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Die Untersuchung sieht sich über das praktische und theoretische, das gegenwärtige und historische evangelische „Kirchenrecht”, über das evangelische Verständnis der „Kirche” und den Begriff des „Rechts” wieder vor die Ausgangsfrage gestellt. Wie verhält es sich mit dem „ius ecclesiasticum Protestantium”?
Aus dem Dargestellten ist zu antworten. Es ist den Ergebnissen nachzugehen, warum „so”, warum auf „diese” Art und Weise zu antworten sei. Indem wir uns rückschauend diesen Gründen zuwenden, finden wir uns unversehens in dem Gedanken wieder, „was” denn (und ob et„was”) für das „Recht” — denn von ihm ging die Untersuchung aus, und zu ihm kehrt sie zurück — das „Problem” evangelischen Kirchenrechts bedeute.
Erfaßt man das Kirchenrecht in der christlichen Kirche insgesamt, dann erlaubt die Auseinandersetzung um evangelisches Kirchenrecht gegenwärtig, hinsichtlich des Verhältnisses des Verstehens des evangelischen „Kirchenrechts” zu dem des Kanonischen Rechts, der Feststellung Reickes vollinhaltlich zuzustimmen:
„Diese innige Verbindung von Recht und Kirchentum findet in der evangelischen Kirche keine Entsprechung1).”
Weil es an der „Entsprechung” fehlt, müssen auch die Antworten des Protestantismus auf die Frage nach einem „Kirchenrecht” ohne die Entsprechung einer dem Kanonischen Recht möglichen, von der Jurisprudenz oft erwarteten, durchgebildeten Begriffsbindung ausfallen. Die Untersuchung gebietet, in Form von Gegenüberstellungen und Bildern zu antworten. So wie beim evangelischen Verständnis der „Kirche” sind auch für das „Recht” dieser „Kirche” die Auffassungen in verschiedene Bilder einzufangen. Das einzelne „Bild” mag nur einen „Teil” des Komplexes „Evangelisches Kirchenrecht” sichtbar machen. Bei Gegenüberstellungen werden Vergröberungen und Vereinfachungen des vielschichtigen Problems zu Hilfe genommen werden müssen, um den jeweiligen Wesenszug des evangelischen Kirchenrechts anschaulich zu modellieren. Aber die in mehreren Bildern enthaltenen „Teile” formen ein „Ganzes”, dem die aufgebotenen (für die Jurisprudenz unerläßlichen) Begriffe immer nur „ungefähr” nahekommen.
Von ungefähr ist zu sagen, daß dem eindeutigen katholischen „Ja” zum Kirchenrecht als ius sacrum der societas perfecta sibi sufficiens eine vergleichbare Antwort auf evangelischer Seite nicht gegenübersteht2). Jede
1) Reiche, KR,
in: ,Einführung in die RW’ von Rud. Reinhardt, 1949, S.
362.
2) Wiewohl, vom rein Formalen her betrachtet,
sich in dem „als Recht” angewandten sog. „Evangelischen
Kirchenrecht” mancherlei Annäherungen in traditioneller
und mindestens redaktioneller Beziehung an das Kanonische
Recht bemerkbar machen.
weitere Konfrontation verschiedener evangelischer Antworten muß sodann der Fragwürdigkeit der mindestens protestantischen Konfessionsunterschiede3) eingedenk bleiben.
Irgendwie trägt das „evangelische Kirchenrecht” Behelfscharakter. Es tritt als eine „Notordnung” auf, die die reformierte Kirche mit Vorbehalt bejaht und das Luthertum mit Vorbehalt verneint. Auf die Kirchenrechtsfrage antwortet man reformiert mit einem „Nicht-Nein”, lutherisch mit einem „Nicht-Ja”. Anders ausgedrückt, stehen sich ein reformiertes „Ja, aber . . .” und ein lutherisches „Nein, aber . . .” gegenüber, wobei das „Aber” den Diffusionskoeffizienten für die „evangelische” Beleuchtung des Kirchenrechts bildet.
In lockerer Bündelung gruppieren als „Kirchenrecht” sich im Katholizismus ein Sakralrecht, im Luthertum ein ertragenes quasi Amtsrecht staatlicher Provenienz und im reformierten Kirchentum ein Gemeinderecht variabler Rechtsintensität. Während das Luthertum dazu neigt, das Kirchenrecht als weltliches Recht zu erdulden4), füllt die Spannweite der reformierten Auffassung den gesamten Raum zwischen katholischem und lutherischem Verstehen des „Kirchenrechts”, indem sie von dem ius ecclesiasticum in der Anglikanischen Kirche über die göttlich geordnete Gemeindeverfassung5) bestimmter Denominationen (Kongregationalismus)6), über ein ius delegatum (Recht „in der Gemeinde”) und ein presbyterianes Kirchenrecht zu einem „aliud” reicht, das etwa bei Barth gewisse lutherische Gesichtspunkte berührt7).
Unter Verwendung der soeben vorgenommenen schematischen Zusammenfassung der vielen Standpunkte in einem lutherischen „Nein, aber . . .” und einem reformierten „Ja, aber . . .” läßt sich sagen, daß das „Aber” der Reformierten eine Art Fächerwirkung ausübt. Das „Aber” kann sich derart in sich zusammenziehen, daß das „Ja” zur Rechtsqualität reformierten Kirchenrechts kaum beschränkt wird, wie wir das in der Anglikanischen Kirche und ausgesprochen calvinistischen Gemeinden vorfinden. Je mehr sich das „Aber” entfaltet — ausgelöst durch das semper reformandum, das sola scriptura oder die Ereignishaftigkeit der „Gemeinde” — desto stärker verflüchtigt sich der „rechtliche” Wesensgehalt reformierten Kirchenrechts; es kommt einmal8) der Punkt, an dem das „Aber” in den lutherischen Vorbehalt übergeht und in demselben Augenblick wird das „Ja, aber . . .” zu einem (evangelischen?) „Nein, aber . . .”.
Nur unter Berücksichtigung dieses Gefälles im reformierten Kirchenrechtsverständnis darf man — bei scharfer Pointierung allzu oft vergessen — sagen, daß die reformierte Kirche stärker als die lutherische dem Kirchenrecht zugeneigt sei, gar es als selbstverständlich betrachte. Nur mit Hilfe dieser Rücksicht, fast einem Monitum gleich, wird es auch möglich, das
3) Wie oben S.
42-45 — dargelegt.
4) Vgl. Hauck, a.a.O., S. 251/52.
5) Reischle spricht vom „Wahn einer göttlich
geordneten Gemeindeverfassung” (Sohms Kirchenrecht, S.
19).
6) Vgl. Simons, Kirchenvolk und Staatsvolk, S.
175.
7) Vgl. Barth, Ordnung der Gemeinde, S.
78.
8) Ganz entsprechend dem reformierten
Kirchenverständnis.
Gemeinsame zwischen katholischer und reformierter Kirche in der Würdigung des Kirchenrechts als „geistliche” Ordnung zu erblicken, die katholischerseits immer „ius” ist, während sie reformierterseits ein modernes „changeant” (von ius bis zum außerrechtlichen tertium) bildet. Die theologischen Begründungen des „geistlichen” Wesens des Kirchenrechts verhalten sich bei Katholiken und Reformierten diametral; das dogmatisch der Katholischen Kirche näher als den Reformierten stehende Luthertum findet sein Gemeinsames mit der Orthodoxen Kirche9), indem beiden das „geistliche” Verständnis jeglichen Rechts fremd bleibt.
Sicherlich liefert hier die kirchenrechtliche Betrachtung „Anhaltspunkte”, im Christentum eine dienende und eine herrschende Kirche zu unterscheiden; vordergründig treten vermöge ihrer Kirchenrechtsanimosität die Lutherische und Orthodoxe Kirche als „Dienende” auf, während Katholische und Reformierte Kirche vermöge ihrer Kirchenrechtsaktivität als „Herrschende” erscheinen10). Aber diese Zergliederung geht fehl, soweit sie den Hintergrund nicht beachtet, wo sie von einer anderen Unterscheidung überkreuzt wird, der Polarisation von Synthese und Antithese. Das katholische „Ja” sowie (bedingt!) das orthodoxe „Nein” zum Kirchenrecht gründen in einer Synthesis der Seinszusammenhänge11); die evangelische Kirchenrechtsproblematik entspringt den schroffen Antithesen im Seinsverständnis der evangelischen Theologie.
Die Auseinandersetzung im evangelischen „Kirchenrecht” bietet ein Abbild der unüberbrückbaren Antithesen zwischen Wissen und Glauben, Vernunft und Offenbarung, Kreis und Kreuz. Sie gehören unabdingbar zum Wesen evangelischer Theologie, deren Aussagen sie juristisch allerdings unwägbar machen. Das Proklamieren der Antithese in der „Barmer Erklärung” macht in unseren Tagen deren kaum abschätzbare Bedeutung für das Verständnis des „Rechts” der Evangelischen Kirche aus. So sehr sich auch Barth bemüht, in seiner Christologie eine synthetische Weltschau zu erreichen, so bleibt doch sein Ansatzpunkt immer die Antithese, jene Qualitätsdissoziation zwischen Schöpfer und Geschöpf, die folgerichtig stets auch nur ein rechtsdissoziiertes „Kirchenrecht” aufbieten kann.
Die Verankerung der gegenwärtigen evangelischen Kirchenrechtsauffassung in der Antithese schließt nicht aus, daß sie lutherisch stärker gefühlsbetont12), reformiert stärker Vernunftbetont dargetan wird. Das Gefühl orientiert sich am Individuum, die Vernunft am Kollektivum13). Mithin entspringt das reformierte „Nicht-Nein” zum Kirchenrecht einer Gemeinschaftsbezogenheit (ecclesia visibilis), in der sich Prinzipienhaftigkeit (sola scriptum!) mit Dogmenlosigkeit (semper reformandum) verbindet, während das „Nicht-Ja” der Lutheraner in der Individualitätsrelation (ecclesia
9) Vgl. Benz,
Wittenberg und Byzanz, S. 110.
10) Vgl. die Ausführungen v. Dombois, Glaube,
Recht, Europa, S. 157.
11) Genaugenommen handelt es sich katholisch
um eine positive, orthodox um eine negative
„Synthesis”.
12) Vgl. Heer, Europ. Geistesgesch., S.
250.
13) Dazu die Schlußausführungen von Hauck,
a.a.O., S. 276.
invisibilis) beschlossen liegt, in der sich Prinzipienlosigkeit (sola fide) und Dogmenverhaftung (confessio!14) vereinen.
Das Verständnis des „Kirchenrechts” als Ausdruck des Gegensatzes Synthese-Antithese wird durch das Gegenüber von Harmonie und Disharmonie auf eine andere Vergleichsebene verlagert. Das Katholische ius sacrum und das reformierte „Recht in der Gemeinde” (presbyterianes Recht) sind zwei verschiedene Formen einer rational-harmonischen Durchdringung menschlichen Zusammenlebens, verschieden wegen der theologischen Diametralität zwischen einem rational-ontischen Kirchenbegriff der Una Sancta Ecclesia Catholica und einem in der „Gemeinde” fast erreichten rational-personalistischen „Begriff” der ecclesia semper reformanda15). Auch hier eine Überkreuzung: Dem in der katholischen und reformierten positiven Bewertung eines „Kirchenrechts” sich äußernden rationalen Erstreben der Harmonie entspricht dogmatisch die Wesensverschiedenheit zwischen der Rationalität der analogia entis und der Irrationalität der analogia fidei. Gerade Barth zeigt deutlich16) ein Streben nach Harmonie, das dennoch, trotz der so beeindruckenden Rationalität seiner Konzeption, endlich im „totaliter aliter” irrational verrinnt . . .
Auf der Kehrseite steht es nicht anders. Die negative Bewertung jeglichen Kirchenrechts in der Lutherischen und Orthodoxen Kirche fließt aus ihrer irrational-disharmonischen Sicht der „Welt”. Die Überkreuzung kommt dadurch zustande, daß die nur im Glauben faßbare „eigentliche” Kirche des Luthertums dogmatisch, gerade wegen der seit Luther rational zugrunde gelegten Disharmonie17) des Seins, begrifflich „unfaßbar” bleibt, wohingegen sich die Orthodoxe Kirche, soweit die Entsprechung erlaubt ist, auf irrationale Weise in der Disharmonie „gehalten” glaubt18).
Aber „Ordnung” hat nur in der Harmonie ihre Stätte. Jede Disharmonie wirkt rechtszerstörend. Das „Recht” als Lebens- und Friedensordnung strebt immer, einen harmonischen Zustand zu erreichen. In der Disharmonie bildet jede „Ordnung” eine contradictio in se, so wie jedes „Kirchenrecht” letztlich im heraklitischen Kirchenverständnis des Luthertums. Die Harmonie kann der „Ordnung” nicht entbehren, weshalb sich die reformierte Kirche in der „Gemeinde” als der sichtbaren Gemeinschaft von Engeln und Menschen19) immer, wenn auch verschieden stark, zum „Kirchenrecht” hingezogen weiß20).
Die evangelische Kirchenrechtsdiskussion zeigt, daß der Grad des „Rechts”verständnisses des Kirchenrechts das Verhältnis der „Kirche” zum Staat — damit aber zum staatlichen Recht — bestimmt. Die Überzeugung
14) Vgl.
Gollwitzer, Wollen wir heute, S. 73.
15) Vgl. die dazu teilweise abweichende
Auffassung von Dombois, a.a.O., S. 108.
16) Vgl. Barth: „Eben von daher wird man die
Rechtsformen anderer Kirchen . . . mindestens im Lichte
der Frage betrachten: ob sie dort nicht ebenfalls im
Gehorsam . . . für gut befunden . . . und also rechte
kirchliche Ordnung sein möchten?” a.a.O., S. 71.
17) „Weder eine prästabilierte noch eine
konstruktive Harmonisierung der Welt ist von christlicher
Sicht her möglich.” (Erik Wolf, Rechtsgedanke und
biblische Weisung, S. 64).
18) Ob hier generell oder nur auf die
Orthodoxe Kirche bezogen, von einem »spiritualistischen
Nihilismus des Ostens" (Vgl. Heer, a.a.O., S. 251)
gesprochen werden darf, muß kirchenrechtlich
dahingestellt bleiben.
19) Vgl. oben die Darstellung Calvins, S.
35.
20) Dazu Barth, a.a.O., S. 42; Weerda, ZEK
Band 4, S. 290: „Dies Anliegen (der ref. Kirche) ist das
geordnete Leben der Kirche”.
der Reformierten, in der „Gemeinde” eigenes „Recht” zu besitzen und in ihrer Mitte zu kreieren21), fördert das Herausstellen der Eigenwertigkeit (der „Einzigartigkeit”) der „Kirche” gegenüber dem Staat. Das (im Glauben) „Wissen” um „eigenes” Kirchen„recht” zieht immer eine Grenze zum Staat und zu seinem Recht. Die vernunftbestimmte reformierte Kirchenrechtsauffassung läßt hier sowohl ein Staatskirchentum (Anglikanische Kirche) als auch ein dualistisches Verhältnis zwischen Staat und Kirche zu, in dem das ius resistendi (strenggenommen, nach beiden Seiten hin!) sich entwickelt, welches also außer naturrechtlichen auch kirchenrechtliche Wurzeln fassen kann. Die Grenze zwischen kircheneigenem „Recht" und staatlichem Recht entschwindet in dem Maße, in welchem die Ereignishaftigkeit der ecclesia semper reformanda der reformierten Theologie verwehrt, eine originäre Rechtssetzungskompetenz der Gemeinde22) bezüglich ihres Kirchenrechts zu bejahen. Dann gehen die kirchenrechtlichen Unterschiede zwischen lutherisch und reformiert — ganz konform zu den Unterschieden des Verständnisses der „Kirche”23) — ineinander über, so daß gegenwärtig der Lutheraner Berggrav in seiner Ansicht über die Eigenständigkeit von „Recht” und „Kirchenrecht” der reformierten Sicht nahekommt24), während vice versa auf reformierter Seite die Mittellage Barth dahin führt, indem er das „Kirchenrecht” als „Recht” ab- und als theologisches Tertium aufbaut, eine im herkömmlichen reformierten Sinne ungewöhnliche Betonung der (wenngleich relativierten) Eigenständigkeit des Staates25) vorzunehmen, wie es sich in dem Bilde der „Engelmacht” manifestiert26). Von dort ist es nicht mehr weit zu der gefühlsbestimmten Auffassung des Luthertums, welches das Fehlen eines seiner „Kirche” eigenen Kirchenrechts durch ein überbetontes Obrigkeitsverhältnis kompensiert.
Der derzeitige Stand der evangelischen Kirchenrechtsdiskussion versagt, das evangelische Kirchenrecht im deutschsprachigen Bereich — für das Luthertum bestimmt und für die reformierte Kirche kaum weniger — als ein „von staatlicher Willigung unabhängiges Recht”27) zu bezeichnen, so sehr auch diese Bestimmung für den außerkontinentalen Calvinismus zutreffen mag.
Wir begegnen in dem Antworten auf die Frage nach dem rechtlichen Verständnis evangelischen „Kirchenrechts” beim Luthertum einem Nicht-Ja-Sagen-Können (wegen des genuin Lutherischen), verbunden mit einem Nicht-Nein-Sagen-Wollen (wegen der „Notwendigkeit”, wegen des „Amtes”). Wir stoßen bei den Reformierten auf ein Nicht-Ja-Sagen-Wollen (wegen der ecclesia semper reformanda), gepaart mit einem Nicht-Nein-Sagen-Können (wegen der allzeit sichtbaren „Gemeinde”, wegen der normativen Gewißheit in der steten Bezogenheit auf das Alte Testament).
21) Den
angelsächsischen Teilen des reformierten Kirchentums
überwiegend selbstverständlich (und daher keine „Frage”!)
seinen kontinentalen Gliedern hingegen nur schwach zu
eigen.
22) Mit Akzentverschiebung: „in der
Gemeinde”!
23) Vgl. oben, S. 38-40.
24) Vgl. Berggrav, Der Staat und der Mensch,
S. 54-65, 248-285, 287-300.
25) Was aber stets implizite seines „Rechtes”
bedeutet!
26) Es sei auf die Ausführungen oben S.
132-135 verwiesen.
27) Hermann Rehm, Allgem. Staatslehre, in:
Marquardsens Handbuch der Gegenwart, 1899, S. 147
ff.
Darum sind in der heutigen Situation des evangelischen Kirchenrechts alle gebräuchlichen Schemata überholt. Darum bleiben die auf evangelische „Kirche” und evangelisches „Kirchenrecht” angewandten Begriffshülsen meistens „leer”28). Die Reichhaltigkeit an Nuancen im Verstehen des evangelischen Kirchenrechts von einem staatlichen Recht über ein ius ecclesiasticum bis zu einem aliud verträgt kein Klischee.
Es gibt im kontinentalen Protestantismus nur bedingte Feststellungen zum „Kirchenrecht”. In ihrer Zusammenfassung treffen wir auf ein bedingtes Nein des Luthertums und ein bedingtes Ja der Reformierten zum „Kirchenrecht”. Die Bedeutung für die juristische Darstellung besteht darin, daß die „Bedingtheit” nicht die wissenschaftliche Erkenntnis beeinträchtigt (gar brüskiert), sondern ein Moment der Wahrheit selbst — ein Stück Wahrheit — ist.
Auf Grund des bedingten Antwortens der evangelischen Kirche auf die Frage nach ihrem Kirchenrecht ist die Überlegung nicht abzuweisen, ob und wie weit es sinnvoll sei, daß eine juristische Behandlung der Materie — wie tatsächlich oft angestrebt — zu einem schlichten „Ja” gelange.
Den Gang der Untersuchung überblickend, muß wiederholt werden, worauf das „Ja” ergehen soll. Es handelt sich dann um ein Ja zum evangelischen Kirchenrecht in seiner Eigenschaft als ius, als einem Recht aus kircheneigener Quelle. Anders formuliert: Das Ja meint ein Recht der evangelischen Kirche, welches sie als ihre „verbindliche Norm”, noch zugespitzter, als ihre wesensverbindliche Norm versteht. Es genügt nicht, daß die evangelische Kirche zum „Recht” ja sagt; denn insoweit handelt es sich, worauf eingangs hingewiesen wurde29), um eine andere Problemstellung, nämlich die von „Kirche und Recht”. Hier aber geht es darum, ob sie eigenes „Recht” anerkenne.
Juristisch läßt sich die Überlegung mit anderen Worten so umschreiben, ob es auf ein „Ja” ankomme, gesprochen zur Eigenberechtigung der Kirche30), sich selbst „Recht” zu setzen, nun eben nicht als ein irgendwie tolerierter staatlicher Verband, sondern als „Kirche" gemäß evangelischem Selbstverständnis.
Die gefundenen Antworten — lutherisch: Nicht ja und doch nicht nein; reformiert: Nicht nein und doch nicht ja — setzen den Juristen angesichts der Masse vorhandenen evangelischen Kirchenrechts in eine gewisse Verlegenheit. Bedeutet doch das bedingte Antworten letzten Endes, daß das sogenannte „evangelische Kirchenrecht” innerhalb der evangelischen Kirche auch nur eine bedingte Verbindlichkeit besitzt, eine Art ausgesparte Verbindlichkeit. Wir können von einer Behelfs- oder Notverbindlichkeit
28) Vgl. die
Darstellung zu Erik Wolf, oben S. 114.
29) Vgl. oben S. 1.
30) Lampert, Kirche und Staat, S. 132.
sprechen. Von einer solchen (Rechts-?) Materie ist zu argwöhnen, daß sie „weder kalt noch warm” sei31).
In der Anwendung des evangelischen „Kirchenrechts” kann der Jurist nicht ausmachen, wo die Behelfsverbindlichkeit in die „kirchliche” Verbindlichkeit übergeht und umgekehrt; die Entscheidung ist32) in das Gewissen der einzelnen gelegt. Darin macht die Kirchenrechtsdiskussion eine Linie sichtbar, die das christliche Denken allgemein in wachsendem Maße durchzieht: „Christliche Existenz” bedeutet nicht Geborgenheit (in metajuristischer Adäquanz, „Geordnet-Sein”), sondern die Schwere des einsamen Sich-Entscheidens.
Jedes schlichte „Ja” wird juristisch durch die „Unsicherheit im Blick auf das Wesen evangelischen Kirchenrechts”33) mehr verdecken als freilegen. Jedes von juristischer Seite angesteuerte „Ja”, mag die „Zweckmäßigkeit” noch so überzeugen, mögen die Motive die edelsten sein, beinhaltet, in der Auseinandersetzung um evangelisches Kirchenrecht Schuldige zu suchen, gewissermaßen Sünder aufzuspüren, um ihnen eine (äußerst fragwürdige!) geschichtliche Schuld aufzubürden. Gerade darum geht es in dem Suchen nach dem „Grunde” evangelischen Kirchenrechts weder der Theologie noch der Jurisprudenz. Beide können sich nur immer aufs neue darüber „auseinander”- (oder „ins Benehmen”) setzen, ob das evangelische Kirchenrecht nicht „anders” sei, als die zu ihm ergehenden bedingten Antworten ausweisen.
Ein vorbehaltloses „Ja” zum kircheneigenen „Recht” wird immer die Wertfrage im evangelischen Kirchenverständnis auslösen. Es zeigt sich, daß in dem Teil der evangelischen Kirche, der dem Kirchenrecht mit einem bedingten Nein begegnet, im Luthertum, eine Art34) Mehrwertbewußtsein lebt. Gegenüber dem katholischen „Ja” und dem reformierten (variabel intensiven) „Ja, aber . . .” verbindet die Lutherische mit der Orthodoxen Kirche „die immer festgehaltene und nie ganz klar begründete Erkenntnis, daß bei jenen etwas Wesentliches verlorengegangen sei”35). Das Ja zum Kirchenrecht kann hier zu einem Indiz für den vermeintlichen Verlust christlicher Substanz der „Kirche” werden.
Sodann ein anderes „Wert”problem. Jedes „Ja” zum Kirchenrecht qua Recht wäre Ausdruck einer dem Kirchenverständnis eigenen Werteffektivität. Schwierigkeiten des heutigen Rechtslebens erwachsen vielfach36) aus dem Mangel an einer den Gruppen, den Staaten, den Völkern gemeinsamen Werteffektivität37). Während nun die Katholische Kirche vermöge des Ganzheitsdenkens eine gemeinsame Ordnung der Werte zu bieten vermag38), erscheint es fraglich, ob vom evangelischen Kirchenverständnis eine verbindende Werteffektivität hergeleitet werden kann. Ohne das
31) Offenbarung
3, 15 und 16.
32) Theologisch bestenfalls, juristisch
schlimmstenfalls.
33) Maurer, ZEK Bd. 3, S. 241.
34) Unter Verwendung eines
wirtschaftswissenschaftlichen Terminus.
35) Dombois, ZEK Bd. 2, S. 21.
36) Besonders greifbar im Völkerrecht.
37) Vgl. Sauer, Völkerrecht-Ende oder Wende?
NA 1953, S. 529.
38) Ohne deshalb Nahtstellen zu
unterschätzen!
Verbindende im Werteffektiven erlangt evangelisches Kirchenrecht nicht die Wesensverbindlichkeit in der „Kirche”. In den evangelischen Vorstellungen über „Kirche” bleibt, auch unter Ausschaltung der visibile-invisibile Aspekte, die Wertverschiebung zwischen Gottes Tat und des Menschen Tat, zwischen „Evangelium” und „Gesetz”, zwischen Schöpfer und Geschaffenem. Im christologisch-ekklesiologischen Kirchen„begriff” Barths39) gibt es in Übersteigerung überhaupt keine Ordnung der Werte, sondern nur einen „Wert”: Christus — weshalb Barths Konzeption konsequent das Kirchenrecht in ein begrifflich chimärenhaftes Tertium überführt, wo es jedem „Ja” zu einem kircheneigenen „Recht” entzogen ist. Das endliche Fehlen der Werteffektivität im evangelischen Kirchenverständnis, sosehr sich auch die protestantische Theologie immer erneut bemüht, zu einer Ordnung der Werte zu gelangen, läßt etwas ahnen von der Herkunft des Christentums aus dem Affront gegen jedes Gegebene, jedes Bestehende, jedes „Seiende”.
In Erweiterung der Zusammenhänge in der Auseinandersetzung um evangelisches Kirchenrecht setzt schließlich jedes vorbehaltlose „Ja” einen evangelischen Kirchen„begriff” voraus, den wir im evangelischen Verständnis aber immer nur (lutherisch schwächer, reformiert stärker) angenähert vorfinden. Die „fundamentale Schwierigkeit”40), die in dem Erstellen eines evangelischen Kirchen„begriffes” gegeben ist, vereitelt das lückenlose Ja zum „Kirchenrecht”. Der gegenwärtige Stand des Suchens nach seinem „Grunde” gestattet daher nicht, unbesehen die Barionsche Formel zu übernehmen: „Das Kirchenrecht ist eine Funktion des Kirchenbegriffes41).” Sicherlich handelt es sich hier um eine „glückliche Formulierung”42). Aber die Formel stimmt nur, soweit es einen Kirchen„begriff” gibt! Sie gilt für das katholische Kirchenrecht, selbst wenn das Ganzheitsdenken dabei zu kurz kommen sollte. Es hat wenig Sinn, die Formel in Darstellungen evangelischen Kirchenrechts fortlaufend zu wiederholen. Die „Kirche”, die nur in spiritualer Schau Ausdruck gewinnt, die im Werden „ist”, deren Gestalt die fortwährende Ereignishaftigkeit ist, die sich nicht be-, sondern nur um-schreiben läßt, die nicht zu „bestimmen” ist, also keine „Definition” erlaubt — diese „Kirche” bietet keinen „Begriff”43), sondern ein Verständnis. Es ist günstigenfalls ein Verständnis bei Bestehen vieler Übergänge in das Glauben. Funktionen sind nur von „Begriffen” abzuleiten, welcher Sinn käme sonst dem „Begreifen” zu? Ein Verständnis setzt nicht in „Funktion". So sehr die heutige Situation evangelischer Kirchenrechtsproblematik beweist44), daß der Glaube das Kirchenverständnis und die Kirchenvorstellung die Aussagen zum Kirchenrecht bestimmen45), so wenig angebracht erweist es sich, besonders im Hinblick auf
39) Vgl. Barth,
Ordnung der Gemeinde, S. 9.
40) Simons, Religion und Recht, S. 209.
41) Barion, R. Sohm und die Grundlegung des
KR, S. 13.
42) Wehrhahn, ZEK Bd. 1, S. 55, vgl. a.a.O.,
S. 62.
43) Man geht gegenwärtig gar so weit,
festzustellen, daß die Protestanten „noch keinen gültigen
Kirchenbegriff entwickelt haben — und es vielleicht auch
niemals tun werden . . .” (Walter Leo, Kein Kreuzzug
gegen Rom, FAZ 1956, Nr. 288, S. 2, Sp. 3).
44) Dazu Stammler, Recht und Kirche, S. 58;
Hauck, Sohm und Tolstoi, S. 252.
45) Quod erat demonstrandum! Vgl. oben S.
8.
die rechtspositivistische Inklination protestantischer Theologie und auf die in der Diskussion zu beobachtende mangelnde Unterscheidung zwischen funktionös und funktionell, das evangelische Kirchen„recht” als „Begriffs”-Funktion evangelischer Kirche zu kennzeichnen. „Glauben” läßt sich nicht funktionalisieren . . . . . .
Bringen wir die in der Diskussion um evangelisches Kirchenrecht vertretenen, teilweise sehr differenzierten Ansichten in der Vereinfachung auf den Antwort-Nenner eines lutherischen „Nein, aber” und eines reformierten „Ja, aber”, dann drückt der lutherische Standpunkt ein Fürlieb-Nehmen mit staatlichem Recht aus, welches „an sich” seinen Grund außerhalb der Kirche hat, während die reformierte Auffassung verschieden stark auf ein a-juristisches Tertium hindrängt. Einer juristischen Darstellung kann es daher so erscheinen, als umgingen alle Bemühungen um die Grundlegung evangelischen Kirchenrechts den entscheidenden Punkt: das ius ecclesiasticum.
Gerade darin erweist sich die evangelische Kirchenrechtsfrage als das Spannungsverhältnis zwischen Kirche und Normverständnis. Die evangelische Vorstellung der „Kirche”, die nie ganz in einen Begriff „aufgeht”, umfaßt auch das Rechtliche nicht ganz. In dieser Vorstellung gehört das „Recht” der Kirche nie zum Eigentlichen. In der „Kirche” bleibt auch „ihr” Recht akzidentiell, das Essentielle ist das Gestellt-Sein, das Geworfen-Sein des Menschen unter das Kreuz. Das Kreuz bildet den nur dem Glauben vollziehbaren46) „Übergang”; denn im Lichte des Kreuzes Christi ist jedes „,Recht’47) zugleich relativ und absolut”48).
Weil nun das Kirchenrecht in der evangelischen Kirche so gut wie immer als Akzidenz auftritt, worin sich irgendwie eine Antinomie kundtut, liegt es nahe, daß die protestantische Theologie in dem Suchen nach der Grundlage des Kirchenrechts, wenn sie sich dem Essentiellen zuwendet, in der Betrachtung des Rechts wie auch des Kirchenrechts zur „Gerechtigkeit” gelangt. Darin drückt sich rechtlich eine Übersteigerung der „Es”-Beziehung des Rechts aus unter Negation des Normativen.
Im Protestantismus kann die Norm keine zentrale Stellung mehr einnehmen49), eben im Hinblick auf die „Gerechtigkeit, die vor Gott gilt”. Folgerichtig wird daher reformierterseits zum „rechtlichen Problem” geäußert, daß es ja „in der Kirche nie das eigentliche Problem, sondern stets Ausdruck und Folge” sei50). Indes läßt die Feststellung den feinen Unterschied zur lutherischen Sicht erkennen. Das „Rechtliche” bleibt wegen des
46) Sonst
imaginären (!).
47) Also auch das Kirchenrecht!
48) Schönfeld, Grundlegung der
Rechtswissenschaft, S. 309.
49) Auf israelischer Seite von Martin Buber
für das Christentum ganz allgemein festgestellt, vgl.
seine Schrift „Gottesfinsternis”, Zürich 1953.
50) Otto Weber, Versammelte Gemeinde, S.
163.
in der „Gemeinde” dem Begrifflichen verschieden stark angenäherten reformierten Kirchenverständnisses immerhin „Ausdruck” des „Eigentlichen”, während die spirituale Schau der „Kirche” im Luthertum die lex spiritualis als das „Eigentliche” ansieht, dem das „Rechtliche” nicht „Ausdruck” verleihen kann. Das „Recht” ist als Ordnung auf das Zusammenleben von Gruppen von Menschen zugeschnitten, die lex spiritualis verlangt, wie wir feststellten51), zum „Vollzug”52) den homo spiritualis.
Da aber das Recht nur schwerlich — günstigenfalls angenähert — das „Eigentliche” der „Kirche” im evangelischen Verständnis Ab-Bilden kann, läßt sich in ihr der Grund eines Kirchenrechts nur andeutungsweise aufzeigen. Sobald aus dem Andeuten eine „Begründung” kircheneigenen Rechts wird, mutmaßt die evangelische Theologie in einem solchen „Kirchenrecht” gar leicht statt eines Fragens nach Gott Fragen des Verstandes an Gott. Das „Eigentliche” evangelischen Kirchenrechts, soweit es sich aus der gegenwärtigen Diskussion extrahieren läßt, besteht53) in dem bedingten „Ja” und dem bedingten „Nein”, das Reformierte und Lutheraner dazu sprechen, wobei sich angesichts der „Tatsache” angewandten sog. „Kirchenrechts” in dem lutherischen „Nein, aber” stärker als in dem reformierten „Ja, aber” ein Zug zur Daseinsverflüchtigung abhebt.
Dem „Da-Sein” von „Kirchenrecht” in der Evangelischen Kirche seit der Reformation bis heute — trotz fehlender Grundlagen — kann die juristische Betrachtung nicht ausweichen.
Sie muß in der Erfassung des Faktums „evangelisches Kirchenrecht” von den drei Möglichkeiten ausgehen, die der Stand der Auseinandersetzung im Zenit des 20. Jahrhunderts wahrnehmbar macht: evangelisches Kirchenrecht als staatliches Recht, evangelisches Kirchenrecht als theologisches Tertium oder aber evangelisches Kirchenrecht als ein kircheneigenes „Recht”, das irgendwo zwischen diesen beiden Polen eine Stätte hat.
Die beiden ersten Möglichkeiten scheiden aus. Ist das Kirchenrecht staatliches Recht, wie es das Luthertum nach Herkommen und unter seinem Einfluß auch heute noch größtenteil versteht, dann gelten dafür ohne Einschränkung die Grundsätze profanen Rechts, wobei es auf die klare Einsicht ankommt, daß die evangelische Kirche solche Art eines staatlich tolerierten Korporations- oder Vereinsrechts wohl erdulden, ertragen, niemals aber als „Kirche” transformieren kann. Ist das evangelische Kirchenrecht eine theologische Materie, als welche es am deutlichsten bei Barth verstanden wird54), aber in verschwommeneren Umrissen ähnlich
51) Vgl. dazu
dle Ausführungen zur Ansicht Heckels, oben S. 168 mit
Anm. 134 und 135.
52) Eher Seins- als Tatvollzug.
53) Immer unter Berücksichtigung einer Unzahl
von Nuancen.
54) Kirchenrecht als „vom Evangelium her
Evangelium verkündigendes Recht” (Ordn. d. Gemeinde, S.
85), dazu die Darstellung oben S. 140-143.
bei Schüle55), Schoch56) und auch Heckel57), so hat es lediglich mit dem „Recht” das herkömmliche Nomen gemeinsam, ohne „ius” zu sein. In diesem Falle des Gebrauchs „der Vokabel ,ius’ in einem uneigentlichen Sinne”58) kommt es auf die nicht weniger klare Erkenntnis an, daß solche sui generis — Ordnung jeder juristischen Aussage entzogen ist und es sie im derzeitigen vorhandenen evangelischen Kirchenrecht59) (noch?) nicht gibt.
Es bleibt die dritte Möglichkeit: Recht der „Kirche”, das weder staatliches Recht noch rein theologische Ordnung ist. In irgendeiner Form geht es den meisten der heutigen Bemühungen darum, zwischen diesen beiden Extremen den Grund evangelischen „Kirchenrechts” festzulegen. Juristisch kommt es dann darauf an, das Aneinandervorbeireden im Verständnis der Norm — des Rechts! — auf das geringste Maß zu beschränken.
In diesem Sinne entscheidet über das Verständnis evangelischen Kirchenrechts als „ius ecclesiasticum Protestantium” der Grad der gegenseitigen Annäherung juristischer und evangelisch-theologischer Aussagen. Hinter dem evangelischen Suchen nach dem Grunde des Kirchenrechts in der „Kirche" steht somit immer die Frage, ob und wie weit sich juristische und theologische Vorstellungen annähern lassen. Erweitern wir den Rahmen, dann handelt es sich darum, inwieweit weltliche und theologische „Begriffe” sich entsprechen können. In diesem Augenblick wird das evangelische Kirchenrechtsproblem zu einem Teil60) der Grundlagenkrisis, die in irgendeiner Form heute alle Wissenschaften durchzieht.
Es ist daran zu denken, wie auf Grund physikalischer Erkenntnisse es heute den Anschein hat, daß der Substanzbegriff sich zunehmend durch den Funktionsbegriff ersetzen läßt61). Führen wir die Relativitätstheorie in starker Vereinfachung auf die Energie-Masse-Gleichung zurück, dann kann es aussehen, als ließen sich daraus unter gewissen Umständen Austauschmöglichkeiten zwischen den Begriffen der Zeitlichkeit und Räumlichkeit ableiten62). Die Elektrizität besteht gemäß den heutigen Erkenntnissen „zugleich” aus Wellen und Teilchen63). Die Grenzen zwischen Grundbegriffen, die die Wissenschaft seit Jahrhunderten als feststehend betrachtet, sind in Bewegung geraten.
55)
„Kirchenrecht — ein Teil der ref. Dogmatik”, Schüle KR,
S. 71.
56) Schoch: „Die Kirche braucht eine
zeichenhafte Ordnung. Das ist kein „heiliges
Kirchenrecht”, aber ein bekennendes Kirchenrecht. Die
Bibel gibt für die Rechtsorganisation der Gemeinde keine
formale Vorschrift, aber eine prinzipielle Weisung” (KR,
S. 185); „Das Recht ist Zeichen des Geistes” (a.a.O., S.
187).
57) Lex charitatis! Lex Christi! Lex
spiritualis!
58) Wehrhahn mit Bezug auf Theodosius Harnack
(1877), Kirchenrecht und Kirchengewalt, S. 60.
59) Man denke: keine Rechtsdelegation! keine
Approximation!
60) ohne auch nur im geringsten den Charakter
der „Einzigartigkeit” (des Heiligen) dessen, was „Kirche”
„ist”, zu schmälern.
61) Dazu die Ausführungen von v. Weizsäcker in
der FAZ vom 10. 8. 1954, S. 6.
62) Bezüglich der Grundlagen der
Quantenmechanik vgl. Westphal, Physik, ein Lehrbuch,
14./15. Aufl., Berlin 1950, S. 666. — Dazu Heisenberg,
Atomforschung und Kausalgesetz, in: Universitas, 1954, S.
234-235: „Im großen würde sich an der Raum-Zeit-Struktur
natürlich nichts ändern können, aber man müßte mit der
Möglichkeit rechnen, daß Experimente über die Vorgänge in
ganz kleinen Raum-Zeit-Bereichen zeigen werden, daß
gewisse Prozesse scheinbar zeitlich umgekehrt ablaufen,
als es ihrer kausalen Reihenfolge entspricht.”
63) Sog. Welle-Corpuskel-Dualismus, dazu: de
Broglie in: Heisenberg, Das Naturbild der heutigen
Physik, S. 124-132; die Ausführungen von Pauli zum
Unbestimmtheitsprinzip, in Geiger-Scheel, Handbuch der
Physik, Bd. 24, Teil 1 Quantentheorie, Berlin 1933, S.
85-87.
In der Auffassung, das „protestantische Prinzip” enthalte „den göttlichen und menschlichen Protest gegen jeden absoluten Anspruch, der für eine bedingte Wirklichkeit erhoben wird”64), liegt demgemäß ein Ansatz, die Eigenart evangelischen Kirchenrechts juristisch zu erfassen. Die Haltung, evangelisches Kirchenrecht als staatliches Recht anzusehen, das die eigentliche „Kirche” notwendigerweise hinzunehmen habe, ist Ausdruck eines Exklusivitätsprinzips genau so wie die andere, evangelisches Kirchenrecht nur als rein theologische Materie in Form einer a-juristischen „Ordnung” zu verstehen. Soll die Eigenart eines evangelischen Kirchenrechts jede Ausschließlichkeit bannen, dann muß die juristische Erfassung in den Begriffsunterschieden, die sich in der Grundlagenproblematik zwischen der Theologie und den verschiedenen Wissenschaften zeigen, eine Adäquanz zu erreichen trachten. Sie ist um so leichter zu gewinnen, je stärker sich die Jurisprudenz eben bewußt ist — trotz der Beharrung, der Statik im „Recht”, — daß der heutige Stand naturwissenschaftlicher Forschung65) eine große Anzahl herkömmlicher Begriffe auflockert und ihre erhärteten Ränder auflöst.
Das Adäquate ist hier nur auf dem Annäherungswege zu erreichen. Das Verstehen des evangelischen Kirchenrechts als eines „kirchen”eigenen „Rechts” kann weder eine kommunikationslose Heteronomie66) zwischen Kirche und Recht zugrunde legen noch eine approximative Perfektion67) zwischen Evangelium und „Gesetz”, Gebot und „Norm”, Gott und „Welt”. Die Forderung nach „letztlicher Übereinstimmung” des Kirchenrechts „mit dem Wesen der Kirche”68) läßt sich ausweislich des evangelischen Kirchenverständnisses, strenggenommen, weder von der evangelischen Theologie noch von der Rechtswissenschaft erheben. Zwischen dem „spezifischen Wesen” der „Kirche”69) in evangelischer Schau und dem spezifischen Wesen jeder menschlichen (kreatürlichen) Vorstellung beginnt an irgendeiner Stelle des Meßbaren — anders: des Wägbaren — die Inkommensurabilität. Aber bis zu dieser Stelle ist eine Approximation möglich. Wäre dem nicht so, bestände a priori strikte Inkommensurabilität zwischen den Erscheinungsformen der „Kirche” und denen menschlichen Denkens und Tuns, dann wäre eben die „Kirche” überhaupt nicht in der Welt, hätte sie nicht Teil an ihr, was sie aber nicht nur an Hand des Kirchenrechts, sondern ausdrücklich kraft Anspruchs der evangelischen Theologie hat.
Es gilt also, den approximativen Wert70) in den theologischen und juristischen Aussagen zur evangelischen „Kirche” und „ihrem” Recht zu
64) Tillich,
Der Protestantismus, S. 210, vgl. oben S. 40 und Anm.
16.
65) Zur Bedeutung d. Naturwissensch. z.B.
Reinhold Schneider: „Die führende Geistesmacht dieser
Epoche ist die Naturwissenschaft. Sie entscheidet nicht
allein die künftigen Lebensformen, sondern auch das
Denken” (in seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche am
23. 9. 1956), FAZ 1956 Nr. 225, S. 7, Sp. 4.
66) Wehrhahn, ZEK Bd. 1, S. 79.
67) Vgl. Erik Wolf, Rechtsgedanke und bibl.
Weisung, S. 28. — „Es ist immer und überall der
Perfektionismus, der (. . .) auch das Kirchenrecht steril
macht”, Barth, Ordnung der Gemeinde, S. 73.
68) Liermann, KR, S. 23.
69) Vgl. Farner, a.a.O., S. 24, Anm. 1.
70) Dieser Gedanke findet sich deutlich
ausgesprochen, wenn auch nicht weiter entwickelt, schon
1895 bei Reischle (Sohms Kirchenrecht, S. 49).
erschließen. Dies erscheint um so mehr geboten, als die zunehmende Masse sog. evangelischen „Kirchenrechts” wegen seines juristischen Gepräges in faktischer Hinsicht heute bei fehlender Grundlage „in der Kirche” gerade das „Kirchliche” leicht verdrängt. Es sind die in der Diskussion um die Grundlagen evangelischen Kirchenrechts anzutreffenden Begriffe theologisch und juristisch in approximativer Adäquanz zu verstehen. Ansatzmöglichkeiten bieten sich dafür — außer in der „Grundlegung” Barths — in allen gegenwärtigen Bemühungen, dem Kirchenrecht in der evangelischen Kirche eine Grundlage zu schaffen. Eine durch Approximation erreichte Adäquanz der fraglichen, oft „fragwürdigen” Begriffe erleichtert es, das evangelische Kirchenrecht weder „inmitten profan verstandenen Rechts”71) noch „in der Kirche” „bleibend als Fremdkörper”72) zu empfinden, weil die Annäherung verhindert, das evangelische Kirchenrecht völlig in das weltliche Wesen des Staates einzubeziehen oder völlig in das geistliche Wesen der Kirche aufzulösen. Es muß nicht jede Form eines „Kirchenrechts” der evangelischen Kirche inadäquat sein73); denn eine approximative Adäquanz beschönigt nicht bestehende Unterschiede, bedeutet keine Perfektion74). Approximative Adäquanz besagt nur, daß innerhalb des Approximationsfeldes das Kirchenrecht der „Kirche” und das Kirchenrecht dem „Recht” begrifflich gemeinsam sind.
Das Feld versteht sich als der Bereich, wo die Kirche Christi, die „in der Welt” ist75), sich nicht von ihr trennen läßt. Zu beiden Seiten erstrecken sich Räume, in denen die Approximation wegen des Skandalons „Kirche”, wegen der Antinomien zwischen „Kirche” und „Recht”, zwischen Dynamik und Statik, nicht mehr vorzunehmen ist. Aber die Räume beiderseits wirken korrektiv76) auf die Approximation ein; man möchte also sagen, daß erst dort, wo jeweils die Approximationsgrenze überschritten wird, das evangelische Kirchenrecht auf der einen Seite zu einem „rein theologischen”, auf der anderen Seite zu einem rein normativen Problem werde.
Aus der Untersuchung ist zwar zu entnehmen, daß der mögliche Approximationsbereich für das reformierte Kirchenrecht größer sei als für das lutherische, aber sie erlaubt nicht, einen solchen Bereich für das evangelische Kirchenrecht überhaupt (von der Konzeption Barths abgesehen) in Abrede zu stellen. Gäbe es die approximative Adäquanz der Begriffe im evangelischen Kirchenrecht nicht, dann könnte das Kirchenrecht der evangelischen Kirche als Phänomen nicht gerecht werden, das wir darin erkennen, daß die evangelische Kirche in ihrer lutherischen und reformierten Gestalt in ihrem Kirchenrecht immer Entwicklungstendenzen anheim
71) Schoch, KR,
S. 111.
72) Schoch, ebendort.
73) Dazu die Ausf. v. Dombois, ZEK, Bd. 2, S.
17.
74) Der entscheidende Unterschied zwischen
evangelischer Theologie und Jurisprudenz, das
evangelische Kirchenrecht in approximativer Adäquanz der
Begriffe zu verstehen, ist darin zu erblicken, daß die
Theologie sie als maximale zu erreichen trachten will,
während die Jurisprudenz sie — wegen der normativen,
verbindlichen, objektiven u. generellen Elemente im
„Recht” — als jeweils optimale anstreben muß.
75) Vgl. dazu die Ausf. bei Obendiek KIZ,
Sept. 1952, S. 221.
76) Zwar nicht hinsichtlich einer
Approximation, aber in Bezug auf das Verhältnis von
Rechtsordnung u. Gottesreich spricht Hauck von einem
„Verhältnis der Zuordnung und gegenseitigen Korrektur”
(Sohm und Tolstoi, S. 276).
gegeben ist und sich dennoch in einer nie ganz zu erfassenden Eigenart erhält.
Verbinden wir das Kanonische Recht als ius sacrum mit der analogia entis, setzen wir ein evangelisches „Kirchenrecht” in Form rein staatlichen Rechts, das die „Kirche” erduldet, zur analogia fidei in Beziehung und finden wir ein evangelisches „Kirchenrecht” in Form rein theologischer „Ordnung” ohne jede Normqualität mit der analogia relationis vereint, so ist zu erwägen, für ein evangelisches Kirchenrecht, das sich als kircheneigenes Recht verstehen läßt77), mit Hilfe einer Akzentverschiebung der approximativen Adäquanz, bei voller Würdigung des „Spezifischen” im evangelischen Kirchenverständnis, eine analogia approximativa78) daneben zu stellen.
Wesenhaftes läßt sich nie ganz in geschlossenen Sätzen, in Normen dartun. Aber unbeschadet des Offenen, begegnen sich die Menschen in ihrem Denken, in ihrem Sprechen, in ihrem Handeln, in ihrem Gestalten; sie tun es fortwährend in der „Kirche” und in der „Welt”, in der „Gemeinde” und im „Recht”, in der „Gemeinschaft” und in der Gesellschaft. Es widerspräche dem evangelischen Verständnis der „Kirche”, gleich ob als communio oder congregatio, gleich ob konfessionsgebunden oder in konfessionsloser Inkonsistenz, wäre gerade in der „Ordnung” dieser „Kirche” der Begegnungscharakter aufgehoben79), da der Herr Seiner Kirche ein Gott des Friedens und nicht der Unordnung ist80). Es wäre eine Sinnwidrigkeit in bezug auf die „Kirche” als Skandalon, in Würdigung ihrer Wesensparadoxie, begegnete das evangelische „Kirchenrecht” nur der evangelischen Theologie81) und hieße es darin nicht auch für die Jurisprudenz vermöge des Rechts als „Es”bezogene Norm: tua res agitur.
Die „Sache” nun, die das evangelische Suchen nach Kirchenrechtsgrundlagen zutage fördert, steht für die Jurisprudenz weder einzigartig noch abseitig dar. Unter Zugrundelegung einer approximativen Adäquanz stellt sie ein Glied82) in einer Kette von zusammenhängenden Lebenserscheinungen dar, deren Erfassung sich die Rechtswissenschaft mit jedem Tag mehr angelegen lassen sein muß.
Es geht um die entscheidende Frage des Handelns von Personenmehrheiten in einer Einheit83). Anders ausgesprochen, liegt das Sich-Verhalten einer Vielzahl in der Einzahl vor. Etwas enger gefaßt, führt der Sachverhalt zu der Überlegung, ob sich das Handeln (die „Bewegung”) einer Vielheit völlig in einem Einheitlichen, in einem84) „Verharrenden” ausdrücken lasse.
77) Nur darauf
trifft der Name ,ius ecclesiasticum protestantium’
eigentlich zu.
78) Betont sei die „Akzentverschiebung”, denn
der juristische Analogiebegriff muß in der hier erfolgten
Bezogenheit auf die Adäquanz gemeinhin befremdend
wirken.
79) Vgl. dazu Wehrhahn, ZEK Bd. 1, S. 79.
80) 1. Kor. 14, 33.
81) Wie es der Grundton in den besprochenen
Werken von Schüle, Schoch und Barth ist.
82) Wenn zwar ein „besonderes” Glied.
83) Theologisch „in der Einheit”, vgl. dazu
die Ausf. oben S. 84.
84) Wenigstens zu je diesem Zeitpunkte.
Führt dergestalt soziologisch das evangelische Kirchenrechtsproblem zur „Gruppe”, so führt es juristisch nicht minder zu ihr, wobei rechtlich der Begriff „Verband” vorzuziehen ist, allerdings im allerweitesten metajuristischen Sinne. Jeder „Verband” stellt das Recht vor die Frage, in welchem Rahmen die in ihm von einer Vielheit gesetzten Akte justiziabel seien. Lassen sich Gruppenbildungen „normieren”? Ist jede Verbands-„einheit” nicht eine juristische Fiktion, und bleibt sie nicht doch als Verbandsvielheit in Bewegung?
In dem Bemühen um „Antwort”85) sieht die Rechtswissenschaft sich, wie im Falle der communio resp. congregatio in steter Ereignishaftigkeit86), heute auch beim Staate (in ihm, in den von ihm „inkorporierten” Verbänden und außerhalb von ihm) vor die Aufgabe gestellt, Dynamisches der Norm zugänglich zu machen.
Es stellt sich etwa die Frage, ob viele der vom Staat gesetzten „Akte” überhaupt normierbar seien, zu der die umstrittene (teilweise oder gar generelle) Justiziabilität von sog. „Regierungsakten” staatsrechtlich ein höchst aktuelles87) Beispiel liefert. Zu denken ist sodann an den verfassungsrechtlichen „Status” von in der Bildung begriffenen Gruppen88), zu denen zuerst einmal politische Parteien89) und Gewerkschaften90) zu rechnen sind. Inzwischen drängen neben diesen Gruppen spürbar andere „Gebilde” nach vorne, zwar noch nicht so geprägt wie jene — man denke etwa an Unternehmerverbände, Mittelstandsvertretungen — und doch über kurz oder lang konstitutionelle Formung erheischend. Die zivilrechtliche Erfassung des Handelns von Personenmehrheiten in einer Einheit entfernt sich von der verfassungsrechtlichen Problemstellung nicht so weit, wie es rechtsdogmatisch den Anschein haben könnte. Auch im Gesellschaftsrecht kommt es heute darauf an91), das Verhalten der Kapitalgesellschaften im Wirtschaftsganzen juristisch derart zu erfassen, daß dadurch ihr Handeln im dynamischen Wirtschaftsgefüge nicht erstarrt92).
Auf völkerrechtlicher Ebene bemerken wir, daß die juristische Formung einer sog. „Integration”93) Europas in den hier berührten Problemkreis
85) Dies der
Titel der Festschrift für Karl Barth zu seinem 70.
Geburtstag (Zürich 1956).
86) Ohne das theologische Spezifikum darin
anzutasten!
87) Und über die sog. „Rechtsstaatlichkeit”
entscheidendes (!)
88) Nicht von ungefähr spricht Werner Weber
von einer „ständig wachsenden Zahl von Verbänden”, die
auf das politische Geschehen Einfluß nehmen und zu denen
er „die Parteien, die Gewerkschaften, die Wirtschafts-
und Arbeitgeberverbände und die Kirchen” rechnet
(Spannungen und Kräfte . . ., Stuttgart 1951, S. 49).
89) Hatte Georg Jellinek 1919 (Allgem.
Staatslehre, S. 114) festgestellt: „In der staatl.
Ordnung hat der Begriff der Partei als solcher keine
Stelle” — ähnlich noch 1928 H. Triepel (Die
Staatsverfassung und die politischen Parteien) — so hat
1949 das Grundgesetz in Art. 21 die Parteien
„verfassungsfähig” (Ipsen, über das Grundgesetz, 1950, S.
22) gemacht. Ähnlich schon vorher die Ital. Verfassung
von 1947 in Art. 49. Allerdings bietet Art. 21 GG keine
Legaldefinition der Partei! (Vgl. Maunz, Deutsches
Staatsrecht, 1951, S. 54).
90) Vgl. Art. 57 II Saarl. Verfassung. — Dazu
Schranil, Art. 57, Anm. 2 und 3.
91) Deutlich vor allem bei der
Aktiengesellschaft.
92) Zu denken ist hier im weiteren an die
zivilrechtliche Erfassung der sog. „faktischen
Gesellschaft”, vgl. Enneccerus Lehmann, Lehrb. zum
Schuldrecht, 1954, S. 709/710.
93) Dazu juristisch: Ophüls, Juristische
Gedanken des Schumanplans, NJW 1951/289-290; Bilfinger,
Zeitschr. f. ausl. öffentl. Recht und Völkerrecht Bd.
III, Nr. 3, S. 615-659; Kraus, Betrachtungen über d.
rechtl. Struktur d. Europ. Gemeinschaft f. Kohle und
Stahl, 1951 — — volkswirtschaftlich: Frédérick Haussmann,
Der Schumanplan im europäischen Zwielicht, München 1952,
S. 20-24; „der vieldeutige Begriff der Integration”
(a.a.O., S. 22).
hineingehört. Gerade in bezug auf den „Gemeinsamen Markt”94), der sich erst zu bilden beginnt95), in dem volkswirtschaftlich erst Vorstufen dazu entstehen, in dem es noch eine Unzahl von kaum befestigten Übergängen gibt, zeigt sich, daß herkömmliche juristische Begriffe, je ausgefeilter und schärfer differenziert sie durchgebildet sind, die unaufhörliche Bewegung im Wirtschaftsleben zu hemmen vermögen. Die juristischen Begriffe erfassen nur teilweise die ständig wechselnden Erscheinungsformen der Wirtschaft. Es besteht dann eine Diskrepanz zwischen der Statik, die die normierten Teile in den „Gemeinsamen Markt” als Wirtschaftskörper hineintragen und der der Wirtschaft eigenen Dynamik, doppelt wirksam an den Stellen, die sich juristisch nicht einfügen, die normativ „offen” bleiben. Auf diese Weise trägt die juristische Formung eines „Gemeinsamen Marktes” in statu nascendi bei Vereinseitigung den Keim der Verformung96) des volkswirtschaftlich „Gemeinsamen” in sich. —
Die Beispiele97) aus Verschiedenen Lebensgebieten führen vor Augen, daß, juristisch gesehen, hier ein Zusammenhang mit dem Grundlagenproblem evangelischen Kirchenrechts besteht. So wie im Falle der begrifflich nur annähernd zu erfassenden „Kirche" im evangelischen Verständnis, ist dem Recht heute in zunehmendem Maße, ausgelöst durch den Zwang der „Organisation” in der technischen Vervollkommnung der Massenstaaten98), die Aufgabe gestellt, dynamischen Lebensvorgängen begrifflich Form zu verleihen, um dem Geformten die Norm zu setzen, wiewohl die Form nur einen Teil des sich Entwickelnden einzufangen vermag. Unter Zugrundelegung der dargestellten approximativen Adäquanz im Verstehen theologischer und juristischer Begriffe erscheint diese Gedankenverbindung juristisch geboten. Mögen die evangelisch-theologischen Gründe, die „Kirche Christi” in absoluter Andersartigkeit zu allen weltlichen Gebilden, zu allem Geschöpflichen zu Verstehen, noch so schwerwiegend sein99), die protestantische Theologie kann nicht bestreiten, daß die Tatsache des Vorhandenseins eines evangelischen „Kirchenrechts” nicht nur wegen seiner gepflogenen Anwendung „als Recht”, sondern in seinen Grundlagen auch die Rechtswissenschaft „grundlegend” betrifft. Gerade wenn die heutige Auseinandersetzung deutlich das Bemühen spüren läßt, zu einem kircheneigenen Recht zu gelangen, kann es der evangelischen Theologie nur dienlich sein, wenn die Rechtswissenschaft aufzeigt, daß es für sie, so wie in dem aliter-Bereich der „Kirche”, auch auf anderen Gebieten menschlichen Zusammenlebens die wesenseigene Spannung zwischen Statik und Dynamik zu bewältigen gilt, um das Sinnvolle der „Norm” zu wahren.
94) Dazu:
Vertrag EGKS, Art. 3 Ziff. b und c; Art. 4 enthält nur
eine negative Abgrenzung! — Art. 65 Ziff. 1: „Normaler
Wettbewerb”.
95) streng genommen, handelt es sich bei dem
„Gemeinsamen Markt” der Montanunion (Art. 3) um einen
gemeinsamen Teilmarkt, nicht aber um einen partiellen
„Gemeinsamen Markt”!
96) Greifbar deutlich in Art. 3 Ziff. c
EGKS-Vertrag, der eine Legalgarantie für „Abschreibungen”
und „normale Verzinsungsmöglichkeiten” gibt!
97) Weiteres Beispiel: Die Hemmung des
Dynamischen in der „Sozialisierung” durch Verkettung mit
dem statischen Grundgedanken der „Enteignung” (Art. 15 i.
V. m. Art. 14 III GG). Dazu Ipsen, Enteignung und
Sozialisierung, VDStRL. Heft 10, 1952.
98) Vgl. Hans Huber, Niedergang des Rechts,
Giacometti-Festschrift 1953, S. 80/81.
99) Dazu für das Luthertum die Darstellung
Wehrhahns über die jüngere systematische Theologie,
Kirchenrecht und Kirchengewalt” (1956), S. 73-89.
Überall trifft das Recht hier auf die Frage: „Sind dynamische Begriffe normierbar?” Sie bildet die Kernfrage unserer Untersuchung.
Um ein Mißverstehen wenigstens auf ein geringes Maß zu beschränken, ist nochmals hervorzuheben, daß die Frage die „Rechtsnorm” meint, nicht eine ethische oder eine theologische Norm100), ohne daß die evangelische Theologie hier wähnen müßte, diese würden verstoßen oder negiert. Das Recht in seiner „Es”-Beziehung ist an ihnen orientiert, auf sie ausgerichtet. Aber die Orientierung, das Ausgerichtet-Sein (sprechen wir gar von der „Gebundenheit”) kann, soll es sich um „Recht” handeln, eines nicht aufheben: Die Regel, die Vorschrift, kurz, die dem Menschen verbindliche Norm.
In der Frage nach der Normierbarkeit dynamischer „Begriffe” kommt es für uns darauf an, ob der evangelische Christ das Bewußtsein hat, „verbindlichen Normen unterworfen zu sein, die sich von denen der staatlichen Gewalt unterscheiden”101). Während das Vorhandensein dieses Bewußtseins für den katholischen Christen schon für die Zeit in der Ur- und Frühkirche bis zum Mailänder Edikt „aus historischen Quellen eindeutig zu erweisen ist”102), finden wir theologisch bei den evangelischen Christen nicht die eindeutige Überzeugung, in der „Kirche” verbindlichen Rechtsnormen unterstellt zu sein.
Juristisch gelangen wir in der Frage nach der „Normfähigkeit” dynamischer Begriffe zu der Einsicht, daß jede .Norm' diesbezüglich etwas „offen” läßt. Das Handeln jeder Vielheit ist in der normierten Handlungseinheit nie „absolut” erfaßt. Viele der Gesetzgebung heute erwachsenden Schwierigkeiten sind auf die weithin geschwundene Einsicht zurückzuführen, daß das „Recht” seinem Wesen nach eine Ordnung ist, eben eine Teilordnung103). Daraus folgt, denken wir an den Staat, daß viele seiner Akte sich eben nicht normieren lassen. Der Grundsatz der Justiziabilität aller Staatsakte, den man in Form der Nachprüfbarkeit allen staatlichen Handelns durch Gerichte teilweise dem Art. 19 IV GG zu entnehmen geneigt ist104), erscheint in seiner äußersten Fragwürdigkeit105). Jede Revolution — eben weil der gröbste „Rechts”-Bruch — spricht für die endliche Nicht-Normierbarkeit dynamischer Begriffe.
Anknüpfend an die vorhin angesprochene „Gruppe”106) in soziologischem Verständnis, ist festzustellen, daß der juristische Begriff des
100) Beispiele:
„(betrifft Kirche) Dies aber, daß die Kirche ihrer selbst
nicht mächtig ist, ist die inhaltliche Grundnorm ihrer
Ordnung” (Otto Weber, Vers. Gemeinde, S. 68). — „Der
Kirchengedanke der Reformation ist für uns eine Norm”
(Foerster, Sohm widerlegt, S. 332). — „Sicher ist, daß
Rom. 13, 5 gebrauchte Formel, 1. Kor. 10, 25-27, wo sie
auch vorkommt, nicht auf eine dem Christen als solchen
übergeordnete Norm hinweist” (Barth, Rechtfertigung und
Recht, S. 31).
101) Plöchl, Die Geschichte des KR, Bd. 1, S.
43.
102) Plöchl, ebendort.
103) Vgl. Hans Huber, Niedergang des Rechts,
S. 84/85.
104) Vgl. Coing in seinem Vortrag vor dem
Deutschen Richtertag, Oktober 1956, FAZ 1956, Nr. 237, S.
9, Sp. 1.
105) Die Forderung, daß die Justiziabilität
staatlicher Hoheitsakte „grundsätzlich bejaht werden
sollte” (Wernicke, Bonner Kommentar, Art. 19, Anm. II, 4
g), ist geeignet, das „Grundsätzliche” im Wesen des
Rechts zu zerstören.
106) Vgl. oben S. 208.
„Verbandes” (in weitestem Sinne) Gruppenbildungen107) des menschlichen Zusammenlebens erfaßt. Eingedenk des „Offenen”, enthält in einer Vielzahl der Fälle der Begriff des „Verbandes” nicht geschlossene (feste) Gruppen, sondern in Bildung befindliche Gruppen, mag es sich dabei um Fort-, Um-, Verbildung handeln, gar Rückbildung, die in letzter Konsequenz Selbstaufgabe sein wird. Es liegt nahe, wenn die Soziologie hier den Begriff der „offenen Gruppe” verwendet108).
Juristisch ist, bevor wir den Schritt weiter in Richtung auf den „Verbands”-begriff gehen, darauf hinzuweisen, daß der Grad der „Offenheit” hier höchst variabel erscheint, wenn man etwa neben „politische” Gruppenbildung109) wirtschaftliche Gruppenbildung und religiöse Gruppenbildung stellt. Jedenfalls kann man sich dem Offen-Sein — dem Offen-Bleiben — der Gruppenbildung nicht Verschließen. Wenn also, wie dargestellt, die Rechtsnorm dementsprechend hinsichtlich des Handelns von Personenmehrheiten qua „Gruppenbildungen” etwas offen läßt, darf, wenngleich mit behutsamer Zurückhaltung, von „offenen Verbänden” gesprochen werden. In bezug auf das evangelische Kirchenverständnis ist dieser Begriff dem anzutreffenden Begriff der „offenen Organisation”110) vorzuziehen.
Der heutige Stand der Auseinandersetzung um evangelisches Kirchenrecht führt greifbar vor Augen, wie die evangelische Auffassung nichts weniger erstrebt, als daß das evangelische Kirchenwesen, sei es lutherisch ein „Amts”geschehen oder reformiert ein „Gemeinde”geschehen, in vollem Umfange durch Kirchenrechtsnormen geregelt (gar „organisiert”) werde111). Wir stehen nicht an, die „Kirche” in evangelischem Verständnis den „offenen Verbänden" zuzurechnen. „Kirche” erscheint dann juristisch — als communio oder congregatio, in schwankender Amts- resp. Gemeinde-„Verfestigung”, konfessionsgebunden oder konfessionslos inkonsistent — gerade wegen der ihr teilweise fehlenden Begrifflichkeit als ein „offener Verband”. In dieser Ansprache ist die „Einzigartigkeit”, die Ereignishaftigkeit, die Schau der „Kirche” in der theologischen Aussage voll zu berücksichtigen. Nicht minder aber ist zu beachten, daß auch die evangelische „Kirche” als ein Teil menschlichen Zusammenlebens vorhanden ist, daß sie „da” ist. „Kirche” als „Verband” ist unserem Denken, unserem Begreifen „verbunden”, die protestantische Theologie wird es nicht übersehen können, und die „Tatsache” des Vorhandenseins sog. evangelischen „Kirchenrechts” spricht dafür. „Offen”
107) Bezüglich
Parteien spricht Max Weber von „Gebilden freier Werbung .
. . mit dem Zweck, ihren Leitern innerhalb eines
Verbandes Macht. . . zuzuwenden” (Wirtsch. u.
Gesellschaft, 3. Aufl., Bd. I, 1947, S. 167-169).
108) „Im Unterschied zu Ständen, Orden und
anderen geschlossenen Organisationen, die in ihrer Art
ebenfalls Träger eines Gruppenwillens sein können, ist
die Partei eine offene Gruppe . . .” (Otto Stammer,
Polit. Soziologie, S. 283).
109) Vgl. Grewe, Zum Begriff d. polit. Partei,
S. 69. — Grewe definiert a.a.O., S. 82 Parteien als
„konkurrierende Machtgruppen”.
110) „Parteien sind „offene” Organisationen”
(Paul Noack, Auf dem Weg zum Parteienmonopol, FAZ 1956,
Nr. 212, S. 2).
111) Auf der Ebene staatlichen Rechts stellt
Forsthoff entsprechend für die Parteien fest: „Das
staatl. Interesse fordert nicht, daß das Parteiwesen im
vollen Umfang durch staatl. Rechtsnormen geregelt wird”
(DRZ 1950/316). Zur Ergänzung: Forsthoffs Bedenken gegen
eine „Verstaatlichung” der Parteien in Form der
juristischen Erfassung als „Verfassungsorgane” (Vgl. DÖV
1956/513).
aber ist dieser „Verband” deswegen, weil das Verbundensein der „Kirche” evangelischen Verständnisses mit unserem Denken, unserem Begreifen nicht völlig, nicht absolut zu vollziehen ist. Demgemäß müssen die Antworten auf die Frage nach dem „Recht” dieses „offenen Verbandes” bedingt sein; denn dort, wo seine Verbundenheit mit dem Begrifflichen aufhört — mit anderen Worten, wo die approximative Adäquanz möglicher Begriffe endet — läßt die evangelische Kirchenrechtsdiskussion jedenfalls „offen”, ob das sog. „Kirchenrecht” jemals als „ius” verstanden werden darf, soviel und sooft dabei auch von „Ordnung” die Rede sein mag.
In dem reformierten „Ja, aber” und einem lutherischen „Nein, aber”112) zum Kirchenrecht sowie in dem juristischen Erfassen dynamischer Teile menschlichen Zusammenlebens in „offenen Verbänden” deutet sich ein Gleichgerichtet-Sein mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen an. Die Unschärfe-Relation (resp. Unbestimmtheitsrelation) Heisenbergs, so schwierig der Zugang zu der zugrunde liegenden mathematischen Materie einem Außenstehenden auch ist, besagt im übertragenen Sinne, daß es für die Naturwissenschaft (ein?) „etwas” gibt, welches sich nicht definieren läßt113). Mit der gebotenen Vorsicht darf man der Erkenntnis Heisenbergs ein Prinzip der Nichtdefinierbarkeit von „etwas” entnehmen, an dessen objektivem Vorhandensein wissenschaftlich nicht zu zweifeln ist.
Wenn wir juristisch die evangelische „Kirche” als „offenen Verband” verstehen und darin ihr Kirchenrecht als Rechtsordnung eines „offenen Verbandes” erblicken, dann können die verschiedenen Richtungen (außer Barth) der heutigen protestantischen Theologie darin finden, daß die Jurisprudenz das, was jene in der „Kirche” evangelischen Verständnisses als nicht zu begründen, nicht zu definieren, nicht zu „begreifen” erklären, nicht abtut und erst recht nicht negiert, sondern in den ihr gemäßen Kategorien als objektive (theologisch „reale”) Gegebenheit berücksichtigt.
Auf Grund dessen wagt die Untersuchung, der Feststellung Schochs, daß das „Kirchenrecht der Rechtswissenschaft in seinem wahren Wesen eine Verlegenheit” sei114), abschließend den Satz entgegenzustellen, daß in der heutigen Auseinandersetzung die „Norm” dem evangelischen „Kirchenrecht” in seinem wahren Wesen eine Verlegenheit biete.
Strenggenommen, handelt es sich hier um eine wechselseitige „Verlegenheit”. Die Kirche fühlt sich wegen der Norm „verlegen”, das Recht ist es nicht weniger mit der evangelischen „Kirche” in ihrer verschieden
112) Bei dem es
auch neuerdings bei Wehrhahn letztlich bleibt, wenn er
betont die Bedeutung der „potestas regiminis”
herausstellt, die lutherisch immer nur als ius humanum
bestehen kann. Vgl. Kirchenrecht u. Kirchengewalt, S.
33-35, 93/4.
113) „Die Unbestimmtheit, mit der jedes
einzelne dieser Bilder behaftet ist u. die durch die
Unbestimmtheitsrelation ausgedrückt ist, genügt eben, um
logische Widersprüche zwischen den verschiedenen Bildern
zu vermeiden. Es ist aus diesen Andeutungen wohl auch
ohne Eingehen auf die Mathematik der Quantentheorie
verständlich, daß die unvollständige Kenntnis eines
Systems ein wesentlicher Bestandteil jeder Formulierung
der Quantentheorie sein muß” (Heisenberg, Das Naturbild
der heutigen Physik, Hamburg 1955, S. 29); dazu im
weiteren a.a.O., S. 28-30, 32-35). — Zu den Grundlagen
der Quantenmechanik, Westphal, Physik (1950), S. 665-668;
„Die große erkenntnistheoretische Bedeutung der
Quantenmechanik, die u. a. in der Abkehr von der
apriorischen Geltung des Kausalitätsprinzips u. in dem
grundsätzlichen Verzicht auf eine Erkenntnis von einem
„wahren Wesen der Dinge”, einer „objektiven Wirklichkeit”
hinter den Erscheinungen, liegt, ist offensichtlich”
(a.a.O., S. 668).
114) Schoch, Kr., S. 112, vgl. oben S.
122/123.
stark fehlenden Begrifflichkeit. Das Skandalon läßt sich nicht beiseite stoßen! Wir können mit Hilfe einer approximativen Adäquanz nur immer ein Mittelfeld bestreichen115). Mögen wir das Feld zu erweitern uns noch so sehr bemühen . . . . Raum, wissenschaftlich nicht zu bestimmen, nicht zu „ergründen”, bleibt „rundum”116). Die allgemeinen Aussagen der aus der Relativitätstheorie entwickelten Unschärferelation erlauben, approximativ adäquat abgewandelt117), für die Frage des „evangelischen Kirchenrechts” die Feststellung: Im evangelischen Kirchenrecht sind die Elemente „Kirche” und „Recht” in eigentümlicher Weise so miteinander verbunden, daß das „Bestimmen” des einen Elements jeweils die gleichzeitige und gleich scharfe Bestimmung des anderen stört. Je genauer wir theologisch das evangelische Verständnis der „Kirche” erfassen, um so ungenauer wird die Definition des Rechts, wie umgekehrt juristisch die Definition des „Rechts” in dem Maße an Prägnanz gewinnt, in welchem die Unerfaßbarkeit der „Kirche” in evangelischer Sicht zunimmt. —
Verstehen wir das „Recht” als „Es”-bezogene Norm, dann besteht das Suchen nach den „Grundlagen” evangelischen Kirchenrechts darin, zu „ergründen”, ob die „Kirche” evangelischen Verständnisses des Normativen fähig sei. In dem Ringen theologischerseits um die Normfähigkeit (weithin ohne Rechtsnorm zu meinen) und juristischerseits um die Formfähigkeit evangelischer „Kirche" (weithin bei ungenügender Berücksichtigung des Pneumatischen, des Ereignishaften der ecclesia) tun sich in approximativer Adäquanz zwei Seiten desselben „Geschehens” kund: des Strebens, dem Recht — der Norm! — in der evangelischen „Kirche” eine eigene Stätte zu geben, über die Möglichkeit eines evangelischen „Kirchenrechts", welches weder staatliches „Recht”, noch Kanonisches „Recht”, noch eine a-juristische „Ordnung” darstellt, entscheidet, ob der evangelische Christ sich in seiner „Kirche” verbindlichen kircheneigenen Rechtsnormen unterstellt „weiß”.
In Erkenntnis der Vielschichtigkeit und Streuung der heutigen Auseinandersetzung um evangelisches „Kirchenrecht” handelt es sich in seiner Grundlagenproblematik, neben ernsten theologischen Fragen, juristisch — zwar in verschieden starker Verknüpfung mit jenen, aber niemals von ihnen zu isolieren! — um die entscheidende Frage nach der Norm. Auf die kürzeste Formel gebracht: Das „Problem” evangelischen Kirchenrechts besteht in der Frage der „Kirche” nach der „Norm”.
115) Dazu die
Ausführungen oben S. 206.
116) Für die evangelische Theologie liegt es
nahe, genau umgekehrt „bildhaft” zu sprechen: Nur die
Randsphäre erlaubt in ihren Gegebenheiten die Definition,
die kraftvoll strahlende Mitte ist ihr „fort-während”
entzogen. Nur in dieser Beschränkung kann für eine
Kirchenrechtstheorie ein „Wesensverständnis” von Kirche
und Recht „Ziel” sein! (vgl. Wehrhahn, a.a.O., S.
34/35)
117) Der aus den physikalischen Erkenntnissen
der Quantenmechanik abgeleitete, hier zugrunde gelegte
Satz lautet: „Je zwei Zustandsgrößen sind in einer
eigentümlichen Weise so miteinander gekoppelt, daß die
Messung der einen eine gleichzeitige Messung der anderen
stört, derart, daß, je genauer man die eine mißt, die
zweite um so weniger genau meßbar wird” (Westphal,
Physik, 1950, S. 666).