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Jede Aussage über katholisches Kirchenrecht muß davon ausgehen, daß „ius ecclesiasticum” wesensmäßig — wie ausdrücklich in der Analyse der katholischen „Kirche”1) betont — zum katholischen „Kirchen”begriff gehört2). Die Kirche als societas perfecta sibi sufficiens bedingt, daß sie ihre Rechtsordnung nicht irgendwie von außen empfängt, sondern, wie die Enzyklika „Immortale Dei” Leos XIII. unmißverständlich darlegt, „in sich selber trägt”3).
Die Einsetzung der Kirche durch Christus — Math. 16, 18 — ist nicht allein sakrales Geschehen. Eben darin vollzieht sich auch die Gründung der Kirche als rechtliche Institution4). Wie Plöchl ausführt, hatte das Heilandswort:
„Reddite ergo quae sunt Caesaris, Caesari: et quae sunt Dei, Deo.” (Lukas 20, 25),
„nicht nur im Evangelium die Gewaltentrennung begründet, sondern auch zum Ausdruck gebracht, daß hier zwei verschiedene Bereiche von Normen existieren”5). Die Frage, wer dem kirchlichen Recht unterworfen sei, hat nach katholischem Glauben schon seine verfassungsmäßige Regelung im Evangelium gefunden6).
Auch wenn man das Unterworfen-Sein theologisch als ein Hinzu-Getan auffaßt, schmälert das die Bedeutung nicht, die auf Grund des Institutionellen die Vorstellungen des „regnum” und der Form für die katholische Kirche haben. Da nun Herrschaft und Form entscheidende Merkmale des römischen Rechtssystems sind, ergibt sich hier eine strukturelle Parallelität7), die in der Entwicklung streckenweise zu einer scheinbaren Identität führt, ohne sie gemäß der katholischen Ganzheitsschau bei richtiger Würdigung jemals zu sein.
Das Merkmal „Form verstärkt und verdichtet im Kirchenbegriff die Institution. Das Merkmal „regnum” drängt zur hierarchischen Ordnung. Beide Merkmale dürfen dabei nicht zu Entwicklungstendenzen abgewertet werden. Sie gehören zur „Kirche”, weil beide im Evangelium „angelegt” sind.
Die hierarchische Ordnung verleiht dem Episkopat eine ausschlaggebende Bedeutung. Im episkopalen Bereich aber beginnt sich schon früh eine Sonderstellung des Papsttums abzuzeichnen8). Das Papsttum wahrt die
1) Vgl. oben S.
18 und Anm. 14.
2) Vgl. Hauck, a.a.O., S. 31 und 38.
3) Vgl. Lampert, Kirche und Staat, S. 31 und
32.
4) Liermann KR, S. 7; vgl. Math. 18, 17; Mark.
16, 15; Luk. 10, 16.
5) Plöchl: Die Geschichte des KR, Bd. 1, S. 43
(Unterstreichung hinzugefügt).
6) Plöchl, daselbst.
7) auf die schon Budé Calvin gegenüber
hingewiesen hat. Bohatec, Budé und Calvin, S. 94; vgl.
Ernst Merz, Vom Geheimnis der Mönche (Buchbesprechung)
NZZ 17. 10. 1953, Bl. 4: „Benedikt v. Nursia, der
einstige adelige Römer mit seinem Sinn für Maß und
Gesetz.”
8) Cornelius, Bischof von Rom, an Cyprian: „Et
cum sit a Christo una ecclesia per totum mundum in multa
membra divisa, item episcopatus unus episcoporum multorum
concordi numerositate diffusus”; zitiert nach Hauck, Sohm
und Tolstoi, S. 22 Anm. 52.
legislative (in umgekehrter Richtung gesehen, die jurisdiktioneile) Kontinuität. Das Kirchenrecht als Wesensmerkmal der katholischen Kirche wäre ohne die im Papsttum sich verkörpernde Kontinuität ein Mystizismus oder eine Chimäre, aber keine eigenständige Norm. Der Katechismus Romanus bezeichnet den Papst als „Vicarius Christi”, dem „legitimus” (also legal, was theologisch als „von Christus her” interpretiert werden darf) die Legislation und höchste Jurisdiktionelle Gewalt zusteht (Cat. Rom. pars II, cap. 7, quaestio 25).
Auf der Grundlage sakramentaler Ordnung9) weist das katholische Kirchenrecht seit dem viel erörterten 1. Clemensbrief (um 100 n. Chr.)10) eine erstaunlich gleichförmige und gradlinige Entwicklung auf. Sie bietet sich dem Außenstehenden in lückenloser Folgerichtigkeit dar und führt, soweit es sich um Satzungsrecht handelt, über die Sammlung des „Corpus Juris Canonici” in unsere Zeit zu dem „vorbildlich klaren”11) Gesetzgebungswerk des „Codex Juris Canonici” von 1917, ohne daß die Kodifikation das Kirchengewohnheitsrecht verdrängt hätte. „Omne ius in legibus et in moribus constat”12).
Indes haben trotz der hervorstechenden Wechselbezüglichkeit von Kirchen„begriff” und Kirchen„recht” in der katholischen Kirche ihre Ekklesiologie und ihre Kanonistik einen weithin je eigenständigen Verlauf genommen. Die darin gegebene Problematik wird in der Tatsache sichtbar, daß die entscheidende Entwicklung des Kanonischen Rechts vom „Decretum Gratiani” (um 1140) bis zu den „Extravagantes Communes” (bis 1484) in die vortridentinische Zeit fällt, die einen Kirchen„begriff” im eigentlichen Sinne nicht ausweist.
Sakrament und Gesetz als Ganzheit in der katholischen Kirche postuliert das Tridentinum (1545-1563) in dem Satz:
„Si quis dixerit Christum Jesum a Deo hominibus datum fuisse ut redemptorem cui fidant, non etiam ut legislatorem cui oboediant: anathema sit.”13)
Christus, der Erlöser und Gesetzgeber, ist aus dem katholischen Kirchengefüge nicht wegzudenken14). Das Faktum wirkt heute in Canon 100 CIC hinein: Die Gesamtkirche und der Heilige Stuhl besitzen Rechtssubjektivität15) ex jure divini16). Damit ist für das katholische Kirchenrecht das Entscheidende gesagt. Die Katholische Kirche setzt Recht „aus sich”; sie ist Quelle „eigenen” Rechts.
Mithin erscheint das Recht dieser Kirche als
„die Summe aller von Gott und der Kirche erlassenen autoritativen
9) Joseph
Klein, Grundlegung und Grenzen, S. 8.
10) Vgl. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte,
Bd. 1, S. 23 ff.
11) Liermann KR, S. 29.
12) Hinsichtlich der Beziehung zur ecclesia
orientalis innerhalb der Kath. Kirche erscheint die
Darstellung Barions wichtig: „Can 1 CIC stellt nicht, wie
das gewöhnlich aufgefaßt wird, der weitgehend durch das
Recht geprägten lateinischen Kirche eine mehr rechtsfreie
gegenüber, sondern schafft nur . . . zwei verschiedene
Rechtsbereiche, die aber formal gleich strukturiert sind.
Can 1 CIC begrenzt ein Gesetzbuch, aber nicht das
Kirchenrecht.” Barion: Die Begrenzung des KR, S. 19.
13) Sessio VI de justif, can. 21.
14) Sehr kritisch dazu Leese: Die
Religionskrisis, S. 360-362.
15) Nach kath. Auffassung darin auch
Völkerrechtssubjektivität.
16) Also unabhängig von der umstrittenen
Staatsqualifikation der „Citta dei Vaticano”!
Normen zur Regelung des Lebens der sich unterordnenden Christengemeinschaft entsprechend deren natürlichem und übernatürlichem Zweck.”17)
In kürzerer Fassung läßt sich das katholische Kirchenrecht bestimmen als Inbegriff „der Rechtsnormen, welche von den berufenen kirchlichen Gesetzgebern erlassen worden sind”18). Mögen die Definitionen katholischen Kirchenrechts gemäß den verschiedenen Gesichtspunkten in der Formulierung gewisse Unterschiede aufweisen, in einem Punkte stimmen sie überein: an dem „Norm”-charakter des katholischen Kirchenrechts besteht kein Zweifel.
Als „Gemeinschaftsordnung des neuen Gottesvolkes”19) bildet das Kirchenrecht ein Stück „Kirche”. Der Satz Cyprians: „Extra ecclesiam nulla salus”20), erstreckt sich auch — wie das päpstliche Rundschreiben „Mystici Corporis” vom 29. 6. 1943 in neuester Zeit bestätigt21) — auf die rechtliche Institution „Kirche”.
Die Stellung des Kirchenrechts in der „Kirche” nach katholischem Ganzheitsdenken wird deutlich mit Hilfe eines Bildes: „Die rechtlichen Normen sitzen auf dem theologischen Untergrund auf, wie das Juwel auf dem Mineral seines Vorkommens.”22)
Diese rechtlichen Normen gehen ihrer Herkunft nach „entweder auf Christus, den Stifter der Kirche, zurück, sind also göttliches Recht, oder auf die menschlichen gesetzgebenden Organe der Kirche, sind menschliches Recht”23). Unabhängig davon, welche Einteilung des Rechts die katholische Lehre im einzelnen vornimmt24), unbeschadet auch der jurisdiktioneilen Anwendung pro foro interno oder pro foro externo, bilden ius divinum und ius humanum aus kircheneigener Quelle zusammen „ius ecclesiasticum”. Weil es sich um Ius der Ecclesia Sancta handelt, besitzt die Katholische Kirche — nach der Lehre und formell-rechtlich gleichermaßen folgerichtig — in ihrem Kirchenrecht ein „Ius Sacrum”.
17) J. Krieg,
Kirchenrecht in: Buchberger, Lexikon für Theologie und
Kirche, Sp. 1021; fast gleichlautend Koenigers
Begriffsbestimmung in Koeniger/Giese, S. 4; weitere
Definition bei Lampert, a.a.O., S. 130.
18) Holböck, Handbuch Bd. 1, S. 28.
19) Eichmann/Mörsdorf, Lehrbuch des KR, S.
29.
20) Vgl. Hauck, Sohm und Tolstoi, a.a.O., S.
23.
21) Acta Apostolicae Sedis 35 — 1943 — 193 —
248.
22) Barion, Begrenzung des KR, S. 20; von hier
aus kann es zu journalistisch und demagogisch
überspitzten Formulierungen kommen. So schreibt etwa
Lippert: „Wer im Geiste dieser Kirche lebt, dem ist Gott
. . . beinahe zu einem juristischen Besitz geworden. Die
äußere Formel für diesen zu einer Rechtsnorm gewordenen
Gott ist das kirchliche Gesetzbuch.” Lippert, Die Kirche
Christi, S. 183.
23) Holböck, Handbuch Bd. 1, S. 28.
24) Hauck legt dar, daß durch die „bis zur
Subtilität gesteigerte kirchenrechtliche Rubrizierung” .
. . „sich dogmatische Intoleranz ohne Schwierigkeiten mit
kirchenrechtlicher Toleranz verbinden läßt”. A.a.O., S.
35/36.