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Geschichte der protestantischen Kirchenverfassung.

Von Emil Sehling.

 

§ 1. Die Grundgedanken der Reformatoren.

Literatur: Höfling, Grundsätze der ev.-luth. Kirchenverfassung. Erlangen 1850. 3. Aufl. 1853. Schenkel in Theol. Studien und Kritiken. 1850. S. 203ff. 453ff. Richter, Geschichte der ev. Kirchenverfassung. Leipzig 1851; Derselbe in Z. für deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaft. 4 (1840) S. 1-90. Stahl, Kirchenverfassung nach Lehre und Recht der Protestanten. 2. Aufl. Erlangen 1862. v. Scheuerl, Zur Lehre vom Kirchenregiment. Erlangen 1862; Derselbe in „Sammlung kirchenrechtl. Abhandlungen”. 1873. S. 345ff. Meier, Grundlagen des luther. Kirchenregiments. Rostock 1864; Derselbe, Lehrbuch des Kirchenrechts. 3, Aufl. Göttingen 1869; Derselbe, Rechtsleben der d. ev. Landeskirchen. Hannover 1889. Hundeshagen, Beiträge zur Kirchenverfassungsgeschichte und Kirchenpolitik, insbesondere des Protestantismus. 1. (Wiesbaden) 1864; Derselbe, Ausgewählte kl. Schriften. Bd. 2. Gotha 1875. Kahl, Verschiedenheit der kath. und ev. Anschauung über das Verhältnis von Staat und Kirche. Leipzig 1886. Richter, Lehrbuch des Kirchenrechts. 8. Aufl. von Dove-Kahl. Leipzig 1886. Sohm, Kirchenrecht. Leipzig 1892. Rieker, Die rechtliche Stellung der ev. Kirche Deutschlands in ihrer geschichtlichen Entwicklung bis zur Gegenwart. Leipzig 1893. Friedberg, Lehrbuch des Kirchenrechts. 6. Aufl. Leipzig 1909. Rietschel in Theol. Studien und Kritiken. 1900. S. 400ff. Köhler in DZKR. 16, 216ff. Brandenburg, Martin Luthers Anschauung vom Staat und der Gesellschaft, in Schriften des Vereins für Reformationsgesch. 1901. Drews in Ergänzungsheft der Z. für Theologie und Kirche. 1908. Hermelink in Z. für Kirchengeschichte 29, 267ff. 479ff. K. Müller, Kirche, Gemeinde und Obrigkeit nach Luther, Tübingen 1910. Holl, Luther und d. landesherrl. Kirchenregiment. Erstes Ergänzungsheft zur Z. für Theologie und Kirche. 1911. — Die Artikel Kirchenregiment, Kirchenrecht, Kirchenordnung, Konsistorien, Episkopalsystem, Gemeinde, Kollegialsystem, Territorialsystem (zumeist von Mejer und Sehling), in der Realenzyklopädie für Protest. Theologie. 3. Aufl.

Die mittelalterliche Kirche war reformbedürftig geworden. Der Ruf nach Verbesserung an Haupt und Gliedern erscholl immer dringender in der Christenheit. Der Episkopalismus, wie er in den großen Synoden des 15. Jhs. seinen höchsten Ausdruck gefunden hatte, verlangte eine Umgestaltung der kirchlichen Verfassung; die Fürsten und die ihnen ergebenen staatsrechtlichen Schriftsteller bekämpften das in der Kirche ausgebildete System von Staat und Kirche; einige Staaten, wie besonders Frankreich, wußten sich mehr und mehr von Rom zu emanzipieren. Breite Volksschichten vermochten in der herrschenden Kirche nicht mehr eine volle Befriedigung ihrer religiösen und kirchlichen Bedürfnisse zu finden und sektiererische Bildungen, Kirchenspaltungen waren die Folge. Noch stand aber im wesentlichen der stolze Bau des MA. unerschüttert da, nur seine Basis, seine Fundamente waren unterwühlt und der Boden war vorbereitet für die größte Kirchenspaltung, die sich seit der Trennung in die ost- und weströmische Kirche in der Christenheit vollziehen sollte.

Kleine Ursachen, große Wirkungen. Aus einem theologischen Gelehrtenstreit, wie er damals an der Tagesordnung war, und wie er der Sitte der Zeit gemäß durch öffentliche Herausforderung zur Disputation über aufgestellte Thesen eingeleitet wurde, erwuchs jene große Bewegung, die wir die „Reformation” im engeren und eigentlichen Sinne des Wortes nennen. Luther, durch die Haltung der offiziellen kirchlichen Kreise auf die ablehnende Bahn gedrängt, blieb nicht hei der Bekämpfung eines Einzelpunktes stehen, und als die Kirche über ihn den großen Bann verhängte, war der Bruch endgültig geworden; die Verbrennung der Bannbulle und des corpus iuris canonici vor dem Elstertore war das äußere Zeichen für seinen Entschluß, dem geltenden kirchlichen Rechte Trotz zu bieten. Über die Reformbedürftigkeit des herrschenden Kirchentums hatten ihn seine theologischen und historischen Studien aufgeklärt, auch war innerhalb seines Ordens die Überzeugung hiervon wohl längst Gemeingut der gebildeten Elemente gewesen. Aber wie weit sollten diese Reformen gehen? Sollten sie zu einer Kirchenspaltung führen, sollte eine neue „Kirche” entstehen? Was wollte Luther? Er war Theologe und Ordensmann. Er wollte die bestehende

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Kirche reformieren, genau so wie es zahlreiche große Geister vor ihm erstrebt hatten; kühne hochfliegende Pläne wie Kirchengründung lagen ihm völlig fern. An der Kircheneinheit des MA. hielt er durchaus fest. So erklärt sich die zagende, unsichere tatsächliche Entwicklung der neuen Kirche, so erklären sich Luthers Ideen bezüglich der Verfassung. In einigen Punkten stand aber sein Reformprogramm von Hause aus fest. Das war, abgesehen von der Verbesserung gewisser äußerer Einrichtungen und Gebräuche, die dogmatische Grundlehre der Reformation; die Öffnung des Weges zum Heil durch den Glauben, die Rechtfertigung allein durch den Glauben, — diese Lehre welche, wie eine neue Offenbarung, über einen Teil der Christenheit durch Luther gekommen ist.

Von dieser Lehre, als dem Brennpunkte des religiösen Empfindens, gehen auch die befruchtenden Ideen für die Umgestaltung der kirchlichen Verfassung aus. Zwei Gedanken kommen hier vornehmlich in Betracht, die unsichtbare Kirche und das allgemeine Priestertum. „Ich glaube an eine heilige christliche Kirche” lehrt der dritte Glaubensartikel; also ist diese Kirche kein Gegenstand sinnlicher Wahrnehmung, sondern des Glaubens, schließt Luther. Die „Kirche” ist die Gemeinschaft der Heiligen. „Und ist nu die heilige christliche Kirche soviel als ein Volk, das Christen und heilig ist oder, wie man auch zu reden pflegt, die heilige Christenheit, item die ganze Christenheit.”1) In dieser Gemeinschaft der Gläubigen gibt es keinen begrifflichen Unterschied zwischen Klerus und Volk; es gibt keinen besonderen Mittlerstand, sondern jeder Christ ist durch seinen schriftgemäßen Glauben fähig, sich seihst die Seligkeit zu erringen.2)

Welche Bedeutung wohnt diesen beiden Ideen nun für Verfassung und Recht inne? Diese Bedeutung ist zunächst nur negativer Natur. Es werden zwei Grundprinzipien des bisherigen Kirchentums geleugnet: die Zugehörigkeit zu der an Papst und Bischöfen erkenntlichen Kirche ist nicht mehr Vorbedingung zur Seligkeit und der Begriff des ordo mit allen seinen Folgerungen ist gefallen. Hat Luther damit aber etwa die mittelalterliche Lehre von der Universalität des Weltalls, von der Einheit aller Dinge aufgegeben, auf welche die kurialen Theoretiker die Unterordnung des Staates gründeten?3) Keineswegs. Auch Luther hält an der universellen Kircheneinheit4), an dem unum corpus christianum fest, auch er lehrt das extra quam nulla salus, auch für ihn gibt es keine Möglichkeit zu Christus zu gelangen außerhalb der Kirche — aber er


1) Luthers Werke. 2. Aufl. Frankfurt. 25,412. Andere Stellen: Werke. Erlanger Ausg. 25, 354; 27, 303. Catechismus major II. Pars. Art. 3. (Müller, Symbol. Bücher der ev.-luth. Kirche. 10. Aufl. Gütersloh 1907. S. 457); vgl. auch Köstlin, Luthers Lehre von der Kirche. Stuttgart 1853. Ritschl in Theol. Studien und Kritiken. 1859. S. 189f., und ZKR. 8, 220f. Gottschick in Theol. Studien und Kritiken. 1873. S. 1ff. Rietschel, ebd. 1900. S. 404f.
2) In der klassischen und für das Verständnis der reformatorischen Grundanschauungen ganz besonders wichtigen Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung” 1520 (Weimarer Ausgabe. 6, 404ff.) heißt es u.a.; „. . . dan alle Christen sein wahrhaftig geistlichs Standes und ist unter ihnen kein unterschied, denn des amts halber allein wie Paulus 1. Kor. 12 sagt, daß wir allesamt ein körper sein, daß ein jegliches glied sein eigen werk hat, damit es den andern dient. Das macht alles, daß wir eine tauf, ein evangelium, einen glauben haben und sein gleiche Christen, denn die tauf, evangelium und glauben, die machen allein geistlich und Christenvolk”, oder an anderer Stelle: „Dieweil denn nun die weltliche gewalt ist gleich mit uns getauft, hat denselben glauben und evangelium, müssen wir sie lassen priester und bischof sein und ihr amt zelen als ein amt, das da gehöre und nützlich sei der christlichen gemeine. Denn was aus der taufe gekrochen ist, das mag sich rühmen, daß es schon priester, bischof und papst geweihet sei, obwohl nicht einem jeglichen ziemt, solch amt zu üben . . . So folgt aus diesem, daß laien, priester, fürsten, bischöfe und wie sie sagen, geistliche und weltliche keinen anderen unterschied im grund wahrlich haben, denn des amts oder werks halben und nicht des Stands halben, dann sie sein alle geistlichs Standes, wahrhaftig priester, bischöfe und päpste, aber nicht gleich einerlei werks, gleichwie auch unter den priestern und mönchen nicht einerlei werk ein jeglicher hat. Und das ist St. Paulus Rom. 12 und 1. Kor. 12 und Petrus 1. Petr. 2, wie ich droben gesagt, daß wir alle ein körper sein des heuptes Jesu Christi, ein jeglicher des andern gliedmaß. Christus hat nicht zwei noch zweierlei art körper, einen weltlich und den andern geistlich: Ein haupt ist und Einen körper hat er.”
3) Vgl. die Beweisführung von Bonifaz VIII. in der Bulle Unam sanctam. C. un. in Extrav. commun. 1, 8.
4) Vgl. auch Augustana § 4. 10. 13. der lat. Vorrede. Köstlin, Luthers Lehre von der Kirche. S. 183ff. Seeberg, Der Begriff der christl. Kirche. Erlangen 1885. I, 88. Loofs, Leitfaden der Dogmengeschichte. 4. Aufl. Halle 1906. S. 685 ff. Rieker, a.a.O. S. 45 ff.

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versteht unter Kirche nur die geistige Gemeinschaft, nicht jene an bestimmte äußerliche rechtliche Merkmale gebundene Gemeinschaft. Alle Eigenschaften, welche das bisherige Kirchenrecht der Kirche beigelegt hatte, una, sancta, apostolica, catholica usw. nahmen die Reformatoren auch für ihren Kirchenbegriff in Anspruch, sie blieben also im mittelalterlichen Ideenkreise und gewannen doch die Freiheit vom Papsttum und dem ganzen bisherigen Recht. Denn, wenn sie überhaupt eine sichtbare Gestalt annahmen, so brauchte es nicht die überkommene zu sein, jede Verfassung, in welcher das Wort Gottes lauter und rein gelehrt wird und die Sakramente richtig administriert werden, tut dieselben Dienste; je besser die Verfassung dieses Ziel erreicht, um so geeigneter ist sie; sie kann sich ändern, sie kann sich den Zeitverhältnissen anpassen, es gibt also keine genuin-lutherischen Verfassungsprinzipien, es gibt keine Verfassung, die den Anspruch erheben könnte, von Gott zu sein1), was als richtige lutherische Verfassung hingestellt wird, hat stets nur den Wert menschlicher Meinung, und nur darüber kann ein Streit bestehen, welche Verfassung die nach den Zeitverhältnissen zweckmäßigste ist.

Nicht minder destruktiv war der Gedanke des allgemeinen Priestertums. Das ganze kirchliche System, welches sich auf dem Gegensatz von λαὸς und κλῆρος aufbaute, mußte zusammenbrechen. Früher hat man wohl das allgemeine Priestertum als ein reines Verfassungsprinzip bezeichnen, aus ihm das Gemeindeprinzip und die Selbstverwaltung als bewußte Lehre der Reformatoren ableiten wollen. Dem gegenüber hat man in neuerer Zeit mit Recht darauf verwiesen, daß das allgemeine Priestertum von den Reformatoren nur als religiöses Prinzip gedacht war.2) Dagegen ist es wieder über das Ziel hinausgegangen, wenn man diesem Gedanken keinerlei Bedeutung für das Verfassungsrecht der evangelischen Kirche zuerkennen will.3) Ohne das Niederreißen jener Schranke, welche nach katholischer Lehre das Priesteramt vom Volke trennt, wäre ein Hereinziehen des Laienelements in die Organisation, ein Aufbau auf presbyterial-synodaler Grundlage, eine Betätigung der Gemeinde an Pfarrwahl und Kirchenzucht nicht denkbar gewesen, nur so konnten die Laien zu Aktivmitgliedern der Kirche werden. Diese Möglichkeiten liegen also, wenn auch vielleicht von den Reformatoren nicht erkannt4), in jenem Grundgedanken mit beschlossen.

Konnte man nun aber mit einer unsichtbaren Kirche und einem allgemeinen Priestertum eine eigene Religionsgesellschaft erbauen? Nein. Eine unsichtbare Kirche ist nur ein geistiges Bündnis. Sobald nur die geringste äußere Betätigung eines Gemeinschaftslebens eintreten, z.B. eine Zusammenkunft zu gottesdienstlichen Zwecken stattfinden soll, bedarf es der Verfassung, des Rechts, wenn auch nur des Vertragsrechts. So muß denn schon Luther das Vorhandensein einer sichtbaren Kirche


1) Vgl. auch Kolde, Aphorismen zur kirchl. Verfassungsfrage im Jb. für die ev.-luth. Landeskirche Bayerns. 1902.. S. 52ff.
2) Kawerau, Über Berechtig, und Bedeutung des landesherrl. Kirchenregiments. Kiel 1886. S. 16. Achelis, System der prakt. Theologie. Freiburg 1891. 2, 461 ff. Brieger in Z. f. Theol. und Kirche. 2, 521.
3) So z.B. Sohm, Kirchenrecht 1, 510. Rieker, a.a.O. S. 79. — Für die richtige Wertschätzung vgl. Friedberg, Lehrbuch. 6. Aufl. S. 89. Sehling, in DZKR. 1894. S. 229; Derselbe in Die Kirchengesetzgebung unter Moritz von Sachen. Leipzig 1899. S. 3ff.
4) Nach der Lehre Luthers ist es auch gar keine Zurücksetzung des dritten Standes, des Status oeconomicus, wenn diesem kein positiver Anteil am kirchlichen Rechtsleben zuerkannt wird. Wenn die Kirche im Sinne des unum corpus christianum aufgefaßt wird, so braucht nicht etwa für jeden der drei Stände eine bestimmte „kirchliche” Funktion [im modernen Sinne] beansprucht zu werden. Jeder der drei Stände hat innerhalb der res publica christiana seine Aufgaben zu erfüllen; die Aufgabe des Status oeconomicus ist es „durch treue Erfüllung des irdischen Berufes mit den von Gott verliehenen Kräften und Gaben das Reich Gottes auf Erden zu hauen”. (Rieker, Grundsätze reformierter Kirchenverfassung. Leipzig 1899. S. 125.) Erst durch naturrechtliche und reformierte Einflüsse ist für die lutherischen Christen die Kirche ein selbständiger Lebenskreis neben dem Staate geworden, innerhalb dessen dann auch dem Laien ein Anteil am Gesellschaftsrecht gebühre. Trotz alledem bleibt das oben Gesagte wahr.

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zugeben1), und noch mehr nehmen andere Reformatoren das Bestehen der unsichtbaren und sichtbaren Kirche in Form zweier konzentrischer Kreise, von denen derjenige der sichtbaren der umfassendere ist, an.2) Weit bedeutungsvoller ist die Einschränkung der Lehre vom allgemeinen Priestertum geworden. Daß eine Ordnung der Dinge, wie sie die äußerste Konsequenz des allgemeinen Priestertums dargestellt haben würde, „wo ein jeglicher Nachbar dem anderen predigte oder untereinander ohne Ordnung alles täten”, nicht das Ideal sein konnte, war jedem von vornherein klar. In einem genialen Gedankengange vermag Luther die Notwendigkeit des geistlichen Amtes gerade aus jenem Prinzipe, welches scheinbar das Entgegengesetzte lehrt, abzuleiten.3)

Damit ist aber auch zugleich die Abgrenzung der Befugnisse dieses Amtes und seine Rechtstellung gegeben. Es ist kein besonderer Stand, denn eines Mittlerstandes bedarf der evangelische Christ nicht, aber das Gemeingut wird von ihm im Namen der Gemeinschaft ausgeübt. Wie könnte nun aber schöner das „im Namen der Gemeinschaft” zum Ausdruck gelangen, als dadurch, daß die Gemeinschaft selbst denjenigen erwählt, der in ihrem Namen tätig werden soll? So sagt Luther in einem Sendschreiben an den Rat und die Gemeinde der Stadt Prag (Walch 10, 1857): „Das erfordert der gemeinschaft recht, das einer oder als vil der gemeinde gefallen, erwählet und aufgenommen werden, welche anstat und im namen aller derer, so eben dasselbige recht haben, verbringen diese ämter öffentlich; auf das nicht eine scheusliche Unordnung geschehe in dem volk gottes . . . in einer gemeine, da jedem das recht frei ist, soll sich desselbigen niemand annehmen, ohne der ganzen gemeinde willen und erwählung, aber in der noth gebrauche es ein jeder, da er will.” Man sieht, die Keime einer presbyterial-synodalen Ausgestaltung der Verfassung liegen hier offen zutage. Zwar ist dies von den Reformatoren nicht klar erkannt worden. Für sie war das allgemeine Priestertum lediglich oder gewiß ganz überwiegend ein religiöser Gedanke, ebenso wie die auch von ihnen vertretene Drei-Stände-Lehre, die sich schon bei Wicliff und Huß findet, und nach welcher dem Status politicus, ecclesiasticus und oeconomicus je eine abgegrenzte Zuständigkeit in der Kirche, d.h. der Christenheit zukommen solle.4) Weder die freie religiöse Genossenschaft innerhalb der politischen Gemeinde, noch die Selbstverwaltung als Folge der Gleichstellung aller Gemeindeglieder5), sind das Verfassungsideal der Reformatoren, noch auch haben sie in der „Einzelgemeinde” das Vor- und Abbild


1) Allerdings nicht im Sinne eines Gegensatzes zur unsichtbaren Kirche. Über Luther vgl. Köstltn, a.a.O. S. 207. Seeberg, a.a.O. S. 93, Besonders aber Rietschel, in Theol. Studien und Kritiken. 1900. S. 404ff.
2) Vgl. hierzu Rieker, a.a.O. S. 47 ff.
3) Man vergleiche Steilen wie die folgenden:
[De captivitate Babylonioa ecclesiae praeludium 1520 (Weimar. Ausgabe 6. S. 666.)]: Esto itaque certus et sese agnoscat quicunque se Christianum esse cognoverit, omnes nos aequaliter esse sacerdotes, hoc est, eandem in verbo et sacramento quocunque habere potestatem, verum non licere quenquam hac ipsa uti, nisi consensu communitatis aut vocatione maioris (quod enim omnium est communiter, nullus singulariter potest sibi arrogare doneo vocetur) ac per hoc ordinis sacramentum, si quicquam est, esse nihil aliud, quam ritum quendam vocandi alicuius in ministerimn ecclesiasticum . . . . oder: „Siehe also hat und übet ein jeglicher Christ solche priesterwerke. Aber über das ist nun das gemeine Amt, so die lehre öffentlich führet und treibet; dazu gehören pfarherrn und prediger. Denn in der gemeinde können sie nicht alle des amts gewarten; so schicket sichs auch nicht, in einem jeglichen Hause zu taufen und das sacrament zu reichen. Darum muß man etliche dazu auserwählen und ordnen, so zu predigen geschickt und dazu in der Schrift sich üben, die das lehramt führen und dieselbe vertheidigen können, item also die sacramente von wegen der gemeinde handeln, damit man wisse, wer da getauft worden sei und alles ordentlich zugehe. Sonst würde langsam eine Kirche werden oder bestellt werden, wo ein jeglicher nachbar dem andern predigte oder alle untereinander alles thäten. Solches ist aber nicht das priesterthum an ihm selbst, sondern ein gemein öffentlich amt für die, so da alle priester d.i. Christen sind.” (Auslegung des 110. Psalms. Walch 6, 1509.)
4) Über die Vertretung dieser Lehre von den drei Weltordnungen hei den Episkopalisten des 17 Jhs. vgl. unten.
5) Beides versteht man wohl unter „Gemeindeprinzip”.

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der Kirche gefunden.1) Sie haben überhaupt kein ausgesprochenes Verfassungsideal besessen. Das ihnen nach den eben erörterten Grundsätzen jede Verfassung, in der das Evangelium sich frei ausleben konnte, lieb sein mußte, haben wir gesehen; aber sie hätten sich doch auch darüber aussprechen sollen, in welcher Form dieser Zweck am besten zu erreichen wäre, welche Form die geeignetste wäre, und diese Form würden wir dann als das Verfassungsideal der Reformatoren zu betrachten haben.

Modern ausgedrückt: Wie dachten die Reformatoren über Kirchengewalt und Kirchenregiment? Schon diese Formulierung zeigt den Wert dieser theoretischen Untersuchung. Denn bei der überragenden Autorität, welche Luther in der nach ihm benannten Kirche genießt, ist es verständlich, daß die nach dem besten Ausdrucke kirchlichen Lebens ringenden Faktoren und Parteien gerade seinen Anschauungen sich anzupassen, gerade seine Ideale zu verwirklichen suchen, obwohl gewiß Luther weit davon entfernt gewesen wäre, seine Verfassungsgedanken als für alle Zeiten maßgebende hinzustellen. Wie sagt er in der Vorrede zur d. Messe 15262): „Es ist nicht meine meinunge, das ganze deutsche land so oben müßte unsere Wittenborgische Ordnung annehmen”, oder an anderer Stelle3): „Nullos magis odi, quam eos, qui caeremonias liberas et innoxias exturbant et necessitatem ex libertate faciunt”, oder ein anderes Mal: „Wenn eine kirche der anderen nicht folgen will aus freier wähl in äußerlichen Satzungen, was ist dann von nöthen, daß man sie soll durch dekrete oder concilien dahin treiben, die doch bald zu gesetzen und stricken der seele gerathen werden.” Er war ein Feind der Gleichmacherei. War er aber ein Gegner jeder Ordnung, jedes äußeren Rechtszwanges? Keineswegs.

Die Ansichten über die Ideale der Reformatoren gehen weit auseinander. Mit Vorliebe wird die These vertreten, daß sie andere gewesen seien, als das landesherrliche Kirchenregiment; und zwar suchen die einen4) diese Ideale in der Richtung vorreformatorischer Anschauungen, andere5) in der Linie presbyterial-synodaler Verfassungsgedanken. Stahl legt dabei zu großes Gewicht einerseits auf Aussprüche, welche die bis 1545 fortgesetzten Bestrebungen widerspiegeln, die Formen für die Aufrechterhaltung der bestehenden bischöflichen Verfassung zu finden, die aber keineswegs die „Verfassungsideale” darstellen und andererseits auf vereinzelte Äußerungen Luthers und Melanchthons, welche das Übergreifen der weltlichen Obrigkeit in die rein geistige Sphäre tadeln, die ausschließlich der Gewalt des geistlichen Amtes unterstellt sei. In jüngster Zeit hat Sohm6) behauptet, daß Luthers Ideal eine lediglich durch freie Unterordnung gebildete, durch den Geist der Liebe zusammengehaltene Gemeinschaft gewesen sei, daß „Kirchenrecht” und „landesherrliches Kirchenregiment” im Gegensatze zu Luther, als ein Produkt des Kleinglaubens seiner Epigonen entstanden seien. Diese Ansicht steht schon mit den historischen Tatsachen im Widerspruche; das tatsächliche Verhalten Luthers und der Reformatoren zu der Organisierung und Handhabung des juristischen Regiments in der christlichen Gemeinschaft7) schließt widersprechende


1) Vgl. Rieker, a.a.O. S. 85.
2) Sehling, Kirchenordnungen I, 11.
3) de Wette 3, 294.
4) Es sei hier namentlich Stahl genannt: Kirchenverfassung nach Lehre und Recht der Protestanten 1840. Neue Aufl. 1862; Lutherische Kirche und Union 1869.
5) Richter, Gesch. der ev. Kirchenverfassung in Deutschland 1861; Lehrbuch des Kirchenrechts seit 1841; Grundlagen der Kirchenverf. nach den Ansichten der sächs. Reformatoren in Z. f. d. R. und d. Rechtsw. 4 (1840) S. 1ff.
6) Kirchenrecht. Bd. 1.
7) Vgl. z.B. Sehling, Kirchenordnungen. Einleitung 1, 33ff. Es dürfte doch wohl anzunehmen sein, daß ein Luther so nahestehender Mann und Mitgehilfe im Reformationswerk, wie Justus Jonas, mit der Gedankenwelt des auch für ihn maßgehenden Führers vertrauter gewesen ist, als ein Jurist des 20. Jhs. es je zu werden vermag, und wie schreibt Jonas über die Notwendigkeit äußerer Rechtsordnung?: „. . . item das volk zu unterrichten von christlicher freiheit, wozu äußerlich gut kirchenordnung nutz ist, item das keine äußerlich Ordnung oder ceremonien darum ➝

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Grundanschauungen völlig aus. „Richter, um seine Voraussetzung presbyterial synodal-reformatorischer Verfassungsideale zu beweisen, nimmt einen Wendepunkt der Ansichten bei den Reformatoren an, der um 1525 gelegen habe; vorher seien jene Ideale bei ihnen lebendig gewesen, durch die Erfahrungen der Wiedertäuferei und des Bauernkrieges seien dieselben verdrängt und die Reformatoren veranlaßt worden, die tatsächliche Notwendigkeit des landesherrlichen Kirchenregiments anzuerkennen. Richter, unterstellt diesen Zusammenhang ohne näheren Beweis, der auch nicht zu erbringen sein würde. Er vergißt einesteils, daß die Prinzipien, aus welchen das landesherrliche Kirchenregiment.theologisch deduziert wird, auch schon vor 1525 vorhanden und von den Reformatoren ausgesprochen worden waren, andernteils, daß erst nach diesem Jahre die Reformation angefangen hat, kirchlich zu organisieren, es also nur auf die nach demselben von den Reformatoren realisierten Ideen ankommen kann; denn im voraus und ohne praktische Aufgaben sich ideale Verfassungssysteme zu bilden, war nicht im Geiste jener Zeit.”1)

Wie ist es nun aber möglich, so grundverschieden Systeme und Theorien aus den Schriften Luthers und der Reformatoren herauszulesen? Haben diese etwa in ihren Ansichten so sehr hin und her geschwankt, daß man für jede Möglichkeit Zitate gewinnen kann? Abgesehen davon, daß man die Aussprüche Luthers und der anderen Reformatoren stets in ihrem konkreten Zusammenhange, in ihrer historischen Umrahmung zu würdigen hat, was leicht zu mißverständlicher Beurteilung, zur Überschätzung eines einzelnen Gedankens Anlaß geben kann, ist die Erklärung die folgende: Man hat die Interpretation jener Schriften mit lediglich modernen Mitteln unternommen, man hat moderne Vorstellungen ohne weiteres unterstellt und nicht bedacht, daß die Aussprüche Luthers aus dem Geiste seiner Zeit und seine Terminologie unter dem mittelalterlichen Gesichtswinkel beurteilt sein wollen.

Luthers Weltanschauung ist nicht die moderne, sondern die mittelalterliche. Die Welt bildet eine Einheit, unum corpus christianum, dessen Haupt Christus ist. Einen begrifflichen Gegensatz von Kirche und Staat als zwei verschiedenen Gesamtpersönlichkeiten kennt Luther nicht. In dieser Einheit wirken zwei Gewalten, zwei Schwerter. Diese beiden Schwerter sind aber nicht mehr, wie das Papalsystem lehrt, einander untergeordnet, so daß das weltliche Schwert lediglich ad nutum et patientiam sacerdotis zu gebrauchen ist, lediglich ein Exekutivorgan des ersteren darstellt und nur durch den Gehorsam gegen den Inhaber des ersteren vernünftig und gottgefällig gehandhabt wird, sondern — und das ist eine wesentliche Neuerung — die beiden Gewalten sollen einträchtig nebeneinander wirken, unabhängig voneinander, jede in ihrem ureigenen Wirkungskreise mit den ihr eigentümlichen Mitteln. Die Mittel des geistlichen Amtes sind lediglich das Wort (Predigt, Sakrament, Kirchenzucht). Hier befindet sich das Predigtamt in seinem eigentlichen Wirkungskreise, in diesen darf die weltliche Gewalt sich nicht einmischen, und auch das geistliche Amt soll nur mit geistigen, nicht mit weltlichen Zwangsmitteln tätig werden, Das ist das geistliche Regiment Luthers, und dasjenige, was er unter „Kirchengewalt” versteht. Nirgendwo hat aber Luther behauptet, daß in der Kirche überhaupt kein Rechtszwang herrschen, kein juristisches, weltliches Regieren stattfinden solle. Lediglich, daß dies nicht die Aufgabe des Predigtamtes sei, wollen die verschiedenen Aussprüche besagen, welche die beiden Gewalten scharf auseinander halten. Wir haben es lediglich mit einer


➝ gehalten werde, damit den himmel und vergebung der sunde zu verdienen, sonder das dies leben uf erden um der unerfarnen und jungen leute willen, auch um der einfeltigen gemeinen leut willen, nit ane ceremonien sein mag, etliche anleitung haben muß, wie aller kirchenregiment exempele und ecclesiarum und status vor der apostel zeit her anzeigen” (Ordnung für Zerbst, 1538. Sehling, Kirchenordnungen 2. 547.)
1) Vgl. den Artikel „Kirchenregiment” in Realenzyklopädie f. protest. Theologie. (3. Aufl.)

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„Sonderung der administrativen Organisation des einen Körpers” zu tun. Auch die Obrigkeit hat in dem unum corpus christianum eine göttliche Vollmacht, sie ist nach lutherischer Lehre direkt von Gott eingesetzt; sie arbeitet mit weltlichen Zwangsmitteln zur Aufrechterhaltung der Rechtsordnung, und zwar in erster Linie zur Aufrechterhaltung der zehn Gebote Gottes (custodia utriusque tabulae), insbesondere hat sie zwecks Aufrechterhaltung der ersten Tafel an ihrem Teile mitzuwirken, daß reine Lehre im Lande gelehrt werde; die Obrigkeit ist das praecipuum membrum ecclesiae1), d.h. das hervorragendste Glied der Christenheit und daher mit besonderen Rechten und Pflichten ausgerüstet; sie handhabt die Rechtsordnung in der Kirche, in der Christenheit. Diese Rechte bilden das, was wir Modernen das juristische Regieren, das Kirchenregiment zu nennen pflegen, was allerdings Luther nicht als solches bezeichnet hat. Wenn die Reformatoren die Stellung der Obrigkeit vielfach nicht als eine Quelle von Rechten, sondern als einen Inbegriff von Pflichten charakterisieren, als ein verantwortliches Amt, so ist damit juristisch nicht viel gesagt. Denn die Pflicht schließt das Recht in sich; die Obrigkeit hat von Gott die Pflicht erhalten, die Rechtsordnung zu handhaben und damit auch die dazu erforderlichen Rechte überkommen, und schon die Verpflichtung, für die reine Lehre zu sorgen, gab der Obrigkeit alle diejenigen Rechte in die Hand, welche wir als Ausflüsse einer weltlichen Regierung zu charakterisieren pflegen. Auch ist es unzulässig, aus gelegentlichen Äußerungen Luthers (wie es z.B. Sohm tut) herauszulesen, daß die Obrigkeit dieses Recht nur vorläufig und nur bedingt bis zur Ablösung durch das Predigtamt, gewissermaßen im Notstand, also auch nur als Stellvertreterin der geistlichen Gewalt, als Notbischöfe besitzen und handhaben solle. Wie neuerdings wieder K. Müller (a.a.O. S. 72ff.) gezeigt hat, entspricht eine solche Theorie keineswegs den endgültigen und maßgebenden Gedanken Luthers.

Über die Anschauungen Luthers ist gerade in neuerer Zeit wieder viel geschrieben worden. Man vergleiche die Literatur am Kopfe dieses Paragraphen. Wenn auch die Darstellungen im einzelnen voneinander abweichen, so ist doch durch diese literarische Auseinandersetzung im großen und ganzen das oben entwickelte Bild bestätigt worden. Die Bedeutung der Theorien der Reformatoren für die tatsächliche Gestaltung der Dinge darf nicht unterschätzt, aber auch nicht, wie das neuerdings vielfach geschieht, überschätzt werden. In einer Darstellung der Verfassungsgeschichte der protestantischen Kirche braucht deshalb auf die Einzelheiten dieses Problems nicht näher eingegangen zu werden, und das um so weniger, als weder die weltliche Obrigkeit, noch auch — was ganz besonders nicht übersehen werden darf — die geistliche Gewalt — vgl. z.B. unten S. 16 — sich streng nach diesen Theorien verhalten haben.

So weit die Lehren der Reformatoren. Hoher Idealismus zeichnet sie aus. Die Kirche ist eine Gemeinschaft des Geistes. In diesem Körper, dessen Haupt Christus ist, wird die „Kirchengewalt” gehandhabt vom geistlichen Amt durch das verbum, durch lediglich geistige Mittel; die äußere Rechtsordnung ist durch die Obrigkeit, das hervorragendste Glied der Gemeinschaft, gesichert; die beiden Schwerter arbeiten in einträchtigem Vereine zu gleichem Ziele aber mit verschiedenen Mitteln. Im übrigen wird keine bestimmte Organisation als Ideal hingestellt, jede Ordnung der Dinge ist zulässig, die dem Evangelium freie Bahnen gewährt.


1) Über das Verhältnis der beiden Lehren von der custodia utriusque tabulae und vom praecipuum membrum zueinander vgl. den Artikel „Kirchenregiment” in der Realenzyklopädie f. protest. Theologie. (3. Aufl.) Bd. 10. S. 470.