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A. Das Recht

 

1. Das Recht in der Definition

Der Komplex „Recht” tritt, in möglichst weit gefaßter Begriffsbestimmung, vor uns als eine Summe von Regeln, die mit bindender Kraft das Zusammenleben in einer menschlichen Gemeinschaft ordnen.

Gleich, wie wir uns im einzelnen um die Definition des Rechts bemühen, sei es eine Ordnung menschlichen Verhaltens und menschlicher Beziehungen, sei es

„Inbegriff von Normen, die innerhalb eines bestimmten Kreises von Menschen deren Zusammenleben ordnen”,1)

sei es

„die Gesamtheit der von der zuständigen Autorität erlassenen Normen, durch welche die äußeren Handlungen der einzelnen Menschen untereinander und zur Gesellschaft geregelt werden”,2)

sei es

„eine Ordnung geschützter Freiheit”3) —,

immer stellt sich das Recht im Ergebnis irgendwie als Vorschrift, Regel, Satzung oder Ordnung dar. Der exakte und juristisch profilierte Begriff für diese Aussagen, die als Termini technici formell-rechtlich beträchtliche Unterschiede aufweisen, ist der Begriff der „Norm”4).

Recht ist Norm.

 

2. Die Norm

Bei einem Abtasten des Wesens des Normativen stoßen wir ehestens auf die Verbindlichkeit. Das Recht gilt für und gegen jedermann. Das Recht ergreift den besten Freund in derselben Weise — ohne Einschränkung, ohne Abstriche — wie den ärgsten Feind. In der Norm drückt sich ein Verhalten-Sollen aus5). Etwas soll sein. Es soll sein, wie es „Satz” ist6). „Norm” beinhaltet, philosophisch gesehen, ein „So-Sollen”.

Hier ergibt sich ein Unterscheidungsmerkmal: den Rechtsnormen als Sollens-„Sätzen”7) stehen in den ethischen Normen Seins-„Sätze” gegenüber. Ein anderes Unterscheidungsmerkmal ist darin zu erblicken, daß in der Verbindlichkeit der Normen des Rechts die Tendenz der Erzwingbarkeit steckt, gar bis zum Zwang hin, während Moralnormen und theologischen Normen ein Zwangs-Charakter in ihrer Durchsetzbarkeit nicht zu eigen ist.


1) Friedberg, Katholisches und ev. Kirchenrecht, S. 2.
2) Holböck, Handbuch 1. Bd., S. 25.
3) v.d. Heydte, Freiheit und Ordnung im Recht, NA 1953, S. 481.
4) Man kann zwischen Moralnormen, Konventionsnormen und Rechtsnormen (letztere also Normen im engeren Sinne) unterscheiden. Vgl. Usteri, Theorie des Bundesstaates, S. 66-67.
5) Vgl. Laun, Der Satz vom Grunde; Müller-Freienfels, a.a.O., S. 42: „Ein ,Sollen’, das sich dem Sein überordnet.” — Vgl. Achermann, Das Verhältnis von Sein und Sollen, S. 27-32.
6) Usteri, a.a.O., S. 51, führt aus: „Normen sind Sätze, das ist wohl eine ganz unbestrittene Behauptung.” Den folgenden Satz aber kann man nur mit Bedenken hinnehmen: „Sätze aber sind — neutral ausgedrückt — Deutungen, d.h. Verknüpfungen von Gedanken.”
7) Vgl. Engisch, Einführung in das Jur. Denken, S. 20-22.

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Hingegen ist es von untergeordneter Bedeutung, in welcher Form die Rechtsnormen in Erscheinung treten, sei es als gesetztes Recht, sei es als Gewohnheitsrecht. Auch (und gerade) das Gewohnheitsrecht ist „Satz”, ohne „gesetzt” zu sein — ist „Norm”.

Klarheit muß indes darüber bestehen, daß es einen Unterschied macht, ob ich nach der Eigenart der Norm frage oder danach, worauf sich das „So-Sollen” gründe!

Genau genommen, scheiden sich die Geister nicht so sehr an der ersten Frage wie an der zweiten. In demselben Maße, wie es unbestritten ist, daß das Recht „Norm” sei, ist umstritten, daß es „nur” Norm sei. Hier stehen sich der Positivismus und die Naturrechtsauffassungen gegenüber.

 

3. Der Positivismus

Für den Positivisten gibt es — den Gedanken vertritt schon der griechische Philosoph Karneades (um 214-129 v. Chr.)8) — Recht nur auf Grund positiver Satzung. Es versteht sich, daß in dieser Sicht alles ankommt und alles zutreibt auf den, der „satzt”. Der Positivismus hat in unserer Zeit seine schärfste Durchbildung in der „Reinen Rechtslehre” Kelsens9) erfahren, bestechend in ihrer Logik und von seltener Klarheit.

Mit der Klarheit geht die Möglichkeit einher, daß der Staat zu einem blutlosen Schemen erstarrt. Er wird zum Normensystem10). Die Norm ist der „Fundamentalbegriff aller Rechtserkenntnis”11). Recht „ist” und gilt, weil der Staat es setzt, anders formuliert, weil es aus dem Normensystem „heraus”-gesetzt wird. Grund des Rechts ist die Urnorm. Die Gerechtigkeit wertet die „Reine Rechtslehre” als einen absoluten Wert, der für sie „jenseits rationalwissenschaftlicher Erkenntnis” liegt12). Das Recht ist mithin hypothetisch in sich selbst — in der „Norm” — verankert, weshalb es nicht abwegig erscheint, die „Reine Rechtslehre” als die Theorie der hypothetischen Norm13) zu verstehen.

Da der Positivist nur „gesetzte” Vorschriften als Recht gelten läßt14), ist für ihn das Recht nicht mehr als eine Masse von Rechtssätzen, für die der Staat letztlich das Rechtserzeugungsmonopol besitzt15). Der Staat als das Normensystem erscheint als „eine Personifikation der Rechtsordnung”. Das Normensystem „Staat” ist eine Zwangsordnung16). An dieser Stelle


8) Dazu: Lang-Hinrichsen, Zur ewigen Wiederkehr des Rechtspositivismus, S. 5; Verdross, Was ist Recht?, S. 590.
9) Stadtmüller nennt ihn den „doctor eximius der Positivisten”. NA 1953, S. 641.
10) Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 13 ff; vgl. Usteri a.a.O., S. 66 und 343.
11) Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre?, S. 144.
12) Kelsen, a.a O., S. 153.
13) Delbez, Manuel de Droit International Public, p. 16: „théorie de la norme hypothétique de Kelsen.”
14) Vgl. Küchenhoff, Naturrecht und Christentum, S. 17.
15) Vgl. Süsterhenn, Revision der Nationalstaatsidee, Rhein. Merkur, 3. 7. 1953, S. 3, Sp. 2; Kelsen, Principles of International Law, „The Force Monopoly of the Community”, p. 13-15 — Die Katholische Kirche verwirft den Gedanken, daß der Staat alleinige Quelle des Rechts sei! Pius IX. Syllabus, vom 8. 12. 1864. These 39.
16) Kelsen, a.a.O., S. 155-156.

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bietet sich der Ansatzpunkt für eine — besonders in der Vergröberung feiner Unterschiede — schier uferlose Relativierung.

Einmal kann es zur Glorifizierung des seiner sittlichen Grundlagen entkleideten Staates kommen. Sowohl eine Strapazierung des Gedankens der „volonté générale” führt dahin — etwa nach der Melodie: Der Wille der Mehrheit verkörpert den Willen der Gesamtheit und ist deshalb gut — als auch eine Uberbetonung der Rasse, des Volkes, der Gemeinschaft, kurz: des Kollektivs.

„Der Staat ist als der ethische Wille der Allgemeinheit der Schöpfer des Rechts.”17)

Zum andern ist es von der Zwangsordnung „Staat” als Rechtssetzer ein kurzer Schritt zur Gleichsetzung von Recht und Zwang, Recht und Gewalt, Recht und Willkür.

Allerdings, nicht Kelsen identifiziert Recht mit Macht und Willkür. Wie sein jüngster Beitrag zur „Reinen Rechtslehre” zeigt, verficht er die — man möchte sagen, „chemisch reine” — formale Betrachtung des Rechts gerade deshalb, um über eine strenge Unterscheidung zwischen Politik und Rechts „Wissenschaft” zu einer Eindämmung der Macht zu gelangen18).

Die Relativierung sittlicher Grundwerte ist eben in der Konzeption des Positivismus angelegt. Selbst Kelsen kann nicht anders, als feststellen, daß die rechtliche Verbindlichkeit nicht leide, wenn der Rechtssatz im Widerspruch zum Sittengesetz stehe19). Zu Ende gedacht, führt der Weg zur moralischen Dispension des Staates und des einzelnen. Dann aber ist das Recht ein Erzeugnis physischer Gewalt und nichts anderes20).

Eine gewisse Oberflächlichkeit eingerechnet, die hinwiederum nicht den Kern des Positivismus antastet, darf man sagen, daß der Positivist im Ergebnis zu dem profanen Satz findet: „Recht ist das, was im Gesetzblatt steht.”

 

4. Das Naturrecht

Während der Positivismus die Verbindlichkeit des Rechtes auf die Kompetenzhoheit des Staates zurückführt, vereint alle Naturrechtsauffassungen die Einsicht, „daß das Gesetz höherer Garantien bedarf, als eben nur ,korrekt gesetzt’ zu sein”21). Die verschiedenen Naturrechtslehren begründen die Verbindlichkeit aus der Verknüpfung des Rechts mit einem in der Natur „Vorgegebenen”22), welches gegebenenfalls ein „Allem-Übergeordnetes”23) sein kann.


17) Zitiert nach Ellul, Theologische Begründung des Rechts, S. 91, Anm. 43.
18) Vgl. dazu Kelsen, a.a.O., S. 158-162; Principles of International Law, p. 6, 7.
19) Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 63, dazu S. 62-66. — Neuerdings findet sich bei Kelsen die (einschränkende?) Bemerkung: „. . . as law is not an end in itself but a means or, what amounts to the same, a specific social technique for the achievement of ends determined by politics” (Kelsen, The Law of the United Nations, Preface XIII).
20) Laun, HLKO Einl. S. 25.
21) Ipsen, Gleichheit, S. 116.
22) Dazu Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 136-146; Kritik bei Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre, S. 145, 146, 154,55.
23) Dazu Berggrav, a.a.O., S. 294.

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Den Ansatzpunkt, das Recht aus seiner Bezogenheit auf ein „Höheres” zu verstehen, finden wir schon bei Heraklit (um 500 v. Chr.):

„Nähren sich doch alle menschlichen Gesetze von dem Einen, dem Göttlichen.”24)

Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Naturrechtslehren ergeben sich daraus, wie sie das „Eine” verstehen, was sie für „Eines” halten.

Die christliche Naturrechtslehre führt in der Entwicklung von der Patristik zu einem Höhepunkt in der Scholastik25). Bei Thomas von Aquin (1225-1274) finden wir den Dreiklang ius divinum-ius naturale-ius humanuni26). Das, was den Menschen unabdingbar ex ipsa natura rei „zusteht”, wird bei ihm „ius naturale” genannt27). Das Recht (mit modernem Ausdruck) „existiert” in seiner Bezogenheit auf das ius naturale als ein Teil der göttlichen Schöpfungsordnung. Bei aller Verfeinerung der Naturrechtslehre, wie sie die katholische Moraltheologie heute lehrt28), hat sich an ihrer Grundlegung nichts geändert, die maßgeblich bestimmt bleibt durch den bei Thomas so bedeutsamen „Ordo”-Gedanken29). Einen weiteren Faktor zur Bestimmung — besser, Einordnung — des Rechts gemäß katholischer Naturrechtslehre bietet die Stellung der „Gerechtigkeit” als einer der vier Kardinaltugenden in der von Thomas formulierten Rangfolge30).

Nicht angebracht erscheint es, die protestantischen Naturrechtsansätze31) in die Nähe der katholischen Naturrechtsauffassung zu rücken. Systematisch gehört das protestantische Naturrecht — nicht allein entwicklungsmäßig! — zum Kreis der rationalistischen Naturrechtstheorien32), mag es dort auch ohne Zweifel eine Sonderstellung einnehmen33).

Die evangelischen Bemühungen um die Begründung eines Naturrechts, so lebhaft34) sie nach 1945 auch aufgenommen wurden, verlieren sich irgendwie in einer Kreisbewegung35). Ein Naturrecht, „in sich” christologisch gerechtfertigt, bleibt mit rationalistischen Zügen behaftet, unverkennbar etwa in der jüngst von Ellul aufgestellten Theorie36). Welcher Art


24) Zu den sehr verschiedenen Deutungen dieses Ausspruches vgl. Lang-Hinrichsen, a.a.O., S. 1, Anm. 3 — zum Gedanken der gemeinsamen Quelle von Religion und Recht: Berggrav, a.a.O., S. 290 ff.
25) Dazu Lang-Hinrichsen a.a.O., S. 9.
26) Eine Beschäftigung mit den Gedanken des Thomas erfordert, präzise zwischen dem integralen Thomismus des Heiligen Thomas selbst und der später realistisch wesentlich modifizierten Thomistik der Spätscholastik, etwa eines Molina oder Suarez, abzuwägen!
27) Pieper, Über die Gerechtigkeit, S. 21.
28) Vgl. Küchenhoff, Naturrecht und Christentum: die Zusammenfassung bei Holböck, Handbuch Bd. 1, S. 26, 27; Messner, Das Naturrecht, S. 155-164, 193-195, insb. 203-214. — Zur geschichtlichen Entwicklung der Rechtsidee: Stadtmüller, Das Naturrecht, S. 34 ff.
29) Vgl. dazu die Ausführungen Stählins, Das Begriffsfeld der Ordnung, NA 1953, S. 601-608.
30) Dazu: Pieper a.a.O., S. 115-125, Der Rang der Gerechtigkeit, „Die Zeit” 15. 10. 1953, S. 5, Sp. 1 und 2: Messner a.a.O., S. 215-221.
31) Vgl. Scheuner, Zum Problem des Naturrechts nach evangelischer Auffassung, S. 30-34.
32) Spürbar in dem Bemühen Brunners, aus der Idee christlicher Gerechtigkeit eine „gerechte Ordnung” der Wirtschaft, einen gerechten Einsatz der Staatsgewalt abzuleiten. Emil Brunner, Gerechtigkeit, S. 219 ff, 260-64.
33) Scheuner, a.a.O., S. 30-37 und 43, 44.
34) Dazu Erik Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, 1955: Bericht und Dokumentation Ernst Wolfs zum Göttinger Rechtsgespräch 1949, in „Recht und Institution”, herausgeg. von Dombois, 1956, 9-33: Redeker, Ev. Naturrecht? Christ und Welt 1956, Nr. 21, S. 6/7.
35) Vgl. Ernst Wolf a.a.O., S. 15.
36) Ellul, Le fondement théologique du Droit, Übersetzg. von O. Weber: Die theolog. Begründung des Rechts: vgl. Scheuner, a.a.O., S. 42, Raiser, Buchbesprechung zu Ellul, ZEK I S. 185.

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die Bezüglichkeit zwischen Recht und Naturrecht sei, bleibt unklar, wenn Ellul ausführt:

„Das Naturrecht ist das Recht, welches dem Menschen die eigentliche Frage nach dem Recht stellt . . . . . Für uns ist es ein Beweis, daß zwischen der Gerechtigkeit Gottes, dem göttlichen Recht . . . und dem Recht der menschlichen Gesellschaft eine bestimmte Relation besteht”37;

unklar auch und gerade dort, wo Ellul einmal das Recht zum Bund Gottes mit den Menschen als „Zwischengröße”38) und zum andern zur Gerechtigkeit Gottes im Letzten Gericht in Beziehung setzt39).

Was hier in bezug auf jüngste Erscheinungen protestantischen Naturrechts Vermerkt wird, gilt in viel stärkerem Maße von den verschiedenen rationalistischen Naturrechtssystemen. Das „Es”, auf welches sie das Recht beziehen und von dem sie seine Verbindlichkeit herleiten möchten, bleibt weithin verschwommen, entzieht sich näherer Bestimmung, entflieht gar in dem Maße, wie man es zu fixieren sucht, ins Nebelhafte. Die „Idee” der Gerechtigkeit spielt hier eine große Rolle. Ebenso mühen sich die Theorien, das „von Natur gegebene Recht” an das „Gute” zu klammern, in das „Gewissen” zu legen40) oder auf die „Vernunft” zurückzuführen. Aber es findet sich auf dem hier beschrittenen Wege „für die Wissenschaft vom Recht kein Anknüpfungspunkt von absoluter Gewißheit”41).

Man sollte sich darüber im klaren sein, daß alle Naturrechtstheorien so lange fiktiver überbau bleiben, wie sie nicht sagen können (nicht sagen wollen?)42), „woraus" die Verpflichtung des Menschen durch das Recht erwächst43). Keine Naturrechtslehre kann der nagenden Überlegung ausweichen: „Warum soll ich mich ,so’ (entsprechend der „Norm”) verhalten?”

In der Frage nach dem „Weshalb sollen?” erreicht die Suche nach den letzten Gründen des Rechts jene haarfeine Grenze, die die Jurisprudenz von der Theologie scheidet44). Eben weil die Grenze so haarfein sich hinzieht, sind Kompetenzüberschreitungen so leicht. Auf die Frage: „Weshalb soll ich ,sollen’?”, verstanden als eine Verpflichtung des Gewissens, verstanden als ein Gebunden-Sein-Sollen an ein „Höheres” ( = Gott), gibt die Rechtswissenschaft keine Antwort. Die Antwort gehört in die Zuständigkeit der Theologie.


37) Ellul a.a.O., S. 54 (Unterstreichung vom Verf.).
38) Ellul a.a.O., S. 70.
39) Ellul a.a.O., S. 72-74; dazu: Raiser ZEK 1. Bd. S. 184-186; scharfe Kritik bei Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 183 ff.
40) Vgl. Simons, Religion und Recht, S. 82.
41) Vgl. Klaus Ritter, Zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus, S. 79.
42) Insoweit ist den Grundgedanken Welzels in „Naturrecht und materiale Gerechtigkeit” beizupflichten.
43) Vgl. Verdross, Was ist Recht? in: Wort und Wahrheit 1953, Heft 8, S. 592: „Leugnet man die Metaphysik, dann bricht die ganze Naturrechtslehre in sich zusammen.”
44) Stammler, Recht und Kirche, S. 28.

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5. Zum Verhältnis Positivismus-Naturrecht

Die Entwicklung des Rechts durch die Zeiten begleiten naturrechtliche und positivistische Aspekte. Hinter ihnen steht das Gegenüber von Natur und Satzung, welches man, wenn auch mit Vorbehalt, als „Antithese” von Physis und Nomos45) umschreiben kann. Naturrecht und Positivismus wurzeln in der Eigenart des Menschen, in dem das Verlangen nach Gerechtigkeit und Rechtssicherheit lebendig sind46).

Demgemäß läßt sich von einer Zyklenbewegung zwischen Naturrecht und Positivismus sprechen; Perioden des Umbruchs, des Schwankens und raumgreifender Umwälzungen führen zu einem Aufschwung des Naturrechts47), während, sobald sich die äußeren Lebensumstände normalisieren und beruhigen — und sei es nur „als ob” — der Mensch sich auch gern mit der „bloßen” Norm „beruhigt”48).

Nach der Katastrophe zweier Weltkriege scheint es verständlich, wenn für die gegenwärtige Beurteilung des Rechts „die gründliche Zerstörung des Glaubens an die Positivität des Rechtes”49) hervorgehoben wird. Soweit sie den „Glauben” betrifft, ist die Meinung zu teilen, wenngleich sich nicht verbergen läßt, daß nach den verschiedenen Naturrechtsansätzen seit 1945 inzwischen eine leicht rückläufige Bewegung eingesetzt hat50). Die These von der „Ewigen Wiederkehr des Rechtspositivismus”51) erfährt insoweit eine Bestätigung.

 

6. Die gegenwärtige Auffassung

Immerhin neigt, von extremen Richtungen abgesehen, die überwiegende Meinung gegenwärtig dazu, das Recht nicht nur als „Norm” zu verstehen52), überblickt man die jüngsten Ergebnisse der Rechtsphilosophie, dann ist zu sagen, daß das Recht irgendwie als eine wertbezogene Ordnung verstanden werde. Coing sieht das Recht, da die Rechtsordnung den Frieden bringt, als Friedensordnung an53). Nach Radbruch kann man

„Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren, denn als eine Ordnung und Setzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen”54).


45) Lang-Hinrichsen, a.a.O., S. 2.
46) Vgl. Lang-Hinrichten a.a.O., S. 69. Jedoch dürfen beide nicht als Antithese gewertet werden, denn letzthin ist auch die Rechtssicherheit Element der Gerechtigkeit!
47) Dazu Rommen, Von der ewigen Wiederkehr des Naturrechts.
48) „Da aber der Wunsch nach satter Ruhe gewöhnlich stärker ist, als die Bereitschaft zum erregenden Kampf um die Gerechtigkeit, schwebt er stets in Gefahr, die bohrende Frage des Naturrechts zu verdrängen.” Lang-Hinrichsen, a.a.O., S. 69.
49) Bruns, Buchbesprechung zu Brecher, Das Unternehmen als Rechtsgegenstand, Annales Universitatis Saraviensis, 1954, S. 214.
50) Vgl. Scheuner, Recht und Gerechtigkeit in der deutschen Rechtslehre der Gegenwart, S. 35/36; Engisch, a.a.O., S. 188-90.
51) Dies die Überschrift der vorhin zitierten Abhandlung von Lang-Hinrichsen, Mezger Festschrift, S. 1-69.
52) „Die Reine Rechtslehre als rationale Wissenschaft vom Recht lehnt die Naturrechtslehre als eine in letzter Linie irrationale, der Logik sich nicht unterwerfende Metaphysik des Rechts ab.” Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre, S. 146.
53) Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 19.
54) Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 353.

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Gemäß diesen und ähnlichen Ansichten ist es unhaltbar, das Recht seinem Wesen nach vom Staate abzuleiten. Diese Einsicht hat auch in die Rechtsprechung Eingang gefunden. Nach Auffassung des Bundesgerichtshofes ist

„die Freiheit eines Staates, für seinen Bereich darüber zu bestimmen, was Recht und Unrecht ist, nicht unbeschränkt. Es besteht vielmehr bei allen Unterschieden, die die nationalen Rechtsordnungen im einzelnen aufweisen, im Bewußtsein aller zivilisierten Völker ein gewisser Kernbereich des Rechts, der nach allgemeiner Rechtsüberzeugung von keinem Gesetz und keiner sonstigen obrigkeitlichen Maß-nahme verletzt werden darf. Er umfaßt bestimmte als unantastbar angesehene Grundsätze des menschlichen Verhaltens, die sich bei allen Kulturvölkern auf dem Boden übereinstimmender sittlicher Anschauungen im Laufe der Zeit herausgearbeitet haben und die als rechtlich verbindlich gelten”55).

Aus den heutigen Auffassungen, so verschieden sie im einzelnen sein mögen, bestimmt sich das Recht als wertbezogene Norm. Mit anderen Worten: Das Recht besteht aus Normen und ihrer Bezüglichkeit auf ein „Es”. Zugegeben, die Umschreibung dieses „Es” als „Vernunft”, als „Kernbereich des Rechts” oder gar als „ethisches Minimum”56) befriedigt nicht. Allenfalls ließe sich das „Es” als Grundwert, besser als Konglomerat „tragender Grundwerte” verstehen57). Aber für eine allgemein gültige Definition können wir nur die Bezogenheit feststellen, nicht das „Es” als ein Höheres ausschöpfen, ohne von vornherein auf (in diesem Rahmen) unüberwindbare Schwierigkeiten zu stoßen.

Vielleicht kommen wir dem Rest des Nicht-Bestimmbaren im Recht am nächsten, wenn wir uns bemühen, Calvins Schau zu verstehen, der in Ergründung des Rechts58), mit Hinweis auf die Zerstörung der imago Dei im Menschen, zu dem Schluß gelangt: „Manet adhuc aliquid residuum”59).

 

7. Begriffsbestimmung

Nun kann die nähere Bestimmung des „Es” dahingestellt bleiben. Was auch das „Es” dem einzelnen an Höherem enthüllt — das Gute, die Gerechtigkeit, das Gewissen, Gott — der Begriff des Rechtes als einer darauf bezogenen Norm erlaubt zwei für die weitere Untersuchung entscheidende Folgerungen.


55) BGHSt 3, 362; vgl. auch BGHSt 2, 237 u 238; ähnl. Leitsatzfeststellung des Bundesverfassungsgerichts, BVGE Bd. 1, S. 14 (Leitsatz 27). Bedenken dagegen bei Ipsen, Gleichheit, S. 128 und Anm. 53.
56) Ernst Sauer, Völkerrecht — Ende oder Wende? NA 1953, Heft 9, S. 533.
57) Dazu Verdross, Was ist Recht?, S. 593, 594; vgl. Scheuner, a.a.O., S. 39; „Das Recht wird vielmehr heute als eine Erscheinung zu verstehen sein, das nicht allein der Macht seine Geltung verdankt, sondern vielmehr seinen Bestand aus den beiden Momenten der faktischen Annahme durch die Menschen seines Geltungsbereiches und der inhaltlichen Beziehung zu den Forderungen der Gerechtigkeit gewinnt.”
58) Vgl. Corp. ref. Calvini op. 22, 42/43 und 23/146.
59) Corp. ref. Calvini op. 23/147.

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Einmal gestattet die „Es”-Bezogenheit der Norm eine exakte negative Abgrenzung. Recht ist weder Macht noch Gewalt60), noch Zwang61), noch Willkür62). Selbst wenn dem Recht die Tendenz der Durchsetzbarkeit anhaftet, wird darum der Zwang nicht zu seinem Wesensmerkmal63). Deutlich zeigt sich dies am Beispiel des uns so fern stehenden „Convention Law”64), bei dem niemand bezweifeln wird, daß es sich um „ius” handele, von dem aber kaum jemand ernstlich als einer „Zwangs”-Ordnung reden würde.

Zum andern ergibt sich positiv, daß Normcharakter und Wertbezogenheit dem Rechtsbegriff essentiell sind. Wo die „Norm” zu einem akzidentiellen Element umgebogen wird, handelt es sich genau so wenig um „Recht” wie dort, wo man jegliche Wertbezogenheit negiert und nur die „positive” Norm gelten läßt.


60) „Der Begriff des Rechtes an und für sich hat nichts mit äußerer Gewalt zu tun”, so — trotz Positivismus — Stammler a.a.O., S. 107.
61) „Das Gefühl des Zwanges . . . ist beim Sollen zufällig, akzidentiell” (Achermann, Das Verhältnis von Sein und Sollen, S. 31).
62) „Bloße Willkür ist als ,Recht’ unverbindlich, auch wo sie die äußere Form des Gesetzes annimmt.” Mezger, Strafrecht, Allg. Teil (Studienbuch), S. 73.
63) Stammler a.a.O., S. 70. — So auch die französische Ansicht. „Une conception du droit tout à fait contestable, faisant à tort de l’existance des sanctions appliquées par un juge un element essentiel de tout système juridique.” Delbez, Manuel de Droit International Public, p. 17.
64) Eine adäquate Übersetzung ins Deutsche erweist sich terminologisch sehr schwierig.