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BB. Das Kirchenrecht bei den Reformatoren und in seiner historischen Entwicklung in der evangelischen Kirche

 

Im Verhältnis zur Darstellung evangelischen Kirchenverständnisses erfordert der Abschnitt, der der historischen Entwicklung evangelischen Kirchenrechts gewidmet ist, aufbaumäßig eine Umstellung eben unter Auswertung des oben gewonnenen Untersuchungsergebnisses hinsichtlich der Eigenart des evangelischen Kirchen „begriff es”, die sich in dem relativen Fehlen gerade der Begrifflichkeit kundtut.

Ausgehend in einer Vorbemerkung von der geschichtlichen Lage bei Ausbruch der Reformation, behandelt der Abschnitt zuerst Auffassungen und Wirken Luthers, Zwinglis und Calvins. Er gibt sodann eine Übersicht über die Entwicklung des reformierten Kirchenrechts und gelangt von dort zuletzt zum lutherischen „Kirchen”recht.

Zur Lage um 1500
(Vorbemerkung)

Knüpfen wir nun an die in der Untersuchung des Kirchenbegriffes vorgenommene Darstellung an, die zeigt, daß weithin die Aussagen und Worte der Reformatoren über „Kirche” letztlich erfüllt sind von ihrer nie schwankenden Überzeugung von der „einen” Kirche, dann ist damit schon die Antwort vorweggenommen auf die Überlegung, „wo” vor allem Luther, aber auch Zwingli und Calvin in „ihrer” Zeit stehen, in jener Epoche um 1500, voller Unruhe und Unsicherheit, in der sich die Welt schier unermeßlich weitet und kaum geahnte Zusammenhänge sichtbar werden, und die — noch! — zusammengehalten wird von den Gedanken einer entschwindenden ganzheitlichen Lebensordnung, die harmonisch Vernunft und Offenbarung, Verstand und Gefühl, Fürst und Bettler, Kaiser und Papst, Mensch und Gott zusammenfügt — einer Lebensordnung, die weder um Dissonanzen noch Disparitäten weiß.

Aber: die „alte gottweltliche Einheit des Frühmittelalters”1), dieser „harmonische Einklang von Vernunft und Offenbarung, natürlicher und geistiger Lebensordnung”2) — sie waren längst dahin. Die universale Welt des Hohen Mittelalters3) hatte im 13. Jahrh. ihre erhabene Verkörperung gefunden in der ausgewogenen, stellenweise fast ein wenig überzüchteten Weltschau des Thomas von Aquin und bald darauf in dem Himmel und Erde umspannenden Werk Dantes (1264-1321), der „Divina Comedia”. Der Kulminationspunkt war erreicht4).


1) Heer, Der tumbe Laie, S. 579.
2) Ritter, Luther, S. 16.
3) Von Heinrich Mitteis auf die Zeitspanne von 900 bis 1300 ungefähr begrenzt. Mitteis, Der Staat des Hohen Mittelalters, Einleitung S. 1.
4) Die Ansicht, daß sich im 13. Jahrh. eine Wende, ein Umbruch vollziehe, vertreten: Mitteis, a.a.O., S. 1-3, 424, 433 ff; v. d. Heydte, Die Geburtsstunde d. souv. Staates, S. 9-16, 439-42; Heimpel, Göttingische Gelehrte Anzeigen 1954/209, 211/212; ähnl. Gedanken in der Rede Pius XII. vor dem Historikerkongreß in Rom am 7. 9. 1955 (vgl. Herderkorrespondenz Okt. 1955) — abweichender Ansicht Joh. Spörl in „Unser Geschichtsbild” (Der Sinn d. Geschichte) München 1955.

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Seitdem beginnt der Mensch sich aus der Hut der ganzheitlichen Welt zu lösen. Und so wie das Individuum sein Selbst herauskehrt, so besinnen sich die Völker ihrer Eigenart und die Staaten ihrer Souveränität5). In den Gedankengängen des Duns Scotus (1270-1308)6), Wilhelm von Occam (1300-1347)7) und Marsilius von Padua (1280-1342)8) hebt die Betonung des Ego an, sei sie auf das Individuum, das Volk oder den sich nun allmählich von Oberitalien her entwickelnden Staat (stato) abgestimmt.

Demgemäß vollzieht sich nach dem Höhepunkt um 1300 der Niedergang von Papst- und Kaisertum verhältnismäßig rasch. Kaum hat das Papsttum unmißverständlich den Primat über alle Staatsgewalt proklamiert (Bonifaz VIII. in der Bulle „Unam Sanctum” 1302), da tut es einen Fall (Anagni 1303), von dem es sich Staats- und verfassungsrechtlich (unbeschadet aller theologischen Aktiva) nie wieder erholt hat. — Die Papst-Kaiser-Verbindung, gerade in ihrer verfassungsmäßigen Ungeklärtheit9) eine wesensnotwendige Grundlage mittelalterlicher Ordnung, zerfällt. Der Kurverein von Rhense 1338 zeigt deutlich die Lösung des Bandes; die Constitutio Licet Juris (1338) bestimmt10), daß schon die Wahl zum deutschen König die plenitudo imperialis potestatis verleihe11). Die Goldene Bulle von 135612), wiewohl für die folgenden Jahrhunderte das bewahrende Staatsgrundgesetz des Reiches, steht ziemlich am Ende dieses Auflösungsprozesses und legalisiert insofern, wie gesagt worden ist, in Deutschland (von Italien ganz zu schweigen) die Anarchie13).

Während um 1500 die geistigen, soziologischen und politischen Umwälzungen im Innern des Corpus Christianum die hoch-mittelalterliche Welt-Ganzheit zu einer Fiktion haben werden lassen14), wirkt das Ausgeglichen-Sein jener Epoche lange und nachhaltig weiter. Gerade in den Köpfen der Besten ist das Gefühl für die „eine” Welt zu Luthers Zeiten noch sehr lebendig. Das Recht hält vermöge seines statischen Charakters ganz besonders an der Fiktion einer universalen Welt fest. Die „harmonische Einheit friedlicher Ausgeglichenheit”15) des Mittelalters hatte ihre Wurzeln eben auch in einem universalen Rechtssystem gehabt16). Das Sacrum Imperium Romanum forderte wesensmäßig ein „ius utrumque”17). Drum waren die „beiden Rechte” sinnfälliger Ausdruck eines „kirchenrechtlich abendländischen Universalismus”18) gewesen.


5) Deutliche Anzeichen dafür bezüglich der Hoheit der Landesfürsten finden sich schon in der „Confoederatio cum principibus ecclesiasticis” von 1220 und dem „Statutum in favorem principum” von 1232! vgl. Mitteis, a.a.O., S. 345-352.
6) von Aster, Geschichte der Philosophie, S. 164, 165.
7) von Aster, a.a.O., S. 165, 166.
8) Vgl. v. d. Heydte, a.a.O., S. 108, 109.
9) Vgl. Scharp, Abschied von Europa, S. 70.
10) Brunner, Grundzüge zur Deutschen Rechtsgeschichte, S. 124.
11) Bedingt derogierte die Goldene Bulle (1356) dieser Bestimmung, indem sie für den erwählten König die alte Formel „rex in imperatorem promovendus” wieder aufgriff.
12) Wortlaut s. „Quellen zur Neueren Geschichte” Univ. Bern, Heft 25, 1957, S. 10-99.
13) Bryce, Holy Roman Empire, p. 246.
14) Der realpolitische Reichsreformentwurf macht sie offenbar, den Nic. v. Cues 1440/42 während des Baseler Konzils vorlegt. Dazu: Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 438; Schultz, Die Staatsphilosophie des N. v. Cues, S. 57-61; Meissinger a.a.O., S. 186-88.
15) Adam Marsh (um 1250) zitiert nach v.d. Heydte, a.a.O., S. 13, vgl. dortige Anm. 3.
16) Plöchl, Geschichte des KR I, S. 22.
17) Vgl. Schönfeld, Grundlegung der RW, S. 243.
18) Plöchl, ebendort.

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In den Tagen Luthers nun galt im Rechtsleben noch immer — ja, galt erst recht — das Ius utrumque. Soeben waren die Richter des Reichskammergerichtes angewiesen worden (7. Aug. 1495), nach „des Kaisers und nach des reichs gemainen rechten” zu urteilen19). Unter dem „Gemeinen Recht” wird das Römische Recht verstanden, dessen Rezeption um 1500 in deutschen Landen in ihr Schluß-Stadium eintritt. Einen reichsrechtlich anerkannten Teil20) dieses „Gemeinen Rechts”21) bildet das Corpus Juris Canonici22).

Erkenntnis und Würdigung der Behandlung des Kirchenrechts in der Reformation stehen in einem leeren Raum23), wollten sie nicht die Verzahnung von Kirchenrecht und Reichsrecht in jener Zeit berücksichtigen, die auf der Beibehaltung der Fiktion eines gott-weltlichen „Reiches” beruht, ungeachtet seiner seit langem eingetretenen Veränderungen, ungeachtet, jedoch nicht unbeschadet des weithin vernehmbaren Aufbegehrens in seinem Inneren. Nicht allein die Frage nach dem „Recht” ist um 1500 problematisch geworden24), sondern ebenso die Frage nach der Gerechtigkeit25).

 

I. Das Kirchenrecht bei Luther

 

Luthers „eine” Kirche ist ein Stück des Corpus Christianum. Sein „heiliges heufflin”, die „gemeine Versammlung”, seine rührend kindliche Bezeichnung: „die heiligen Gläubigen und die Schaf lein, so ihres Hirten Stimme hören”26) — sie alle finden nur Platz in der hoch-mittelalterlichen Weltordnung. Sehr treffend bemerkt Meissinger: „Wer sich mit Luthers Zeit beschäftigt, der muß immer wieder durch eine künstliche Denkoperation diesen grundanderen Zustand in seinem Bewußtsein rekonstruieren”27).

Trotz des nicht zu leugnenden rationalen Einbruches in Luthers Werk, der recht eigentlich ein irrationaler ist28), lebt er — vielleicht mehr unbewußt als bewußt — in und aus einem ganzheitlichen Weltzusammenhange. So steht denn der Reformator „diesseits und jenseits des Mittelalters”29) — aber das „Jenseits” zieht stärker in ihm.


19) Vgl. Härtung, Deutsche Verf.gesch., S. 50.
20) Vgl. Boehmer, Der junge Luther, S. 307.
21) Zwar bleibt das Römische Recht formell immer sekundäres Recht, das erst nach Ausschöpfung vorhandener Landesordnungen und des Gewohnheitsrechts anzuwenden ist. Allerdings setzt sich die Übung durch, daß in dubio das Canonische Recht dem Rom. Recht vorangehe. (Vorrang der Canonisten vor den Legisten!)
22) Womit also Ketzer außerhalb der Kirche und ipso iure außerhalb des Reiches standen!
23) Gerade dann, wenn ev. Kreise sich heute restaurativ an sie klammern.
24) „Das weltlich Recht, hilf Gott, wie ist es ein Wildnis worden”, klagt Luther (Oeschey, Luther und das Recht, S. 288).
25) Gwinner in: Radbruch, Gesch. d. Verbrechens, S. 125.
26) Vgl. die Quellenangaben S. 23.
27) Meissinger, Der kath. Luther, S. 19.
28) Vgl. Außenpolitik, 1952, III, S. 585.
29) Scharp, a.a.O., S. 81.

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1. Luther — der Jurist?

In der Auseinandersetzung um Kirchenrecht, aber auch ganz allgemein, treffen wir auf die teils angedeutete, teils nachdrückliche Feststellung, daß Luther Jurist gewesen sei. Neuerdings ist die Meinung laut geworden:

„Man hat in der Lutherforschung im allgemeinen auch den Umstand bisher viel zu wenig beachtet, daß Luther als Denker immerhin auch und nicht ohne deutliche ,Folgen’ durch sein Studium der Jurisprudenz mitbestimmt ist.”30)31)

An diesem „Umstand” läßt sich nicht kurzerhand vorbeigehen. Wie steht es mit dem „juristischen” Studium bei Luther?

Die Tatsachen sind schnell aufgezählt32). Von 1501 bis 1505 studierte Luther an der „Artistenfakultät”, die der philosophischen Fakultät heutigen Sprachgebrauches etwa entspricht, der Universität Erfurt. Es handelt sich hier um ein weit gefaßtes Studium generale, das Philosophie, Mathematik und Philologie umschließt, wobei zu bedenken ist, daß die mittelalterliche Theologie gemäß der universalen Weltordnung alle „Wissenschaften” umspannte33).

Anfang Februar 1505 erhält Luther das braune Magisterbarett eines „magister artium”. Zu Hause in Mansfeld nun, besonders auf Betreiben des Vaters, „wird beschlossen, daß Martinus ein Jurist werde”34). Die juristischen Vorlesungen in Erfurt aber beginnen 1505 erst am 20. Mai. Doch schon am 20. Juni nimmt Luther mitten im Semester Urlaub. Er zieht nach Mansfeld und bricht am 30. Juni wieder nach Erfurt auf. Es kommt am 2. Juli zu dem alles weitere entscheidenden Erlebnis des jungen Studenten während eines schweren Gewitters vor Stotternheim35). Was hier in dem Menschen Luther vorgeht, läßt sich wissenschaftlich weder bis ins letzte erklären, noch „ergründen”; irgendwie trägt dieser „Einbruch” (die Kirche wird sagen: „göttlicher Gnade”, die Welt: „existentieller Angst”36) Züge der Damaskus-Szene.

Am 17. Juli 1505 tritt Luther in das Schwarze Kloster der Augustiner Eremiten zu Erfurt ein. —

Wollte man kleinlich sein, so ließe sich ausrechnen, daß Luther gut vier Wochen „Jura studierte”37). Sicherlich kommt er während des theologischen Studiums, Mai 1507 — Herbst 1508, und während der Professur in Wittenberg mit dem Kanonischen Recht in Berührung, aber immer von der Theologie her und auf diese bezogen, so daß sich hier ebenfalls ein „Studium” der Jurisprudenz nicht begründen läßt.


30) Ernst Wolf in der Buchbesprechung zu Jon. Heckel, „Initia iuris . . .”, ZEK Bd. I, 1951, S. 103.
31) Ähnlich Ernst Wolf in der Besprechung d. Buches „Lex charitatis” von Heckel: „Luther ist vom juristischen Studium, dem er sich allem Anschein nach in reger Beteiligung zu seinen Aufgaben zugewendet hat, auf einem Wege zur Theologie gekommen, der nichts mit einer aus der Sache stammenden Ablehnung jenes Studiums zu tun hat.” (ZEK Bd. 4, S. 225)
32) Zum Folgenden: Boehmer, a.a.O., S. 31-37.
33) Scharp, a.a.O., S. 79.
34) Boehmer, a.a.O., S. 38.
35) Boehmer, a.a.O., S. 39.
36) Selbst Luthers Vater sprach von Teufelsspuk!
37) Die Untersuchungen von Meissinger, a.a.O., S. 30 und Oeschey, Luther und d. Recht, S. 289 ergeben keinerlei abweichende Anhaltspunkte. Die Bücher von Bainton und Thiel tragen zu diesen Vorgängen nichts bei.

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Die Tatsache, daß Luther ganz am Ende seines Lebens als Schlichter und Schiedsmann in einer Streitsache der Grafen von Mansfeld wirkte38), in der es vor allem um Probleme des Privatrechtes und des landesherrlichen Kirchenregiments ging39), besagt weder, daß der Reformator „Jurist” war noch sein mußte. Seit alters her besteht das Wesen der Schiedsgerichtsbarkeit nicht zuletzt darin, daß in ihr Persönlichkeiten kraft ihrer Lebenserfahrung und ihres hohen allgemeinen Ansehens um eine gütliche Einigung, einen Ausgleich, zwischen den streitenden Parteien bemüht sind, ehe diese vor Gericht ihr „Recht” suchen40).

Aber nicht nur ausbildungsmäßig, auch anlagemäßig ist die Annahme des Jurastudiums nicht zu rechtfertigen. Luther, den hohe Gemütswerte auszeichneten, der zu Zeiten fröhlich, zu Zeiten tief niedergeschlagen sein konnte, den der Zorn oft mehr übermannte als er jenen41), vermochte der dem Außenstehenden „spröden” Materie der Jurisprudenz keine Vorliebe abzugewinnen. Immer wieder stößt man in der Beurteilung des Reformators auf die Einsicht, „daß seine Stärke nicht auf dem Gebiete der Organisation lag”42). Aufschlußreich dürften hier Ansichten der heutigen Psychologie sein, auch wenn man sie sich mit Vorbehalt zu eigen macht. Ausgehend von der Annahme, daß Luther „bei stark ausgeprägten cyclothym-hypomanischen Temperamentszügen eine Neigung zu endogenen Gemütsschwankungen zeige”, wird in ihr die Feststellung vertreten:

„Seinem Typus fehlt das geschmeidig Konziliante . . . und das Organisationstalent. Seine Größe liegt in dem lodernden Feuer, das . . . im ersten Anlauf alles entzündet, vorwärtsreißt, während der Ausbau anderen überlassen bleibt.”43)

Abgesehen von der Ausbildung und Anlage, ist zu überlegen, ob Luther überhaupt von dem Anliegen her, das ihn sein Leben lang beschäftigte — die Frage des Kerkermeisters von Philippi — zu einem gedeihlichen Verhältnis zum Recht gelangen konnte. Das Recht, verstanden als Norm, als Ordnung, bedingt eine Vielheit; „es gibt keine Ordnung des einzelnen isolierten Ichs”44). Luthers schöpferische Urfrage — „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?” — meint, wie Meissinger richtig erfühlt, „zunächst ohne Zweifel ihn selbst, das Individuum Martin Luther.”48)

(Das „Zunächst" entscheidet das Verständnis. Hier ist eine Wurzel des Unterschiedes zum Gemeindegedanken Calvins und der Reformierten. Neuerdings fraglich bei Barth. — Hier tritt gleichfalls eine Antinomie zutage, die darin beruht, daß das „Individuum” Martin Luther sich andererseits noch so völlig der ganzheitlichen Weltordnung des Hohen Mittelalters verhaftet fühlt.)


38) Vgl. die ausführliche Darstellung von Stammler, „Luther im Schiedsgerichte der Grafen von Mansfeld.” in „Deutsches Rechtsleben im Alten Reiche”, S. 107-118.
39) Stammler, a.a.O., S. 108-111.
40) Was in der Streitsache Mansfeld, vom Patronatswesen abgesehen, dann doch geschah. Der Rechtsstreit fand erst 1872 (I) sein formelles Ende. Vgl. Stammler a.a.O., S. 111-113.
41) Heer sieht in Luther den „radikalen Ekstatiker”, Europ. Geistesgesch., S. 683, Anm. 256, 22.
42) Hauck, a.a.O., S. 71; vgl. Ritter, Luther, S. 111 ff.
43) Ernst Kretschmer, Körperbau und Charakter, Untersuchungen zum Konstitutionsproblem, S. 326.
44) v. d. Heydte, Freiheit und Ordnung im Recht, NA., 1953, S. 483.
45) Meissinger, a.a.O., S. 119.

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Im Grübeln und Ringen um seine Lebensfrage gelangt Luther, „durch das Kloster gebildet”46), schon früh in den Psalmenvorlesungen und dem Römerbrief zu der Ansicht, daß Gottes iustitia nichts anderes sei als seine misericordia47). Er spricht vom „lebendigen Gesetz Christi, welch’s ist der geyst gotts”48).

Auf diesem Wege ist ein Zugang zum Wesen der Ordnung, zur Norm, schwerlich zu finden; denn wo immer sich dem Menschen das Recht versagt, bleibt ihm stets die Aussicht auf Gnade. Sosehr Luther einen ausgeprägten Sinn für (subjektive) Gerechtigkeit besaß, sowenig vermochte er das Recht, insbesondere die Gesetzgebung, zu würdigen49).

Luthers Lebensfrage, seine Veranlagung und seine Ausbildung machen verständlich, was Ritter hinsichtlich der im Alltag erforderlichen Gesetze und Maßnahmen in den Worten wiedergibt:

„Er begriff nicht die Wichtigkeit, mit der die Wittenberger diese Sorgen behandelten; alles das mußte sich ja ganz von selbst regeln, sobald erst einmal durch die Predigt des Wortes die neuen Menschen geschaffen waren, innerlich frei vom Zwang des alten Gesetzes kraft des in ihren Herzen waltenden Glaubens.”50)

Es ist an der Zeit, im Sinne einer einsichtigen Diskussion um die Möglichkeit evangelischen Kirchenrechts, die Verzeichnung Luthers als „Jurist” (an der der Heroenkultus jedweder Schattierung sein Quentchen Schuld trägt) aufzugeben. Was wäre auch damit gewonnen, der Persönlichkeit Luthers à tout prix das Merkmal des „Juristischen” einzuimpfen. Um wieviel einfühlender wird „der" deutsche Reformator dort verstanden, wo man erkennt, daß seine Schwäche als Jurist, als Organisator, mit den tiefsten Vorzügen seines Wesens untrennbar verbunden ist51).

 

2. Luther — der Politiker?

Die Beurteilung Luthers als Politiker hängt teils eng, teils lose mit seiner Einschätzung als Jurist zusammen. Verstehen wir juristisch unter „Politik” die auf Zweckmäßigkeitserwägungen beruhende leitende Tätigkeit im öffentlichen Leben, dann darf getrost gesagt werden, daß dieses „politische” Terrain ihm fremd war52).

Gedankengänge des modernen Realpolitikers waren ihm, den zeit seines Lebens der Zweifel plagte, ob der Mensch göttlicher Gnade teilhaftig werden könne, „schlechthin unverständlich”53). Er fühlte sich noch so sehr geborgen in der organischen Universalität mittelalterlicher Lebensordnung, daß für ihn Demokratie gleichbedeutend mit Umsturz war54). Revolution


46) Lortz, Gesch. d. Kirche, S. 276.
47) Förster, Sohm widerlegt, S. 341.
48) WA 8, 539.
49) Vgl. Schönfeld, Grundlegung der Rechtswissenschaft, S. 305.
50) Ritter, Luther, S. 149.
51) Ritter, a.a.O., S. 236.
52) Ritter, a.a.O., S. 223.
53) Ritter, a.a.O., S. 140; vgl. S. 187/88; 216/218.
54) Köhler, Zwingli, S. 207; zu Luthers Einstellung zum „Kaiser”, Ritter, a.a.O., S. 223.

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gar galt als der gröbste und schwerste Rechtsbruch aus seiner Sicht55). In dem übersehen dieser seiner Grundhaltung liegt der Angelpunkt des Mißverständnisses, dem seine Schrift „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern” (1525) in der Beurteilung bis heute begegnet.

Den Vorgängen des Reichsritteraufstandes 1522/23 und des Bauernkriegs 1525, den Auseinandersetzungen um eine Einigung und Reform des Reiches stand er fassungslos gegenüber und blieb zeit seines Lebens „ein Professor und gehorsamer Untertan seiner Kursächsischen Obrigkeit”56), der zudem das Pech hatte, auf Grund der raschen Ausbreitung der Buchdruckerkunst als erster der Geißel der Publicity ausgeliefert zu sein57).

Unter diesem Gesichtspunkt wirkt Meissingers Ansicht bedenklich, wenn er aufzeigt, daß zwischen 1517 und 1521 alles darauf hindrängte, die aufbegehrenden, reformfreudigen Kräfte zusammenzufassen und mit ihrer Hilfe der deutschen Sache zum Siege zu verhelfen, und dann von Luther sagt: „Dieser Aufgabe ist er ausgewichen”58). Wahrscheinlich hat der mächtigste religiöse Geist jener Zeit darin überhaupt keine missio gesehen. Und sollte er doch hier eine „Aufgabe” erkannt haben, liegt die Größe Luthers dann nicht gerade darin — auch diese Überlegung ist für sein Verhältnis zum Kirchenrecht gleichermaßen bedeutungsvoll — daß er, der mit der ruhig abwägenden Besonnenheit eines Staatsmannes nicht ausgestattet war59), dafür aber mit der feinen „Witterung für das Unmögliche”60), seine Grenzen erkannte und „seine (zweifellos vorhandene) Führerstellung nicht übernahm”61)?

 

3. Das Kirchenrecht — ein Adiaphoron

a) Luther und die Juristen

In der Darstellung der Haltung Luthers zum Kirchenrecht erscheint der Hinweis auf seine wenig schmeichelhaften Worte über die Justiz, bzw. die Juristen gemeinhin an weithin sichtbarer Stelle1).

Dazu ist zuerst an die Ausgangsfrage zu erinnern. Die weithin bekannten Zornesäußerungen richten sich gegen die Rechtszustände in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts; Luther begehrt auf gegen die Existenz weltlichen Rechtes in der von ihm geglaubten „Kirche” — ein Eindruck, der vermöge der Verzahnung von Kirchen- und Reichsrecht optisch immerhin entstehen konnte. Teilweise ist Luthers Haltung zum „Recht” Ausfluß seiner Geringschätzung der „Vernunft”2), hatte doch gerade die Renaissance das Römische Recht zur „raison écrite” erhoben!3) Aber besagt seine


55) . . . deren Richtigkeit nach klassischem Staatsrecht man ohnehin nie in Zweifel ziehen sollte!
56) Meissinger, Die deutsche Tragödie, S. 182; vgl. Scherr, Deutsche Kultur- u. Sittengeschichte, S. 305.
57) Vgl. Scharp, a.a.O., S. 97.
58) Meissinger, a.a.O., S. 185.
59) Ritter, a.a.O., S. 225.
60) Heer, Europ. Geistesgeschichte, S. 259.
61) Dazu Schoch, Die deutsche Tragödie 1521 (Buchbesprechung zu Meissinger), NZZ 17. 10. 1953, Bl. 4.
1) Sohm, Kirchenrecht, I, S. 624 ff.
2) Heer, a.a.O., S. 250.
3) Simons, Religion und Recht, S. 21.

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Skepsis gegen weltliches Recht und die Juristen implicite eine Ablehnung jeglichen Kirchenrechts?

Sodann dürfen die harten Worte Luthers über den Juristenstand nicht überbewertet werden, ohne daß man nun sogleich ins andere Extrem fallen sollte, die Jurisprudenz dagegen zu verteidigen oder Luthers Grobheiten zu verharmlosen.

Es gehört zu dem Eigenartigsten in Luthers Wesen, daß dieser Mensch, der geistliche Lieder von tiefster Innerlichkeit dichtete und in der Bibelübersetzung über deren religiösen Gehalt hinaus ein Werk selten erreichter Sprachkunst schuf, sich im Zorne zu einer derartig drastischen Ausdrucksweise hinreißen lassen konnte, die unser in solchen Dingen weder empfindliches noch kleinliches Saeculum nicht voll nachzuzeichnen vermag. Derbheit4), Grobheit und Urwüchsigkeit der damaligen Zeit5) haben zu den kräftigen Sprachbildern sicherlich das Ihre beigetragen, aber sie reichen nicht aus, diesen Pfuhl übler Scheltworte als Entgleisung darzutun. Heers Ausdruck „sakrale Schelte”6) läßt das Schaurige an diesem Phänomen ahnen.

Das übersprudeln in maßlosem Zorn7) klingt in Luther nicht in zunehmenden Jahren ab. Seine Reizbarkeit nimmt nach 1526 noch zu8). Das geifernde Schimpfen erreicht ein Jahr vor seinem Tode in der von protestantischer Seite ein „bitterböses Pamphlet”9) genannten Schrift „Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet” (1545) den Gipfel. Die Uferlosigkeit der Ausdrucksweise verliert sich streckenweise in Zornraserei.

Wenn Luther von „Schandjuristen”10) spricht, „Juristen und Eselsköpfe” gleichsetzt oder die Juristen zu den „Bütteln, Henkern oder ähnlichem Gesinde” zählt11), wirken diese Vergleiche und Bezeichnungen noch gemäßigt gegenüber der abgründigen Ausdrucksweise, die er gegen den congenialen und noblen Zwingli und dessen Anhänger in den Schriften gegen die „Sakramentierer” anwendet, von denen Ritter nicht umhin kann festzustellen, daß „ihr Ton stellenweise schlechthin unerträglich” sei12).

Gemessen an dem „Hohn und Spott”, mit denen Luther seine Widersacher zu bedenken pflegte, kann man alles in allem sagen, unter Verwendung der heutigen Alltagssprache, daß die Juristen „noch recht gut dabei wegkommen”. —

Ein Teil der Lutherschen Worte über die Juristen finden sich in den „Tischreden”. Auch ihre Wertung erfordert Vorbehalte. Hier handelt es sich oft um leicht hingeworfene Bemerkungen. Es hat den Anschein, als habe in ihnen das meisterliche Sprachgefühl und die Lust am Bonmot den Reformator manchmal zu gewagten Formulierungen verleitet, die „nicht so schlimm” gemeint waren. Dahin mag der Ausspruch gehören:


4) Ritter, a.a.O., S. 229.
5) Meissinger, Der kath. Luther, S. 99-100.
6) Heer, Europ. Geistesgeschichte, S. 249.
7) Ritter, a.a.O., S. 228.
8) Ritter, a.a.O., S. 192.
9) Ritter, a.a.O., S. 227.
10) Oeschey, Luther und das Recht, S. 288.
11) Oeschey, a.a.O., S. 293.
12) Ritter, Luther, S. 215.

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„Juristen sind oft Christi Feinde, wie man sagt: ein rechter Jurist ein böser Christ.”13)

Hat doch Doktor Martinus an anderer Stelle gemeint, daß die Jurisprudenz „ein fein Kunst”14) sei . . .

Vielleicht auch reicht Luthers Abneigung gegen die Juristen tiefer. Liegt hier nicht ein Stück des Kampfes Luthers gegen sich selbst? Fühlte er, daß die einseitige Entwicklung der Satisfaktionstheorie, dadurch die drohende Verlagerung des Christentums in einen extremen Paulinismus, stets Gefahr lief, das religiöse Erleben in ein Schema von Rechtfertigungsformeln zu pressen?15) Es ist paradox und doch nicht zu leugnen: Dem Kernstück seiner Verkündigung, dem „Gerecht vor Gott, allein durch den Glauben”, haftet etwas Juridisches an16). So war denn jeder Schlag gegen die Juristen zugleich ein Aufbäumen Luthers gegen das Erdrückt-Werden von Formeln in sich selbst. —

Luthers Worte und Äußerungen zum Recht und den Juristen sind nicht einheitlich. Nicht zuletzt auf sie trifft Heers Feststellung zu:

„Unschwer läßt sich sein Schrifttum in eine aphoristische Sammlung von Widersprüchen auflösen; fast jedes Lutherwort kann ,widerlegt’ werden durch ein Gegenwort von ihm selbst.”17)

Auf diese Weise bietet Luthers auf Grund des Schrifttums der folgenden Jahrhunderte sprichwörtlich gewordene Aversion gegen die Juristen, unter großzügiger Gleichsetzung von Recht und Gewalt, keine Anhaltspunkte, aus ihr eine strikte Absage an jegliches Kirchenrecht zu begründen.

b) Die Bücherverbrennung vor dem Elstertor

Als eine „ganz große Sache” in Luthers Verhältnis zum Kirchenrecht wurde und wird immer noch der Vorgang in den frühen Vormittagsstunden des 10. 12. 1520 auf dem Schindanger vor dem Elstertor zu Wittenberg aufgezogen.

An diesem neblig trüben Morgen läßt Luther in die Flammen eines dort aufgeschichteten Scheiterhaufens Bücher des Kanonischen Rechts18) werfen. Mit ihnen verzehrt das Feuer die Summa angelica des Angelo de Chiavasso19) und Schriften von Eck und Emser. Luther selbst, „der zitternd und betend herangetreten war”20), übergibt die Bannandrohungsbulle


13) Vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 291; vereinfacht wurde dieser Ausspruch zu dem Satz; Juristen sind böse Christen.
14) Oeschey, Luther und das Recht, S. 288.
15) Vgl. Benz, Wittenberg und Byzanz, S. 109; Albert Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus, S. 201-221.
16) Vgl. Benz, a.a.O., S. 110; Leese, Religion d. prot. Menschen, S. 273-276. Bei Ernst Wolf, dem es um die Betonung des Vorhandenseins einer „Rechtslehre” Luthers geht, heißt es: „In der Mitte von Luthers theologischer Arbeit steht unbestritten der Rechtfertigungsgedanke . . . Die Vokabel ,Recht’ steht auf jeden Fall in der Mitte dieses theolog. Zentralsatzes”. (ZEK Bd. 4, S. 227).
17) Heer, Europ. Geistesgeschichte, S. 245.
18) Nach Boehmer (Der junge Luther, S. 303) handelte es sich um „die drei großen Bände der Pariser, Baseler und Rostocker Ausgabe des Kanonischen Rechts”. Klein spricht nur von den „päpstlichen Dekretalen.” (Grundlegung und Grenzen, S. 28, Anm. 1.)
19) Boehmer, a.a.O., S. 303 — bei Leese, Religionskrisis, S. 391, Angelus de Clavassio genannt.
20) Boehmer daselbst.

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„Exsurge Domine” vom 15. 6. 152021) den Flammen. Umgeben ist die Szenerie von einigen Freunden Luthers und Wittenberger Studenten.

Soweit der Sachverhalt. Er ist bar jeder Romantik und jeden Heldentums. Wer von dem Professor und Mönch, wie Boehmer bemerkt, „wirklich so etwas wie ein Schauspiel erwartet hatte, der war also in keiner Weise auf seine Rechnung gekommen”22).

Zu einem Fanal wird diese kurze Episode an einem Dezembermorgen erst durch die Art, wie sie — unglaublich schnell — in deutschen Landen Verbreitung findet, wobei die große Masse auch hier, wie so oft in der Reformation, nur die (höchst willkommene!) Lockerung und Lösung von den Banden bisheriger kirchlicher Gesetze erblickt23). Und furore macht der Auftritt vor dem Elstertor bis heute hin in der Auseinandersetzung um evangelisches Kirchenrecht, weil man ihm zu entnehmen versucht, daß Luther dort „schon das ganze Kirchenrecht verbrannt”24) habe, wiewohl Ereignisse unserer Tage längst sinnfällig gemacht haben sollten, wie zwielichtig jede Bücherverbrennung wirkt.

Sicher ist, daß weder von Luther selbst, noch von seinen Zeitgenossen die Verbrennung der Bannandrohungsschrift als entscheidend angesehen wurde25). Sodann fällt auf, daß es völlig unvorbereitet zu diesem Eklat kam26). Wir haben es hier mit einer für Luthers Wesensart bezeichnenden spontanen Reaktion zu tun. Und diese Reaktion kam nicht von ungefähr. Am 8. Oktober in Löwen und am 12. Oktober in Lüttich, schließlich am 12. November in Köln, hatte ein päpstlicher Abgesandter, Hieronimus Aleander27), die Schriften Luthers öffentlich verbrannt28). Einzelheiten dieser Autodafes erfährt Luther wohl erst Anfang Dezember. Er schlägt sogleich prompt zurück.

Somit bedeutet das Feuer vor dem Elstertor zuerst einmal einen Schlag gegen die von päpstlicher Seite gestarteten Gewaltaktionen29) (die formell kanonisch und reichsrechtlich ihre Legitimation besaßen). Zum anderen liegt ein Aufbegehren zweifellos gegen das Kirchenrecht vor, aber nicht gegen alles und jedes Kirchenrecht, sondern gegen das Kirchenrecht hie et nunc, wie es sich zur Zeit Luthers objektiv präsentiert und, auch das gehört zur Wertung des Vorganges, wie er es subjektiv empfindet. Vor dem Elstertor geht es um die Abwehr des Eindringens weltlichen Rechts in die Kirche. In der Hitze des Scheiterhaufens schmilzt das das Evangelium umkapselnde (aber auch zusammenhaltende) „gläserne Latein”30) der juridischen Formeln kanonischen Rechts dahin. In Feuer und


21) Vgl. Boehmer, a.a.O., S. 288; Leese daselbst.
22) Boehmer, a.a.O., S. 305.
23) was in anderem Zusammenhang Melanchthon sehr klar erkannt hat; vgl. Radbruch, Geschichte des Verbrechens, S. 102.
24) Oeschey, Luther und das Recht, S. 297; Sohm KR, Bd. 1, S. 460-64.
25) Vgl. Boehmer, a.a.O., S. 306; Meissinger, Der kath. Luther, S. 239.
26) Boehmer, a.a.O., S. 303; Meissinger, a.a.O., S. 238.
27) Seine Stellung am Hofe des jungen Karls V. ist juristisch in jenen Monaten schwierig zu bestimmen.
28) Vgl. Boehmer, a.a.O., S. 299-302.
29) Ritter, a.a.O., S. 128.
30) Kolbenheyer, Paracelsus, S. 13 und 16.

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Rauch tut sich noch einmal das glaubensmäßige Widerspiel zwischen Sacerdotium und Imperium kund31).

Da aber die Zeit fortgeschritten ist und der Schwebezustand zwischen ihnen zur Chimäre wurde, trifft Luther im Kanonischen Recht auch das Reichsrecht. Indem er das Kanonische Recht (allein für die Kirche!) abtut, rüttelt er an der ältesten Grundlage für das Rechtsbewußtsein (nicht nur der Kirche!) der abendländischen Christenheit32). Mit dem Schlag gegen das Kanonische Recht qua Reichsrecht rebelliert der Wittenberger Mönch gegen die überkommene, nicht mehr tragfähige Gesellschaftsordnung.

Fürwahr, diese großen Zusammenhänge rechtfertigen, daß der Venetianische Gesandte am kaiserlichen Hofe, Andrea Rosso, Luthers Auftritt vor dem Elstertor „una cosa grande” nannte33).

Hingegen deutet wenig darauf hin, daß dieselbe Episode im Rahmen der Kirchenrechtsproblematik bei Luther den Rang einer cause celebre habe. Luthers Kampf um die „eine” Kirche, die geglaubte Kirche, ist immer, so auch an jenem Dezembermorgen, ein Ringen um ihre Entweltlichung34), mithin ein Kampf gegen das reichsrechtlich verankerte päpstliche Gesetzbuch. Aber das Verneinen eines vorhandenen, also bestimmten Kirchenrechts und die radikale Absage an jedes eigenständige Kirchenrecht sind zweierlei.

Die Schrift Luthers, die eine gewisse Erklärung der Vorgänge vom 10. Dezember 1520 bietet — „Warum des Papstes und seiner Jünger Bücher verbrannt sind” — zeigt die ganze Empfindlichkeit Luthers gegenüber jeder Vermengung von Glaube und Recht, von Kirche und „Welt”35). Das Corpus Iuris Canonici der damaligen Zeit dünkt ihm eine Profanierung des Kirchlichen. Dieses Kirchenrecht bekämpft er, wiewohl er zugibt, daß selbst in ihm Gutes enthalten sei36). Die Elstertor-Episode als Symbol der Verdammung jeglichen Kirchenrechts37) wird weder hier noch an anderen Stellen sichtbar und läßt sich nicht belegen38).

c) Die Regimentenlehre

Für Luthers Haltung zum Kirchenrecht ist die von ihm vertretene sog. „Regimentenlehre” von gravierender, oft in diesem Zusammenhang nicht gebührend berücksichtigter Bedeutung.

Die Vorstellung Luthers von den zwei „Regimenten” wird zentral gesteuert von seinem Kirchenverständnis. Zwischen beiden besteht eine unauflösliche Wechselbezüglichkeit. So wie Luthers geschaute „Kirche” nicht in den Doppelrahmen „sichtbar-unsichtbar” paßt, so entspricht den beiden „Regimenten” nicht das Begriffspaar Staat und Kirche (erst recht nicht


31) Vgl. Hauck, a.a.O., S. 17.
32) Meissinger, a.a.O., S. 239.
33) Boehmer, a.a.O., S. 307; vgl. Meissinger daselbst.
34) Vgl. Hauck, a.a.O., S. 262.
35) Boehmer, a.a.O., S. 306 und 308.
36) Boehmer, a.a.O., S. 309.
37) wie sie Sohm KR, Bd. 1, S. 461 ff und seitdem viele andere gesehen haben. Neuerdings z.B. Emil Brunner, Das Mißverständnis der Kirche (1951), S. 110.
38) Holstein KR, S. 84-85.

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„Politik und Kirche”). Der moderne Begriff vom Staate gar als einer mit ursprünglicher Hoheitsgewalt ausgestatteten Gebietskörperschaft erweist sich auf Luthers Gedanken als schlechterdings unanwendbar.

Der Gedanke des Doppelregiments führt eigentlich nur sein Verständnis der „spiritualen” Kirche fort. Ebenso wie hier, vergeistigt er dort. Das Uranliegen Luthers, die Reinigung der geistlichen Sphäre von allem, was die Beziehung zwischen Mensch und Gott stören könnte, trägt auch seine Regimentenlehre.

Alles, was nicht in den geistlichen Raum gehört, sieht Luther nur in Beziehung auf diesen. Die weltlichen, anders ausgedrückt, irdischen Gegebenheiten existieren nicht „für sich”39). Für Luther dienen sie alle irgendwie zur Reinhaltung und Förderung des geistlichen Regiments. Nur in diesem Sinne darf man behaupten, daß er alles, was nicht „geistlich” ist, abschichtet und abdrängt.

Zu diesem Abgeschichteten und Abgedrängten gehört sicherlich alles „weltliche” Recht. Aber das Kirchenrecht? —

In der Schrift „An den christlichen Adel von des christlichen Standes Besserung” (1520) meint Luther:

„Vernünftige Regenten neben der Heiligen Schrift wären übrig recht genug.”40)

An anderer Stelle sagt er:

„Darumb muß man diese beyde regiment mit vleysz scheyden vnd beydes bleyben lassen / Eyns das frum macht / Das ander das eußerlich frid schaffe vnd boesen wercken weret / keyns ist on das ander gnug ynn der wellt.”41)

Ganz ähnlich wendet sich Luther am 5. Mai 1525 an den Danziger Rat, indem er ausführt:

„Aber das Evangelium ist ein geistlich Recht, danach man nicht regieren kann . . . . . darumb soll man das geistlich Recht des Evangelii ferne scheiden vom äußerlichen weltlichen Regiment und ja nicht durch eine anders mischen.”42)

Anknüpfend an ein Bild der Kirche als die „Schäflein, die ihres Herrn Stimme hören”, wendet er ein anderes Mal das Zusammenleben der Herzenschristen mit Namenschristen und Nicht-Christen auf die Situation im Tierreich an und legt dar, daß die Schafe wohl Frieden halten möchten, aber von den wilden Tieren würden gejagt und zerrissen werden . . . „Also ist des weltlichen Regimentes Wert und Ehre, daß es aus wilden Tieren Menschen macht und Menschen erhält, daß sie nicht wilde Tiere werden”43).

Der Reihe nach ergibt sich aus den angeführten Quellen
— in der ersten Version, daß für Luther die Heilige Schrift überhaupt „Recht” ist oder wenigstens enthält,
— in der zweiten Ansicht, daß auch das, was fromm macht, ein Regiment


39) Vgl. Reischle, Sohms Kirchenrecht. S. 17.
40) Vgl. dazu Liermann KR, S. 31/32 und Anm. 1.
41) WA XI 252; Hochdeutsche Wiedergabe in: Martin Luther, Ausgewählte Schriften, S. 186.
42) Vgl. dazu Liermann, a.a.O., S. 32.
43) Dazu Oeschey, Luther und das Recht, S. 291.

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ist und somit nicht ohne Tätigkeit des „regere” auskommt,
— im dritten Falle, daß Luther ein „geistlich Recht des Evangeliums” für gegeben hält,
— im vierten Bild schließlich, daß die Schafe, indem sie Frieden halten, sich an eine Form der „Ordnung” halten.

Genau wie in diesen kleinen Beispielen wird vielerorts, wo Luther die beiden Regimente herausstellt, greifbar deutlich, daß für ihn eines nicht ohne das andere denkmöglich ist, obschon es bei einem Vergleich verschiedener Schriften Luthers nicht ohne Widersprüche abgeht.

Aufschlußreich genug, daß Luther das deutsche Zeitwort „scheiden” verwendet. Hier liegt das Verhängnis für die Nachwelt. Luthers Konzeption erleidet das gleiche Mißgeschick wie zweihundert Jahre danach die Lehre Montesquieus von der Gewaltenteilung. Die Französische Revolution versteift die „division du pouvoir” zu einer „Separation du pouvoir”44); die Orthodoxie und besonders der Rationalismus vergröbern die „Scheidung”45) von Geistlichem und Weltlichem zu einer Trennung, gar zu einer klaffenden Spaltung.

Den Ausschlag für das Verhältnis der beiden Regimente zueinander gibt, daß zwischen ihnen keine Antithese besteht. Zur Vergegenständlichung bleibt auch hier nur das Mittel der Approximation. Irgendwie handelt es sich um zwei Sphären, die einander durchdringen und weitestmöglich überschneiden46). Wir spüren gerade in diesem Doppelsystem der „Obrigkeiten”, wie stark im Reformator noch das universale Weltbild des Mittelalters nachwirkt. Trotzdem sollte kein Zweifel darüber bestehen, daß der enge Zusammenhang zwischen Luthers Kirchenverständnis und seiner Regimentenlehre von der Wurzel her, dem „sola fide”, an sich jegliche Ordnung in Frage stellt! Aber in dem „Zwei-in-Einem” müht er sich in dem allgemeinen Umbruch um die feste Grundlage einer gesunden Ordnung47). Merkt man, wie stark die Wahrung des überkommenen die Regimentenlehre durchzieht, dann wird für das Kirchenrecht zu überlegen sein, ob die oft ins Auge fallende Irrationalität Luthers nicht weithin ein Vor-Rationales sei . . . . .

Das Ureigentliche an Luthers Schau des Weltzusammenhangs als Doppelregiment besteht darin, daß die Bereiche in der Schwebe bleiben. Mit diesem Schwebezustand wußte schon die Orthodoxie auf Grund ihrer Engstirnigkeit zum einen, auf Grund ihrer Abwehrstellung gegen Katholizismus und Calvinismus zum andern nichts anzufangen. Das 19. Jahrhundert hat durch dialektische Zerfaserung das Schwebende des Zusammenhanges von „geistlich” und „weltlich” vollends zerstört48).


44) Carl Schmitt, Verfassungslehre, S. 185.
45) Hauck, a.a.O., S. 63; vgl. Heckel, ZEK Bd. 4, S. 259.
46) Ritter (a.a.O., S. 256), sagt von den beiden Reichen: „Sie durchdringen und überschneiden einander total”. Vgl. Wehrhahn ZEK B. 1, S. 66.
47) Förster, Sohm widerlegt, S. 328.
48) wie es die Schrift von Walter Künneth, „Politik zwischen Dämon und Gott” (Berlin 1954) erneut zeigt. Auch Wehrhahn (ZEK Bd. 1, S. 65) hält am „Doppelaspekt von dialektischem Charakter” fest. — Heckel, obwohl er eine Regimentendyarchie bei Luther verwirft (S. 265), bleibt im Ergebnis ebenfalls bei der „gegensätzlichen Auffassung der lex naturae in regno mundi und in regno Christi . . . für den Christen” (ZEK Bd. 4, S. 261).

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Bei Luther selbst ist die Regimentenlehre noch eine — eben seine — Transformation der älteren Zwei-Schwerter-Theorie49). Auf der Suche nach des Menschen Seligkeit gilt sein Blick vor allem der geistlichen Sphäre50), womit er zwangsläufig dem weltlichen Raum Eigenständigkeit zugesteht, dies um so mehr, weil er die weltlichen Einrichtungen von der Paulinischen Obrigkeitslehre her (Römer 13) bewertet51).

Von hier aus sollte man terminologisch dem Ausdruck „Regimentenlehre” den Vorzug geben52). Diese Lehre ist, genau bestimmt, eine Lehre von der „Predigt”. Diesbezüglich ist Diem zuzustimmen53). Aber sie stellt indes nicht, wie Diem nach eingehender Untersuchung glaubt folgern zu müssen, eine Predigt in zwei „Reichen” dar54), sondern in zwei Bereichen— zwei Bereichen (Sphären), die einander zugeordnet sind, die sich nicht trennen lassen, weil die Predigt (in anderer Sicht, der „Auftrag”55)) in beiden immer in einem, dem „Reich”, erfolgt.

In dem weltlichen Regimente dieses Reiches sieht Luther den Fürsten als Gottes Amtmann56). Er kennt nur die christliche Obrigkeit57). Dieser Obrigkeit obliegt es, eine feste Rechtsordnung herzustellen und für ihre Einhaltung zu sorgen. An diesem Punkte lassen die Schriften Luthers im System eine Lücke, weil sie häufig den Anschein erwecken, der sich vor allem aus des Reformators Kampf gegen die „Verrechtlichung” der Kirche ergibt, daß der geistliche Bereich eine rechtsfreie Sphäre sei, die sich notfalls mit dem Recht des weltlichen Regiments begnüge. Hier ist aber zu bedenken, daß für Luther das eine Regiment nicht ohne das andere „genug” sein kann, nicht etwa, weil das weltliche Regiment eine Rechtsordnung hat und die Kirche keine, sondern weil sie aufeinander bezogen, einander zugeordnet” sind58). Der Schwebezustand zwischen den beiden Regimenten würde gestört, wenn nicht jeder Bereich seine „Ordnung” hätte. Die Korrespondenz der beiden Sphären in Luthers Weltsicht bedingt, daß auch die Kirche „ihr” Recht habe59).


49) Vgl. Lampert, Kirche und Staat, S. 28 a. M. Ernst Wolf ZEK Bd. 4, S. 244.
50) Luther fragt einmal: „Was hilft aber einem Christen das weltliche Reich zum Himmel?” (Ausgewählte Schriften, S. 388)
51) Dies verkennt Schollenberger völlig, wenn er zu der Ansicht gelangt, „Luther hatte sehr unrecht . . . , die staatliche Gewalt zu verschmähen.” (a.a.O., S. 336)
52) Vgl. Wehrhahn ZEK Bd. 1, S. 66.
53) Dazu die Untersuchung von Diem: „Luthers Predigt in den zwei Reichen”.
54) von der Diem sagt: daß sie „in ihrer Anwendung auf die politische Situation des 20. Jahrh. nicht schriftgemäß sei” (a.a.O., S. 40).
55) Gollwitzer, „Die politischen Verantwortung der Kirche” (nach einer Tonbandaufnahme), Sonntagsblatt für Ev. ref. Gemeinden 1955 Nr. 30, S. 6, Sp. 3.
56) Ritter, a.a.O., S. 265: daher hat Luther auch nie zu einer eindeutigen Bejahung des ius resistentiae gefunden; vgl. Dock, S. 25 u. Anm. 17. — Hingegen nimmt Heckel Bejahung d. Widerstandsrechts gegen „Welttyrannen” durch Luther an („Lex charitatis”, betr. Widerstand gegen d. Kaiser Anhang I). — Unklar die „Wunderleute” — These Hillerdals (S. 65 und 89).
57) Vgl. dazu Ritter, a.a.O., S. 200, 260, 262.
58) Vgl. dazu Heinz Dietrich Wendland, „Die Weltherrschaft Christi und die zwei Reiche” (in Stählin-Festschrift 1953).
59) Bohatec geht bei einem Vergleich diesbezüglicher Grundgedanken Luthers mit denen Calvins so weit, zu behaupten: „Hier begegnet uns . . . , wie bei Calvin, wesentlich dieselbe Anschauung über die Gemeinde als urtümliche Besitzerin der Kirchengewalt und über die diese Gewalt in Vertretung der Gemeinde kollegial ausübenden Organe” (Staat und Kirche, S. 562).

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d) Das Problem des freien Willens bei Luther

Welcher Art dieses Tertium (neben Kanonischem und weltlichem Recht) für die Kirche hätte sein sollen oder sein können, ist bei Luther nie klar zum Ausdruck gekommen, weil seine Schau der Welt in der Überzeugung wurzelte, daß der Mensch radikal verderbt sei und sein Wille nie die Gerechtigkeit erreichen könne60).

Damit kommt die Betrachtung zu dem heikelsten Punkt in Luthers Gedankensystem: der Willensfreiheit. Die genaue Standortbestimmung befiehlt an dieser Stelle dem Juristen den unmißverständlichen Hinweis darauf, daß die hier in Luthers Konzeption enthaltene Neuralgie nicht nur das Kirchenrecht, sondern grundsätzlich alles und jedes Recht erschüttert.

Das „sola gratia”, qua Alleinwirksamkeit göttlicher Gnade zu Ende gedacht, läßt für einen dem Menschen eigenen Willen keinen Raum. Diesen Weg zu beschreiten, hat Luther sich nicht gescheut61). Für ihn liegt der Wille des in der Erbsünde verstrickten Menschen genau so in Gott gebunden wie sein Denken auch62). Luther vertritt seine Theorie vom unfreien Willen — wenn man heute von seiner Lehre vom „geknechteten Willen”63) spricht, hat sich damit im Ansatz nicht das Geringste geändert — nachdrücklich, zuweilen schonungslos. Kraß und eindeutig verficht Luther wider Erasmus, als Antwort auf dessen „De arbitrio Diatribe sive collatio” (1524) in seiner Schrift „De servo arbitrio” von 152564) die absolute Unfreiheit menschlichen Willens. Alles, was geschieht, ereignet sich mera necessitate. Gottes Wille bleibt unserem Denken unergründlich und unerkennbar (voluntas inperscrutabilis et incognoscibilis)65). Argumentum e contrario: Gäbe es einen freien Willen, gäbe es keine Gnade66).

In diesem Punkt ist die Unvereinbarkeit der Gedanken Luthers mit dem Recht schlechthin nicht zu beschönigen. Niemand kann dadurch Unrecht tun, daß er so handelt, wie er es unentrinnbar hat tun müssen und in keiner Richtung, Art noch Form hätte anders tun können67). Hinsichtlich des Kirchenrechts in Sonderheit haben die Worte Erasmi (auch heute noch) tiefe Bedeutung, der in seiner Erwiderung auf Luther, dem zweibändigen Werk „Hyperaspistes Diatribe adversus Servum Arbitrium M. Lutheri” (Basel 1526/27), darlegt:

„Ignorato deo deum colere et gratias agere, servire deo non possum, dum nescio quantum mihi tribuere, quantum deo debeo.”68)

Hier dreht sich alles um die Grundsatzfrage der freien Willensentscheidung. Luthers Auffassung führt zu ihrer zweifachen Verneinung: Einmal — in Anknüpfung an das obige Argument Erasmi — weil der Mensch in Dingen,


60) Vgl. Lortz, Geschichte der Kirche, S. 273.
61) Ritter, a.a.O., S. 245-247.
62) Ritter, a.a.O., S. 207.
63) Gollwitzer, Begegnung mit Luther, FAZ 5. 2. 1955 Feuilleton, Sp. 2.
64) Zum chronologischen Ablauf vgl. Heer, Europ. Geistesgeschichte, S. 250/51 und die dortigen Quellenangaben.
65) Vgl. Heer, a.a.O., S. 253 und 683, Anm. 253, 32.
66) Von Luther in „De servo arbitrio" im Indikativ gehalten; vgl. auch Heer, a.a.O., S. 255.
67) Nach Budé — in seiner Auseinandersetzung mit Calvin — gehört das Arbitrium zu unserem ureigenen Recht (sui iuris), vgl. Bohatec, Budé und Calvin, S. 96.
68) Zitiert nach Heer, a.a.O., S. 254.

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die er nicht kennt, nicht entscheiden” kann, zum anderen infolge der Unantastbarkeit des „sola fide”69). Immerhin sollte man sich vor einer Überbewertung der Idee des unfreien Willens bei Luther scheuen. Schon lange vor Luther haben verschiedene Richtungen den Determinismus vertreten, mit Nachdruck beispielsweise die Averroisten70). Selbst die Kosmosidee des Thomas von Aquin erlaubt die Auslegung, daß alles irgendwie determiniert sein müsse71). Auch darf das kontradiktorische Element bei den Reformatoren nicht übersehen werden72), eine Einschränkung, die sich bei der Betrachtung der Kontroverse Luther-Erasmus geradezu aufdrängt.

Die Bedingtheit täuscht nicht darüber hinweg, daß in Luthers Aufhebung menschlicher Willensfreiheit ein äußerster Gefahrenpunkt vorliegt für alles, was „Recht” bedeutet. Man darf hier getrost von einem „Skandalon” bei Luther sprechen, das in der Folgezeit unter vielfarbigen Sedimenten, seit der Orthodoxie teils erbost, teils verschwiegen, teils listig geschichtet, fast verschüttet wird. Der feinsinnige Melanchthon soll nach Luthers Tode in einem vertraulichen Brief dessen Lehre von der völligen Unfreiheit des Menschenwillens — mithin Vorherbestimmung auch des Bösen! — für gotteslästerlich erklärt haben73).

Zu bedenken ist indes, daß Luther in diesem Punkte die Grenzen herkömmlicher abendländischer Vorstellungen weitet. Fehlende Willensfreiheit mindert die Persönlichkeit. Damit weist Luthers Konzeption der Unfreiheit des Menschenwillens weit in den osteuropäischen Raum74) hinein, der einen Eigenbereich des Individuums kaum kennt. Die Reformation begann östlich der Elbe. Das geschichtliche Faktum hat in diesem Zusammenhang tiefere Bedeutung, gleich, ob man es angesichts des politischen Heute für ökumenisch zukunftsträchtig oder universalistisch beklagenswert hält.

e) Das Adiaphoron

Fragen wir nun, was denn das Kirchenrecht für Luther sei, dann kann die Antwort des Reformators Gedanken immer nur dort ungefähr wiedergeben, wo sie sich auf sein Kirchenverständnis bezieht.

Die Kirche in der Schau Luthers ist immer die „eine” Kirche, ein Ideal75), von dem der Reformator recht eigentlich meint, daß echte Christen unter sich weder des Schwertes noch des Rechtes bedürfen76). „Christus regiert ohne Gesetz, allein durch seinen Hl. Geist.”77) Somit ziehen Luthers Gedanken ius divinum insoweit überhaupt nicht in Zweifel, als es für ihn


69) Eine sehr kritische Beleuchtung der Unfreiheit des Menschenwillens bei Luther gibt Fr. Heiler, Luther und die kath. Kirche, S. 244 ff.
70) Vgl. v. Aster, Geschichte der Philosophie, S. 146-149: Heer, a.a.O., S. 110-114, S. 159/160.
71) Lang-Hinrichsen, a.a.O., S. 11.
72) Dazu Heer, Der tumbe Laie, S. 580.
73) Ritter, Luther, S. 249.
74) Vgl. Dombois, Glaube, Recht, Europa, S. 92: „Eine gewisse Verwandtschaft mit der Ostkirche liegt unausgesprochen beim Luthertum vor, in der Betonung des servum arbitrium . . . .”
75) Vgl. dazu die teils unscharfe Beweisführung Försters, Sohm widerlegt, S. 333/334.
76) Vgl. Hauck, a.a.O., S. 68.
77) Luther, Ausgewählte Schriften, S. 186/187.

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immer Heilsbotschaft bedeutet78). Die Heilsbotschaft entfaltet sich in freier Liebesordnung79). Eine Transformierung des ius divinum zu Kirchenrecht, der man juristisch nicht entkommt, wenn man sich an das Schema der Sichtbarkeit-Unsichtbarkeit klammert, liegt hier nicht vor.

Aber: Es handelt sich um „wahre” Christen, um das (schwerlich zu umschreibende) Häuflein der Gläubigen. Luthers im Glauben geschaute „Kirche” erscheint zwar weithin als ein Ideal, aber nicht als Phantom! Wir spüren bei ihm die stete Sorge, die freie Liebesordnung könne gar leicht (wieder?) in geistlichen Zwang umschlagen80), aber er meint nicht, die Menschen allgemein könnten einer kirchlichen Ordnung entbehren81).

Man geht zu weit, wenn man behauptet, Luther habe Recht, das von der Kirche ausgeht, „absolut” verneint82). Genau so fehlt es bei ihm an einer „absoluten” Bejahung eigenständigen Kirchenrechts, selbst wenn vermöge des „sola scriptum” die Hl. Schrift „suae ipsius interpres” wird83). Die Frage der Eigenständigkeit, in den Anfängen der Reformation von Luther sicherlich überhaupt nicht erwogen, ist nicht zu Ende gedacht. Die potestas clavium (Matth. 16, 19; 18, 18) begründet für Luther keine Rechtsordnung; denn diese „potestas" ist ihm eine Glaubensaussage84). Auch in der Auseinandersetzung mit der Schlüsselgewalt bleibt er bei einer Absage an das „weltliche” Recht.

„Wo uns Christus nicht mehr hätte geben wollen mit den Schlüsseln denn Gewalt, äußerliche Gesetze und Gebote zu stellen, hätte er sie wohl behalten mögen; die Christenheit könnte ihrer wohl entraten. Denn da sind weltliche Obrigkeit, Vater, Mutter, Herr, Frau, Freund, alte Leute . . . die uns äußerlich mit Gesetzen, Zucht, Sitte und Geberden reichlich genug versorgen können und ohne Not ist, das Christus Schlüssel hierzu gebe.” („Von den Schlüsseln” 1530)85).

In einem anderen Zusammenhang sagt Luther:

„Denn der Bindeschlüssel treibt das Werk des Gesetzes . . . der Löseschlüssel treibt das Werk des Evangelii.”86)

Man mag mit Hauck in der Interpretation dieses Satzes einig gehen, daß die potestas clavium keine „Rechts”Ordnung begründe87) und dennoch sich fragen, ob an dieser Stelle nicht ein Ansatzpunkt eines „Kirchen”rechts (in seiner Eigenart weder weltlichen noch kanonischen Rechts) durchschimmere. In einem Gutachten von 1523 vertritt Luther, „daß eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht oder Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen”88).


78) Oeschey, Fragen der Kirchenordnung, S. 194.
79) Vgl. Heckel. Lex charitatis, S. 65-70 „ius et lex charitatis”; das Recht ist nach Heckel für Luther ein „Teilhaftigsein an der göttlichen Liebe” (S. 70).
80) Ritter, a.a.O., S. 197.
81) Ritter a.a.O., S. 194. Die Antinomie in Luthers Haltung ist hier nicht zu übersehen.
82) Förster, Sohm widerlegt, S. 328; zu ähnlicher Ansicht gelangt Oeschey: „Das Recht hat in der Kirche keine Stätte” (Luther u. das Recht, S. 296).
83) Vgl. Steck, Ev. Lehrzucht, S. 128.
84) Vgl. Hauck, a.a.O., S. 57-65.
85) Luther, Ausgewählte Schriften, S. 360.
86) Luther, a.a.O., S. 407.
87) Hauck, a.a.O., S. 65. — Heckel (Initia iuris, S. 103), hält die Schlüsselgewalt für „ein Stück des ius divinum”: a. M. Schott ZEK Bd. 2, S. 128/129.
88) Oeschey, Fragen der Kirchenordnung, S. 199; vgl. Luther: „Exempel, einen rechten Bischof zu weihen, geschehen zu Neumburg” 20. 1. 1542.

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Bei näherem Hinsehen schwindet die angebliche „Absolutheit” der Verneinung jeglichen Kirchenrechts durch Luther hier genau so, wie sie sich nicht aus seiner Aversion gegen die Juristen, aus der Bücherverbrennung und der Regimentenlehre beweisen läßt. In diesem Rahmen negiert Luthers Einstellung nicht, wie Holstein richtig gesehen hat, „jede” Funktion des Rechts in der Kirche89), es sei denn, der Rahmen erweitere sich um den Determinismus im servum arbitrium: Dann sogleich fällt jegliches Recht und das Zwei-Regimenten-Gebäude stürzt in sich zusammen.

Vor Luthers Lebensfrage nach dem gnädigen Gott treten Form- und Rechtsfragen zurück. Nur die Gesinnung gibt Antwort90). „Wer bist Du, Mensch, daß Du mit Gott rechten willst?” (Römer 9, 20 Satz 1)81). Der Glaube läßt sich für Luther nicht durch Rechtsnormen festlegen. Daher jene gewisse Geringschätzung aller fixierten Kirchenordnung gegenüber92), daher das Nicht-zu-Ende-Denken, die Offenheit der Kirchenrechtsfrage — „offen” in zwei Richtungen: zur Gleichgültigkeit aber auch zur Großzügigkeit hin.

Man mag darin die „großartige Souveränität eines Geistes” erkennen, „der sich weit erhaben weiß über die kleinlichen gesetzlichen äußeren Lebensordnungen”93). Luthers Haltung erscheint in wohlwollender Formulierung als Ausdruck „genialer Gleichgültigkeit gegenüber rechtlicher Formgestaltung”94). Aber der Hang Luthers zur Vergleichgültigung des Kirchenrechts besagt nicht, daß es für die Kirche überflüssig sei95). Seine oft bezeigte Großzügigkeit96) in Kirchenrechtsdingen verneint nicht jegliche Notwendigkeit eines Kirchenrechts. Selbst die theologisch diffizile Frage nach der Wesens-, also Heilnotwendigkeit eines Kirchenrechts als eines Tertiums ist bei Luther nicht klipp und klar mit „Nein” abzutun.

Das Kirchenrecht gehört in Luthers Gedankensystem zu den Mitteldingen, den „Adiaphora” gemäß seiner Terminologie97). Sie sind für ihn an sich wohl nicht gut noch schlecht, können aber zu beidem ausschlagen. Der Begriff hellt sich auf, wenn französischerseits „lex adiaphora” mit „les choses indifferentes” übersetzt wird98). Es wirkt aufschlußreich, daß Hauck das Kirchenrecht in Luthers Konzeption zu den „relativ gleichgültigen” Mitteldingen zählt99). Das von Luther verstandene Kirchenrecht ist der negativen Ausschließlichkeit zu entkleiden. Hinweg der Mantel der Ablehnung „jedes” Kirchenrechts! Hinweg auch die Hülle der Antithese Kirche — Kirchenrecht! Erst dann steht Luthers Kirchenrecht vor uns in seiner anspruchslosen, bescheidenen Gestalt eines „adiaphoron”100).


89) Holstein KR, S. 85.
90) Ritter, a.a.O., S. 212.
91) Fraglich, ob die Übersetzung „rechten” dem „respondere” des lat. Textes entspricht.
92) Vgl. Steck, Lehrzucht, S. 127.
93) Ritter, a.a.O., S. 149.
94) Hauck, a.a.O., S. 67.
95) Brundstäd, Die Kirche und ihr Recht, S. 5 und 6: „aber die Kirchenordnung ist genau so gleichgültig und nicht gleichgültig wie die Werke” (S. 6).
96) Hauck, a.a.O., S. 145.
97) Vgl. Hauck, a.a.O., S. 68, 73, 135.
98) Jundt, Aspects du Lutheranisme, p. 82.
99) Hauck, a.a.O., S. 68.
100) Eine Adiaphoron-Vorstellung Luthers in bezug auf das Kirchenrecht lehnt Ernst Wolf als überholt ab (vgl. ZEK Bd. 4, S. 252, Anm. 33).

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4. Das Kirchenrecht — ein Notrecht

Die Anspruchslosigkeit des Kirchenrechts in Luthers Gedanken, die seiner spirituellen Schau der „Kirche” so sehr gemäß ist und sich ganz der Balance der beiden Regimente einpaßt1), findet keinen Einklang mit der harten Wirklichkeit.

Seit 1517 ergibt sich für Luther immer aufs neue die Zwangslage des „Hic Rhodus, hic salta”. Aber womit soll man den Sprung wagen? Mit dem „Adiaphoron” Kirchenrecht? — In dieser Situation wächst sich die Zwangslage zu einer Notlage aus, man darf schon sagen, zu einer das ganze restliche Leben Luthers währenden „Not”. Anknüpfend an den schon wiederholt getroffenen Hinweis, daß Luther keine neue Kirche „gründen” wollte2), und an die Betrachtung über ihn als Juristen und Politiker, ist festzustellen, daß Luthers Verständnis des Kirchenrechts als „Adiaphoron" eines jedenfalls nicht enthielt: ein bestimmtes Programm3).

Ein Programm in der Frage des Kirchenrechts aber erforderte die Stunde. Ganz deutlich zeigte sich das, als gewisse Ideen Luthers, aus dem Zusammenhang gezerrt, einseitig vorangetrieben wurden (Karlstadt, Bauernaufstand4)). Der Zusammenhalt der Gemeinde verlangte „Ordnung”. Gegenüber dem Zersetzungsprozeß kam es auf die „Autorität” an5). Und die Kirche als die „Schäflein”, als ein „Häuflein der Gläubigen” sowie das Kirchenrecht als Adiaphoron bewiesen, daß es „so” nicht ging . . . . . . „Formlosen Inhalt kann es nur in der Idee, niemals in der lebendigen Wirklichkeit geben.”6)

Ein Programm fehlte, also bestimmte hinsichtlich des Kirchenrechts bei Luther nicht, wie es seiner spirituellen Vorstellung von Kirche und Kirchenrecht gemäß gewesen wäre, das Religiöse das Politische, sondern die Politik bestimmte über die Religion7).

Das Ergebnis ist ein „Not”recht. Kein Wort trifft das Geschehen besser als das der „Not”8). Die Not um das von und bei Luther angewandte „Kirchen”recht wird in verschiedener Beziehung offenbar.

Die weltliche Nothilfe der Landesfürsten, um in den Luther anhängenden Gemeinden Ordnung zu schaffen (und zu halten!), führt zur Bildung der Landeskirchen. Diese durch die seit 1300 freigesetzten Kräfte ausgelöste Entwicklung vollzieht sich gradlinig und unentrinnbar. Sie liegt im Zuge der Erstarkung der Territorialgewalten. Sie vollendet nur, was längst im Gange war9). Die „eigene” Landeskirche trägt zur Abrundung der


1) Zuzustimmen ist Heckel, soweit er als Basis aller Recbtsvorstellungen Luthers (entspr. zur ecclesia spiritualis und zum homo spiritualis) die ,lex spiritualis’ ansieht. Bedenklich aber ist die Folgerung: „Luthers Rechtslehre ist in ausgezeichnetem Sinne eine Kirchenrechtslehre” (Lex charitatis, S. 27).
2) Vgl. Gollwitzer, Begegnung mit Luther, FAZ 5. 3. 55, Feuilleton, Sp. 4; Hauck, a.a.O., S. 18; Simons, Religion und Recht, S. 208.
3) Vgl. zur politischen Seite: Meissinger, Die deutsche Tragödie, S. 184/85.
4) Dazu Ritter, a.a.O., S. 152-155, 202.
5) Ritter, a.a.O., S. 150.
6) Hauck, a.a.O., S. 72.
7) Schoch, Buchbesprechung zu Meissinger NZZ 17. 10. 53, Bl. 4, Sp. 2.
8) Dazu Oeschey, Luther und das Recht, S. 298.
9) Vgl. Ritter, a.a.O., S. 200 u. 203; Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte Bd. 1, S. 437 „Dux Cliviae est papa in territorio suo” (15. Jahrhundert!).

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Souveränität des Landesfürsten — imperator in territorio suo10) — bei. Luther wehrt sich zeit seines Lebens gegen diese Erscheinung11). Er kämpft „wie ein Löwe”12) gegen das sog. „Landesherrliche Kirchenregiment”. Das von diesem Regiment abstammende „Kirchen”recht hat mit seiner Vorstellung vom Adiaphoron nichts gemein. In dem dunklen Drange nach Verbesserung, die leichter zu verlangen als durchzuführen ist13), stellt er sich der neuen Gefahr des Landesrechts als „Kirchen”recht unermüdlich entgegen14) und kämpft doch gegen Windmühlenflügel, weil er selbst durch die Indifferenz in seinem Adiaphoron „Kirchenrecht” dem Souveränitätsstreben der Fürsten Vorschub leistet. Der historische Ablauf bewahrheitet ein Wort Rankes:

„Allein auch inmitten der größten Unordnung und Verwirrung machen sich noch immer Gesetze geltend, die dem individuellen Belieben Schranken setzen.”15)

Was bei Luther unter dem Etikett „Kirchenrecht” in Erscheinung tritt, ist dem Reformator aufgenötigt16). Das heißt aber: Weder sanktioniert Luther das von staatlicher Quelle delegierte Recht als „Kirchen”recht, noch entspricht das System, das bald landläufig, wenn schon wenig glücklich, „Landesherrliches Kirchenregiment” genannt wird, seiner Vorstellung vom „Adiaphoron” Kirchenrecht. Mögen dann auch Leute um Luther (Melanchthon, Jonas)17) aus kirchenpolitischen Erwägungen vieles tun, diese Art des „Für-Kirchenrecht-Haltens” zu fördern.

Die kursächsische Landeskirche wollte Luther nicht als „Modell” verstanden wissen18). Das äußerste, was er den Pastoren als ministri verbi an rechtsähnlicher Kompetenz zuzugestehen sich bereit fand, war (wahrscheinlich!) die Kirchenzucht19). Aber die in dem Kirchenrecht als Adiaphoron zum Ausdruck kommende „relative Gleichgültigkeit” läßt eben für alles Raum20), für das geliehene Kirchenregiment und — wie wir heute hinzufügen dürfen — auch für Sohm. Luthers Schau von „Kirche” und „Kirchen”-recht weist nur verschwommene Umrisse einer „Organisation” auf. Das „nicht immer zureichende Weltverständnis”21) des Reformators erweist sich dort besonders verhängnisvoll, wo das Zusammenleben der Menschen es unumgänglich macht, seine Glaubensaussagen für den Alltag, für die Praxis umzudeuten. Meistens wird, sei es aus Unvermögen, sei es aus mangelnder Einsicht (nicht nur Luthers!), sei es aus Zeitdruck, ein Umbiegen daraus.


10) v.d. Heydte, Die Geburtsstunde des souv. Staates, S. 83-94.
11) Was schon Reischle treffenderweise gegen Sohm ins Feld führt (Reischle, Sohms Kirchenrecht, S. 18); vgl. Ritter, a.a.O., S. 263.
12) Oeschey, Luther und das Recht, S. 299.
13) Gabriel Meier (SOB), Schweizerische Reformationsgeschichte, S. 47.
14) Es ergibt sich insofern ein Paradoxon, als Luther somit auf Seiten Karls V. steht, der von der imperialen Reichsidee her den Bestrebungen der Landesgewalt entgegen wirkte! (vgl. Scharp, a.a.O., S. 98).
15) Ranke, Heinrich IV. König von Frankreich, S. 18.
16) Vgl. Hauck, a.a.O., S. 275.
17) Mit Bezugnahme auf Sohm, Hauck, a.a.O., S. 141.
18) wie Scharp meint (a.a.O., S. 102). — Auch die oft herangezogene „Ordnung eines gemeinen Kastens” für Leisnig ist kein Kirchenrechtsmodell!
19) In allgemeiner Beziehung Hauck, a.a.O., S. 66.
20) Vgl. Hauck, a.a.O., S. 67.
21) Ritter, a.a.O., S. 271.

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Das Ergebnis bleibt jeweils ein Verlegenheitsprodukt, eben eine Notlösung. Luther wettert und poltert dagegen und kann sich doch den Erfordernissen der Kirchenordnung nicht entziehen. Er, der das „Kirchenrecht wirklich das Allernärrischte”22) genannt hat, der unschlüssig Bedeutung und Rangfolge der Begriffe „vocatio”, „ordinatio” und „consecratio” durchdenkt (ordinäre non est consecrare)23), ja, der einmal erwägt, die Ordination evangelischer Prediger durch katholische Bischöfe vornehmen zu lassen24), er erlebt nicht mehr, wie dann die Concordienformel von 1577 festlegt, daß in „Verfolgungszeiten” (wann war bis 1555 seine Kirche nicht verfolgt?) auch Adiaphora (Werke, Zeremonien, Kirchenrecht) strikt zu behaupten seien25). Die Tragik des Idealisten Luther hinsichtlich des Kirchenrechts enthüllt sich ergreifend in seinen selbstquälerischen, resignierenden Worten (die auch Sohm nicht übergehen kann): „Möge das Kirchenrecht immerhin sein! Ja, es mag sein, wie es will!”26)

Man muß sich fragen, ob von Luthers eigenen Gedanken her, ob aus seiner geglaubten „Kirche”, in der nur dem „reinen Gotteswort” Autorität zukommt27), eine Lösung des Kirchenrechtsproblems überhaupt erreichbar war (und ist!)28). Wie bislang dargelegt wurde, sprechen seine Grundgedanken — ausgenommen das servum arbitrium — nicht gegen die Möglichkeit eines eigenständigen Kirchenrechts. Bei weiterem Fragen stoßen wir auf die „Not” : Luthers Großzügigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber Kirchenrechtsdingen lassen offen, worin die „Eigenart” eines solchen Rechts bestehen könnte29). Juristisch ausgedrückt bleibt die Frage nach der „Rechtsquelle” eines Kirchenrechts bei Luther unbeantwortet, trotz seines Glaubens an die „eine” Kirche, trotz des Festhaltens an die altkirchliche Überlieferung30).

An dieser Stelle geht die umfassende und gedankenreiche Untersuchung Heckels: „Initia iuris ecclesiastici Protestantium”31) zu weit, wenn sie aus Luthers 95 Thesen von 1517 in Verbindung mit seinen Anfangsschriften die Grundprinzipien eines eigenen Kirchenrechts zu entnehmen sich bemüht. Aus all den Gründen, die in diesem Kapitel über „das Kirchenrecht bei Luther” dargelegt und erörtert wurden, ist zu sagen, daß Luther psychologisch, theologisch und historisch32) diese Überlegungen (soweit sie


22) WA, TR 6, 7013.
23) Dazu Oeschey, Fragen der Kirchenordnung, S. 198/199 mit Bezugnahme auf die lat. Nachschrift zu Luthers Predigt vom 21. p. Tr. Sonntag 1524. Vgl. Luthers Schrift von 1542 „Exempel, einen rechten christlichen Bischof zu weihen” WA 53, 219 ff.
24) und die, als Kuriosum, im Dom zu Wetzlar zeitweilig tatsächlich so gehandhabt wurde; näheres Oeschey, a.a.O., S. 196.
25) Reformatorische Bekenntnisschriften, Formula Concordiae 10. Bl. 1057, 10.
26) Sohm KR, Bd. 1, S. 481/82, mit Quellenangabe.
27) Es ist zu bezweifeln, daß, wie Bohatec meint, „ein lebendig bewegendes Interesse für die Geltendmachung der Hl. Schrift als Norm für die Gestaltung der Kirchenverfassung bei Luther vorhanden ist”. Eher bei Melanchthon, Jonas, Butzer u.a.! (Bohatec, Staat und Kirche, S. 397, dazu 387-397).
28) Ritter a.a.O., S. 198.
29) Jundt, Aspects du Luthéranisme, p. 63: „A l’origine, Luther n’avait nullement songé à donner une constitution exterieure à l’Eglise.”
30) Ritter, a.a.O., S. 195.
31) Joh. Heckel, München 1950; Kritik bei Schott, ZEK Bd. 2, S. 113-38.
32) Die Kritik von Ernst Wolf zu Heckel (ZEK Bd. 1, S. 102-110) würdigt die theologischen Argumente ausführlich, berücksichtigt aber leider kaum den historischen Standort Luthers und die daraus resultierende Möglichkeit seiner Haltung zu einem (nicht kanonischen!) „Kirchenrecht” um 1517.

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über eine Auseinandersetzung mit dem Kanonischen Recht auf ein „eigenes” Kirchenrecht abzielen!) einfach nicht besitzen konnte. Es werden bei Heckel Luther Gedanken zugeschrieben, die, so selbstverständlich sie uns heute dünken und so sehr man wünschen könnte, daß der Reformator sie, wenigstens teilweise, angestellt hätte, ihm fernlagen, gar ihm und seiner Zeit völlig fremd waren. Diese aus der Rückschau Luther unterstellten Anfänge evangelischen „Kirchen”rechts haben streckenweise den Wert einer Überinterpretation. —

Was uns heute auffällt, ist, daß Luther sich nirgends um eine eigene Quelle des Kirchenrechts bemüht. Auffällig zwar, aber der Auffassung Luthers gemäß. Die geringe Hinneigung des Mönches und Theologen zu den „Händeln dieser Welt” wirkt sich aus. Sein Weltbild, seine Idee der zwei Regimente, kennt noch nicht die Geschiedenheit von Staat und Kirche. Wenn wir vorhin33) sagten, der Schwebezustand zwischen den beiden Bereichen bedinge, daß jede Obrigkeit „ihre” Ordnung habe, ergibt sich daraus für die Rechtsquelle kircheneigenen Rechts kein Widerspruch, weil, so wie die Kirche Luthers, weder sichtbar noch unsichtbar, „eine” ist, auch weltliches und geistliches Regiment erst die Weltganzheit bilden: das „Reich”.34)

Auch diese Idee war im Alltag Luthers nicht anwendbar. Sogleich wies der Behelf des Landeskirchenrechts neue Not auf. Luther glaubt die „eine” Kirche, aber „hienieden” nimmt er nur das corpus mixtum wahr: Gläubige und Scheinchristen nebeneinander. In ihrer Bewertung klingt wieder die Ganzheit von weltlicher und geistlicher Obrigkeit an (nun aber negativ gedeutet), wenn Luther schreibt:

„Denn die Welt und die Menge ist und bleibt Unchristen, ob sie gleich alle getauft und Christen heißen.”35)

Nach Luthers Empfinden ist es nicht nur sinnlos, sondern sinnwidrig (sprich: widerchristlich), daß derart strukturierte Gemeinden das Kirchenrecht in sich selbst tragen und aus sich selbst setzen. Nein, „einer so bunt zusammengewürfelten Gesellschaft”36) will (und zeitweilig kann) Luther das Kirchenregiment nicht überlassen. Dann schon lieber das andere Extrem, dann her mit dem „weltlichen Arm”! Und für diese „Leihe” bot die bisherige Kirchengeschichte ja immerhin einige Beispiele . . . Also nicht nur, daß das von Luther scheel betrachtete Landeskirchenrecht das Gemeindeprinzip riguros überfuhr37), kennzeichnet die Ausgangssituation,


33) Vgl. oben Seite 66.
34) Heckel: „Wer die Lehre Luthers über das göttliche Regiment darstellt, muß sie in den Reichsgedanken des Reformators einordnen” (Luthers Lehre von den zwei Regimenten, ZEK Bd. 4, S. 257)i dazu: Lex charitatis, S. 31 ff. Nach Heckel ist für Luther Aufgabe des geistl. Regiments der usus theologicus legis (auszuführen durch das Predigtamt), während das weltliche Regiment ausschließlich dem usus politicus legis diene (ZEK Bd. 4, S. 258). — Nach Hillerdal fußt Luthers Regimentenlehre auf der These „homo simul iustus, simul peccator” (in: ,Gehorsam gegen Gott und Menschen’, S. 47). Die zwei Regimente sind „die beiden Weisen, durch die Gott seine Herrschaft über die Welt ausübt” (a.a.O., S. 22). Hillerdal scheint die Differenzierung der zwei Regimente auf den (bedenklichen) Unterschied in der Wahl der Mittel zu reduzieren (a.a.O., S. 25) und hält die Grenzziehung zwischen den verschiedenen Mitteln für „ein äußerst kompliziertes Problem” (a.a.O., S. 80; dazu S. 69-71, 87).
35) Luther, Ausgewählte Schriften, S. 185/186.
36) Ritter, a.a.O., S. 199.
37) Vgl. Heer, a.a.O., S. 260; Ritter, a.a.O., S. 202.

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sondern mehr noch, daß ein solches „Prinzip” in Sachen Kirchenrecht in Luthers Werk nicht enthalten war38).

Die Not, die die Verlegenheitslösung „Kirchenrecht” bei Luther überschattet, wurzelt indes noch in tieferen Schichten. Zur Beschreibung der Geisteshaltung nicht allein Luthers sei an diesem Ort Benz zitiert:

„Der Ausgangspunkt ist das eigentümliche, endzeitliche Geschichtsbewußtsein, daß die Führer der Reformation zu ihrem Werk antrieb, und daß sich ja schon in den frühesten Schriften der Reformatoren in dem Gedanken ausspricht, daß nunmehr die „jüngsten Tage” angebrochen sind, . . . Für dieses Denken ist also in einem wirklich geschichtlichen Sinne das Ende der Welt nahe herbeigekommen.”39)

Ohne daß man sich zu der oberflächlichen Folgerung verstiege: Was braucht’s da noch Kirchenrecht, darf angenommen werden, daß das Endzeitbewußtsein40) in Luther für seine Sicht des Kirchenrechts nicht unerheblich ist. Er nimmt „für diese letzte Endzeit” mit einem Notrecht in der Kirche fürlieb. Der abgrundtiefe Pessimismus41), der nicht nur Luther, sondern auch zuweilen Melanchthon befällt42), die Verfallsgedanken43), denen die Menschen wenigstens des Wittenberger Reformationszentrums anhängen44) und die uns so seltsam „modern” anmuten — diese ausgesprochen eschatologische Stimmung45) bewirkt, daß Luther in der Kirche ein Behelfsrecht für den „Übergang” der Übergangszeit gemäß erachtet. Im Angesicht des Weltenendes ringt Luther um sein Seelenheil, da mag es „zur Not” mit dem Kirchenrecht gehen, wie es eben geht.

Notrecht, Notbischof, Notepiskopat, Nothilfe — diese Kriterien umschreiben den Notbehelf Kirchenrecht, den bei Luther die Anwendung seines Gedankens des Kirchenrechts als Adiaphoron zeitigt. Theoretisch schließt das Adiaphoron die Möglichkeit „eigenen” Rechts in Luthers Kirche ein46), praktisch indes bietet das Kirchenrecht als Adiaphoron in Verbindung mit den sonstigen Prinzipien Luthers nicht Sammlungspunkte von genügender Intensität, die ihre Ausschöpfung als Rechtsquelle erlaubten, gerade und besonders dann, wenn neuerdings als Ausgangspunkt des lutherischen Rechtsverständnisses gemäß seiner „ecclesia spiritualis” eine „lex spiritualis” behauptet wird47).


38) Von hier aus erweckt die von Bohatec vertretene Meinung über Luthers Stellung zur Gemeinde, wie sie oben S. 66, Anm. 59 zitiert wurde und wie sie in den Worten zum Ausdruck kommt: „Alle Gemeinden haben kraft Evangeliums die gleichen Rechte, jede von ihnen ist eine selbständige Größe, die aber ihre Befugnisse und Pflichten nur in ihrem Bereich nach den Grundsätzen des Evangelismus ausüben soll” (Staat u. Kirche, S. 297, dazu Anm. 63), einige Zweifel.
39) Benz, Wittenberg und Byzanz, S. 65.
40) das beispielsweise in der Schrift gegen den Prälaten Prierias auffällt.
41) Benz, a.a.O., S. 27.
42) Vgl. Benz, a.a.O., S. 27-30.
43) Dazu Benz, a.a.O., S. 156-157.
44) Deutlich z.B. in der Vorrede zur kroatischen Übersetzung der „Kurzen Auslegung der Sonn- und Feiertagsepistel in cyrillischer Schrift”, Tübingen 1563 (Textauszüge bei Benz, a.a.O., S. 157-159) und der Vorrede zum I. Halbteil des NT in kroatischer Sprache, Tübingen 1562 (Textauszug bei Benz, a.a.O., S. 159).
45) Dazu Ritter, a.a.O., S. 255; Heer, Europ. Geistesgeschichte, S. 249.
46) Vgl. die Ergebnisse (sicherlich nicht unbestritten) der Untersuchung Heckels in ,Lex charitatis’: „,Respublica ecclesiastica unica lege charitatis instituta est’ lautet der Kernsatz aller irdischen Kirchenverfassung” (S. 139). „Es gibt also für Luther ein ius utrumque, ein kirchl. und ein weltliches Recht” (S. 143).
47) Dazu Heckel, a.a.O., Teil II, 2 „Die Rechtslehre Luthers”; außerdem a.a.O., S. 27, „Die wahre Rechtserkenntnis hat man nur in der Kirche und durch die Kirche”.

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Das Notrecht des Landesherrlichen Kirchenregiments, darüber kann kein Zweifel bestehen, ist weltliches Recht. Der Reformator hat es nie anders aufgefaßt. Damit zerfällt die von Luther im Adiaphoron bekundete Indifferenz des Kirchenrechts. Der Schwebezustand zwischen den beiden „Regimenten” hört auf. Das um das landesherrliche Kirchenrecht vermehrte Gewicht weltlicher Obrigkeit senkt ihre Waagschale tief. Die Verbindung des Notrechts in der Kirche mit der Zwei-Regimenten-Lehre läßt — zum Unwillen Luthers! — die Tür zum Caesaropapismus offen48). Sie erweckt, Luthers Kampf gegen die Verrechtlichung der Kirche zum Trotz, auf Grund der Verbindlichkeit landesherrlicher Gesetzgebung, den Anschein eines rein positiven Rechts49) — einen Anschein, der in der Folgezeit so viel böses Blut gemacht hat und noch immer macht.


48) Nicht „Luthers Regelung”, wie Nigg meint! Vgl. Nigg, Zur Lutherforschung, NZZ 28. 3. 1953, Bl. 4. — Zur Interpretation der Zwei-Reg.-Lehre in ihrer politischen Anwendung vgl. Thielicke, Die evangelische Kirche und die Politik, S. 53-57.
49) Vgl. Lang-Hinrichsen, a.a.O., S. 26.

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II. Das Kirchenrecht bei Zwingli

 

1. Zwingli — der Politiker

Wenden wir uns der Einstellung Zwinglis zum Kirchenrecht zu, dann zeigt sich, daß diese Einstellung aus völlig anderem Boden erwächst als bei Luther. Was Luther fehlt und es bei ihm oft schwer macht, seiner Auffassung gerecht zu werden, sobald Kirchenrecht in Kirchenpolitik übergeht, eignet Zwingli in hohem Maße: politisches Empfinden und politische Einsicht.

Uneingeschränkt dessen, daß dieses politische Gefühl maßgebend von den schweizerischen Verhältnissen bestimmt ist, daß an Stelle eines mehr rudimentären Reichsbewußtseins ein ausgesprochener Sinn für eidgenössische Freiheit steht50), stimmen theologische und historische Betrachter in der Wertung des Züricher Reformators überein in der Betonung des „Politikers” Zwingli51). Schweizer Autoren sehen in ihm einen weitschauenden, seiner Zeit vorauseilenden „Staatsmann”52). Man rühmt sein „feines realpolitisches Empfinden”53). Fast gereicht Zwingli zuweilen die ihm zuerkannte „politische Genialität”54) in der Gesamtwürdigung zum Nachteil, indem sie als allzu starke politische Orientierung55) erscheint und zu dem Vergleich führt: Ist Luther zu wenig, dann ist Zwingli zu viel Politiker56).

Für die Betrachtung des Kirchenrechts bei Zwingli ergibt sich daraus als Ausgangslage, daß in ihm neben (vor?57)) dem Theologen der Politiker die Dinge sieht. Zwingli behandelt folglich in seiner nüchtern praktischen Art58) Fragen des Kirchenrechts wie andere Vorgänge nach Zweckmäßigkeitserwägungen, die sogar seine Gotteserkenntnis beeinflußt haben sollen59) (eine Meinung, die eine stark christozentrisch ausgerichtete Theologie wahrscheinlich ablehnen wird) und erlauben, ihn als den „geborenen Kirchenpolitiker”60) anzusprechen.

 

2. Gemeinde — Träger des „Kirchen”rechts

Wesentlich für die Einschätzung des Kirchenrechts bei Zwingli ist die Berücksichtigung der oben im zweiten Teil aufgezeichneten Wandlung seines Kirchenverständnisses.

Wie es scheint, hält Zwingli schon in der ersten Periode die Kirche als spirituale Gemeinschaft für einen rechtlichen Eigenbereich. Obwohl begrifflich


50) Vgl. Köhler, Huldrydi Zwingli, S. 14/15.
51) Schweizer, Geschichte d. Schweiz. Neutralität, S. 178, 184/185; Hauri, Die Reformation in der Schweiz, S. 155; Ritter, Luther, S. 219; Köhler, a.a.O., S. 269.
52) Oechsli, Zwingli als Staatsmann, Sp. 185-190, insbes. Sp. 190; Escher, Zwingli als Staatsmann.
53) Köhler, a.a.O., S. 271.
54) Köhler, daselbst.
55) Pestalozzi-Kutter, Kulturgeschichte des Kantons Schaffhausen Bd. 2, S. 63/64.
56) Schollenberger, a.a.O., S. 336; Kritik zu Schollenbergers Darstellung Zwinglis bei Hauri, a.a.O., S. 180.
57) Gabriel Meyer (SOB), a.a.O., S. 135 ff.
58) Ritter, a.a.O., S. 199.
59) Dazu Köhlers Ausführungen zur Predigt Zwinglis in Marburg am 29. 9. 1529 (Zwingli, S. 203).
60) Ritter, a.a.O., S. 211.

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nicht erfaßbar, dürfte die „Kirche” Quelle eigenen Rechts sein, vermöge dessen jede Einzelgemeinde autonom und jede Gemeinde im Besitze der ganzen Kirchengewalt ist61), von der Pfarrwahl über die Ordnung des Gottesdienstes bis zur Banngewalt hin62). Besonders in den Anfängen der Züricher Reformation spürt man den Einfluß der germanischen Vorstellung der Markgenossenschaft63) und der schweizerischen Gemeindedemokratie.

Es ist nun sehr fraglich, ob, als die Kirchenvorstellung Zwinglis sich begrifflich verdichtet, die „Kirche” aufhört, Trägerin eigenen Rechts zu sein64). Man bedenke: die „Begrifflichkeit” der Kirche wird ja gerade dadurch erreicht, daß bei Zwingli die Grenzen zwischen Geistlichem und Weltlichem verwischen. Also keine „Scheidung mit Fleiß” wie bei Luther, sondern die christliche Stadt (Staat) hat Teil an, ja, ist Teil der „Gemeinde” (= Kirche). „Urbem Christianum nihil quam Ecclesiam Christianum esse”65).

Trägerin des Rechts bleibt auch in den letzten Jahren Zwinglis die „Kirche” qua „Gemeinde”. Die falsche Optik, Zwingli habe den Gemeinden die Kirchengewalt entzogen, sei also vom Gemeindeprinzip abgefallen66), ergibt sich aus mangelnder Differenzierung zwischen Träger der Kirchengewalt und Ausübung der Kirchengewalt. Betreffs Ausübung der Gewalt nimmt Zwingli in den letzten Jahren eine Art „Zentralisierung” vor, zugeschnitten immer auf die Züricher Stadtverhältnisse. Es kommt folglich nicht zu einer synodalen Ordnung67), aber ebenfalls nicht zu einem Kirchen-„regiment”68). Der „Rat der Zweihundert”, eine Art Gremium bürgerlicher Presbyter69), waltet gemäß dem der „Gemeinde” eigenen Recht.

Also nicht wie bei Luther gibt eine weltliche Institution aus eigener Machtvollkommenheit auch der Kirche in ihrer Verlegenheit eine Ordnung, sondern eher vollzieht sich das Umgekehrte: die Organe der Stadt handhaben das Gemeinderecht „an Statt”70) der Gemeinde (= Kirche). Dabei muß zwangsläufig die Obrigkeit eine christliche sein71); denn eine andere würde ja von dem gemeindeeigenen Recht nicht erfaßt. Hier erfährt die Vorstellung der Stadt (erst in Übersetzung der „Staat”) als „praecipuum membrum ecclesiae”72) ihre tiefe Bedeutung. Da dem Wesen der Kirche Gewalt und Zwang widersprechen, die Anwendung des Rechts aber gegebenenfalls sie erfordert, üben städtische Organe „rechtens” kirchliche Gewalt aus und


61) Farner, a.a.O., S. 12 und Anm. 1.
62) Farner, a.a.O., S. 12 und 16, 18; hinsichtlich Banngewalt Widerspruch zu diesen Ausführungen, a.a.O., S. 26, Anm. 2.
63) Farner, a.a.O., S. 46; zur Entwicklung der Markgenossenschaft: H. Brunner, Grundzüge der deutsch. Rechtsgeschichte, S. 81-84, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1, S. 282-287; Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1, S. 119/120.
64) Wie nach Farners Ausführungen anzunehmen, a.a.O., S. 13, S. 129 ff.
65) Zitiert nach Farner, a.a.O., S. 132, Anm. 2.
66) Sohm, KR Bd. 1, S. 646.
67) Lampert, Kirche und Staat, S. 29.
68) So Köhler, Zwingli, S. 271, einer Meinung, der indirekt Farner (a.a.O., S. 134) zustimmt, wenn er sagt, „daß mit Zwinglis Tod das obrigkeitliche Kirchenregiment da war”; entgegengesetzter Ansicht Lampert, a.a.O., S. 29.
69) Köhler, a.a.O., S. 274.
70) Dazu Lampert, a.a.O., S. 28.
71) Vgl. Corp. Ref. Zwingli Werk II, 346, 15 ff; darum braucht es nicht zu einer „ziemlich unbefangenen Übernahme des Staates als Instrument der sittlichen Erneuerung” zu kommen! (Scharp, a.a.O., S. 105).
72) Der auch Melanchthon anhing.

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treten damit uno actu als Teil der Gemeinde auf. „Utimur Tiguri Diacosiorum Senatu quae summa est Potestas Ecclesiae vice73)”. Demgemäß bejaht Zwingli den „Staat” und hält es für „unbedingte Pflicht” des Christen, an seinem Leben teilzunehmen74). Wie bei dem Kirchenbegriff werden bei Zwingli auch rechtlich weltlicher und geistlicher Bereich eines. Zwinglis „Kilchhöri” — zusammen die ecclesia sensibilis — sind geistliche „Gemeinde” und politische Kommune zugleich. Darin finden das viel erwähnte „Zürcher Ehegericht”75), der Kirchenzwang und das Sittenmandat von 1530 die ihnen gemäße Stätte76).

Mit Hilfe einschränkender Vereinfachung läßt sich von der Lage in Zürich in den letzten Jahren Zwinglis sagen, daß ihr rechtliches Fundament das Kirchenrecht (als „Gemeinde”recht) sei, von dem das „weltliche” Recht einen, wenn auch besonderen Teil bildet77).

Jedoch könnte eine zu scharfe juristische Aufgliederung der Kirchenordnung bei Zwingli zu falschen Maßstäben führen, da er das kirchliche Leben in Zürich und den umliegenden Kantonsgemeinden nicht so sehr nach juristischen Grundsätzen, sondern denen politischer Zweckmäßigkeit regelt. Trotz der weithin fehlenden Grenze zwischen „Recht” allgemein und „Kirchen”recht im besonderen, trotz der offenen Frage menschlicher Willensfreiheit78), ist an dem Vorhandensein eines „Kirchen”rechts bei Zwingli kaum zu zweifeln79), der in seiner Schrift: „De Providentia Dei” (1530), Gott „die ständige und unveränderliche Regierung und Verwaltung — „administratio” — aller Dinge”80) nennt.


73) Zitiert nach Lampert, a.a.O., S. 28.
74) Vgl. Farner, a.a.O., S. 45.
75) Vgl. Köhler, a.a.O., S. 256, 264; Leonhard v. Muralt, „Eine Weltwirkung der Reformation Zwinglis” (NZZ 1943 Nr. 450) nennt es „dies Ältestenamt in der Genossenschaftlichen Gemeindeautonomie”.
76) Vgl. Schoch KR, S. 161-163.
77) Die stärkere Betonung des AT in Zwinglis letzten Jahren ist darum verständlich (vgl. Farner, a.a.O., S. 129). Es ist nicht so, wie Schollenberger (a.a.O., S. 280) gemeint hat, daß „Zwingli die geistliche Gesetzgebung und Verwaltung als einen Teil der weltlichen Gerechtsame dem Staate überließ”.
78) Zwingli folgt nicht der Auffassung des Erasmus vom freien Menschenwillen (vgl. Köhler, a.a.O., S. 265), andererseits betont er die „Unverletzlichkeit der Conscientz” (vg. Hauri, a.a.O., S. 215).
79) Dändliker, Geschichte d. Schweiz, Bd. 2, S. 586, sieht Zwingli als „eigenartigen Begründer reformierter Lebensordnung”.
80) Heer, Europ. Geistesgeschichte, S. 267; vgl. Köhler, Die Geisteswelt Ulrich Zwinglis, S. 88-90.

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III. Das Kirchenrecht bei Calvin

 

1. Der Jurist Calvin

Angesichts der Größe des Gesamtwerkes Calvins scheint es schwer, festzulegen, ob diese Größe sich allein in dem Theologischen, abstrahiert von jeglichem juristischen Gedankengang, manifestiere, oder ob sie nicht gerade darin bestehe, daß sich hier theologische und juristische Denkweise in selten erreichter Hochform verbinden — ein sehr gewichtiges Argument dann gegen jene protestantischen Richtungen, die Theologie und Jurisprudenz für im vorhinein unvereinbar halten.

Die Gedankenfülle, aber gleichzeitig kristallene Gedankenschärfe in seinen Werken zeigen an, was wir historisch wissen: Calvin war „von Hause aus” Jurist. Er, der Hörer an den berühmten Juristenschulen von Bourges und Orleans1), galt schon seiner Zeit als kluger Jurist (Maître Calvin), der sich römisch-rechtlich und kanonistisch als wohlgebildet erwies2).

Doch genügt der einfache Hinweis auf diese allgemein bekannte Eigenschaft des Genfer Reformators für die Frage nach evangelischem Kirchenrecht nicht. Er durchdenkt mit unbestechlicher Konsequenz das reformatorische Gedankengut3) und denkt es zu Ende. Sein Gedankengebäude ist von seltener Geschlossenheit und steht zugleich in lebendigem Zusammenhang mit dem damaligen Stande der Staatstheorien und der Staatswirklichkeit4).

Calvin besitzt zeit seines Lebens ein untrügliches Gefühl dafür, daß menschliches Zusammenleben auf Erden politischer „Formen” nicht entraten kann5). Schon in einem der ersten Werke, dem Seneca-Kommentar, sucht er das Wesen des Staates zu umreißen6). Hier wie auch fortan wirken in seinen Gedanken über den Staat antike Vorbilder nach. Die moderne Forschung schreibt ihm eine eigene Staatslehre zu7).

Den rationalen Einbruch in das Denken und damit in das Weltbild treibt Calvin viel weiter vor, als es die übrigen Reformatoren und viele seiner Zeitgenossen tun8). Gewandet in elegantem „Esprit”, gewinnen Logik und Ratio eine Herrschaft, in der „Idee” und „Geist” über Natur und Überlieferung gestellt sind. Die entsprechende Rückwirkung streut hier den Keim der Bestrebung aus, daß die „Idee” alles natürlich Gewordene „abrichte”, reglementiere, man möchte heute sagen „einplane”.

Diese Verteilung von Licht und Schatten gilt es in der Frage evangelischen Kirchenrechts hier in eine Ebene zu rücken mit dem Ganzheitsdenken


1) Bohatec, Calvin und das Recht, Vorwort.
2) Vgl. Heer a.a.O., S. 373.
3) Vgl. Lortz, Geschichte der Kirche, S. 276.
4) Vgl. Bohatec, Budé und Calvin, S. 461/62; Staat und Kirche, Vorwort XVI.
5) Lortz a.a.O., S. 277.
6) Bohatec, Staat und Kirche, S. 1-3, 9.
7) Dazu die Darstellung von Bohatec, Budé und Calvin, S. 439-64.
8) Heer a.a.O., S. 375.

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der Katholischen Kirche und der Adiaphoron-Haltung Luthers, wenn neben den Politiker Zwingli der „Jurist” Calvin als „ein Staatsdenker von größtem Format”9) tritt.

 

2. Gott — die Quelle allen Rechts

Grundlage seines Staatsdenkens, in weiterem Sinne Rechtsdenkens, bildet der Gedanke der unfaßbaren Majestät Gottes, wie sie in der ecclesia abscondita zum Ausdruck kommt.

Hinter Calvins Prädestinationslehre steht die Vorstellung von der freien, jeder Beziehung baren Gnade Gottes. Der grundlose, nicht zu messende, nicht zu begreifende Wille Gottes ist die Quelle allen Geschehens. Gott ist allüberall die erste bewirkende Ursache10). Die göttliche Alleinwirksamkeit versteht sich so, daß Gott selbst und Gott allein die wirkende Einheit11) im Weltgeschehen darstellt.

In dieser Sicht schafft Gott jede gesellschaftliche „Ordnung”. Seiner Allgewalt entströmt das Recht12). Der Determinismus in dem von Calvin verwendeten Erwählungsgedanken gerät zu der Annahme nicht in Widerspruch, weil die Grenze zwischen Recht und Sittlichkeit sich nicht verwischt. In der Prädestination bringt Calvin die unbedingte, ingleichen unabdingbare — die lückenlose, ingleichen hüllenlose — Unterwerfung des Menschen unter die Allmacht Gottes zum Ausdruck. Die Unerbittlichkeit des Prädestinationsgedankens geht in ihrem düsteren Ernst weit über das menschliche Vorstellungsvermögen hinaus; aber indem Gott vom einzelnen Gehorsam bis zum letzten fordert13), kann der Mensch, sofern er dieses „Gebot” befolgt, sich freiwillig für die Einhaltung der stets transsubjektiven Rechtsordnung entscheiden, da ja darin immer die Erfüllung des spiritualen Willens Gottes vorliegt, der Urheber allen Rechts ist14).

Gott hat den Menschen in seinem irdischen Leben mit Verantwortungsgefühl ausgestattet15). Drum hat er auch sein Sich-Einfügen in die von Gott bewirkte Ordnung (Recht) zu verantworten. Calvin führt nicht das Recht abstrakt auf Gott zurück, sondern meint ein jeweils geltendes Recht im Hier und Jetzt. Bezugnehmend auf Calvins Vorstellungen der Kirche als Organismus, als „Körper”, läßt sich sagen, daß das Recht in seinem Sinne zu bezeichnen sei „als die die mannigfachen Willen zu einer organischen Einheit zusammenfügende Regel, als Regel des organischen Wollens”16).

Also keine Spiritualisierung des „Rechts”, sondern eine Verankerung der gegebenen, vorhandenen Rechtsordnung im Spirituellen. Auf diese Weise gelangt Calvin zu einer besonderen Form von Rechtspositivismus17), dem


9) Heer a.a.O., S. 374.
10) Bohatec, Staat und Kirche, S. 569.
11) Dazu Bohatec, Budé und Calvin, S. 462.
12) Vgl. Lang-Hinrichsen, Zur ewigen Wiederkehr . . . . S. 26.
13) Vgl. Heer, a.a.O., S. 378.
14) Dazu Bohatec, Calvin und das Recht, S. 86.
15) Mit Bezugnahme auf die meditatio futurae vitae, Bohatec, Budé und Calvin, S. 475.
16) Eine der Grundthesen der Untersuchung von Bohatec, vgl. Staat und Kirche, S. 569.
17) Lang-Hinrichsen spricht von „Calvins theonomem Positivismus”, a.a.O., S. 23.

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die Idee der Alleinwirksamkeit Gottes zugrunde liegt. Die Vorstellung von Gott als erster und einziger, als bewirkender und bewegender Ursache „trägt” das ganze Recht. Der Omnipotenzgedanke schlägt die eherne Klammer um alles, was streng rational Calvin strikt und säuberlich scheidet: um Weltliches und Geistliches, um Recht und Sitte, um Staat und Kirche, um Recht und . . . Kirchenrecht.

 

3. Kirchenrecht — geistliches Recht

a) „Positives” Kirchenrecht

Calvin, zeit seines Lebens um rechte Ordnung der Kirche bemüht, sieht deren Recht in Gottes Wirken, enger gefaßt, auf göttliches Recht gegründet. „Die wahre Kirche ist geordnet durch die Ordnung, die unser Herr Jesus Christus aufgerichtet hat”, heißt es bei ihm in der Confessio Gallicana (229, 2)18).

Dabei führt Calvin den Schriftbeweis des Kirchenrechts keineswegs starr und einseitig19), eher elastisch und auf Anpassung bedacht20). Es ergeben sich teilweise, wie bei der „wahren” Kirche, Parallelen und Übereinstimmungen mit Luther. Die Vorstellung der spiritualen Ordnung wird nicht völlig verdrängt. Bohatec, dem es darum zu tun ist, die Nähe zwischen Calvin und Luther in der Bewertung des Kirchenrechts herauszustellen21), vermerkt, daß bei Calvin „zwangsläufig die spiritualen Ordnungen trotz der in ihnen herrschenden spiritualen Norm einen menschlichen Charakter aufweisen”22), und schränkt diese Feststellung in anderem Zusammenhange dahingehend ein, daß die Kirchenordnungen, da sie der Ausbreitung des Reiches Christi auf Erden dienen, „schon um dieses Zweckes willen, obwohl menschlich, so doch zugleich göttlich” seien23).

Aufschlußreicherweise erhebt Calvin gegen die Katholische Kirche nicht den Vorwurf, daß sie das Kirchenrecht auf ius divinum gründe, sondern nur den, daß ihre Art der Begründung falsch sei24).

Von Calvins Verständnis der Kirche her, die als „Körper” organische und pneumatische Elemente vereinigt, ergreift das Pneuma auch das Kirchenrecht25). Die Kirchenordnungen sieht Calvin als göttlich an, als „moyens, que Dieu nous a mis pour nous avencer au chemin de la vie éternelle”26).


18) Man vergleiche damit die kath. Auffassung: „Die Urkirche trug bereits die Grundzüge einer geordneten Gemeindeverfassung an sich” (Plöchl, Geschichte des KR, Bd. 1, S. 47).
19) Vgl. Bohatec, a.a.O., S. 387.
20) Anpassung, um die sich Calvin überall bemüht, so etwa, wenn er im Schlußabschnitt der Schrift „De coena Domini” von 1540 durch eine Interimsformel die Abendmahlsdifferenz zu überbrücken sucht.
21) Bohatec, a.a.O., S. 387-99.
22) Bohatec, a.a.O., S. 578 (eine etwas gewundene Formulierung!).
23) Bohatec, ebendort, ähnlich S. 574.
24) Bohatec, a.a.O., S. 574.
25) Vgl. Bohatec, Budé und Calvin, S. 464; man beachte das starke Betonen der Macht des Hl. Geistes in der Schrift „De necessitate reformandae ecclesiae”.
26) Corp.-Ref. Calvini op. 8, 416.

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„Or pource que nous ne jouissons de Jesus Christ que par l’Evangile: nous croyons que l’ordre de l’Eglise, qui a été établi en son autorité, doit être sacre et inviolable.”27)

Das Bedeutende der Calvinischen Kirchenrechtsbegründung ist darin zu erblicken, daß trotz der auch in der Kirche als „Begriff” verbleibenden Dynamis und weitgehender Berücksichtigung des Pneuma der Rechts-, der Normcharakter der Kirchenordnung nirgends in Zweifel gezogen wird. Inviolable! Der bahnbrechende Gedanke, so ist man versucht zu sagen, äußert sich in Calvins Einsicht, daß „Recht” — miteins das ius divinum! — nur in einer formfähigen Gemeinschaft bestehen kann, wie sie Calvins „Kirche” als organischer Körper erlaubt28).

Folglich setzt die Kirche das Kirchenrecht aus sich selbst und zwar in doppelter Weise: Einmal aus der Alleinwirksamkeit göttlichen Waltens, zum anderen als societas corporis Christi29). „Kirche” und „Kirchenrecht” stehen miteinander in Einklang; denn, wie Bohatec es ausdrückt, „das innerste Wesen des kirchlichen Rechtes und das innerste Wesen der Kirche sind geistlich”30). Calvin erstrebt die église bien réglée et policée31). Das Kirchenrecht ist geistliches „Recht”32).

Wenn neuerdings Schoch die Auffassung vertritt, das Kirchenrecht bei Calvin sei „als Ganzes göttlich nach seinem Hintergrund, aber menschlich nach seiner besonderen positiven Gestalt”33), dann liegt auch hier wieder eine aus der Retroperspektive vorgenommene Beweisführung vor. Es werden Calvin Ansichten der modernen evangelischen Theologie unterstellt, wie sie sich aus dem Verständnis der Kirche als „Werden” ergeben.

Bei Calvin kann es auf Grund des soeben Gesagten zu diesem Ablösen des Vordergrundes vom back-ground nicht kommen. Er hält das Kirchenrecht in den einzelnen Kirchenordnungen für geistlich. Selbst wenn man einmal von der Idee der Alleinwirksamkeit Gottes absieht, lassen Worte wie „inviolable”, „régler”, „policer” oder „ordre perpetuel” keine andere Deutung zu. Die bei Calvin immer wiederkehrende Bezugnahme auf das „Gesetz” des Alten Bundes und die offenkundige Hinneigung zur „positiven” Kirchenordnung, zur bestimmten Kirchenverfassung34), ab 153935) steuern weitere Argumente zu dieser Meinung bei.

Ausgehend von der alttestamentlichen Vorstellung Gottes als Richter und Herrscher, läßt die „Richtereigenschaft" Christus bei Calvin, wenn nicht geradezu als „Legislator” im katholischen Sinne, so doch als „legis


27) Confession de foy, Art. 25, Genève 1559.
28) Vgl. Bohatec, Staat und Kirche, S. 574; Scharp a.a.O., S. 105.
29) Vgl. oben S. 34, 35.
30) Bohatec, a.a.O., S. 580.
31) Bohatec, a.a.O., S. 576, vgl. Art. 29 Confessio Gallicana.
32) „Geistliches Recht" bedeutet nicht ipso iure „heiliges Kirchenrecht”, wie es Emil Brunner bei Calvin für gegeben hält (D. Mißverständnis d. Kirche, S. 96). Dagegen schon W. Niesel, Die Theologie Calvins, München 1938, S. 190-195.
33) Schoch, KR, S. 186.
34) „Si in omni hominum societate esse politiam aliquam videmus, quae ad colendam communem pacem et retinendam concordiam valeat, in ecclesiis praesertim observandum esset, quae cum bene composita rerum omnium constitutione optime sustinentur, tum vero sine condordia nullae sunt prorsus.” Corp. Ref. Calvini op. 2, 887.
35) Vgl. Bohatec, Staat und Kirche, S. 300.

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interpres” erscheinen36). Soweit nun ius in Form von leges in der verkörperten „Kirche" auftritt, handelt es sich um kircheneigene Satzungen. Die „Kirche” als communio praedestinatorum und societas fidelium ist rechtmäßige Trägerin der Kirchengewalt — ein Gedanke, den vor Calvin schon Farel (geb. 1489) vertreten hat37).

In bezug auf die societas Christi, vom Genfer Reformator vor allem gedacht als die gemäß jeweils positivem Kirchenrecht „geordnete und gut verfaßte Kirche”, hat er, wohl in Anlehnung an die bekannte Sentenz des Cyprian, den Satz geprägt:

„Extra eius gremium nulla est speranda peccatorum remissio, nec ulla salus.”38)

b) Gemeindebezogenes Recht

Gremium! Ein Schlüsselwort für das Wesen des Kirchenrechts bei Calvin. Das Kirchenrecht ist nicht auf eine hierarchische Spitze zurückzuführen, sondern das Kirchenrecht wächst aus und in einer Vielheit. Mag man sie eine Vielheit der Gläubigen, der Glieder des Corpus Christi oder schlicht der Gemeindeangehörigen nennen — immer bedeutet „Gemeinde” ein Collectivum. Calvins Kirchenrecht stellt die Ordnung der Vielheit „Gemeinde” dar. Und die Ordnung „wirkt” immer Einheit.

Dieses Widerspiel der Wirkungen macht verständlich, daß Calvin in seinen Kirchenordnungen stets auf Betonung der Autorität der Einzelgemeinde großen Wert legt und doch offensichtlich immer die Einheit der Gesamtkirche vor Augen hat39). Mittelpunkt beider Richtungen ist die „Gemeinde”, die streng organisierte Gemeinde, deren starke juristische Stellung in den „Ordonnances ecclésiastiques” von 1541 sich deutlich abhebt. Man wird nicht bestreiten können, daß der Gedanke der Autonomie der Gemeinde seit den Tagen des Urchristentums in der Kirche lebt. Katharer und Waldenser haben sich um ihre theologische und juristische Ausformung bemüht40).

Die Grundzüge einer vermeintlich urchristlichen Verfassung entwirft der Genfer Reformator in der „Institutio religionis”. Die Hervorhebung der straff durchorganisierten „Gemeinde” hat neue Gegensätzlichkeiten im Gefolge. Den Inhabern der Ämter nach der „Vier-Ämter-Lehre”, in der das heikle Laienproblem eine juristisch überaus gelungene, aber doch nur teilweise eine Lösung findet, obliegt die Heilsverwaltung41). Damit aber gerät der eigentliche „Laie” wieder ins Hintertreffen. Sicherlich denkt Calvin an die „ganze” Gemeinde als Trägerin des Kirchenrechts, wie es seinem Kirchenbegriff von der societas entspricht. Aber die in der „Vier-Ämter-Lehre”


36) Dazu Erik Wolf, Rechtsgedanke und bibl. Weisung, S. 36 und Anm. 7.
37) Schollenberger, a.a.O., S. 280; Heer, Europ. Geistesgesch., S. 383.
38) Institutio IV, 1, 4; vgl. Otto Weber, Vers. Gemeinde, S. 36.
39) Vgl. Bohatec, a.a.O., S. 298/99.
40) Sieburg, Kleine Geschichte Frankreichs, S. 30; Heer, a.a.O., S. 382.
41) Heer, a.a.O., S. 376.

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vorgenommene Privilegierung trägt aristokratische Züge in die Gemeinde42).

Die Frage nach dem Träger des Calvinischen Kirchenrechts läßt sich unschwer beantworten, soweit sich „Gemeinde” aus Calvins Kirchen„begriff” ergibt. Fragen wir aber juristisch nach der Struktur der ,Gemeinde’ als Inhaberin der Kirchenhoheit, dann passen die Antworten nur jeweils ungefähr auf das Besondere Calvinischer Kirchenverfassung43), deren Bezeichnung als „schroff antiritueller Biblizismus”44) auf Grund der Ausführungen von Schütz und Thurian45) als einseitig aufzufassen ist. Die „Gemeinde” bei Calvin deckt sich weder mit einem Kirchenregiment noch mit einem Presbyterium46). Auch eine angenommene Verbindung von Anstalts- und Organismusgedanken erweist sich als wenig glücklich47). Niemand wird bezweifeln, daß Spuren all dieser Eigenschaften in der „Gemeinde” enthalten sind. Die begriffliche Erfassung behält etwas Schwebendes und bekundet in ihrer Gesamtheit eine communio resp. societas sui generis.

Das Gefüge der „Gemeinde” in Calvins Sinne erweist sich als festverbunden. Sie vermag ein Kirchenrecht zu tragen, das streckenweise zur Ordnung einer kirchlichen Kampf Organisation wird48). Weder an dem ,Rechts’-charakter noch an der „kirchlichen” Qualifikation dieses gemeindebezogenen Rechts ist bei Calvin zu zweifeln. Man möchte meinen, daß, je tiefer der rationale Einbruch in Calvins Denken erfolgt, der einzelne um so stärker in die „rechtliche” Bindung (religio!) der „Gemeinde” verwiesen sei. Sie setzt, eben weil „Kirche” und rechtlich verfaßte Gemeinde in einem49), vermöge eigener Hoheitsgewalt das „Kirchen”recht; denn

„niemand darf der Gemeinde aus eigener Vollmacht obrigkeitliche Satzungen auferlegen.”50)

 

4. Theokratie

Kaum eine Darstellung, sei sie theologisch, historisch oder juristisch, die die Genfer Verhältnisse unter Calvin zu schildern unternimmt, versäumt es, den Begriff der „Theokratie” vorzubringen51). Theokratie ist zu einem Schlagwort geworden für die Verhältnisse, die Calvin in dem letzten


42) Bohatec spricht in staatsrechtlicher Hinsicht von einer „Mischung von Aristokratie und Demokratie” (Budé und Calvin, S. 461); vgl. Liermann KR, S. 156, „Die Gemeinde als solche war auch bei Calvin mundtot”.
43) In der Psychologie nennt Kretschmer sie „das versteinerte Monument eines großen schizothymen Geistes: straff, kalt, der reine Gedanke, das reine Wort”. Kretschmer, Körperbau und Charakter, S. 329.
44) Hauri, a.a.O., S. 183.
45) Die beide darlegen, daß Calvin sehr wohl Gefühl für Riten, für Liturgie besaß. Roger Schutz, Introduction à la vie communautaires Thurian, Joie du Ciel sur la Terre, pp. 213-226 (Straßburger Liturgie).
46) Vgl. Ablehnung bei Bohatec in der Auseinandersetzung mit Abraham Kuyper (Kirche und Staat, S. 381 und Anm. 1).
47) Bohatec, a.a.O., S. 576.
48) Ritter, Luther, S. 199.
49) „Die Idee der Gemeinde, der Christusherrschaft und der Kirche ist bei Calvin ein Ganzes von organischer Geschlossenheit” (Karlfried Fröhlich, Gottesreich, Welt u. Kirche b. Calvin S. 11).
50) Institutio IV 10, 6.
51) Gabriel Meyer (SOB), a.a.O., S. 148: Schwegler (SOB), Geschichte der kath. Kirche der Schweiz, S. 138/139; Schollenberger a.a.O., S. 388; Liermann KR, S. 155, spricht von einem „eigenartig theokratisch gedachten Staat”; Schoch KR, S. 65 u. a.

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Abschnitt seines Lebens in Genf geschaffen hat. Mit der Theokratie ergeht es hier wie mit allen Gemeinplätzen: Sie verlieren durch (allzu) häufigen Gebrauch die begriffliche Prägnanz. Um der Eigenart Calvinischen Kirchenrechts näherzukommen, erscheint eine Restriktion der „Theokratie” Genf geboten. Es geht in der Frage nach evangelischem Kirchenrecht nicht an, mit dem Etikett „Theokratie” andere Eigentümlichkeiten der staatsrechtlichen Schöpfung Calvins aus mancherlei — teils sehr durchsichtigen — Gründen zu überkleben.

Schon Calvins Kirchenbegriff hat uns die starke Annäherung von sichtbarer Kirche und politischer Kommune gezeigt, bis zur Identifizierung hin. Die Vorstellung der Alleinwirksamkeit Gottes, die Idee des dem öffentlichen Leben Verpflichtet-Sein tun das ihre hinzu. Die „wohlgeordnete” Kirchengemeinde wächst in die politische Gemeinde hinein.

Aber nicht von ungefähr! Nicht nur, weil die Agglomerationskraft des gemeindeeigenen Kirchenrechts dahin dränge. Entscheidend dürfte sein, daß das Genf Calvins alle Voraussetzungen einer Polis erfüllt. Die Stadtstaatlichkeit liefert den bereiten Boden, in dem Staat und Kirche zusammenwachsen. Vergleichsbeispiele für Genf in seiner Übereinstimmung von Staatlichkeit, Munizipalität, Bürgersinn und religiöser Überzeugung lassen sich in unserer Zeit nur noch vergröbert bilden. Am ehesten könnte ein Hinweis auf den Stadtstaat Bremen52) adäquate Vorstellungen vermitteln (allerdings: Genf zählt zu Zeiten Calvins ca. 20 000 Einwohner53), Bremen hat heute mehr als zwanzigmal so viel)54).

Die Verhaftung Calvins mit den zeitlichen Gegebenheiten Genfs55) verlangt gebührende Berücksichtigung in der Wertung des Verknüpfens Von kirchlichen und politischen Belangen. Dann wird man sagen können, daß Calvin unter „reformieren” immer „ordnen” versteht: ordnen der geistlichen und der gesellschaftlichen Verhältnisse, ordnen der „Gemeinde” als Kirche und als Polis56). Er ist durchdrungen von seiner Sendung, „de mettre le levain reçu du ciel dans la société de son temps pour la reformer”57).

Wenn in Verfolg dieser Mission Calvin „einseitig den kirchlichen Zügel strafft”58), wenn sich das organisch-pneumatokratische Prinzip seiner Staatslehre durchsetzt59), wenn der nicht zu leugnende Anschein entsteht, daß hier der Staat von der Kirche ein Programm empfange60), dann wird trotz alledem Calvins Kirchenrecht nicht zu einem „Staatsrecht”, wird seine positive Kirchenverfassung kein „menschliches” Recht (es sei denn, man nähme dem Pneuma jeglichen Sinngehalt).


52) Hier nicht verstanden als Bundesland der BRD (Art. 23 G.G.), zu dem auch Bremerhaven gehört. Ipsen bezeichnet das Bundesland Bremen als .im Rechtssinne nur unvollkommen stadtstaatlich” („Hamburg”, S. 503 und Anm. 4).
53) V. Valentin, Weltgeschichte, S. 326/27.
54) Zu den verwickelten, teils unklaren Verhältnissen des Kirchenverfassungsrechts in Bremen, Smend ZEK, 2. Bd., S. 419-22.
55) Pestalozzi-Kutter, a.a.O., S. 70 ff.
56) Vgl. die Konfrontation von Luther und Calvin bei Schönfeld, Grundlegung der Rechtswissenschaft, S. 305-309.
57) Tissot, Jean Calvin, p. 85.
58) Köhler, Zwingli, S. 271.
59) Bohatec, Budé und Calvin, S. 461-464.
60) Wie Lampert meint, a.a.O., S. 27 Anm. 12.

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Das Kirchenrecht bleibt geistliches Recht der „Gemeinde”, deren Abgrenzung irgendwie besteht, man denke an das Ältestengericht61) als ein Bindeglied zwischen geistlichen und weltlichen Einrichtungen.

Man hat Genf das „protestantische Rom” genannt62). Völker- und staatsrechtlich könnte man es eine „Citta del Vaticano” im kleinen heißen.

Die Kirchenzucht in dieser Citta reicht weit (viele werden sagen: „zu weit”). Die von Calvin bis ins kleinste getroffene Regelung; des gesellschaftlichen Lebens macht vor nichts halt. Sie kümmert sich um Kleidung, Essen und Schlafengehen. Sie streift die Grenze des Grausamen. Enge, Zwang, Muffigkeit und härteste Rücksichtslosigkeit steigen auf63) — gewiß Wolken, die Calvins Werk verdunkeln und seiner „Stadt” die Namen „Priesterstaat”64) und „geistliche Diktatur”65) eintragen; aber, behindern sie die Eigenständigkeit seines „Kirchen”rechts? — Eher verkümmern die Wurzeln des weltlichen Rechts.

Die Gemeinde der Erwählten und Verworfenen ist „unter das Gesetz getan”. Unter diesem Gesichtspunkt erhellt Max Webers Bezeichnung „Bibliokratie”66) mehr von dem Phänomen des „Gemeinde”stadtstaates als „Theokratie” und trägt eine weitere Nuance zum Kirchenrecht bei. Calvins „Gemeinde” erwächst aus dem Bunde Alten und Neuen Testaments, aus „Gesetz” und Gnade; Altes und Neues Testament werden in dieser „Gemeinde” — ob unmittelbar67), bleibt offen — als „Gesetz” befolgt.

Und schließlich noch ein gewichtiges Wort zur richtigen Einschätzung des Calvinischen Kirchenrechts als „geistliches” Recht, vor allem im Hinblick auf das Jetzt. Gewisse staatsrechtliche Prinzipien, die die westliche Hemisphäre heute als selbstverständlich und unaufgebbar vertritt, suchen wir vergeblich in Calvins „Gemeinde”. Von dem liberalen Prinzip der Glaubens- und Gewissensfreiheit findet sich keine Spur in Genf68). Die Herrscher-Richter Vorstellung Gottes und seines Wortes schließt bei Calvin das Gewaltenteilungsprinzip aus. Und von Ansätzen abgesehen, kommt das demokratische Prinzip der „Gleichheit” nicht zum Zuge69). Also keine egalitäre „Demokratie” und erst recht keine „libertäre” Demokratie! Das Wort „tyrannische Demokratie”70) für Calvins „Stadt” ist aufgetaucht, ein einprägsames Bonmot und staatstheoretisch ein Widersinn . . .

Was nach all diesen Abstrichen und Einschränkungen übrigbleibt, darf dann als Körnchen „Theokratie” helfen, das Eigentümliche in Calvins positivem Kirchenrecht auszudrücken, verstanden als „geistliches” Recht.


61) Hauri setzt damit das „Konsistorium” (?) gleich und spricht von der „Fundamentalinstitution der Calvinischen Kirche”, a.a.O., S. 184. Liermann hält wegen der Stellung des „Rates” in Genf Calvin „nicht unmittelbar” für den Schöpfer des Gemeinderechts, KR, S. 155/156.
62) Gabriel Meyer, a.a.O., S. 150, Schollenberger, a.a.O., S. 381.
63) Valentin, Weltgeschichte, S. 326 ff: „In vier Jahren gab es in dieser Stadt . . . 58 Hinrichtungen und 76 Verbannungen; für die Pest wurden ganz Unschuldige in der Art der Hexenprozesse zur Verantwortung gezogen und zu Tode gebracht.” — Vgl. Lortz, Geschichte der Kirche, S. 277; Schollenberger, a.a.O., S. 280 und 393.
64) Schollenberger, a.a.O., S. 388.
65) Schollenberger, a.a.O., S. 391.
66) Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, S. 122.
67) Wie Ritter glaubt, a.a.O., S. 200; vgl. Liermann KR, S. 33.
68) Man denke an die Hinrichtung des Antitrinitariers Servet 1553, an die Verfolgung Castellios; zu letzterem: Stefan Zweig, „Ein Gewissen gegen die Gewalt — Castellio gegen Calvin”, ein Roman.
69) Dabei ist zu bedenken, daß es staatsrechtlich den Gleichheitssatz schlechthin nicht gibt, vgl. die eingehende Darstellung von Ipsen, „Gleichheit”, S. 113 — dazu auch Bohatec, a.a.O., S. 151.
70) Sieburg, Kleine Geschichte Frankreichs, S. 67.

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IV. Zur historischen Entwicklung des reformierten Kirchenrechts

 

Der besonders geartete Zusammenfall von Gemeinde als „Kirche” und als „Polis” sowie die daraus resultierende Verbindung — teilweise Vermischung — von Kirchenrecht und Recht in Calvins Kirchenverfassung hat sich nicht durchgesetzt. Diese Erscheinungen bleiben auf das Genf Calvins beschränkt.

Die Entwicklung reformierten Kirchenrechts lehnt sich in großen Zügen der Zwinglischen Auffassung an, indem kirchenpolitische Erwägungen maßgebend zu seiner Bildung beitragen. In der einzelnen juristischen Ausgestaltung indes setzen sich die Rechtsinstitute Calvins durch und beweisen dabei bis heute im Kirchenrechtsganzen elastische Tragfestigkeit und fortwährende Anpassungsfähigkeit.

 

1. Das anglikanische Kirchenrecht

Folgt man Köhler, dann wurden die Kilchhören von Zürich und seiner Landschaft zur Church of England1). Wenn dieser Auffassung auch nur teilweise beizupflichten ist2), so stimmt doch, daß Bildung und Gestaltung der Anglikanischen Kirche in erster Linie auf politische Erwägungen, sodann auf staatsrechtliche Ideen und erst weit ab und verschwommen auf dogmatische Rücksichten zurückzuführen sind3).

Die Vorstellung der Kirche als „visible society and body politic” drängt die „Gemeinde” als Rechtsquelle zurück. Es überrascht nicht, das anglikanische Kirchenrecht „settled by authority of Parliament” zu finden4). Kirche und Staat sind nur die beiden Seiten ein und derselben Gemeinschaft5); es gibt somit nicht zwei nebeneinander stehende Rechtskreise6), wobei zu bedenken ist, daß „Gemeinde” im englischen Rechtsdenken als das sich selbst regierende Volk gilt und nicht so stark korporative Züge trägt wie in den kontinentalen Rechtsauffassungen7). Die Divergenz zwischen staatlichen und kirchlichen Rechtsquellen wird kaum empfunden und steht der Annahme der Staatskirche nicht im Wege.

Das Recht dieser „Staatskirche”8) ist Bestandteil des Rechts des Landes9). Hier darf aus oberflächlicher Bewertung jedoch nicht angenommen werden, daß damit das Kirchenrecht weltliches Recht sei. Die für das anglikanische Kirchenrecht so bedeutsame Lehre Hookers10) bietet in der Ecclesia Anglicana


1) Köhler, Zwingli, S. 275.
2) Das Bekenntnis der Anglikanischen Kirche, die sog. ,39 Artikel’, tragen eben Calvinische Züge.
3) Vgl. Wahl, Staatskirche und Staat in England, S. 11.
4) Köhler a.a.O., S. 275.
5) So Hooker, vgl. Wahl a.a.O., S. 54.
6) Wahl a.a.O., S. 21.
7) Ein Unterschied, dessen Nichtbeachtung sich schmerzlich bemerkbar gemacht hat, als die Militär-Regierung in der brit. Zone nach 1945 die Zweiteilung der Verwaltungsspitze der Gemeinden durchsetzte!
8) Simons, Kirchenvolk und Staatsvolk, S. 176.
9) Ridder, Kodifikationsnöte der Angl. Kirche, S. 414.
10) Niedergelegt in dem oben S. 35 erwähnten Werk „Of the Laws of Ecclesiastical Polity" 1594-1597; dazu Schüle KR S. 100/101.

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für die Kirchen- und Staatsgewalt eine verschiedene Herleitung; Quelle des Kirchenrechts ist „the body of the Church”; Ausgangspunkt der weltlichen Gewalt ist der Staat, weil aber das Volk als Träger aller Rechtsgewalt — dies der entscheidende Gedanke Hookers11) — stets als Staats- und Kirchenvolk zugleich in Erscheinung tritt, repräsentiert das Parlament (auch) das Kirchenvolk und bildet die Legislative der „Kirche”12)13).

In den Ämtern der Anglikanischen Kirche vereinen sich Kirchen- und Staatsgewalt. Gemäß dem „Act of Supremacy” von 1558 (sog. 1. Suprematiegesetz) ist der König „only supreme head in earth of the Church of England called Anglicana Ecclesia”14). Das eigenartige Ineinander-Übergreifen von Kirche und Staat gewinnt besondere Bildkraft in der Schwurformel der anglikanischen Bischöfe bei ihrer Einsetzung15).

Das Miteinander von Kirche und Staat in der Grundlegung des anglikanischen Kirchenrechts spricht mehr für als gegen seinen Normcharakter, ohne daß darum die Grenze gegen das staatliche Recht niedergelegt würde. Der Normenbestand des „Ecclesiastical Cannon Law” (rezipierte Teile des Kanonischen Rechts bis zum 16. Jahrhundert)16), „Ecclesiastical Statute Law” und „Ecclesiastical Common Law” ist nach Ridder, „obwohl nicht mehr aus einer Rechtsquelle fließend und aus durchaus heterogenen Bestandteilen zusammengesetzt, immerhin deutlich von dem Recht zu unterscheiden, das die weltlichen Gerichte verwalten”17).

 

2. Kirchenrecht „in der Gemeinde”

Führen wir uns nun die schon zu Lebzeiten Calvins einsetzende lebhafte Bildung von Kirchenrecht im reformierten Kirchentum vor Augen, dessen Entwicklung bis heute nicht weniger lebendig verläuft18), dann ist zu erinnern und anzuknüpfen an das reformierte Kirchenverständnis. Verschieden stark neigt es zum Begrifflichen hin. „Kirche” verfestigt sich in der „Gemeinde” und verfügt doch gleichzeitig in der „ecclesia semper reformanda” über ein nicht zu unterschätzendes dynamisches Element. Beide Elemente verhalten sich weltzugewandt, tatoffen.

Nach dem Grade der Begriffsstärke der Kirche als „Gemeinde” — umgekehrt gesehen, nach der Stärke der Dynamis des semper reformanda — läßt sich das historisch auftretende reformierte Kirchenrecht einteilen in reines Gemeinderecht, presbyterianes und synodales Kirchenrecht. Die


11) Vgl. Amelunxen, „Die staatskirchenrechtliche Idee Richard Hookers”.
12) Dazu Wahl a.a.O., S. 56.
13) Von hier aus werden die heutigen kirchenrechtlichen Spannungen in der Angl. Kirche verständlich (vgl. Schütz, Europa, S. 55/56), die sich nicht völlig der Tatsache verschließen kann, daß das Parlament als Repräsentant des „Kirchenvolkes”  dogmatisch zu einer allmählich unhaltbaren Fiktion wird. In gewisser Übertreibung ließe sich von einer Mediatisierung der „Kirche” durch das (hinsichtlich seiner „Christlichkeit” umstrittene) Parlament sprechen.
14) Ridder a.a.O., S. 414, Anm. 4; Wahl a.a.O., S. 15.
15) Auszugsweise zitiert bei Heer, a.a.O., S. 422.
16) Die „Canons Ecclesiasticals” von 1603 hat das engl. Parlament nie bestätigt, vgl. Ridder a.a.O., S. 421/422.
17) Ridder a.a.O., S. 420.
18) Vgl. dazu: Die umfassende Übersicht, „Von der Literatur über das reformierte Kirchenrecht”, bei Schüle KR, S. 79-109; Weerdas Darstellung „Wilhelm Zepper und die Anfänge reformierter Kirchenrechtswissenschaft in Deutschland”, ZEK, Bd. 4, S. 266 und 268.

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Grenzen zwischen diesen Formen schwanken und können nicht nach dem Prinzip der Ausschließlichkeit behandelt werden. Presbyterium und Synode aber bestehen stets nur vermöge ihrer Bezogenheit auf den Gemeindebegriff der Kirche. Immer entscheidet die Gemeindebeziehung.

Indes besagt das nicht, reformiertes Kirchenrecht sei nun juristisch ganz allgemein ein „Gemeinderecht”. Die Annahme der Souveränität der „Gemeinde” ist für reformiertes Kirchenrecht nicht ohne weiteres statthaft, obzwar wir eine Richtung finden, den Independentismus, der jegliche Form von presbyterianem, synodalem und obrigkeitlichem Kirchenrecht verdammt und sein Kirchenrecht aus der Gemeindesouveränität begründet19).

Der überwiegende Teil der reformierten Welt hängt der Idee der Gemeindesouveränität nicht an, wobei sich im angelsächsischen Raum der Einfluß der Prädestinationstheorie, in Mitteleuropa die Wirkung des „semper reformandum” bemerkbar macht.

Die Entwicklung bringt am Niederrhein eine ausgesprochene „Gemeindekirche”20) hervor — sogenannte „Kirchen unter dem Kreuz” (1555-1648) — in der laikale Elemente und demokratische Prinzipien in reichem Maße vorhanden sind. Aber die Ordnung dieser Kirchen21) ist ursprünglich eine rein synodale!22) Die Formvollendung dieses Kirchenrechts verrät Calvinischen Einfluß und rechtfertigt in Anbetracht des historischen Ablaufs die Frage von Bohatec, „was aus den Gemeinden unter dem Kreuz geworden wäre, wenn nicht Calvin das Verständnis für die Notwendigkeit einer äußeren Ordnung eingehämmert hätte”23). Synodales Gepräge weist ebenso das Recht der Kirche im Elsaß auf, dazu unter Einfluß Butzers24) demokratische Züge. Synodales Recht bietet auch die reformierte „église dressée”25) Frankreichs, wobei der Synodalaufbau den Gerichtsinstanzen der staatlichen Rechtsprechung nachgeformt wird26). Das Recht der reformierten Gemeinden Ostfrieslands entsteht teilweise (Kirchenordnung von 1530) auf der Grundlage der Marburger Artikel von 152927). In ihm begegnen sich synodale Züge mit presbyterianen Merkmalen. Presbyteriane Linien bestimmen dann über die Niederlande das Kirchenrecht in der Vielzahl der angelsächsischen Richtungen reformierten Kirchentums.

Bestehen in der Annahme der „Eigenständigkeit” und des Normcharakters des reformierten Kirchenrechts in obigen verschiedenen Ausdrucksformen keine Bedenken, dann ist einschränkend dazu anzumerken, daß im deutschen Raum der Blick auf reformiertes Kirchenrecht sehr bald getrübt wird, weil schon früh die Überlagerung durch staatliches Recht einsetzt28).


19) Dazu Schüle, KR, S. 102-105. Lang, Der kongregationalistische Kirchenbegriff, 1925, in: Die Frage nach der Kirche, Barmen 1927, S. 48-71.
20) Vgl. Otto Weber, Versammelte Gemeinde, S. 44.
21) Ein sehr beachtliches Argument gegen die positivistische Fiktion vom staatlichen Rechtserzeugungsmonopol!
22) Dazu: Bornhak, Grundriß des Verwaltungsrechts, S. 183; Liermann, KR, S. 156; das von Weerda kommentierte Gutachten von 1573 für die Gemeinde Wesel (ZEK, Bd. 4, S. 277-279).
23) Bohatec, Staat und Kirche, S. 576.
24) Dazu Ritter, Luther, S. 223.
25) Dazu J. Chambon, Der französische Protestantismus, S. 51 ff.
26) Chambon a.a.O., S. 70-76.
27) Vgl. Köhler, Zwingli, S. 214.

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Sehen wir einmal von dieser erforderlichen Einschränkung ab, dann zeigt sich für die Kennzeichnung reformierten Kirchenrechts allgemein, daß sie einseitig bleibt, sofern wir die juristische Folgerung ziehen, die Synode resp. das Presbyterium sei Inhaber der potestas ecclesiae — einseitig, weil hier analog den staatsrechtlichen Gesichtspunkten geurteilt wird.

Das reformierte Kirchenrecht, gleich ob in Form synodalen oder presbyterianen Kirchenrechts, existiert eben nur „in der Gemeinde”. Das juristisch Wichtige dieses „In-der-Gemeinde-Seins” liegt in der gemeinsamen Hingabe aller Gemeindeglieder — auch im Kirchenrecht! — an den Willen Gottes. Die Tendenz zum autonomen Gemeinderecht steckt zwar in diesem Kirchenrecht und tritt in angelsächsischen Richtungen der reformierten Kirche stärker hervor. Je mehr die Gemeindesouveränität betont wird, desto schärfer bildet sich das ,ius resistendi’ gegen den der Gemeinde nicht adäquaten Staat aus (Althusius 1567-163829)), der dann vornehmlich in apokalyptischer Schau (Offenbarung 13) vom Mißbrauch der Macht her gesehen wird. Wir können wohl von einer Neigung des reformierten Kirchenrechts zum „Gemeinderecht” sprechen, doch läßt es sich nicht allgemein als solches kennzeichnen, weil die damit juristisch vorausgesetzte Gemeindesouveränität30) — selbst nur eine Gemeindeautonomie — in der reformierten Theologie, vor allem auf dem Kontinent, nicht immer eine hinreichende Begründung findet. Nur mit diesen die Aussage mehr oder minder aufhebenden Vorbehalten kann das reformierte Kirchenrecht „in der Gemeinde” juristisch als „Gemeinderecht” gelten.

Dieses „Gemeinderecht” weist einen unverkennbaren Zug zum Alten Testament auf. Der Gedanke des „Gesetzes” in alttestamentlichem Sinne kommt verschieden stark zum Ausdruck. Man darf, wenn auch mit gebotener Zurückhaltung und unter Berücksichtigung des Gefälles zwischen den verschiedenen reformierten Richtungen, im reformierten Grundansatz eine Tendenz31) erblicken, die Gestalt der Kirche und des Rechts „in” dieser Kirche aus einem „Gesetz" des Evangeliums abzuleiten. In der Zuordnung von Neuem und Altem Testament — „Evangelium und Gesetz”! — bietet sich „Grund” für Kirchenrecht. Ein normativer Grundzug im Alten Testament ist unbestritten32). In dem Rückgriff auf das Alte Testament (er ebenfalls setzt sich stärker außerhalb Europas durch) müht sich somit das reformierte Kirchenrecht, dem biblischen Urgebot nahezukommen, in dem „das Gesetz und die Propheten hangen”, und verstärkt zugleich den Gemeindebezug; die Gemeinde steht „unter dem Gesetz”.

Damit widerlegt die Entwicklung reformierten Kirchenrechts im Ergebnis die landläufige und oberflächliche Ansicht, reformiertes Kirchenrecht leite


28) Sehr treffend Weerda (Zepper, ZEK, Bd. 4, S. 285/86): .Die reform. Kirche des konfessionskundlichen Modells konnte sich nur da entwickeln, wo die Obrigkeit mit der ihr eigentümlichen Gewalt vor den Toren der Kirche Halt macht. Das war in den deutsch-reformierten Territorien nicht der Fall, und wo es doch geschah, wie in den reformierten Gemeinden Ostfrieslands, da war solch eine Position nur unter Kampf zu gewinnen und festzuhalten.”
29) Dazu Erik Wolf, Große Rechtskenner, S. 176-216.
30) Zu den Bedenken gegenüber der Souveränität der communio sanctorum als „Gemeindedemokratie” vgl. Dombois, Glaube, Recht, Europa, S. 145. Zur Ablehnung theologischer Vollkommenheit der „souveränen Einzelgemeinde” vgl. Karl Barth, Ordnung der Gemeinde, S. 72/73.
31) Vgl. Vogel, Lutherisch-reformiert — heute. S. 13.
32) Deutlich in den Ausführungen von Martin Buber in der Schrift „Gottesfinsternis” (Zürich 1953).

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sich ohne weiteres direkt vom „Gesetz” des Evangeliums ab33) und sei somit problemlos geistlich (gar göttlich im Sinne Calvins) zu nennen.

Immerhin erlauben die bisher herausgehobenen Anzeichen, Konturen kirchlicher Eigenständigkeit des Normativen im reformierten Kirchenrecht zu bejahen. Den Versuch aber, diese Konturen aus der Giebelwand reformierten Kirchentums plastisch herauszumeißeln, unterbindet (mindestens im kontinental-europäischen Sektor) die reformierte Auffassung vom Bekenntnis. Behufs des semper reformanda kann sich die reformierte Kirche bei aller den Juristen ansprechenden Intensität des Begrifflichen im reformierten Kirchenverständnis überall dort, wo etwas darauf abzielte, sich bekenntnismäßig „festzulegen”, der Einsicht offenhalten, daß die „Kirche” geschichtlicher Gestaltung anheimgegeben sei, deren Formen wechseln34).

Fast stärker noch als im Falle der „Gemeinde” und des alttestamentlichen „Gesetzes” sind hier Bekenntnis und Recht völlig aufeinander bezogen35). Was besagt das aber? — Jedenfalls keine Betonierung des Normenpfeilers im Gebäude des reformierten Kirchenrechts! Das reformierte Kirchenverständnis wertet „Bekenntnis” weder primär (wie Schrift und Gemeinde) noch huldigt es ihm als statische Größe. Die Dynamis des semper reformandum stellt das „Bekenntnis” fortwährend in Frage. Das reformierte Kirchenrecht aber ist ein Teil von ihm.

Gerade in diesem Punkte erscheint korrekte juristische Klarstellung vonnöten. Nicht das Kirchenrecht „normiert” das Bekenntnis, sondern genau umgekehrt: Das Bekenntnis beeinträchtigt das reformierte Kirchenrecht als „Recht”, mag auch das dem reformierten Denken eigene signifikative Verständnis dieser Beeinträchtigung verschieden stark entgegenwirken.

Hier haben wir die mit juristischen Mitteln so schwierig zu erfassende Seite reformierten Kirchenrechts Vor uns. Dem als Teil des Bekenntnisses angesehenen Kirchenrecht36) mangelt gar leicht die Statik. Die stärker calvinistisch geprägten Richtungen reformierten Kirchentums bringen historisch dabei eine bedeutsame Wechselwirkung hervor. Das „sola scriptum” bewirkt immer neue „Bekenntnis”-bildungen, und da jedes Bekenntnis als einen Teil (nicht als Annex!) sein Kirchenrecht besitzt, haben manche Denominationen von der Kirchenverfassung Namen und Gestalt empfangen. Diese historische Entwicklung spricht für die Durchschlagskraft der Statik des Kirchenrechts im dynamischen Bekenntnisganzen. Das in das Bekenntnis eingeordnete Kirchenrecht behauptet in der reformierten Kirche einen Platz und der Anteil dieses „gemeindlichen” Rechts an der geschichtlichen Aufsplitterung der Reformierten sollte nicht unbeachtet bleiben, wenn der Ablauf offenbar werden läßt:

„Das Wort war auferstanden und wütete unter ihnen mit der zersetzenden Schärfe seiner Silben und Buchstaben.”37)


33) Vgl. Weerda, ZEK, Bd. 4, S. 267: „Das meist in kurzschlüssiger Polemik gefällte Urteil, die reformierte Kirchenordnung zeige als Bauelement eine starre Gesetzlichkeit.”
34) Vgl. Bloesch, Gesch. d. Schweiz, ref. Kirche, Bd. 1, S. 8 — Weerda nennt bei Darstellung Zeppers zwei Faktoren der Bildung ref. Kirchenrechts: „Die Schriftbezogenheit . . . und die Zeitbedingtheit” (ZEK, Bd. 4, S. 275).
35) Otto Weber, Vers. Gemeinde, S. 61.
36) Vgl. Liermann KR, S. 279 u. Anm. 10: Otto Weber a.a.O., S. 73-75.
37) Kolbenheyer, Paracelsus S. 633.

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V. Zur historischen Entwicklung des lutherischen „Kirchen”rechts

 

Während das reformierte Kirchentum bei Zwingli, vor allem bei Calvin, durchgestaltetes Kirchenrecht vorfindet, auf das sich aufbauen läßt, ohne daß die verschiedenen reformierten Richtungen es sklavisch übernehmen, kann die lutherische Kirche vom Wittenberger Reformator wohl den Namen beziehen, nicht aber ein Kirchenrecht herleiten; denn Luthers Adiaphoron-Vorstellung verneint, wie begründet worden ist, zwar nicht die Möglichkeit eines „Kirchen"rechts, gibt aber keinerlei Anhaltspunkte seiner Gestaltung38). Die Einsicht in die Verschiedenheit der Startbedingungen ist bei der Betrachtung der Entwicklung lutherischen „Kirchen”rechts unerläßlich.

 

1. Zum Wirken Melanchthons

Denken wir an den weitreichenden Einfluß, den Melanchthon auf die lutherische Theologie gehabt hat — einen Einfluß, der auch das deutsche reformierte Kirchentum berührt — dann ist zu überlegen, ob seine Stellung in der Entwicklung lutherischen Kirchenrechts jenem entspreche.

Schönfeld verwendet den formelartigen Satz, Melanchthon habe „die harten Antithesen Luthers, die er nicht ertrug, in milde Synthesen aufgelöst”39). Nach dem bisher Gesagten kann man dem ersten Teil des Satzes nicht beipflichten, weil wir nicht von der Antithese her Zugang zu Luthers Vorstellung von Kirche, von der Predigt in zwei Bereichen und dem Kirchenrecht als Adiaphoron finden, sondern durch rückblendendes Einfühlen in die universalistische Weltschau des Hohen Mittelalters. Der zweite Teil des Satzes trifft insofern die Situation, als die „Milde” auf den fundierten Ausgleich hinweist, um den Melanchthon sich überall bemüht. Seine Neigung zum Ausgleich40) erwächst einmal aus dem Rückgriff auf die aristotelisch-thomistische Lehre41) und drängt sich zum anderen aus seinem politischen Feingefühl auf42).

Politische Erwägungen sind es, die die sichtbare Kirche bei Melanchthon stärker hervortreten lassen. Damit kommt er zunächst ganz allgemein dem „Recht” nahe. Fußend auf Aristoteles und Thomas, schafft er die Grundlagen protestantischen Naturrechts43). Teile seiner theologischen Ausführungen und manche Stellen in seinem Briefwechsel fallen durch ihre


38) Maurer glaubt hinsichtlich der Abgrenzung der „Ordnung geistlichen Lebens” gegen die „Welt” und gegen Rom feststellen zu können: „Niemand wird leugnen können, daß die Reformatoren jene ihnen aufgetragene Abgrenzung auch auf dem Gebiete des Rechts vollzogen haben” (ZEK Bd. 3, S. 240). Bezüglich Luther ist dieser Meinung nicht zuzustimmen.
39) Schönfeld, Grundlegung der Rechtswissenschaft, S. 309.
40) Luther vermahnte ihn deswegen des „Leisetretens”! Vgl. Oeschey, Fragen der Kirchenordnung, S. 191.
41) Lang-Hinrichsen, a.a.O., S. 22.
42) Vgl. Benz, a.a.O., S. 11 und 15.
43) Lang-Hinrichsen, a.a.O., S. 26 — Heer über Melanchthon: „Ruhig, wie wenn nichts geschehen wäre, baut er auf Aristoteles und der biblischen Theologie eine neue Naturrechtslehre auf, die der des Thomas bisweilen wie ein Ei dem anderen entspricht.” (Europ. Geistesgesch., S. 266.)

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ausgesprochene juristische Diktion auf44). Luthers gedankentiefe, aber nicht abgegrenzte Vorstellung von der Rechtfertigung aller durch den Glauben erfährt bei Melanchthon unter Anwendung juristischer Gedankengänge ihre formale Durchbildung45) und wird durch ihn als Satisfaktionstheorie ein Grundstein lutherischer Dogmatik. Dem Gedanken der Imputation vermag nur ein rein juridisches Schema Form (Norm?) zu Verleihen46), wie deutlich in Art. IV CA spürbar ist.

Melanchthons Blick für das Recht und seine politischen Fähigkeiten haben ihm wahrscheinlich nicht zuletzt den Vorwurf eingetragen, er habe neues „Kirchenrecht” in die lutherische Kirche hineingetragen, ihn treffe die Schuld an der Entstehung landesherrlichen Kirchenrechts47). Andererseits zeiht man ihn schon zu Lebzeiten der Verfälschung der „reinen Lehre” durch kryptocalvinische Gedanken48). Zwei Tadel, die sich gegenseitig aufheben.

Tatsächlich steht Melanchthon Zwingli näher als Calvin. Er ist dem „Gemeinde”gedanken zugeneigt, aber ein „Gemeindeprinzip” entwickelt er nicht49), stärker zeichnet sich in seiner Begründung eines Kirchenrechts schon die „Amts”-idee ab50). Im „Tractatus de potestate et primatu papae” von 1537 beschreibt Melanchthon das Regiment der Ecclesia,

„quod dederit Christus apostolis tantum spiritualem potestatem, hoc est mandatum docendi evangelii, administrandi sacramenta, excommunicandi impios sine vi corporali nec dederit potestatem gladii . . .”51)

Hier ist weder von der zwinglischen Presbyter-Vorstellung noch vom „Amt” im Rahmen calvinischer Vier-Ämter-Lehre etwas zu argwöhnen.

Wenn es nun als Tatsache feststeht, daß Melanchthon, zweifellos nicht unbeeinflußt von politischen Vorgängen, für ein Kirchenrecht in den reformatorischen Gemeinden eintrat und an seiner Satzung mitwirkte52), dann besagt das nicht leichthin, er sei mit der Notlösung landesherrlichen Kirchenrechts einverstanden gewesen oder habe gar seine Durchsetzung betrieben. Wo Luther aus einem untrüglichen Gefühl aufbegehrt, da erkennt Melanchthon aus seiner umfassenden Einsicht in das politische Geschehen der damaligen Zeit die Gefahr, die ein Kirchenrecht als Ausfluß der Landeshoheit auf die Dauer für die „Kirche” bot. Er weiß trefflich heteronomes von autonomem Kirchenrecht zu scheiden53) und bemüht sich, zu


44) Melanchthon schreibt 1559 an den Patriarchen Joasaph in Byzanz: „. . . wir bitten Euch — unter Berufung auf das natürliche und göttliche Gesetz —, gleichermaßen beide Teile zu hören und Anwalt der Wahrheit und des Gesetzes Gottes zu sein” (entnommen bei Benz, a.a.O., S. 64).
45) Vgl. Benz, a.a.O., S. 109, 113.
46) Melanchthon erwähnt in der griechischen CA-Übersetzung von 1559, weil für die griechisch-orthodoxe Kirche bestimmt, nirgends die imputatio. Vgl. Benz, a.a.O., S. 120.
47) Einer der Grundgedanken Sohms! — ebenso Reischle, Sohms Kirchenrecht, S. 18.
48) Vgl. Benz, a.a.O., S. 100.
49) Vgl. Maurers Ausführungen über die dreifache Auffassung der „societas” bei Melanchthon. „Man darf daher nicht sofort an eine Übertragung des aristotelischen Societätsbegriffes auf die Kirche denken . . . . Begreiflich aber, daß die drei Momente späterhin unter den Vorzeichen des aristotelischen Societätsbegriffes vereinigt werden” (ZEK Bd. 4, S. 350, Anm. 19).
50) Nach Heckel, Lex charitatis, S. 181 ff. behält Melanchthon die „Rechtslehre Luthers” bei und nimmt nur eine stärkere Durchformung vor.
51) Zitiert nach Oeschey, a.a.O., S. 195.
52) Ritter, Luther, S. 205.
53) Dazu: Heckels Studie „Melanchthon und das heutige deutsche Staatskirchenrecht” in der Kaufmann-Festschrift 1950.

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verhindern, daß theologische Abhandlungen die „legalen” Grundlagen für die Fiktion der Kirchenhoheit als Teil der Landeshoheit abgeben. In diesem Sinne lassen die Confessio Augustana und Melanchthons Apologie die Frage der Zuständigkeit bischöflicher Jurisdiktionsgewalt geschickt in der Schwebe.

 

2. Staatliches Recht für die Kirche

In der Entwicklung der lutherischen Kirche wird das unter Luther in der Zeit nach 1525 aus der „Not” hingenommene Recht des Landesherren zu „ihrem” Recht. In dem Bestreben, so wenig wie möglich äußerlich, „leiblich” zu erscheinen54), läßt sie es geschehen, daß der Staat sich um ihre Ordnung kümmere, und wähnt gar, auf diese Weise in einer „rechtsfreien” Sphäre zu leben.

Das obrigkeitlich erlassene Recht55) für die Kirche in den lutherischen Gebieten tritt allmählich terminologisch als „Kirchenrecht” auf. Die „feine Grenze zwischen Notrecht und Regel” kann nicht eingehalten werden56). Das auch für die Entwicklung des Prozeßrechtes einflußreiche Werk J.H. Böhmers von 1714 trägt den Titel „Ius ecclesiasticum protestantium”57). Spätestens seit dieser Zeit ist der Begriff protestantisches (resp. evangelisches) „Kirchenrecht” im Schwange. Dabei entspricht dieses Recht in seinem kirchlichen Rückhalt weder der traditionellen katholischen Auffassung noch der reformierten Ansicht vom „Kirchen”recht. Das Recht für die lutherische Kirche ist kein ius sacrum. Ebensowenig stellt es ein gemeindebezogenes Recht, ein „Recht in der Gemeinde” dar. Es ist ganz schlicht staatliches Recht und . . . da das Luthertum nie zu einer Profilierung seiner Eigenständigkeit, zu einer Abgrenzung gegenüber dem „weltlichen” Recht ansetzt58), . . . bleibt es durch die Jahrhunderte. Hegel tut somit dem Luthertum keinen Tort an, wenn er das Kirchenrecht zum Staatsrecht zählt59), während seine Dialektik der katholischen und reformierten Eigenständigkeit diesbezüglich nicht gerecht wird. In Verfolg klarer Begriffsabgrenzung sollte hinsichtlich der lutherischen Kirche jeweils von einem Pseudo-Kirchenrecht gesprochen werden.

Im Luthertum hat der Staat die Kirche „einverleibt”60) — in der nüchternen Sprache der Verwaltungsjuristen: „inkorporiert”. Die „Landeskirche” muß als typische Erscheinung des souveränen Staates verstanden werden61). Für eigenständiges Kirchenrecht bietet sich nicht Raum: theologisch wegen Verdammung alles „Weltlichen”, juristisch, weil der Staat mit ursprünglicher Hoheitsgewalt ausgestattet ist, wohingegen alle


54) Bluntschli, Psychologische Studien über Staat und Kirche (Zürich 1844), S. 82/83.
55) Otto Weber, a.a.O., S. 73-75.
56) Dombois, Glaube, Recht, Europa, S. 154.
57) Dazu Döhring, Gesch. d. deutschen Rechtspflege, S. 310/311.
58) Schönfeld, a.a.O., S. 308.
59) Vgl. die Auseinandersetzung bei Schönfeld, a.a.O., S. 482.
60) Bornhak, Grundriß des Verwaltungsrechts, S. 183.
61) Scharp, a.a.O., S. 108; vgl. Jundt, Aspects du Luthéranisme, p. 61: „Les manifestations de cette histoire seront tantôt l’expression fidèle de la pensée de Luther, tantôt, grevées de compromissions ou profondement alterées sous l’influence de la sécularisation, elles n’en seront plus que la caricature.”

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inkorporierten Verbände stets nur delegierte Hoheitsgewalt in Anspruch nehmen können. Aus dieser Perspektive ist auch die von Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts und später wiederholt hervorgehobene „Freiheit der Kirche in ihren inneren Angelegenheiten” zu werten62) (die sich in eine höchst bemerkenswerte Parallele zu Art. 2, Ziff. 7 der UNO-Charta setzen ließe). Es handelt sich um eine vom Staate der Kirche konzedierte Freizone, über deren Ausmaß man geteilter Meinung sein kann63). Die lutherische Theologie schaltet sich nie ein, die Eigenständigkeit gegenüber dem staatlichen Recht kraft eigener (wie auch immer begründeter) Kirchenhoheit abzugrenzen. Die „Freiheit in inneren Angelegenheiten” bietet also bis heute kein Remedium zur Begründung kircheneigenen Rechts.

Hingegen verhalf diese der lutherischen Kirche großmütig gewährte Freiheit die Landesfürsten, es recht bald dem „dux Cliviae”64) gleichzutun; sie konnten sich mit Fug und Recht als Papst und Bischof, Kaiser und König zugleich in ihrem eigenen Lande fühlen65). Es wird oft auf die durch die Weitabgewandtheit des Luthertums diesbezüglich ausgelöste Vorleistung auf den Absolutismus hingewiesen, wiewohl dieser Vorwurf (er trifft auch die Reformierten) für unsere Betrachtung von untergeordneter Bedeutung ist gegenüber dem viel weniger beachteten Umstand (er trifft die Reformierten nicht!), daß die lutherische Indolenz in Kirchenrechtsfragen entscheidend zur Ausbildung eines überspitzten Rechtspositivismus beigetragen hat.

Aus Anlaß der jüngst gefeierten vierhundertjährigen Wiederkehr des Augsburger Konfessionsfriedens von 155566) ist es nicht ohne Reiz, sich klarzumachen, was der bekannte Satz „cuius regio, eius religio” staats-und kirchenrechtlich besagte. Doch nicht mehr und nicht weniger, als daß das Bekenntnis des Monarchen von Rechts wegen das Bekenntnis aller Staatsangehörigen des von ihm beherrschten Staatsgebietes sei67). Von Rechts wegen! Kirchenrechtlich berührt mithin der ungeheure Satz als Reichsrecht die Katholiken nur sekundär, denn ihr Kirchenrecht ist ius sacrum und war ohnehin Teil des Reichsrechts. Die volle Schärfe des Satzes traf das Luthertum, weil es im Bedarfsfalle nicht mit eigenem Recht aufwarten konnte. Paradoxerweise waren die Reformierten, die in praxi unter den Auswirkungen des Satzes am schwersten zu leiden hatten, die einzigen, die für die Kirchenrechtsentwicklung aus der Sache Nutzen zogen, indem sie, weil bis 1648 nicht „verfassungsfähig” und staatsrechtlich also nicht „existent”, theologisch fundiertes, kircheneigenes „Kirchenrecht”


62) Vgl. die Darstellung bei Dock, Der Souveränitätsbegriff, S. 127.
63) Beispielsweise schreibt Wasserschieben Ende des 19. Jahrh.: .Dieser Einfluß der Theologen (auf die Stellung der Landesherren) war tatsächlicher Natur, kein rechtlich notwendiger; die Kirchenordnungen wissen nichts von einem Mitwirkungsrecht des Lehrstandes als solchem.” (Das landes-herrl. Kirchenregiment, Berlin 1873, S. 11).
64) Vgl. oben S. 71, Anm. 9.
65) Dazu v. Kreittmayr, „Grundriß d. allg. u. teutschen Staatsrechts”, 1770, 1. Teil § 30; vgl. Simons, Kirchenvolk u. Staatsvolk, S. 174; Dombois (Glaube, Recht, Europa, S. 150): „So erhielt das Fürstentum weit mehr als es je im Investiturstreit verloren hatte.”
66) Härtung: „. . . die Tatsache . . ., daß der Augsburger Religionsfriede nicht aus der Überwindung der Gegensätze hervorgegangen war, sondern daß die Parteien ihn aus Erschöpfung und mit dem Vorbehalt geschlossen hatten, späterhin das Verlorene wiederzugewinnen oder das Aufgegebene doch noch zu erobern.” (Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 37.)
67) Simons, Religion und Recht, S. 213; Härtung, a.a.O., S. 35.

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hervorbrachten. Hier zeigte sich den „Gemeinden unter dem Kreuz” das Segensreiche des „Kreuzes”. —

Was nun den Begriff „Landesherrliches Kirchenregiment” anbelangt68), ist festzustellen, daß er in reiner Form69) nur bis 1648 bestanden hat70), mögen auch verschiedene seiner Merkmale in Deutschland bis 1918 vorgehalten haben. In der Epoche des Absolutismus und des anschließenden „aufgeklärten” Absolutismus wird die „Landeskirche” allgemach zu „einer umfassenden und großartigen Polizeianstalt”71). Reinsten Ausdruck findet das lutherische Polizeikirchentum72) im „Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten” (1794), das „Von den Rechten und Pflichten der Kirchen und geistlichen Gesellschaften” spricht (ALR II, 11). Das Kirchenrecht ist, wie schon gesagt, staatliches Recht73), die der Kirche zugestandene Verwaltungsorganisation nichts anderes als ein staatlicher Verwaltungszweig.

Sicherlich hat das polizeistaatliche System nach dem Prinzip von Druck und Gegendruck die Abneigung der Lutheraner gegen „Kirchenrecht” noch verstärkt, so daß die auf dem Kirchenverständnis und der Skepsis gegenüber allem „Weltlichen” basierende relative Gleichgültigkeit zu offener Aversion wird. Einflüsse des Pietismus und Quietismus, vielleicht auch der Romantik, sind eher geeignet, die Tendenzen zu fördern statt zurückzudrängen. Man sollte das Fehlen kircheneigenen Rechts im Luthertum nicht außer acht lassen, wenn man sieht, wie gründlich Schleiermacher die Unterscheidung trifft zwischen „organisierten” kirchlichen Anstalten und der wahren religiösen Gemeinschaft74), die er als „freie Regung des Geistes”75) verherrlicht.

Nun ist es nicht so, als habe das Luthertum vor Sohm den Pseudocharakter seines „Kirchen”rechts überhaupt nicht geahnt und gespürt. Weitblickend und geistreich bringt Herder 1774 zum Ausdruck:

„Kirchenverfassung — vielleicht sind wir hier auf dem Fleck, woher, wie sorgfältig wir’s uns und anderen verbergen, der meiste neuere Unfug unserer Kirche herrührt.”76)

Wenn bisher die Unhaltbarkeit des Terminus „lutherisches ,Kirchen’recht” und die Revisionsbedürftigkeit der überkommenen Vorstellung der Landes„herrlichkeit” solchen Fremdkörpers in der Kirche dargetan wurde, verlangt diese Stelle, aufzuhorchen und weiter zu fragen, ob es denn in


68) Vgl. Lortz, Geschichte der Kirche, S. 256-258.
69) Hier ist zu denken an die Neumärkische Kirchenordnung von 1537, die Kurmärkische Kirchenordnung von 1540, die streng orthodoxe Brandenburqische Konsistorialordnung von 1573 u.a.
70) Die von Reischle (a.a.O., S. 36) geteilte Ansicht Riekers (Die rechtl. Stellung d. ev. Kirche, S. 207/208), der Zustand bis 1648 habe den Idealen Luthers am meisten entsprochen, ist an Hand des Dargelegten abzulehnen.
71) Bluntschli, a.a.O., S. 83; hinsichtlich des „Abgleitens der Kirchenzucht in polizeiliche Sittenzucht” vgl. Maurer ZEK, Bd. 4, S. 360.
72) „Polizei” verstanden im Sinne des Polizeistaates des ausgehenden 18. Jahrh. — Zum lutherischen Polizeikirchentum: Hauck, a.a.O., S. 141; Bornhak, a.a.O., S. 184; Ritter, Luther, S. 204.
73) Darauf kommt es an! Der von theolog. Seite vielfach verwendete Ausdruck „menschliches” Recht trifft den Kern der Auseinandersetzung nicht; denn daß das ius ecclesiasticum der Katholiken und Reformierten mindestens auch ius humanum enthalte, haben beide Seiten nie bestritten!
74) Schleiermacher, Reden über die Religion, 1799, 1. Aufl., S. 211/212.
75) Schleiermacher, a.a.O., S. 182.
76) Herder, Provinzialblätter an Prediger, 1774 in: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 144.

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allem und jedem stimme, daß das Luthertum das Substrat seines Rechts für die Kirche vom Staate bezieht und es damit „genug sein” läßt, in der Art, wie noch 1929 Förster Holstein kritisiert, wenn er unmißverständlich sagt:

„Alles Recht, das in der äußeren Christenheit gilt, ist seinem Wesen nach obrigkeitliches Recht und wenn es vorgibt, anderen Wesens zu sein, so lügt es”77),

wonach dann das Recht in der lutherischen Kirche immer staatliches Recht sein müßte.

 

3. Ansätze eines Gemeinderechtes

Konnte denn das Recht in lutherischen Gemeinden überhaupt immer „staatliches” Recht sein? lautet darauf die Gegenfrage. Richten wir den Blick zur Zeit der Entstehung des Luthertums an und über die Grenzen des damaligen deutschen Reiches, dann stoßen wir in der Tat auf dem Balkan verschiedenenorts auf einen Sachverhalt, der erlaubt, obige Frage zu verneinen.

Noch zu Lebzeiten Luthers setzt sich seine Lehre in den Städten und Dörfern Siebenbürgens durch. Um 1550 kann von einem „lutherischen” Siebenbürgen gesprochen werden78). Zwischen 1561 und 1563 sucht Heraclides Despota in der Woiwodschaft Moldau von den dort vereinzelten lutherischen Gemeinden aus der Reformation gegen die orthodoxe Kirche zum Durchbruch zu verhelfen79). Zur gleichen Zeit bestehen eine Anzahl lutherischer Gemeinden in Slowenien und bis nach Kroatien und Serbien hinein80).

Und überall finden sich „Kirchenordnungen”!

In gewisser Weise haben wir es mit einem Gegenstück zu den „Kirchen unter dem Kreuz” zu tun. Kirchen unter dem Halbmond!81)

Sie leben nach „ihrem” Recht. Hier ist kein „christlicher” Staat, hier fehlt der Fürst als „Gottes Amtmann” (statt dessen seit 1453 „die Söhne des Propheten” in Byzanz residieren), worauf Luthers Zwei-Regimenten-Lehre aufbaut, und dennoch ist die Verbindlichkeit dieses lutherischen Kirchenrechts so stark, daß sie in der Kronstädter Gemeinde Verhältnisse schafft, in denen Benz „geradezu die Vorbildlichkeit einer evangelischen Lebensform erkennen”82) zu können glaubt.

Diese „Ordnungen” gründen in der Gemeinde. Die lutherischen Gemeinden setzen sich selbst „ihr” Recht, mag dabei der Amtsgedanke stärker hervortreten als in dem Kirchenrecht der „Gemeinden unter dem Kreuz”. Melanchthon erkennt aus den ihm zugehenden Berichten und Schilderungen der lutherischen Kirche in Siebenbürgen die Bedeutung der


77) Förster, Sohm widerlegt, S. 330.
78) Vgl. Benz a.a.O., S. 73.
79) Vgl. Benz „Die Reformation in der Moldau”, a.a.O., S. 34-58; dazu Karl Kurt Klein, Beiträge zur Geschichte des Protestantismus in der Moldau (1924).
80) Dazu Benz, „Hans von Ungnad und die Reformation unter den Südslawen”, a.a.O., S. 141-175.
81) Wobei die in jenen Jahrzehnten ständig hin und her verschobene Grenze des Reiches gegen die Türken in Südslawien außer Betracht bleiben möge.
82) Benz a.a.O., S. 32.

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„Gemeinde” für das Kirchenrecht83). Angesichts der Türkengefahr werden die dortigen nach eigenem Kirchenrecht lebenden Lutheraner für ihn „zum Urbild eines evangelischen Gemeindelebens”84).

Die Lücken der lutherischen Lehre in der Grundlegung eigenen Kirchenrechts treten schon stärker in der Slowenischen Kirchenordnung vom Juni 156485) hervor, die Erzherzog Karl von Österreich am 6. September desselben Jahres konfiszieren läßt86). Einmal weist die „Ordnung” reformierte Einflüsse auf87), der Verfasser Trubar war gewissen Gedankengängen Zwinglis zugeneigt88), so daß diesbezüglich keine „lutherischen” Kirchenrechtsansätze behauptet werden können. Zum anderen brachte die Eigenart lutherischer Lehre in diesem Falle, da der durch die katholischen Habsburger repräsentierte „christliche” Staat sich justament weigerte, „Recht für die Kirche” zu setzen, den Verfasser in die wenig beneidenswerte Lage, wie Kidrič schreibt, „oft selbst nicht zu wissen, wer das letzte Wort sprechen und rechtskräftige Verfügungen treffen sollte”89). Man ersieht daraus, daß das Verständnis der Kirche in der Verfestigung der „Gemeinde” als Kirchenrechtsquelle hier nicht so stark wie in Siebenbürgen durchdrang. Dennoch scheint die Slowenische Kirchenordnung — Neudruck 1575, dazu eine Agenda von 158590) — in einer lockeren „slowenisch-liturgisch-kirchlichen Gemeinschaft”91) „rechtens”, also verbindlich, gegolten zu haben92). —

Diese Beispiele93) aus der Frühzeit der lutherischen Reformation zeigen, auch wenn sie auf die weitere Entwicklung keinen Einfluß hatten, daß, wo lutherisches Kirchenrecht unabhängig vom oder gegen den Willen des Staates entsteht, es aus der Kirche als „Gemeinde” hervorgeht, wobei die Bedeutung des Amts nicht unwesentlich ist.

 

4. „Episkopal”recht

Das Bekenntnis als Gegengewicht zur Flüchtigkeit und mangelnden Begrifflichkeit des Verständnisses zwiefacher Kirche lagert seine Schwere in das Recht für die lutherische Kirche ein. Gewissermaßen rankt sich das Pseudo-Kirchenrecht an dieser Manifestation der „Reinen Lehre” empor. Das Problem des reformierten Bereichs, die Antinomie des statischen Kirchenrechts als Teil des dynamisch empfundenen (sekundär bewerteten) Bekenntnisses stellt sich somit nicht. Von dieser Seite erreicht das Luthertum


83) Vgl. Benz, a.a.O., S. 30 und 33.
84) Benz, a.a.O., S. 31.
85) Dazu Kidrič, Die protestantische Kirchenordnung der Slowenen im 16. Jahrhundert.
86) Wobei nicht alle gedruckten Exemplare erfaßt werden; vgl. Kidrič, a.a.O., S. 58/59.
87) z. B. Rückgriff auf die Liturgie der Frankfurter reformierten Fremdenkolonie, Kidrič, a.a.O., S. 34.
88) Kidrič, a.a.O., S. 51; dazu Benz, a.a.O., S. 144-146, 157.
89) Kidrič, a.a.O., S. 122.
90) Kidrič, a.a.O., S. 60.
91) Kidrič, a.a.O., Aus dem Schlußwort, S. 150.
92) Dazu auch Hočevar, Die Anfänge der Reformation auf dem Gebiete des heutigen Jugoslawien (1936), S. 615-633.
93) Zu denen im weiteren eine lutherische Freikirche am Niederrhein zu rechnen ist, die, völlig isoliert inmitten reformierter Umgebung, im 17. Jahrhundert eigenes, staatsunabhängiges Kirchenrecht entwickelt. (Vgl. Liermann, KR, S. 46, Anm. 2.)

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eine Homogenität zwischen dem statischen Kirchenrecht und dem statischen Bekenntnis, dem einzigen statischen Bereich in der lutherischen Theologie überhaupt. Die der „Obrigkeit” im Luthertum zugewiesene (oder nur überlassene?) custodia utriusque tabulae94) bedingt staatliches Recht zur Wahrung des Bekenntnisses. Dieser theologisch nicht verkennbare Zug der Dogmatisierung macht das lutherische Bekenntnis zum Bestandteil des Pseudo-Kirchenrechts.

Abgesehen von den Ansätzen eigenen Kirchenrechts in Gemeinden fern den Schwerpunkten lutherischen Lebens, bleibt der Raum eigener Kirchenrechtsbildung durch die Jahrhunderte in der lutherischen Kirche ausgespart. Sie lebt nach staatlichem Recht95), dessen obrigkeitliche Herkunft sie hinnimmt. Sie verzichtet darauf, das staatliche „Notrecht” durch originäres Kirchenrecht zu ersetzen. Und noch heute gibt es die Ansicht in der Theologie, daß „die improvisierte Konzeption eine biblisch und lutherisch verantwortbare” gewesen sei96).

Also: die lutherische Kirche — ein rechtsfreier Raum? — Nichts ist für die Diskussion evangelischen Kirchenrechts verfänglicher, als diesem Trugschluß anheimzufallen. Auch kirchenfremdes Recht weiß „für die Kirche” Formen zu entwickeln, schillernd in der Vielfalt, weil das Fehlen des kircheneigener Mitte entsprossenen Rechts die Möglichkeit des Einströmens fremder Kirchenrechtsprinzipien begünstigt97). An diesem Ort führt die Entwicklung des lutherischen Pseudo-Kirchenrechts zu sinnentstellenden Begriffsverflachungen.

Die für die lutherischen Landeskirchen typisch gewordenen „Konsistorien” stellen keine „Kirchen”organe dar, sondern sie sind staatliche Organe für die Kirche98). Die preußische Konsistorialverwaltung erweist sich als Teil preußischer Staatsverwaltung99), die vor dem Bekenntnis nicht haltmacht. Noch stärker wirkt die Sinnverschiebung im Falle der Synode. Die zahlreichen Synodalordnungen im Luthertum und in den Unierten Kirchen weithin100) haben mit der „Synode” reformierter resp. calvinistischer Provenienz nichts gemein. In Verfolg klarer Begriffsunterscheidung muß man die Synode im eigentlichen Sinne von Synode im übertragenen Sinne trennen; wobei letztere als lutherische Synode, gar (im Hinblick auf den Unionismus) als evangelische „Synode” zu verstehen ist.

Das auf sein Bekenntnis festgelegte Luthertum versteht das hingenommene „Kirchen”recht vom Amtsgedanken her. Lutherische Kirchen- und Amtsvorstellung machen (allein) verständlich, warum in Fragen der Form ihres Pseudo-Kirchenrechts die Lutheraner, wie Iwand sagt, „lange genug


94) Vgl. Lampert, a.a.O., S. 27.
95) „Daß wir nun ein Kirchenrecht im Sinne des selbstherrlich verbindenden Rechtes überhaupt geschichtlich überkommen haben und besitzen, daran ist gar kein Zweifel.” Stammler, Recht u. Kirche, S. 71 (Sperrung hinzugefügt).
96) Hermann Sauer, Die Kirche im „christlichen Staat” heute, JK 1954, S. 69.
97) Vgl. Hauck, a.a.O., S. 67; Reischle, Sohms KR, S. 19.
98) Vgl. Hauck, a.a.O., S. 141, Ritter, Luther, S. 205.
99) Vgl. Bornhak a.a.O., S. 192.
100) z. B. Kirchengemeinde- und Synodalordnung für die östl. Provinzen vom 10. 9. 1873 (erlassen d. Kgl. Preuß. Staatsgesetz v. 25. 5. 1874), Generalsynodalordnung v. 20. 1. 1876 (erlassen durch Kgl. Preuß. Staatsgesetz v. 3. 6. 1876).

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proklamiert haben, daß allein die Episkopalordnung die dem lutherischen Bekenntnis gemäße Kirchenordnung sei”101). Die „Synode” in der Episkopalverfassung bedeutet juristisch eine Antinomie, oder aber man gelangt zu der oben vorgenommenen Begriffsklärung derart, daß die lutherischen und unierten Synodalverfassungen nicht stricto sensu „Synode” meinen.

Der das Luthertum beherrschende Amtsgedanke102) entkleidet die Synode ihres demokratischen Gewandes und verhilft über die staatliche Episkopalverfassung das Luthertum zur Struktur der lutherischen Pastorenkirche103). Man fragt sich, ob das Amt im Laufe der Entwicklung nicht doch zur kirchlichen Wurzel des in der lutherischen Kirche befolgten Rechts geworden sei. Trotz der Doppelgestalt des „Amtes” (parallel zum Kirchenbegriff) bieten sein christologischer (Amt als munus Christi) und sein „dienstlicher” Teil (Amt als ministrium professionis)104) keine Wachstumszellen. „Amt” besteht juristisch nicht „an sich”, sondern im Verband, in der Einrichtung. Die lutherische Theologie will aber das „Wort” der Heiligen Schrift — hier den Verkündigungs- und Sakramentsdienst — nie auf eine „Institution” gedeutet wissen105).

Wohl findet sich bei Melanchthon die Stelle, der Auftrag, jemanden ins Amt zu berufen, sei ein „ius et donum proprie datum ecclesiae, quod nulla humana auctoritas ecclesiae eripere potest”106). Der Auftrag (die Vollmacht) beruht auf göttlichem Recht; aber gerade in Anbetracht der stärkeren Hinneigung Melanchthons zur sichtbaren Kirche scheint dieser Ansatz weniger lutherisches „Kirchen”recht zu begründen, als der Episkopalverfassung jenes Quentchen Theokratie zu verleihen, das in der Summepiskopalwürde der „lutherischen” Landesherren immer durchschimmert. Das Theokratische107) ist sogar stärkeren Eindringens in die lutherische Episkopalverfassung fähig, wie die vagen, zeitweise angestrebten Vorstellungen Friedrich Wilhelms IV. von einer „apostolischen Kirchenordnung”108) ahnen lassen.

Ohnehin hat es mit den „Summepiscopi” eine eigenartige Bewandtnis. Es fällt auf, daß das lutherische Episkopalsystem staatlich-stattlich floriert, wo die Landeskinder lutherisch sind, der Landes„vater” aber . . . reformiert oder katholisch ist! Für die Ergründung des Fehlens von „Kirchen”recht in der Entwicklung der lutherischen Kirche liegt in diesem historischen Faktum109) mehr als ein „Zufall” beschlossen.

So sehr nun der Gedanke nahe liegt, zu behaupten, eben weil reformierter


101) Iwand, über den Verlust der theologischen Existenz heute, JK 1953, S. 514. Vgl. Ernst Wolf mit Bezug auf O.W. Münter: „Die Ordnung der Kirche konstituiert sich durch das Amt entsprechend dem Geltungsbereich des ius divinum” (ZEK Bd. 4, S. 229).
102) Dombois spricht vom „Amtsmonismus”, Glaube, Recht, Europa, S. 147.
103) Ritter, a.a.O., S. 274.
104) Art. Smalc, Art. 25.
105) Vgl. Hauck, a.a.O., S. 54.
106) Tractatus de pot. et primatu papae (1537); vgl. Oeschey, Fragen der Kirchenordnung, S. 197.
107) Es schafft Verbindungslinien des Luthertums (über Schweden) zum Anglikanismus und zum Cäsaropapismus der Orthodoxen Kirche.
108) Vgl. Reischle, Sohms KR, S. 24, Anm. 24.
109) Die Hohenzollern waren von 1613 bis 1817 reformiert (formell, tatsächlich bis 1918), die Welfen auf dem hannoverschen Thron gehörten von 1714-1837 zur Anglikanischen Kirche; Sachsen, das Stammland des Luthertums, „erfreute” sich seit August dem Starken (August II.) bis 1918 eines katholischen Herrscherhauses.

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Tätigkeitsdrang und katholische Weltbejahung „auf höchster Ebene” der lutherischen Kirche das Recht gesetzt und „vorgeschrieben” haben, sei es zu dem Kirchenrechtsvakuum im Luthertum gekommen, regt doch das lutherische Kirchenverständnis dazu an, genau umgekehrt zu argumentieren: Nur weil das Luthertum es unterläßt, „eigenes” Kirchenrecht hervorzubringen, kann sich in der Spitze der Landeskirchen eine interkonfessionelle Symbiose vollziehen. So betrachtet, läge in dieser Symbiose eine indirekte konfessionsfremde, theokratische Begründung lutherischen „Episkopal”rechts vor.

 

VI. Kirchenrecht und „Kirchen”recht
(Vergleichender Überblick zur Kirchenrechtsentwicklung)

 

1. Übereinstimmendes im „evangelischen” „Kirchen”recht

Der Verlauf der evangelischen Kirchenrechtsentwicklung führt, zusammengefaßt, vor Augen, daß dem katholischen Kirchenrecht als Teil eines statischen Kirchenbegriffes, als einem Wesensmerkmal der societas perfecta, im lutherischen und reformierten Kirchentum ein „Kirchen”recht gegenübersteht, welches weder theologisch noch juristisch in vergleichbarer Weise mit einem dynamischen Kirchenverständnis in harmonischen Einklang gebracht werden kann. Das insoweit übereinstimmende auf protestantischer Seite bedeutet das „Grundandere” gegenüber dem katholischen Glauben in bezug auf alles, was „Kirchenrecht” heißt.

Einheitlichkeit zwischen lutherischer und reformierter Kirche besteht sodann in der Auffassung, daß „Kirche” primär auf Gottes „Wort” „gründe”. Juristisch: Christi „Wort” konstituiert die Kirche1). Die Einheitlichkeit ist jedoch sehr dünnwandig. Sie zerbricht sowohl bei Anwendung des Ausschließlichkeitsprinzips auf das konstitutive „Wort” (nur das Wort) als auch des Koordinationsprinzips (Wort und Recht) und enthüllt die Unterschiede lutherischen und reformierten „Glaubens”.

Vereint schließlich halten Lutheraner und Reformierte dafür, daß das konstitutive „Wort” der Kirche als Leib Christi, als einem Wachsenden, kein bestimmtes, unaufhebbares Kirchenrecht schaffe2). Jedes stärkere Eindringen in die Vorstellungen des ius divinum und des Grades der Irreparabilität des „Kirchenrechts” bewirkt auch hier sogleich das Hervortreten reformierter und lutherischer Unterschiede.

 

2. Presbyterianes Recht und „Episkopal”recht

Vereinseitigt auf das Kirchenrecht abgestellt, erlaubt die Übersicht die Feststellung, daß im Anfange evangelischer Kirchenrechtsentwicklung neben dem „Theologen” Luther3) der „Politiker” Zwingli und der „Jurist” Calvin stehen.


1) Bohatec, Staat und Kirche, S. 562.
2) Lampert a.a.O., S. 21.
3) Ritter, a.a.O., S. 211, spricht von dem „rein religiösen Propheten”, vgl. a.a.O., S. 243.

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In der Entwicklung bringt das reformierte Kirchentum in der Vielzahl seiner Erscheinungsformen eigenständiges Kirchenrecht hervor. Bei voller Berücksichtigung der calvinischen Ansicht, das alles Recht auf Gott zurückgehe, entsprießt das Wesen reformierten Kirchenrechts der Vorstellung und dem Verständnis der Kirche als „Gemeinde”. Reformiertes Kirchenrecht ist immer „Recht in der Gemeinde”4) und erlaubt gerade darum nicht als Oberbegriff die irreführende Bezeichnung „Gemeinderecht”. Das Gemeinsame, das Verbindende in allem reformierten Kirchenrecht bildet das presbyteriane Element. Verstehen wir „Presbyterium” im eigentlichen Sinne als die Repräsentanz der jeweils um das „Wort” konkret versammelten Hörergemeinde5), dann ist juristisch das reformierte Kirchenrecht in seiner Gesamtheit ein presbyterianes Kirchenrecht zu nennen6). (Die Begriffsschärfe in der englischen Bezeichnung des reformierten Weltkirchenbundes als „Presbyterian World Alliance” ist nicht zu bestreiten.) Dieses presbyteriane Kirchenrecht des reformierten Bereiches entwickelt eigene Formen7), die ex origine staatlichen Institutionen nicht adäquat sind. Wie in der politischen Ebene besitzt auch in der des Kirchenrechts das reformierte Kirchentum „jene Entschlußkraft, die dem Luthertum fehlte”8), wobei die Entwicklung uns nicht verhehlt, daß das reformierte Kirchenrecht zwar „ordnet”, aber gleichzeitig über die „ecclesia semper reformanda” durch seinen Formenreichtum das Konventikelsystem begünstigt und letztlich zum Denominationen„reichtum” beiträgt.

Das Luthertum hingegen, wiewohl die Adiaphoron-Vorstellung Luthers selbst jede Kirchenrechtsmöglichkeit offen läßt, nimmt staatliches Recht für die Kirche hin, wodurch, genau gesehen, der Staat das Knochengerüst dieses sogenannten „Kirchenrechts” entleiht — leiht, indem er dafür Formen reformierten Kirchenrechts verwendet. So ist denn das lutherische „Kirchenrecht” zwiefach ein Fremdkörper in der „Kirche”: einmal als staatliches Recht und die damit verbundenen staatlichen Institutionen (Konsistorien9)), zum anderen wegen der entliehenen reformierten Formen („Synoden”, teils selbst „Presbyterien”), die auch mit Wohlwollen nicht als genuin lutherisch anzusprechen sind.

Hier haben wir das Gebiet der fortwährenden Vermischung und schließlichen Verwischung der feinen Begriffsunterschiede vor uns. Zwangsläufig tritt eine Säkularisation der übernommenen reformierten Einrichtungen im


4) wobei einzuräumen ist, daß die Gefahr „der Verflüchtigung alles Gesamtkirchlichen” (Dombois, a.a.O., S. 151) bestehen kann (nicht aber grundsätzlich besteht!).
5) Diem, Die Grenzen kirchl. Gesetzgebung, ZEK Bd. 1, S. 240, Anm. 11: „Das Presbyterium ist die Vertretung einer um eine Predigtstelle versammelten konkreten Hörergemeinde und als solche der Ort, wo in der konkreten Antwort auf die konkrete Verkündigung jeweils die geistl. Entscheidungen zu fällen sind.”
6) Otto Weber (Vers. Gemeinde, S. 71) nennt „die presbyterial-synodale Ordnung die gleichsam durchsichtigste Form” des Kirchenrechts. Stärkere Betonung des synodalen Elements a.a.O. S. 111. — Liermanns Ansicht, die Gemeinde sei „bei den Reformierten durch das Amt des Presbyters im ius divinum verwurzelt”, ist nur mit Vorbehalt zu übernehmen (Grundlagen, S. 14).
7) Presbyterium im engeren Sinne, Coetus, Moderamen, Synode usw.
8) Meissinger, Die deutsche Tragödie, S. 185; vgl. Schönfeld, Grundlegung der Rechtswissenschaft, S. 307.
9) Diesbezüglich auf reformierter Seite Weerda offenbar anderer Ansicht (ZEK Bd. 4, S. 282), jedoch bleibt der Begriff des „konsistorialen Elements” unklar.

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lutherischen „Kirchenrecht” ein, die als Rückwirkung10) dann selbst die reformierte Kirche ergreift11). Dieser Zug in der Entwicklung ist zwar nicht der einzige, aber auch nicht geringste Grund, daß seit Ende des 18. Jahrhunderts die „Kirche” kirchenrechtlich mehr und mehr auf die Erscheinung des Staates ausgerichtet wird, so daß man es heute fast für selbstverständlich hält, von Kirchengebiet, Kirchenvolk und Kirchengewalt zu sprechen12).

Im weiteren führt das „Kirchenrecht” als doppelter Fremdkörper in der lutherisch verstandenen „Kirche” zu einer Sichttrübung, daß selbst Lutheraner bona fide behaupten, das lutherische „Amt” erfordere eine Presbyterialordnung und die Gemeinde bedinge eine Synodalordnung13), die Presbyterial-Synodalverfassung sei doch die „arteigene, eigenständige” lutherische Kirchenordnung14). Die Einsicht in die Antinomie zwischen dem vorwiegend episkopalen „Amt” lutherischen Verständnisses und dem vorwiegend laikalen15) „Presbyterium” reformierten Kirchenrechts ist weithin geschwunden.

Das Erkennen eines Gegenübers von presbyterianem und „Episkopal”-recht in der Entwicklung evangelischen Kirchenrechts verbietet, die überkommenen Vorstellungsschablonen nachzuzeichnen, den Reformierten sei „Kirchenrecht” selbstverständlich, den Lutheranern unmöglich. Der Normcharakter des presbyterianen Rechts als Teil des Bekenntnisses kann sehr wohl in Frage stehen (ecclesia semper reformanda!), das Luthertum erweist sich nicht überall als unfähig, gemeindebezogenes Recht hervorzubringen (Siebenbürgen!).

Nehmen wir endlich das in der Entwicklung erkennbare Zusammenspiel von Mensch, Land, Recht und Kirchenrecht hinzu, und sind wir nur ein klein wenig geneigt, auch darin etwas von den mirabilia Dei zu verspüren, dann ist der theologischen Auffassung, daß „Kirche” dem Recht rundheraus unfaßbar und Kirchenrecht nur ein weltliches Machtspielzeug des Klerus seien, mindestens mit erheblichen Zweifeln zu begegnen.


10) Und zwar sehr früh! Vgl. Weerda über Zepper (1595): „Um die Funktion des landesherrlichen Konsistoriums in der (reformierten) Kirche zu begründen, ist Zepper in einiger Verlegenheit” (ZEK Bd. 4, S. 283).
11) Es soll damit nicht behauptet werden, im angelsächsischen Raum sei es nicht zur Säkularisation der Gebilde reformierten Kirchenrechts gekommen. Aber die Gründe sind hier andere!
12) Vgl. Erik Wolf, Zur Rechtsgestalt der Kirche, S. 255, 260; die kirchenrechtliche Unscharfe geht soweit, daß Hauck für das Luthertum glaubt sagen zu können: „Die Kirchengewalt geht vom Kirchenvolke aus”, Hauck, a.a.O., S. 74.
13) Brundstäd, Die Kirche und ihr Recht, S. 30.
14) Brundstäd, ebendort.
15) Die Verwendung des naheliegenden Terminus „demokratisch” unterbleibt absichtlich.