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Schlußbetrachtung

 

Es ist nicht die Aufgabe dieser Arbeit, den im Vorgehenden kritisch untersuchten Naturrechtsvorschlägen eine eigene Lösung gegenüberzustellen. Abgesehen davon, daß mit der im einzelnen schon vorgebrachten Kritik zum Ausdruck gebracht werden sollte, daß es eine streng allgemeingültige und definitive Antwort auf die Frage nach den Inhalten der Gerechtigkeit nicht gibt, würde ein solches Unternehmen den Rahmen der hier versuchten, durchaus im Vorfeld der spezifisch juristischen Aufgabe liegenden Analyse überschreiten. Abschließend sollen vielmehr nur die gegen das christliche und profane Naturrechtsdenken der Gegenwart vorgetragenen Einwendungen zusammengefaßt und ihr gemeinsamer erkenntnistheoretischer Grund noch einmal zur Anschauung gebracht werden.

Das allen Naturrechtsbestrebungen gemeinsame Anliegen, dem Recht einen streng allgemeingültigen Inhalt zu geben, ist unerfüllbar. Ganz abgesehen von aller Problematik, die sich aus dem schon mehrfach aufgewiesenen Widerspruch von geschichtlicher Kontingenz und jeder abstrakten, übergeschichtlichen Norm ergibt, ist bereits das dem Naturrechtsgedanken zugrundeliegende Erkenntnisideal nicht realisierbar.

Wir wissen seit Kant, daß jede Erfahrung ihren Urteilen niemals wahre oder strenge, sondern nur komparative Allgemeinheit verleiht, daß die Immanenz des Bewußtseins unüberschreitbar ist und somit unsere Vernunft streng objektiver Erkenntnis nicht fähig ist. Darüber hinaus sagt uns insbesondere die moderne theoretische Physik, daß die Voraussetzung eines ansichtseienden oder streng objektiv vorhandenen Gegenstandes der Erkenntnis nurmehr als eine methodisch bedeutsame Hypothese gelten kann. Damit wird dieser Grundüberzeugung des Realismus jede metaphysische Dignität genommen und ihr eine lediglich begrenzte, relative Berechtigung zugewiesen. Jeder Naturrechtsversuch, der mit dem Begriff der „Natur der Sache” operiert, dürfte von hier aus seine Widerlegung finden1.

Der zuerst von Kant unternommene Versuch, die empirische Erkenntnis selbst zum Gegenstand der Untersuchung zu machen und aus ihr die Bedingungen herauszuanalysieren, unter denen Erfahrung überhaupt möglich ist, um so wenigstens im erkennenden Bewußtsein selbst „feste Punkte” mit strenger Allgemeingültigkeit zu gewinnen, führt gleichfalls nicht zum angestrebten Ziel. Es wurde oben ausgeführt, daß das Apriori — insbesondere das praktische Apriori — nur für die jeweils untersuchte Art von Erfahrungen a priori gilt und somit nur faktische, nicht aber strenge oder logische

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Allgemeinheit besitzt, und ferner, daß apriorische Erkenntnis in aposteriorische übergeht und umgekehrt, so daß die eine oder andere Art von Erkenntnis nicht schlechthin, sondern nur in concreto als solche bestimmt werden kann2. Diese Feststellungen stehen allen Versuchen im Wege, die ein Naturrecht auf einer „aprioristischen Wertlehre” aufbauen wollen. Daß auch das menschliche Dasein selbst auf Grund der Bestimmung des Menschen zur Autonomie nicht als ein letzter apriorischer und zugleich absoluter Wert gelten kann, wurde oben ausführlich dargelegt.

Nicht anders als für jeden anderen Zweig der Wissenschaft gibt es auch für die Wissenschaft vom Recht keinen Anknüpfungspunkt von absoluter Gewißheit. Diese Begrenzung menschlicher Erkenntnis soll hier noch einmal verdeutlicht werden durch einen Hinweis auf die Möglichkeit des Zweifels.

Dieser Hinweis sowie die sich hieran anknüpfende Bestimmung des Glaubens als die existentielle Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis machen sich weitgehend von C.F. v. Weizsäcker ausgesprochene Gedanken zu eigen3. Für den Menschen gibt es kein zwingendes Argument gegen den Zweifel. Jede Erkenntnis bleibt ihm grundsätzlich offen. Die Unmöglichkeit absoluter Gewißheit wird etwa mit dem Satz „wer irrt, weiß nicht, daß er irrt” eingesehen. Alle Erkenntnisse — apriorische wie aposteriorische — haben also nur hypothetische Gewißheit, sie beruhen auf bestimmten, nicht weiter angezweifelten, aber anzweifelbaren Voraussetzungen. Die Möglichkeit des Zweifels ist eingeschlossen in die Geltung der Sätze: „wer irrt, weiß nicht, daß er irrt” und „wer lebt, zweifelt nicht an allem”4. Während der erste Satz — wie schon gesagt wurde — die Unmöglichkeit absoluter Gewißheit anzeigt, indem er die Möglichkeit des absoluten Zweifels eröffnet, sagt der zweite Satz aus, daß der absolute Zweifel nicht realisierbar ist. Selbst der Verzweifelte greift, indem er lebt, noch auf bestimmte, von ihm als gegeben anerkannte Sachverhalte zurück — sei es, daß diese Sachverhalte gerade das Motiv seines Zweifels ausmachen, sei es, daß sie ihm im Bereich seiner physischen Existenz unreflektiert zur Verfügung stehen.

Es gibt also weder absolute Gewißheit noch absoluten Zweifel. Das Anliegen der Naturrechtslehre und darüber hinaus einer bestimmten Auffassung von Wissenschaft, die bestimmte Erkenntnisse gegen jeden möglichen Zweifel gesichert sehen möchte, ist ebenso unerfüllbar, wie der Relativismus in seiner vollen Konsequenz — nämlich in der dogmatischen Form des Nihilismus — irreal ist. Denn der absolute Zweifel ist zwar eine prinzipielle Möglichkeit des Intellekts, gegen die man nicht argumentieren kann (insofern hat das „οἶδα ὅτι οὐκ οἶδα” den Sinn einer systematischen, nicht etwa den einer quantitativen oder nur persönlichen Aussage), er ist indessen nicht streng durchführbar. Mit dieser systematischen Feststellung wird die Berechtigung des Nihilismus erwiesen, soweit er nicht von dem Wissen um die Unmöglichkeit gesicherter Erkenntnis

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und somit um die Nichtigkeit der Vernunft als Eigenmacht des Menschen zu einer prinzipiellen Leugnung des Allgemeinen oder Wahren und damit in seine utopische Form übergegangen ist.

Unsere Erkenntnis hat demnach — mit dem Ausdruck C.F. v. Weizsäckers — einen „schwebenden Charakter”. Die Haltung aber, die wir auf Grund der Unmöglichkeit absoluter Gewißheit einerseits und der Unvollziehbarkeit des absoluten Zweifels andererseits den Inhalten unseres Wissens gegenüber tatsächlich einnehmen, ist sachlich eben das, was hier mit Glauben bezeichnet werden soll. Denn unter Glauben im unverkürzten Sinne dieses Wortes ist nicht ein intellektueller Akt, das Fürwahrhalten von etwas, was man nicht weiß oder nicht wissen kann, zu verstehen (wobei dann „Glauben” und Wissen als Gegensätze erschienen), sondern eine bestimmte Verhaltensweise in bezug auf die unserem Bewußtsein gegebenen Sachverhalte5. Das Fürwahrhalten ist immer nur die Verabsolutierung eines gegenständlichen Aspekts, die Behauptung eines „ansich” so und nicht anders Seienden. Es ist gleichsam die der Reflektion zugängliche intellektuelle Spitze des Glaubens; anders ausgedrückt: wir können von dem Inhalt unseres Glaubens nur in der Weise reden, daß wir sagen, er sei unbedingt wahr. Der Glaube selbst aber ist die Haltung des Zutrauens zu schlichter oder reflektierter Evidenz. Mit ihr vollziehen wir unsere Freiheit „zu etwas”.

Glauben kann ausdrücklicher oder unausdrücklicher Art sein, je nachdem wir auf das Geltenlassen des uns in einer Erkenntnis Gegebenen reflektieren oder nicht. Welche Art von Glauben aber auch immer vorliegt: aus der Feststellung, daß es weder absolute Gewißheit noch absoluten Zweifel gibt, folgt der Satz, daß Leben nicht ohne Erkennen und Erkennen nicht ohne Glauben möglich ist — wobei unter Erkennen hier ganz allgemein das Ansprechen und Angesprochenwerden von Sachverhalten verstanden wird. Glauben ist somit eine existenzielle Tatsache und ein konstitutives Element aller Erkenntnis.

 

Dieser Umstand ist in unserem Zusammenhang wichtig: denn wenn oben gegen die Naturrechtslehre vorgebracht wurde, daß es keine absolute Gewißheit gebe, so läßt sich von hier aus — wie oben schon angedeutet wurde — der utopische Charakter des prinzipiellen Relativismus und insbesondere des juristischen Nihilismus nachweisen. Wer lebt, glaubt — es fragt sich nur, was und warum er glaubt. Jedes menschliche Bewußtsein verfügt über einen mehr oder weniger weiten „Hof” von unausdrücklich Geglaubtem; und da in der Sphäre der Unausdrücklichkeit Glauben und Wissen nicht streng unterscheidbar sind, gibt es also für jedes Bewußtsein, sofern es sich auf diesen Bereich zurückzieht, einen Mindestbestand an praktisch hinreichend gesichertem — genauer würden wir sagen an unangezweifeltem — Wissen um falsch und richtig, wahr und

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irrig. Dies gilt hinsichtlich aller Beziehungen des Daseins, der physischen, der psychischen, der sozialen — wie auch hinsichtlich der spezifisch rechtlichen.

Nichts anderes beweist letzten Endes F. v. Hippel, wenn er in seinem Aufsatz über die „Vorbedingungen einer Wiedergesundung heutigen Rechtsdenkens” ausführt6: „Der juristische Nihilismus ist widerlegt, sobald sich auch nur an einer einzigen Stelle nachweisen läßt, daß es bereits auf dem Boden der Jurisprudenz selbst ein wahr und falsch, ein richtig und unrichtig, ein Recht und Unrecht im strengen Sinne gibt. Ein solcher Nachweis aber läßt sich allenthalben führen, und wir brauchen, was wichtig ist, keine metaphysischen Rechtshöhen dabei zu erklimmen, sondern können anknüpfen an die täglichen Gegebenheiten und ihre instinktive Beurteilung aus dem unverdorbenen Rechtsgefühl schon des juristischen Laien, ja, des Kindes.”

Gewiß — es gibt für jeden Menschen einen Bereich, gleichsam eine mittlere Zone, in dem er schlicht Gegebenes unausdrücklich gelten läßt (d.h. glaubt oder — wie er meint — weiß) und auf den er sich im Regelfalle zurückziehen kann. Hier findet er ein Allgemeines, auf Grund dessen verbindliche Urteile möglich sind. Aber wenn auch die Erkenntnisse dieses Bereichs faktisch Allgemeingültigkeit besitzen, so gelten sie eben doch nicht im strengen Sinne. Bei dem „Anknüpfen an die täglichen Gegebenheiten und ihre instinktive Beurteilung aus dem unverdorbenen Rechtsgefühl” handelt es sich um ein Zurückgreifen auf Erkenntnisse, deren Legitimation auf einem Glauben im Sinne eines unausdrücklichen Geltenlassens von schlicht Gegebenem beruht. Ihre Evidenz ist die des schlicht Gegebenen und vermittelt keine absolute Gewißheit. „Recht und Unrecht im strengen Sinne” ist hier wie überhaupt nicht zu finden.

Die praktische Notwendigkeit, von dem aufgezeigten Anknüpfungspunkt als einem Bereich unangefochtener Gewißheit auszugehen, um diesen dann schrittweise durch Erfahrung und Reflektion zu erweitern unter gleichzeitiger Angleichung des eigenen Daseins an die jeweils erkannte Wahrheit, soll indessen nicht bestritten werden. Aber es läßt sich von hier aus eben nichts gegen die Ungewißheit beweisen, die sich etwa da einstellt, wo es um den Wert oder Unwert von Handlungen geht, die den Kern oder die Grenzen menschlicher Existenz berühren. Die naive Sicherheit des Instinkts ist — einmal verloren — nicht wiederherstellbar. Ist die Verbindlichkeit schlichter oder auch reflektierter Evidenz einmal angezweifelt, so kann man hinter den betreffenden Zweifel nicht mehr zurück. Relativer, das heißt auf bestimmte Sachverhalte bezogener Zweifel, kann durch anderweitige Erkenntnis mit relativer Gewißheit behoben werden. Wo aber die Möglichkeit wahrer Erkenntnis (in unserem Fälle die Möglichkeit der Erkenntnis wahren Rechts) schlechthin in Zweifel gezogen wird, da ist erst auf einer neuen Stufe der Reflektion haltbietende Erkenntnis zu finden, die für die nunmehr

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zugängliche Art von Erfahrung wiederum mit faktischer Notwendigkeit und Allgemeinheit gelten kann7. Sofern wir also einmal ein Bewußtsein davon erlangt haben, daß wir mit absoluter Gewißheit „nichts wissen können” (und man wird gegen diesen Zustand des Bewußtseins nicht argumentieren oder rechtbehalten können), ist uns der Bereich des unausdrücklichen Geltenlassens oder Glaubens (in dem Wissen und Glauben nicht unterschieden wird) verschlossen. Aber auch das ausdrückliche Geltenlassen von schlicht Gegebenem, mit dem wir von da an den Sachverhalten des täglichen Lebens begegnen, wird weiteres Fragen nicht aufhalten können: Wir sind aufgefordert, das Geltenlassen selbst zum Gegenstand unserer Untersuchung zu machen und nach dem Grund der Möglichkeit des Geltenlassens oder Glaubens zu suchen.

Somit sind folgende, zeitlich wie sachlich sich ablösende Erkenntnisstufen zu erkennen: Nach Widerlegung des metaphysischen Realismus — und damit der Überzeugung, daß ein streng Allgemeines am Gegenstand der Erfahrung aufzuweisen sei, suchte Kant nach dem Allgemeinen als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung, indem er diese zum Gegenstand seiner Untersuchung machte, und fand es im Apriori8. Aus der Einsicht, daß apriorische Erkenntnis zwar die notwendige Bedingung von Erfahrung, nicht aber bestimmte apriorische Erkenntnisse die Voraussetzung jeder möglichen Erfahrung seien, ergab sich im weiteren, daß Glauben die notwendige Bedingung der Möglichkeit von (apriorischer) Erkenntnis sei. Nunmehr gilt es zu fragen, was der Grund der Möglichkeit von Glauben ist. Damit treten wir aber in den inneren Bezirk des Glaubens, d.h. in den Bereich des bewußten Glaubens und der dezidierten theologischen Fragestellung ein. Dies geschieht indessen nicht so, daß die Inhalte der Vernunft als solche von einem Postament bestimmter religiöser Überzeugungen her verworfen werden — gleichsam am Intellekt und seinen Belangen und Möglichkeiten vorbei — sondern im Fortschreiten durch Erfahrung und Reflektion, also mit Hilfe der sich kritisch auf den Grund ihrer Möglichkeit besinnenden und sich zugleich auf diesen Grund einlassenden Vernunft selbst.

 

Im einzelnen kann diesem Gedankengang nicht weiter nachgegangen werden. Die sich hier anschließenden Fragen sollen im folgenden nur angedeutet werden.

Glauben wurde oben als Zutrauen zur Evidenz definiert. Das Wort „Zutrauen” soll in diesem Zusammenhang dreierlei vermitteln: Einmal, daß es sich hier gerade nicht um etwas Beliebiges handelt: ohne sinnvolle Bindung kann Zutrauen nicht gedacht werden. Zum anderen: Glauben als „Zutrauen zur Evidenz” wendet sich gerade nicht an das der Vernunft grundsätzlich Unzugängliche (das Absurde, das Irrationale oder das „Übernatürliche und somit nicht mehr vernunftmäßig zu Erfassende"), vielmehr begründet oder ermöglicht

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er erst deren Wirksamkeit; aber nicht, indem er ihre Inhalte verabsolutiert, sondern indem er an, mit und in ihrem Gegebensein das Allgemeine oder Unbedingte erfährt und als (konkreten) Geltungsgrund in Anspruch nimmt. Und endlich: Zutrauen ist nur da möglich, wo der Mensch schon Anteil an der Wahrheit gewonnen hat — gemeint ist, wo er von dem haltenden Grund unserer Existenz und damit von dem Grund der Möglichkeit des Zutrauens erreicht wird und sich von ihm erreichen läßt. Der Glaubende steht also in der Erfahrung seines Gegenübers auch immer zugleich jenseits jener „Grenze”, bis zu der reine Reflektion zu führen vermag. Eben dort gründet sein Zutrauen. In diesem Sinne ist die theologische Aussage zu verstehen, Erkenntnis sei nur durch Gnade möglich. Das „οἶδα ὅτι οὐκ οἶδα” aber ist die begriffliche wie die tatsächliche Voraussetzung des „sola gratia”.

Eben weil es diesen Bewußtseinszustand zu durchschreiten gilt, der als das Bewußtsein von der Möglichkeit des absoluten Zweifels definiert wurde, gilt es, die Fiktion des autonomen Wissenschaftsbegriffs und dementsprechend auch den Naturrechtsgedanken von der Wurzel her zu destruieren, wenn anders nicht Sach- und Sinnfrage, Vernunft und Offenbarung, Wissenschaft und Religion in ihrer unfruchtbaren Gegensatzstellung verbleiben sollen, wobei dann folgerichtig für jede Seite in Anspruch genommen wird, daß nur von ihr aus etwas über den Grund und die Bestimmung des Seins mit „echter” Verbindlichkeit ausgesagt werden könne.

Die Trennung von „Natur” und „Gnade”, Vernunft und Offenbarung war indessen schon in der alternativ gefaßten Aussage des Thomas von Aquino „gratia non tollit, sed perficit naturam” vollzogen, auch wenn er selbst beide Bereiche — gleichsam an der Spitze des Systems — noch zum Einklang zu bringen vermochte. Denn dieser Aussage lag die Überzeugung zugrunde, daß man zwar in gewissen Grenzen von Vernunfterkenntnis einerseits und von dem Glauben an bestimmte, geschichtlich geoffenbarte Sachverhalte andererseits auch für sich genommen sinnvoll reden könne, daß aber der Zusammenhang beider durch die Identität der Wahrheit als des Gegenstandes aller Erkenntnis gleichwohl gewahrt sei. Das kritische Bewußtsein der nachfolgenden Jahrhunderte hat jedoch nicht nur diesen letzten Zusammenhang auseinandergerissen, sondern zugleich auch die Legitimation der einen wie auch der anderen Erkenntnisart zunehmend angezweifelt.

Wir können hinter den Bewußtseinszustand unserer Zeit nicht zurück. Wir können nur das in ihm Vorgefundene zu Ende denken und aus der Einsicht in die ihm eigenen Aporien vielleicht zu einer neuen, positiven Stufe gelangen. Hierzu wäre notwendig, daß in dem gleichen Maße, in dem es einerseits die Fiktion eigenständiger Vernunfterkenntnis als solche aufzudecken gilt, andererseits auch der Offenbarungsbegriff sowohl aus einer positivistischen, historisierenden Verengung wie auch aus einem rein symbolisch gemeinten

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Verständnis herausgeführt wird. Offenbarung ist weder eine einmal historisch geschehene, übernatürliche Mitteilung bestimmter Sachverhalte mit dem Anspruch, für wahr gehalten zu werden, noch ein rein beispielhaft Gemeintes, dessen geschichtliche Realität nur von sekundärer Bedeutung wäre. Offenbarung ist vielmehr die Verwirklichung des Grundes geschichtlicher Existenz im Erkennen selbst, eben des Grundes, durch den Zutrauen und damit Leben und Erkennen möglich ist.

Das Allgemeine und Unbedingte kann von unserem endlichen Bewußtsein nicht nur als Konkretes begriffen werden, sondern es existiert nur als concretum. Offenbarung aber heißt eben, daß das uns unbedingt Angehende im Konkreten existent und zugleich Gegebenes wird9. Wir erkennen „die Wahrheit”, wo wir sie als solche in ihrem konkreten Gegebensein aufzunehmen und gelten zu lassen vermögen.

Mit anderen Worten: Das endliche Bewußtsein des Menschen begreift die Welt — als den Inbegriff alles Gegebenen — notwendig als ein Objektives, Gegenständliches. Das Endliche, d.i. das Existierende, hat für unser Bewußtsein gleichsam Subjekt-Objekt-Struktur. Daraus folgt, daß wir nur von Endlichem — als dem objektiv Faßbaren — eine Vorstellung haben und daß das Unendliche für uns niemals „Objekt” sein kann. Das Wahre, das Gute, das Gerechte usw. sind nur als concretum Gegebenes. Es sind dies Existenzweisen und damit zugleich Anschauungsmöglichkeiten des Unbedingten oder „Absoluten”. Damit ist aber zugleich gesagt, daß sich das Unendliche im Endlichen „offenbart”. Wo das Zutrauen hierzu fehlt, da ist Erkenntnis überhaupt kein sinnvoll zu verstehender Begriff.

 

Es gibt also keinen Wert, keine inhaltliche Bestimmtheit des Rechts „an sich”, keine objektivierbare absolute Instanz. Wo sie behauptet wird, da wird auch zugleich der Mensch dem angemaßten Absolutheitsanspruch bestimmter Argumente oder Sachverhalte unterworfen und seine Personalität vernichtet. Nur im ständigen Ansprechen und Vernehmen des Unbedingten im Gegebenen — als dem gegenwärtigen Grund seiner Existenz — und in der angespannten Bereitschaft, das Erkannte in immer neuem Entwurf zum bestimmenden Inhalt seines engeren und weiteren Lebensbereichs zu machen, bleibt er im Bezug zur „Wahrheit” und damit selbst Person. Eben nicht in der unausweichlichen Überlegenheit eines Absoluten und Unbezweifelbaren bietet sie sich dar, sondern in dem Kleid endlicher Existenz, damit sie von uns in Freiheit ergriffen werde.

Der Totalitarismus — als geistesgeschichtliche wie als rechtliche Erscheinung — stellt sich demgegenüber dar als der Versuch, die sich im Offenbarungsgeschehen vollziehende, der Vernunft nur als Paradoxie faßbare Integration von Endlichem und Unbedingtem nunmehr vom Menschen her selbstmächtig und endgültig zu erzwingen. In ihm finden die sich antinomisch gegenüberstehenden autonomen

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Bewußtseinshaltungen, die des Voluntarismus und Positivismus einerseits und die des Dogmatismus — im allgemeinsten Sinne des Begriffs — andererseits ihre gemeinsame äußerste Konsequenz. Er ist die äußerste Stufe der Profanität, auf der sich der zu jeder Eigenmacht entschlossene Selbstbestimmungs- oder Selbsterlösungswille des Menschen rein darstellt und auf der der Nihilismus zu einer extremen Form des Dogmatismus umschlägt. Wo uns das Naturrecht als eine sichere Bastion oder sogar als ein Heilmittel gegen den Totalitarismus anempfohlen wird — und es wurde eingangs gesagt, daß die gegenwärtigen Bemühungen um eine Erneuerung des Naturrechts weitgehend in diesem Sinne gemeint sind — da wird schließlich doch nur auf eine Grundüberzeugung zurückgegriffen, die zugleich mit der dem Positivismus zugrunde liegenden im Totalitarismus aufgenommen und von ihm ad absurdum geführt wurde.

Es steht dahin, ob zu seiner Überwindung die sich in jeder wahren Erkenntnis vollziehende Durchdringung von Unbedingtem und Endlichem erfahren und eingesehen wird. Sie läßt sich durch Argumente nicht erzwingen. Aber sie kann durch die Arbeit der Reflektion vorbereitet oder ermöglicht werden. Diese Weise der Ermöglichung hat gewiß keinen Anspruch auf Ausschließlichkeit. Aber sie ist unumgänglich, wenn — durch den im Nihilismus liegenden universellen Zweifel veranlaßt — nach dem Grund der Möglichkeit von Gewißheit als solchem gefragt wird. Sie erscheint andererseits auch unumgänglich in einer Zeit, die im Banne der Zivilisation sich immer wieder von den scheinbaren Beweisen einer angeblich ihres Objekts mächtigen Vernunft überreden läßt, obgleich sich ihr das Abgründige ihres Zustandes schon vielfach enthüllt und obgleich das dieser Lage sachlich wie zeitlich vorangehende Autonomieerlebnis inzwischen dem Bewußtsein „existenzieller” Verlassenheit oder Angst im vollen Sinne des Wortes Platz gemacht hat. Der Existentialismus spricht dies kompromißlos aus.

 

Die in unserer traditionellen Bewußtseinshaltung liegenden Hindernisse auszuräumen, ist die Absicht des vorliegenden Versuchs, den wechselseitig konstitutiven Zusammenhang von Glauben und Wissen einerseits (bei dem Glauben kein sacrificium intellectus und Wissen keinen eigenständigen Besitz gegenüber einem „nur” Geglaubten bedeutet), von „Subjektivem” und „Objektivem” oder von „Form” und „Stoff” andererseits einsichtig zu machen. Denn die Aporien des metaphysischen, hier speziell des naturrechtlichen Denkens verstellen uns den Blick für eine neue Ermöglichung des Rechts, das sich nach seiner Bestimmung gleichsam in den Kreuzungspunkten unserer vertikalen und horizontalen Seinsbezüge bildet. Der erkenntnistheoretisch-kritische Versuch kann indessen den Grund der Möglichkeit von Gewißheit überhaupt wie den einer „Rechtfertigung des Rechts”10 und der Rechtserkenntnis im besonderen nur freilegen; ihn jeweils zu ergreifen und in der konkreten Rechtsentfaltung zu

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bewähren, sind ein anderes. Bevor die Hohlräume naturrechtlicher Rechtsgarantien von einer neu begründeten Rechtswahrnehmung wieder durchlebt und erfüllt werden können, müssen sie aber als solche bewußt werden.

Nicht also um irgendeine Theologisierung des Rechtsbegriffs geht es den Ausführungen dieser Arbeit, sondern um die Eröffnung eines Seinsverständnisses, das hinsichtlich der ihm eigenen Erkenntnishaltung mit den irrtümlich konkurrierenden Teilperspektiven sog. „Wissenschaftlichkeit” und „religiöser Gläubigkeit” gleichviel oder gleichwenig zu tun hat und das — wie eingangs in Aussicht genommen — aus der unfruchtbaren Polemik zwischen Naturrechtslehre und Rechtspositivismus herausführt. Die sich heute in dieser Richtung schon abzeichnenden Veränderungen der erkenntnistheoretischen Fragestellung sollten hier vorerst nur in kritischer Absicht wahrgenommen und ihre Bedeutung für das Rechtsproblem im ersten Ansatz gezeigt werden.