Richter, Gesch. der ev. Kirchenverf. in Deutschland. Leipzig 1851. Lechler, Gesch. der Presbyterial- und Synodalverf. seit der Reformation. München 1854. v. Polenz, Gesch. des franz. Calvinismus. 5 Bände. 1857 ff. (Gotha 1857-1869.) Kampschulte, Joh. Calvin, seine Kirche und sein Staat in Genf. 2 Bände. (Leipzig 1869. 1899.) Hundeshagen, Beitr. zur Kirchenverfassungsgesch. 1, 225 ff. Sohm, Kirchenrecht 1, 634ff. Rieker, Grundsätze der reform. Kirchenverf. Leipzig 1899. Egli, Analecta reformator. Zürich 1899. Choisy, L’état chrétien calviniste à Genève au temps de Téod. de Bèze. (Gen. 1902.) v. Hoffmann, Das Kirchenverfassungsrecht der niederl. Reformierten bis zum Beginn der Dordrechter Nationalsynode von 1618/19. Leipzig 1902.
Bei der Darstellung der reformierten Kirchenverfassung scheidet der Zwinglianismus aus. Einmal hat derselbe eine eigentümliche Verfassung nicht entwickelt. Bei ihm ist eine noch innigere Verschmelzung von Kirche und Staat eingetreten als im Luthertum. Das geistlich-weltliche Gemeinwesen des unum corpus christianum wird von der christlichen weltlichen Obrigkeit geleitet. Nicht einmal eigener Organe für die Kirche (Konsistorien, Superintendenten) hat sich diese bei der Regierung bedient.
Zum anderen hat die mit dem Namen Zwingli verknüpfte Bewegung für die allgemeine deutsche Entwicklung eine größere Bedeutung nicht gewonnen. Sie ist im wesentlichen auf die deutsche Schweiz beschränkt geblieben.
Aus gleichen Erwägungen scheiden wir ferner den Anglikanismus aus und beschränken uns auf den Calvinismus. Dieser ist zwar kein Produkt deutschen Geistes, seine Wurzeln sind in fremdem Lande gelegt worden, aber seine Grundgedanken haben sich nicht nur in Deutschland, sondern über die ganze Welt verbreitet. Wir beschränken uns auf Deutschland.
Allerdings müssen wir auch die Schicksale des Calvinismus in einigen nichtdeutschen Ländern, wie namentlich in Frankreich und den Niederlanden, kurz streifen, weil sie für Deutschland von weittragendem Einflüsse gewesen sind und sich nur dort die reformierte Verfassung rein erkennen läßt. Beginnen müssen wir mit den Gedankengängen Calvins.
Der reformierte Kirchenbegriff unterscheidet sich von dem lutherischen zunächst dadurch, daß während in der lutherischen Kirche die sichtbare Kirche Anstalt zur Verkündigung des Evangeliums ist, die reformierte Kirche sie wesentlich als Heiligungsanstalt betrachtet, woraus auch das große Gewicht sich erklärt, welches in der reformierten Gemeinde auf die Kirchenzucht gelegt wird. Genossenschaftliche Momente stehen in der reformierten Kirche im Vordergrunde gegenüber anstaltlichen in der lutherischen (Gemeinde im Gegensatz zu Parochie). Wenn auch der altreformierte Protestantismus in der souveränen Einzelgemeinde, die dann mit anderen zu einem rein föderativen Verhältnisse zusammentritt, keineswegs das Urbild der Kirche erblickt
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hat, so ist doch nicht zu leugnen, daß solche Gedanken Konsequenzen reformierter Grundprinzipien sind. Eigentümlich ist die Betonung der Sichtbarkeit der Kirche gegenüber der lutherischen Wertschätzung der unsichtbaren Kirche; die sichtbare Kirche stellt das Königreich Christi auf Erden dar, und da in der gottesdienstlichen Versammlung dieses Reich zur sichtbaren Darstellung gelangt, so ist in der örtlichen Vereinigung die eigentliche und echte Darstellung der sichtbaren Kirche gegeben.1) Für diese sichtbare Kirche ist die Verfassung durch Gottes Wort vorgeschrieben; die Verfassung ist den Reformierten nichts Gleichgültiges, Nebensächliches, Wandelbares, der historischen Entwicklung zu Überlassendes, sondern die richtige Verfassung, die legitima ecclesiae gubernatio ist das Kennzeichen der wahren Kirche Christi.
Exposui non posse consistere ecclesiam nisi certum regimen constitueretur, quale ex verbo Dei nobis praescriptum est et in veteri ecclesia fuit observatum, sagt Calvin.2) In der Heiligen Schrift ist die Verfassung geregelt und in der urchristlichen Gemeinde haben wir das Vorbild zu erblicken.3)
Welches ist nun die von Gott vorgeschriebene, richtige Verfassung? Zunächst steht negativ das eine fest: keinerlei menschliche Herrschaft. Das Haupt der Kirche (auch der sichtbaren) ist Christus. Er ist der König. Er regiert. Damit ist jedes hierarchische, aber auch jedes Laienregiment ausgeschlossen, wie insbesondere das landesherrliche Kirchenregiment. Der Landesherr, welcher der Kirche angehört, ist ein einfaches Mitglied. Allerdings übt Christus sein Regiment durch Menschen aus, aber diese sind nicht etwa seine Stellvertreter auf Erden, wie es die katholische Kirche lehrt, sondern seine Diener: spectandi sunt ministri non ut ministri dumtaxat per se, sed sicut ministri Dei, utpote per quos Deus salutem hominum operatur.4) Wie darum die Amtsträger keine Herrschaft über die Gemeindegenossen ausüben, sondern ihnen gleichgestellt brüderliche Dienste leisten, so stehen auch alle Amtsträger untereinander gleich.5) So erklärt sich die Abneigung der reformierten Kirche gegen alle Einrichtungen, die an eine Hierarchie erinnern oder zu einer solchen führen könnten, so ihre Vorliebe für kollegiale Organisationen. Als Organe der wohleingerichteten Kirche treten uns vier entgegen6): die Pastoren, Doktoren, Ältesten und Diakonen. Älteste und Diakonen sind nicht etwa Gehilfen der Geistlichen, sondern sie bilden das laikale Moment in der Verfassung, welches allen etwaigen hierarchischen Gelüsten der
1) Zu dem Vorstellenden vgl. namentlich Rieker, Reform.
Kirchenverf. S. 59ff.
2) Brief an Farel vom 16. September 1541. Opp. XI, 281.
3) Confessio Gallicana Art. 29: Quant est de la vraye église,
nous croyons, quelle doit estre gouvernéee selon la police que
nostre seigneur Jesus Christ a establie, c’est qui'il y ayt des
pasteurs, des surveillans et des diacres.
4) Confess. Helv. posterior XVIII.
5) Confess. Helv. posterior XVIII: Data est autem onmibus in
ecclesia ministris una et aequalis potestas sive functio.
6) Ordonnan. ecclés. de Genève. 1541. (Calvin, Opp. 10 S. 15ff.):
II y a quatre ordres d’offices, que nostre Seigneur a institué
pour le gouvernement de son église, premièrement les pasteurs,
puis les Docteurs, après les Anciens, quatrement les Diacres.
Pourtant si nous voulons avoir Eglise bien ordonnée et
l’entretenir en son entier, il nous faut observer ceste forme de
regime. Quant est des pasteurs, que l’escriture nomine
aucunefois, Anciens et ministres: leur office est d’annonoer la
parole de Dieu pour endoctriner, admonester, exhoster et
reprendre tant en public, comme en particulier, administrer les
sacremens et faire les corrections fraternelles avec les Anciens
et commis . . . . l’office propre des docteurs est d’enseigner
les fidèles en saine doctrine: afin que la pureté d’Evangile ne
soit corrompue ou par ignorance, ou par mauvaises opinions.
Toutes fois selon que les choses sont aujourdhui disposées nous
comprenons en ce titre les aides et instructions pour con-server
la doctrine de Dieu et faire que l’Eglise ne soit desolée par
faute de Pasteurs et ministres . . . . Leur office [der Ältesten]
est de prendre garde sur la vie d’un chacun, d’admonester
amiablement ceux qu’ils verront faillir et mener vie desordonnée:
Et là où il en serait mestier, faire rapport à la compagnie qui
sera deputée pour faire les corrections fraternelles et les faire
avec les autres . . . . II y en a eu toujours deux espèces (des
diacres) en l’église ancienne; les uns ont esté deputez à
recevoir, dispenser et conserver les biens des pouvres, tant
aumosnes quotidiennes, que possessions, rentes et pensions; les
autres pour soigner et penser les malades et administrer la
pitance des pouvres.
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Geistlichkeit die Wage halten soll; antihierarchische Tendenzen sind es, welche die eigentliche Gemeinderegierung, insbesondere die Kirchenzucht, in die Hände des aus den Pastoren und Ältesten gebildeten Konsistoriums verlegen, die Armenpflege (welche nach reformierter Lehre eine notwendige Punktion der Kirche darstellt) einem besonderen Amte, den Diakonen, übertragen, denn die reformierte Kirche hat den mittelalterlichen Gegensatz von Geistlichen und Laien, allerdings im neuen Sinne zweier gleichberechtigter, sich gegenseitig ergänzender Stände, aufrecht erhalten. Das Volk selbst hat keinen direkten Anteil an der Regierung. Es kontrolliert die Tätigkeit des berufenen Organes, der Ältesten1); die Bestellung der Pfarrer soll nicht gegen seinen Willen geschehen. Aber eine positive Tätigkeit kommt ihm nicht zu; eine Pfarrwahl der Gemeinde ist dem Calvinismus unbekannt; die Ältesten sind keine Vertreter, keine Organe der Gemeinde, sie werden nicht gewählt, sondern von der Obrigkeit ernannt. Ganz unzutreffend ist es also, die modernen Repräsentativvorstellungen in die calvinische Ideenwelt hineinzutragen. Das sind moderne Gedanken, die zwar die heutigen reformierten Kirchenordnungen beherrschen, die aber als genuin-calvinische nicht bezeichnet werden können.
Und damit kommen wir auf die reformierte Auffassung von dem Verhältnisse der Kirche zum Staate zu reden. Die Kirche ist als das Reich Christi auf Erden eine selbständige, vom Staate durchaus verschiedene Lebensordnung. Aber auch die Obrigkeit ist Gottes Dienerin, sie hat sich ebenso wie das gesamte private und öffentliche Leben unter Gottes Wort zu beugen, nicht etwa der Geistlichkeit unterworfen, wie es das MA. lehrt, sondern kraft ihrer göttlichen Verpflichtung, das Reich Gottes auf Erden zu verwirklichen (Theokratie). Die civitas dei ist das Ideal Calvins. Diesen Gottesstaat aufrichten zu helfen, ist die Obrigkeit mit ihren Gaben, durch Gesetze und Zwangsgewalt, verpflichtet. So die Entwicklung in Genf.
Wenn sich aber die Obrigkeit dieser Aufgabe entzieht, wenn sie nicht nur nicht das theokratische Ideal verwirklichen hilft, sondern die richtige Lehre und Kirche geradezu bekämpft? Dann ist die vollständige Trennung vom Staate, die Ausbildung der Freikirche die Losung. Hier wählt die Gemeinde ihre Hirten und Ältesten, ihr Presbyterium, ihr Regimentsorgan. Die Gemeinden treten untereinander in organischen Zusammenhang. Synoden, die aus Pastoren und Ältesten der Einzelgemeinden gebildet werden, bilden das höhere Kirchenregimentsorgan. So geschah es in Frankreich.
In Deutschland war das Schicksal der reformierten Verfassung verschieden. Wo die Landesherren das reformierte Bekenntnis annahmen, erhielt die Verfassung fast dieselbe Gestalt wie in der lutherischen Kirche. So z.B. in der Kurpfalz. Anders, wo von flüchtigen Reformierten Gemeinden gegründet wurden. Da wurden die presbyterial-synodalen Verfassungsformen verwirklicht und vielfach sogar auf lutherische Landeskirchen übertragen. Von besonderer Bedeutung war die Entwicklung am Niederrhein, wo die von Flüchtlingen gegründeten reformierten Gemeinden mit den niederländischen zu einer Kirchengemeinschaft zusammentraten. (Nationalkonvent zu Wesel 1568, Synode zu Emden 1571.) Aber auch in Cleve-Mark war das landesherrliche Kirchenregiment nicht ganz auszuschließen, und als in Eheinland-Westfalen im Jahre 1835 die Synodal-Presbyterialverfassung durch die Kirchenordnung neue Bestätigung empfing, wurde das Grundprinzip der Konsistorialverfassung mit ihr vereinigt. Einer reinen Presbyterial- und Synodalverfassung erfreuen sich heute in Deutschland nur die sogenannten konföderierten Gemeinden Niedersachsens. Von den ausländischen reformierten Kuchen soll hier nicht gehandelt werden.
Wenn die Presbyterien und Synoden in der neuesten Entwicklung ihren Einzug
1) Rieker, a.a.O., S. 126.
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auch in fast alle lutherischen Kirchen gehalten haben, wenn die sogenannte gemischte Verfassungsform fast überall Platz gegriffen hat, so darf dies nicht etwa als ein Sieg reformierter Ideen über lutherische Verfassungsgedanken aufgefaßt werden. Denn ganz abgesehen davon, daß solche Organisationen, wie wir gesehen haben, durchaus in den Ideenkreisen der lutherischen Kirche fundiert sind, so sind auch dio heutigen Presbyterien und Synoden von den calvinischen weit verschieden. Je mehr sich in der reformierten Kirche, in Entfernung von alten Anschauungen, die Auffassung der Kirche als „Gesellschaft” herausbildete, um so mehr mußte man geneigt werden, die Gemeinde selbst als die Inhaberin der kirchlichen Gewalt zu betrachten; von da bis zu repräsentativen Vorstellungen war nur ein kleiner Schritt: Hirten und Älteste sind nur Vertreter, Repräsentanten, Mandatare der Gemeinde. Damit ändert sich nicht nur die Stellung dieser Organe zur Gemeinde, sondern auch die Stellung der Organe untereinander, insbesondere der Geistlichen zu den Ältesten; damit entwickeln sich die Rechte der Gemeinde, insbesondere die Pfarrwahl, — alles unabhängig und zumeist im Gegensatz zu den Grundsätzen Calvins.1) Und das gilt nicht nur für die Gestaltung der Einzelgemeinde, sondern auch ebensosehr für die Synoden. Auch diese haben ihren Charakter verändert; insbesondere in der gemischten Verfassung; sie sind [wenigstens in ihren höchsten Stufen] keine Regierungskollegien mehr, sondern Vertretungen der Kirche gegenüber dem landesherrlichen Kirchenregiment. Und was endlich die Stellung der Kirche zum Staate anlangt, so ist die Theokratie Calvins längst nicht mehr die Losung der strengen Anhänger Calvins, sie erstreben gerade entgegengesetzt eine völlige Trennung von Staat und Kirche, denn auch der moderne Staat will und vermag den Ansprüchen Calvins nicht mehr zu entsprechen.
1) Vgl. hierzu besonders Rieker, Reform. Kirchenverf. S. 144ff.