das geschichtlich Gewordene zu meistern und für die Tatsachen die abstrakten Grundlagen zu gewinnen. Wie war insbesondere das landesherrliche Kirchenregiment zu rechtfertigen und zu konstruieren?

Schon frühzeitig hatte man auf die historische Tatsache hingewiesen, daß der Passauer Vertrag von 1552 und der Augsburgische Religionsfrieden von 1555 die Jurisdiktion der katholischen Bischöfe über die protestantischen Territorien suspendiert hatten und auf diese Reichsgesetze, auch wenn sie keinen ausdrücklichen Satz über die Übertragung der suspendierten Gewalt an den Landesherrn enthielten, das Recht des Landesherrn gestützt, denn daß die Landesherren tatsächlich die Rechte der früheren iudices ordinarii ausübten, lag offensichtlich zutage und es war naheliegend, zwischen beiden Tatsachen die geistige Brücke zu schlagen. So die badische


1) Vgl. Sehling, Kirchengesetzgebung S. 21. 53. 57.
2) Vgl. den Artikel „Gemeinde” in Realenzyklopädie f. protest. Theol, 3. Aufl.
3) Wie lange hat es z.B. noch gedauert bis der protestantische Gedanke der Einheit des Pfarramtes durchgedrungen war. Hier, hat noch lange der katholische Grundsatz geherrscht, daß an einer Kirche immer nur einer der Pfarrer, alle anderen Geistlichen dagegen mehr oder minder von ihm abhängige Gehilfen seien. Noch im Jahre 1675 beließ man es in Halberstadt bei dieser alten Einrichtung, obwohl man sich dort alle Erfahrungen von anderen Ländern seit der Reformation zunutze machen konnte. Einer ist Pfarrer, er führt die Aufsieht über die anderen, er verteilt die Geschäfte; daher sind auch die Anstellungsverhältnisse der Geistlichen an den Kirchen ganz verschieden geregelt. Vgl. Sehling, Kirchenordnungen 2, 476; 6, 70 (für Dorpat). — Vgl. auch ebendaselbst im Register unter Pfarrer, Diakonen, Kaplan.

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Kirchenordnung von 1556, die pommersche Kirchenordnung von 1563, die hessische Reformation von 1572.1) Diesen Gedanken gaben die Brüder Stephani2) zuerst eine wissenschaftliche Form: durch den Religionsfrieden sei die potestas episcopalis in Erweiterung der vorreformatorischen Vogtei den Landesherren „bis zur freundlichen Vergleichung in der Religion” devolviert. Reinkingk3) und alle Späteren lehrten zwar auch, daß durch jenen Frieden die Episkopalgewalt der Bischöfe auf den Landesherrn übergegangen sei, aber, da dieser solche Gewalt kraft göttlichen Befehls als Landesherr überhaupt zu beanspruchen habe, so sei ihm damit nur „restituiert” worden, was ihm grundsätzlich kraft seiner Staatsgewalt, als custos utriusque tabulae gebührt habe. Als Hauptvertreter dieses „Episkopalsystem” genannten Systems haben wir außer den schon Genannten zu betrachten: Johann Gerhard4), die beiden Carpzovs5) und Samuel Stryck.6)

Die Vertreter dieses Systems verbinden mit den erörterten Vorstellungen in der Regel eine weitere Gedankenreihe, welche innerlich kaum einen Zusammenhang mit jenen aufweist: die Lehre von den drei Ständen, jene alte, schon bei den Hussiten verwertete, von Luther, der lutherischen Orthodoxie, insbesondere auch von Johann Gerhard weiter ausgebildete Lehre: Gott hat drei sittliche Ordnungen gestiftet: den Stand der Hausväter (status oeconomicus) mit der Pflicht der Familienseelsorge, den Lehrstand (status ecclesiasticus) mit der Pflicht der Gemeindeseelsorge, den status politicus (den Regierstand) mit der Pflicht und dem Rechte des Kirchenregiments als Wächter der beiden Tafeln, insbesondere des Gebotes, für richtige Lehre und Gottesverehrung im Lande zu sorgen. Diese alte Lehre wird von den Episkopalisten in der Weise umgeformt, daß die weltliche Rechtsordnung nur der Heilvermittelung wegen geschaffen und darum der die erstere repräsentierende Stand dem für die letztere verantwortlichen untergeordnet sei; man sucht diese Gedanken in die Formel zu kleiden, daß dem Landesherrn nur eine mehr repräsentative Stellung zukomme, eine potestas externa, dem Lehrstand die potestas interna, so daß jener lediglich die Entscheidungen dieses auszuführen habe. Dieses System, das System der selbstbewußten lutherischen Orthodoxie des 17. Jhs., hat zwar das landesherrliche Regiment von seiner ursprünglichen, ihm durch die Reformatoren gegebenen religiösen Basis auf eine andere fortzuschieben versucht, im übrigen aber auf die Tatsachen selbst und das geltende Recht geringen oder gar keinen Einfluß ausgeübt.

In weit höherem Maße ist dies der Fall gewesen bei dem sofort zu besprechenden Territorial- und Kollegialsystem.


1) Richter, Gesch. der ev. Kirchenverf. S. 103 ff.
2) Joachim Stephani, Institutiones iuris canonici. Grypkisw. 1604. S. 68ff. — Matth. Stephani, Tractatus de iurisdictione, qualem habeant omnes iudices tam seculares quam ecclesiastici in S. Rom. Imperio. Rostock.. 1609. Lib. 2, p. 1, c. 7.
3) Tractatus de regimine seculari et ecclesiastico. Gießen 1619. S. 324ff.
4) Loci theol. Jena 1610-1622.
5) Ben. Carpzov, Jurisprudentia consistorialis Lips. 1655. — Joh. Ben. Carpzov, De iure decidendi contraversias theol. Lips. 1696.
6) Samuel Stryck, De iure papali principum evangelicorum. Halae 1694; De principe quolibet papa in suo territoris. Viteb. 1690.