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Erster Abschnitt:

Das christliche Naturrecht der Gegenwart

 

A. Die katholische Lehre

I.

Es wurde eingangs schon darauf hingewiesen, daß das Naturrecht in der Gestalt, in welcher es das klassische Naturrechts-Zeitalter vorbereitet hatte, selbst die Zeit seiner heftigsten Verfemung1 überdauert und um die Jahrhundertwende in bewußter Frontstellung gegen den Rechtspositivismus erneut vorgetragen worden ist: die im Zusammenhang der katholischen Moraltheologie betriebene Rechtsphilosophie hat — vielfach angeregt und heute noch maßgeblich bestimmt durch das Werk Leos XIII.2 — die in der philosophia perennis sowie im kanonischen Recht fortbestehende Naturrechtstradition neu belebt, ohne jedoch die profane Rechtswissenschaft und -praxis stärker zu beeindrucken. Als Hauptvertreter sind in Deutschland Cathrein, v. Hertling, Mausbach und Schilling zu nennen3. Für ihre Lehre ist kennzeichnend der Rückgriff auf einen metaphysischen Realismus — speziell auf Thomas von Aquino4 — der an dem auf protestantischem Boden erwachsenen Idealismus mehr oder weniger vorbeigeht — sehr im Gegensatz zu der vom Kritizismus so stark beeindruckten profanen Rechtsphilosophie.

Ganz allgemein muß gesagt werden, daß der Wert der genannten Beiträge zum Naturrechtsproblem stark beeinträchtigt wird durch das Mißverhältnis zwischen ihrem — am Rechtspositivismus vermißten — Rechtsethos und einer dem Problem, so wie es heute nun einmal durch den Zweifel an unseren Erkenntnisgrundlagen aufgerissen wird, nicht gerecht werdenden Argumentation. Vielfach ist die vertretene Auffassung schon durch die Art ihrer Mitteilung rationaler Kritik entzogen5. Der tiefere Grund hierfür ist wohl darin zu suchen, daß für die katholische Doktrin ein im letzten Grunde unzerstörter, für den Menschen in Vernunft und Gewissen herstellbarer Zusammenhang von geschöpflicher Welt und wahrem, göttlichen Wesen, oder kurz von Existenz und Wesen mehr oder weniger ausdrücklich Axiom ist, während im Gegensatz hierzu gerade der unendliche, qualitative Unterschied beider das reformatorische Bewußtsein und später das „existentielle” Denken nach Kierkegaard geprägt hat.

Für die katholische Naturrechtslehre wird das Buch des Jesuiten H. Rommen „Die ewige Wiederkehr des Naturrechts” (2. Aufl. 1947) ausgewählt, da es als neuere und zugleich das dogmatische Fundament trotz aller Freiheit von fachwissenschaftlicher Konvention am

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besten beschreibende Darstellung in den grundlegenden Fragen die Auffassung der gesamten Gruppe vorträgt6.

 

II.

Rommen weist zu Beginn seiner grundsätzlichen Darlegungen auf die konstitutive „Nähe” des Naturrechts zur Metaphysik hin: „Das Naturrecht hängt ab von der Seinslehre, der Metaphysik. Darum muß jeder Versuch einer Begründung des Naturrechts von dem Grundverhältnis von Sein und Sollen, vom Wirklichen und Guten ausgehen7.” Dieses Grundverhältnis wird als eine im Prinzip bestehende Identität von Sein und Sollen bestimmt, sofern hier unter „Sein” das Sosein, das wesenhafte Sein (essentia) in der Unterscheidung zum Dasein, der „unvollkommeneren Form” des Seins (existentia) verstanden wird8.

Dieser Disposition liegt nach Rommens ausdrücklichem Hinweis der Standpunkt des Realismus im Sinne des scholastischen Streits um die metaphysische Bedeutung der Gattungsbegriffe (Universalienstreit) zugrunde. Im Gegensatz zum spätscholastischen Nominalismus behauptete bekanntlich der Realismus, daß dem aus der Abstraktion gewonnenen Allgemeinen (dem Gattungsbegriff) nicht nur Bewußtseinsqualität (universalia post rem), sondern Eigenwirklichkeit zukomme, und zwar so, daß mit fortschreitender Abstraktion die Realität zunehme. Das Allgemeine erscheint hier also als das wesenhaft und ursprünglich Wirkliche, welches das Besondere aus sich erzeuge und in ihm enthalten sei (universalia ante rem und in re9). Die zu metaphysischer Bedeutung erhobene Begriffspyramide gipfelt nach dieser Lehre in dem Begriff Gottes als dem Allgemeinsten (dem ens realissimum), während die empirische Welt als Entfaltung oder als Manifestation göttlichen Wesens verstanden wird10.

Diesem Realismus ist somit eigentümlich der Gedanke einer Abstufung des Seins, innerhalb derer essentia und existentia nicht als kategoriale Gegensätze, sondern gleichsam als Dichtigkeitsgrade des Seins erscheinen, mit denen sich zugleich ein Werturteil verbindet: das Allgemeine, das „Wesen” wird zugleich als das Vollkommene, das ens realissimum zugleich als das ens perfectissimum angesprochen.

Der sich mit dieser Konzeption verbindende Gedanke einer immanenten Teleologie ist grundlegend für das Naturrecht: das Allgemeine wird nicht nur als Ursache, sondern auch als Ziel erkannt: „Das Werden, die eigentliche Situation allen geschöpflichen Seins, ist der Weg zur Vollkommenheit, zum Wesen-werden. Je vollkommener ein geschöpfliches Sein seine Wesenheit wird, je mehr sein Diessein dem Sosein sich nähert, desto mehr überwindet die essentia die Unvollkommenheit in der existentia11.”

Insofern nun aber der Mensch sich als ein im Willen freies Wesen erkenne12, erkenne er auch, da ja Gott Ursprung und Ziel

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der spekulativ erkannten „Ordnung” (der Stufenfolge der Wesenheiten) sei, daß diese Ordnung nach Gottes Willen sein solle. Die ontologische Ordnung werde dem willensfreien Menschen gegenüber zur moralischen Ordnung: „Indem aus der Erkenntnis der Wesenheiten der Dinge die Ordnung als von Gott gemäß seiner Wesenheit gesetzt erkannt wird, erscheint sie notwendig dem Willen des freien, vernünftigen Geschöpfes auch als eine zu erstrebende, zu bewahrende Ordnung und als Norm des endlichen Willens.” Seinsgrund und höchstes Gut gelten als identisch. Die oberste Sollensnorm ist: werde Dein Sein13.

Das hinsichtlich des methodischen Ausgangspunktes der Normfindung von Rommen nachgezeichnete Bild wird von ihm im weiteren ergänzt durch Ausführungen zum Problem des Vorrangs von Intellekt oder Wille. Dieses Problem begleitet regelmäßig das metaphysische Denken im traditionellen Sinne und damit auch das Naturrechtsproblem seit der Antike. An ihm werden in besonderer Verschärfung die für die Naturrechtsfrage so entscheidenden Gegensätze von Realismus und Nominalismus deutlich, die in vielfältiger Variation die Philosophie der nachfolgenden Jahrhunderte beschäftigt und deren jeweiliger Austrag über das Schicksal des Naturrechts entschieden hat. Im folgenden kann nur auf seine grundsätzliche Bedeutung hingewiesen werden.

Rommen betont, daß für die Möglichkeit eines natürlichen Sittengesetzes und damit des Naturrechts der Vorrang des Intellekts fundamental sei. Denn er bedeute, „daß die Wesensformen vom Willkürwillen des allmächtigen Geistes nicht in ihrem Sosein abhängig sind, sondern nur in ihrem Dasein”14. „Nicht also im bloßen promulgierten Willen Gottes liegt das Gesetz der Ordnung, sondern im Wesen der Dinge, wie Gottes Weisheit sie fügte. Die Seinsordnung kann nur eine moralische Ordnung sein, wenn ihr Wesensgrund Gottes Weisheit ist, wenn in Gott der Intellekt die nobilior potestas ist. Sonst vermöchten wir niemals aus der Seinsordnung der Welt eine Norm abzuleiten, sondern nur aus dem geoffenbarten Willen Gottes.” „Die Wesenheiten der Dinge, als durch Gottes Intellekt zuerst schöpferisch gedacht, sind, einmal begründet, unveränderlich. Diese Ordnung der Welt ist die lex aeterna15.” Erst mit der zweifachen Priorität, und zwar des Seins vor dem Erkennen und des Erkennens vor dem Wollen, sei der Grund für die Möglichkeit eines natürlichen Sittengesetzes und damit des Naturrechts gegeben16.

Zusammenfassend ergibt sich also aus dem bisher Gesagten: da nach der hier beschriebenen Lehre das Sollen auf das vollkommene Sein gerichtet ist, muß ihm das ansichseiende, kontinuierliche Wesen, die „Natur” zur Norm dienen17. Schärfer noch: das einmal von Gott gesetzte Wesen ist die Norm. Hiermit gilt der metaphysische Ort und zugleich die vorstaatliche Geltung des Naturrechts als nachgewiesen18.

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III.

Darüber hinaus aber sind mit dem Vorhergehenden bereits die Grundbestimmungen zur Lösung des Erkenntnisproblems — so wie sie der metaphysische Realismus der Scholastik sah — gegeben: Das Wesen und damit die Norm werden gefunden als „der objektive, vom bloßen Gedachtwerden unabhängige Inhalt des abstrakten Begriffs, der im Einzelding erkannt wird”19. „Die Gewinnung des abstrakten Begriffes, des Universale, dessen Inhalt die Wesenheit ist, ist die Funktion des aktiven Intellekts, der aus dem Wirklichen, das in dem Erkenntnisbild der Sinneseindrücke gegeben ist20, den unstofflichen Wesenskern herausliest, eben das intelligible Sein, das aber identisch ist mit dem natürlichen Sein im Wirklichen. Darum ist ein Sein, insofern es intelligibel ist, auch wahr. Alles Seiende ist wahr, weil erkennbar21.” Für den hier eingenommenen dogmatischen Standpunkt ist vielleicht am kennzeichnendsten das knappe, ablehnende Wort, das von Rommen der Vernunftkritik Kants gewidmet wird: die Ordnung des wesenhaften Seins als Gegenstand der Erkenntnis sei „naturwirklich gegeben, nicht von der menschlichen Vernunft gemäß subjektiven, ordnenden Formen in ein an sich als Ordnung unerkennbares Äußeres hineinprojiziert; sie ist objektive, von unserem Denken und Gedachtwerden unabhängige Ordnung”22.

Entsprechend dem oben schon gekennzeichneten Verhältnis von Sein und Sollen wird von Rommen weiterhin festgestellt, daß der praktischen Vernunft „in Ausweitung” der theoretischen Vernunft die Aufgabe zufalle, das in der reinen Erkenntnis empfangene Sein als Norm menschlichen Handelns zu verstehen: „Sein ist Wirklichkeit vor dem Verstände, Wahrheit im Verstände, Gut vor der praktischen Vernunft, im Willen23.” Die vom scholastischen Realismus behauptete Rationalität des Guten — die perseitas boni — führt also folgerichtig zu einer bruchlosen Einheit von Seins- und Werterkenntnis. Nach dem oben Gesagten bedarf es hierzu keiner weiteren Ausführung.

Die volle Tragweite dieses „Standpunktes der Harmonisierung” (Windelband) wird jedoch erst bei der Frage des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung sichtbar. Seit der Begegnung von antiker Philosophie und christlicher Offenbarungsreligion hat das Verhältnis von „Natur und Gnade”, von Vernunft und Offenbarung das christliche Denken immer wieder zentral beschäftigt. Je schärfer ihr Gegensatz empfunden wurde, um so mehr traten Philosophie und Theologie auseinander bis zur völligen Scheidung von profaner Wissenschaft und einer auf die reine „Innerlichkeit" oder auf das Moralische zurückgedrängten Religiosität. Innerhalb der Theologie wird die Frage als das ebenso grundlegende wie umstrittene Problem der „theologia naturalis” behandelt, dessen unterschiedliche Lösung jeweils über die Möglichkeit des methodischen Ansatzes für ein speziell christliches Naturrecht entscheidet.

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Bei Rommen, der dem Intellektualismus des Aquinaten folgt, kommt der geschichtlichen Offenbarung als Erkenntnisquelle nur eine nachgeordnete Bedeutung zu. Sie findet bei Rommen demgemäß auch nur da Erwähnung, wo er seine Auffassung von dem Standpunkt des Nominalismus abgrenzen will24. Denn nach Thomas ist die Seins- und Werterkenntnis (jedenfalls soweit es um die inhaltliche Bestimmung der Gerechtigkeit geht) dem Menschen durch das „natürliche Licht”25 grundsätzlich möglich. Nur da, wo die philosophische Erkenntnis zu keiner endgültigen Entscheidung komme und unentschieden vor verschiedenen Möglichkeiten stehenbleiben müsse, gebe die geschichtliche Offenbarung den letzten Ausschlag. Die Offenbarung hat also hier nur eine zusätzliche Bedeutung als eine die natürliche Erkenntnis ergänzende, übernatürliche, aber nicht vernunftwidrige Wissensmitteilung im Sinne der Formel: gratia non tollit, sed perficit naturam.

Für diese Auffassung ist grundlegend eine wiederum im Anschluß an Thomas herrschende Überzeugung, die ihren dogmatischen Niederschlag in der katholischen Lehre vom „Urständ und Sündenfall” findet28. Nach ihr ist die Natur in ihrem Urstande nicht wesenhaft durch die Sünde zerstört worden; es besteht ein „Rest” unseres ursprünglichen Zusammenhangs mit der metaphysischen Welt in Vernunft und Freiheit. Unsere Ursprünglichkeit gilt lediglich als gemindert, in ihrem Bestand geschädigt und bedroht, so daß unser natürliches Wissen doch der Klärung und Überhöhung durch die Gnade der geschichtlichen Offenbarung bedürfe. Eine konstitutive Bedeutung kommt nach dieser Lehre der Offenbarung für die Erkenntnis des wahren Rechts nicht zu27.

Im Blick auf eben diese Tatsache bemerkt Süsterhenn28 mit Recht, das Naturrecht der katholischen Lehre habe „keinen spezifisch christlichen, sondern einen allgemein-menschlichen Charakter”, weil es nicht auf der positiven Offenbarung beruhe, sondern von jedem Menschen kraft seiner angeborenen Vernunft aus der Natur und dem Wesen des Menschen erkannt werden könne. Jedoch sei mit Mausbach festzustellen: „Obschon jene naturrechtlichen Gesetze an sich Vernunftforderungen sind, so zeigt sich doch bald, daß nur das Christentum, die Religion der Offenbarung, das untrügliche Erkenntnislicht besitzt, um sie stets im Nebel der Meinungen klarzustellen.”

Es bedarf keiner weiteren Erörterung, inwiefern schon der Begriff eines „christlichen Naturrechts” in sich widerspruchsvoll ist. Gleichwohl ergibt sich — ganz abgesehen von der historischen Leistung eben des Christentums für diese Naturrechtslehre — eine gewisse Berechtigung für das dieser Lehre beigefügte Adjektiv „christlich”, und zwar aus zwei Gesichtspunkten: einmal auf Grund der Behauptung, daß die übernatürliche Offenbarung die Vernunft orientieren müsse, um das wahrhaft Vernünftige zu finden, und ferner im Hinblick auf die Feststellung, daß der christliche

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Gottesgedanke für das Naturrecht konstitutiv sei. Besonders der letzte Gedanke wird von der katholischen Lehre immer wieder betont. Er bildet nach der Meinung ihrer Vertreter ein wichtiges Beweisstück für die Geltung des Naturrechts: die Vernunft als solche verpflichte nicht, sie teile nur mit, was uns Gottes Wille mit der intelligiblen Ordnung des Seins als unmittelbar verpflichtende Norm gesetzt habe. Erst aus der Tatsache also, daß es sich bei dem intelligiblen Sein um eine von Gott gesetzte, uns aber zur bewußten Erfüllung aufgegebene Ordnung handle, folge der Geltungsanspruch des mit der Vernunft Einsehbaren29.

 

IV.

Nach der hier versuchten Skizzierung der dogmatischen Grundlagen der katholischen Naturrechtslehre30 kann es nicht Aufgabe dieser Arbeit sein, die Ausgestaltung des von dieser Lehre entwickelten Naturrechts im einzelnen darzulegen. Nur die Grundzüge sollen hier festgestellt werden, insbesondere auch zur Klarstellung der von ihr gebrauchten Terminologie, die außerhalb der katholischen Lehre vielfach in abweichender Bedeutung verwandt wird.

Unter dem Naturrecht, dem jus naturale, wird der sich auf die Gerechtigkeit beziehende Teil des natürlichen Sittengesetzes, der lex naturalis, verstanden31. Mit dieser wiederum ist die der vernünftigen Kreatur als Sollensordnung gegebene lex aeterna gemeint, von der oben bereits gesagt wurde, daß mit ihr die aus der Weisheit Gottes entspringende und durch den Willen Gottes realisierte wesenhafte Ordnung der Dinge bezeichnet wird32. Die lex aeterna als das göttliche, allem Sein immanente Weltgesetz ist also das Fundament oder besser die begriffliche Spitze der thomistischen Rechtsontologie. Die lex naturalis und das ihr zugehörige jus naturale hingegen bedeuten, daß neben der objektiven Hinordnung der Dinge zu ihrem obersten Zweck der Mensch als vernünftige Kreatur mit der Aufgabe bewußter Erfüllung des göttlichen Weltplans in Anspruch genommen wird.

Zum Inhalt des Naturrechts werden als streng allgemeingültige und evidente Prinzipien (prima principia communia oder principia communissima)33 nur zwei Normen gerechnet: „Jedem das Seine”, und negativ gewendet: „Tue niemandem Unrecht”34.

Der seit Kant in der Naturrechtsliteratur immer wiederkehrende Streit, ob es sich bei diesen principia communissima um inhaltliche oder aber um rein formale Sätze handle, läuft, so wie er zumeist ausgetragen wird, mehr oder weniger auf ein Wortgefecht hinaus. Wenn die katholische Rechtslehre ihren materialen Charakter damit begründen will, daß sie zuerst das Gerechte mit dem Vernunft- und Wesensgemäßen als identisch bestimmt, um dann den die Gerechtigkeit definierenden Sätzen den Inhalt der Wesensgemäßheit zuzuschreiben35, so erscheint hier doch als „Inhalt” nur das, was an anderer Stelle der Gleichung als Axiom eingeführt wurde. Mit der

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Feststellung, daß das suum cuique das Vernunft- und Wesensgemäße ausspreche, ist man zudem dem Inhalt der Gerechtigkeit nicht nähergekommen. Kurz: es handelt sich bei den fraglichen Sätzen im Verhältnis zum Begriff der Gerechtigkeit nur um analytische, also um rein formale Urteile. Rommen, der als Anhänger der philosophia perennis die ratio divina in Analogie zur menschlichen Vernunft denkt und demnach die Denkformen in unmittelbare Beziehung zu dem außerhalb unseres Bewußtseins bestehenden Wesen der Dinge bringt, muß folgerichtig den inhaltsleeren, „formalen” Charakter der reinen Vernunft bestreiten. Aber eben darum geht es der Vernunftkritik: sie lehrt uns, die Anschauungsform vom axiomatisch bzw. empirisch recipierten Inhalt zu unterscheiden.

Auf diese Fragen wird an späterer Stelle zurückzukommen sein. Hier genügt es festzustellen, daß die katholische Lehre den formalen Charakter des suum cuique bestreitet, ohne jedoch zu verkennen, daß eben die Frage nach dem Inhalt der Gerechtigkeit gleichsam nur verschärft gestellt wird mit der Frage, was denn für jeden „das Seine” ist. So meint etwa Cathrein im Anschluß an Thomas, daß das suum näher zu bestimmen sei als dasjenige, was jeweils „in besonderer Weise mit jemandem verbunden und zu seinem Nutzen bestimmt ist, so daß er im Gebrauch desselben den Vorrang vor anderen verdient und niemand gegen seinen Willen darüber verfügen darf, ohne Unrecht zu begehen”. Als Beispiele nennt er unter anderem die Glieder des Leibes, die Freiheit, schließlich das Privatvermögen36. Ob mit der genannten Formel mehr gewonnen ist als mit dem suum cuique selbst, mag dahingestellt bleiben. Bemerkenswert ist, mit welcher Selbstverständlichkeit man hier empirisch Gegebenes zur näheren Bestimmung des suum heranzieht, ohne stärkere Bedenken zu haben, daß damit das angeblich „evidente Naturrecht” als streng gültiges Kriterium wahren Rechts entwertet wird.

Aus den obersten Prinzipien ergeben sich nach der von Rommen vertretenen Lehre Schlußfolgerungen, von denen die ersten „im höchsten Grade” an der Evidenz und Allgemeingültigkeit der Urnormen teilnehmen. Diese sich aus unmittelbarer, „notwendiger” Schlußfolgerung ergebenden Sätze, zu denen man die Verbote der zweiten Tafel des Dekalogs rechnet37, wurden in der katholischen Rechtstradition ius gentium genannt. Heute wird diese in mehrfacher Hinsicht mißverständliche Bezeichnung allgemein vermieden. Die obersten Prinzipien und die unmittelbaren Schlußfolgerungen gehören also zum Naturrecht im engeren Sinne38.

Das „ius gentium” gilt wiederum als Grundlage weiterer Konklusionen, die in einer an die konkreten Gegebenheiten heranführenden Interpretation zu gewinnen seien und schließlich im positiven Recht ihre eindeutige Festlegung und Formulierung fänden: „Es zeigt sich, daß, je mehr die Deduktion aus den ersten Prinzipien

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und den universalen Normen in partikuläre Normen hinabsteigt, die Evidenz nachläßt und zur rechten Anwendung der Schlußfolgerungen auf die immer zufälliger werdenden Tatbestände eine immer eindringlichere Betrachtung aller Umstände gehört39." Und an anderer Stelle: „Mögen die allgemeinen Normen notwendig sein, so hört diese Notwendigkeit und Sicherheit in dem Maße mehr und mehr auf, als man vom Allgemeinen ins Partikuläre und Besondere kommt; desto unsicherer wird auch das Urteil der praktischen Vernunft; desto größer auch die Verschiedenheit der Urteile über die rechtlichen und moralischen Fragen; desto notwendiger endlich auch die Entscheidung durch positive Gesetze und deren Angepaßtheit an den Einzelfall40.”

 

V.

Damit ist aber bereits auf eine letzte, hier anzuschneidende Frage hingewiesen, wie nämlich das Verhältnis zwischen Naturrecht und positivem Recht, absoluter und relativer Gerechtigkeit prinzipiell zu denken sei. Denn es geht hierbei um die Frage der Anwendbarkeit der als absolut gedachten Naturrechtsnormen.

Die geschichtlich gegebene, konkrete Situation, mit der es der Jurist in jedem Falle zu tun hat, ist ein in zweifacher Hinsicht Relatives: im Hinblick auf die Besonderheit und die vielfältige Verwobenheit alles Tatsächlichen einerseits und im Hinblick auf den Wechsel in der Zeit andererseits. Beide Aspekte, die der existentia eignen und sie von der essentia unterscheiden, werden — wie in anderem Zusammenhang schon angedeutet wurde — von der thomistischen Lehre nicht sosehr auf die das Wesen mehr oder weniger radikal verändernde Sündhaftigkeit der „gefallenen Schöpfung” bezogen, als im Sinne einer Unvollkommenheit verstanden, die nach einem in Natur und Geschichte angelegten teleologischen Prinzip der Vollkommenheit zustrebt41.

Dieses Grundschema, in dem der Abstand von Existenz und Wesen eben nur als ein durch die Vernunft grundsätzlich überbrückbarer Stufenunterschied gesehen wird, ermöglicht es, so unbedenklich von einer „näheren Bestimmung der allgemeinen Förderungen nach Bedürfnis der konkreten Umstände” zu sprechen42, wobei dann zweierlei verdeckt bzw. unterschlagen wird: daß, da es sich bei der „Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse” eben nicht um eine Art Subsumption, sondern um eine Veränderung des Normeninhalts selbst handelt, von einer „Anwendung” der allgemeinen Naturrechtsnorm kaum noch die Rede sein kann43 — zum anderen, daß die Bewältigung des Spannungsabfalls von absolut zu relativ, die ja die ganze Schwierigkeit der Anwendung ausmacht und ohne die die Feststellung einer allgemeinen Norm irreal bliebe, schließlich der vagen Empfehlung überlassen bleibt, daß die für den praktischen Einzelfall gültige Norm durch ein die Mitte zwischen Deduktion und Induktion einhaltendes Verfahren zu erarbeiten sei44.

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Zur katholischen Naturrechtslehre muß somit abschließend festgestellt werden, daß für die Umwandlung der allgemeinsten Norm in eine konkret anwendbare Norm jedes eindeutige Prinzip fehlt45. Damit aber erweist sich die Vorstellung des positiven Rechts als einer „gesetzlichen Interpretation" des Naturrechts streng genommen als Fiktion. Würde zugestanden, daß dieses Naturrecht doch nur regulative Bedeutung gewinnt, nicht aber ein System materialer Normen darstellt, mit dem der wahre Rechtsinhalt schon irgendwie gesichert und allem positiven Recht eindeutig vorgegeben sei, so wäre damit die wahre Sachlage unmißverständlicher und zutreffender beschrieben. Freilich beruht auf der bezeichneten Unbestimmtheit zugleich auch die beachtliche Elastizität dieser Lehre, die bei aller Ungeschicklichkeit den verschiedensten Wendungen abendländischer Rechtskultur ohne stärkeren Widerspruch mit sich selbst zu folgen vermochte und damit den Eindruck zeitloser Gültigkeit und Stabilität erweckte, die man als Zeichen echter Wahrheit für besonders verbürgt hält46 47.

 

B. Die Lehre Emil Brunners von den „Schöpfungsordnungen”

I.

Wenn im folgenden der katholischen Naturrechtsauffassung die Arbeit des Schweizer Theologen E. Brunner gegenübergestellt wird, so hat dies, ganz abgesehen von der starken Beachtung, die sein 1943 erschienenes Buch „Gerechtigkeit”1 auch in Deutschland gefunden hat, einen doppelten Grund: Brunner ist bisher der einzige geblieben, der in neuerer Zeit vom Boden protestantischer Konfession aus eine positive Stellungnahme zum Naturrechtsproblem versucht hat2. Weiterhin ist Brunner um die hier untersuchte, noch nicht eigentlich im juristischen Feld liegende Vorfrage, ob und wie generell verpflichtende Normen ethischen und rechtlichen Handelns im Räume evangelischer Theologie zu finden und zu begründen seien, schon in einer Reihe früherer Arbeiten besonders eindringlich bemüht gewesen und darf daher hier als repräsentativ herausgestellt werden.

Seinem Buch „Gerechtigkeit” gehen sachlich wie zeitlich voraus der Entwurf einer materialen Ethik3 und eine Untersuchung des Verhältnisses von „Offenbarung und Vernunft”4 als eingehende Darlegung seines Standpunktes in der Auseinandersetzung mit Karl Barth über das grundlegende Problem der „theologia naturalis”5. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß man über die Möglichkeit christlichen Naturrechts nichts Präzises wird ausmachen können, ohne die Grundpositionen dieser Streitfrage im Auge zu behalten. Brunner hat in dieser Sache eine Auffassung vertreten, mit der er ausdrücklich dem reformatorischen Standpunkt Rechnung zu tragen meint und doch zugleich die katholische Lehre nicht nur als Gegensatz zur eigenen Ansicht beachtet. So vermag sein Naturrechtsentwurf

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— jedenfalls weitgreifender als die einseitig thomistischen Vorschläge von katholischer Seite — einen Einblick in die theologische Argumentation für und gegen ein „christliches Naturrecht” zu geben6.

Es ist noch ein Wort über die Absichten Brunners, die er mit seinem Buch über die Gerechtigkeit verfolgt, vorauszuschicken, damit der ihm eigene Blickwinkel von vornherein nicht zweifelhaft bleibt7. In einem ersten Kapitel stellt Brunner in großen Zügen den Zerfall der abendländischen Gerechtigkeitsidee dar mit den Stationen ihrer Profanisierung und Relativierung durch Aufklärung und Historismus und später durch den juristischen Positivismus des XIX. Jahrhunderts, dessen politische Konsequenz der totale Staat sei. Von hier aus gesehen sind für ihn die Schäden und Gefahren der Gegenwart Symptome metaphysischer Unsicherheit. Profanisierung und Relativierung des Lebensgrundes lassen ihm die Möglichkeit von Recht und Gerechtigtkeit ausgeschlossen erscheinen: die Gerechtigkeit lebe von dem Pathos, daß menschliches Handeln und Richten unter dem Anspruch des Unbedingten und Absoluten stehe, wenngleich es auch niemals diesen Anspruch voll erfüllen könne. Ohne diesen Anspruch aber sei Gerechtigkeit ein Ungedanke oder nur ein anderer Ausdruck für die jeweils durch Macht gegebene Erfolgschance8.

So steht für Brunner nicht die speziell wissenschaftliche Aufgabe im Vordergrund, die mit dem Problem der materialen Gerechtigkeit gestellt ist. Vielmehr geht es ihm — wie er in seinem Vorwort ausdrücklich sagt — „nicht um Betrachtung, sondern um Verwirklichung”, gemeint ist Verwirklichung seines Bekenntnisses, der jedoch die objektive Erkenntnis des Gegenstandes jeweils vorausgehen müsse9. Die vorliegende Arbeit kann nur prüfen, was es bei ihm mit dieser letzten Behauptung auf sich hat: ob Brunner die Allgemeinverbindlichkeit und Evidenz christlichen Naturrechts nachzuweisen vermag, oder ob er sich mit seinen Darlegungen auf den Boden persönlicher Bekenntnisse stellt, die ungeachtet ihrer Bedeutsamkeit als solche eine Erörterung im Rahmen der hier untersuchten grundsätzlichen Fragen entzogen sind.

 

Nach einer einleitenden Verständigung über den in seiner Gerechtigkeitslehre allein behandelten Begriff der „irdischen Gerechtigkeit”10 führt Brunner zunächst unter Verwendung der aristotelischen Unterscheidung von austeilender und ausgleichender Gerechtigkeit (iustitia distributiva und iustitia commutativa) die formale Analyse der Gerechtigkeitsidee bis zu jener Grenze durch, an der die Frage, ob bzw. wo die Ungleichheit der Menschen das Vorgehende und Wesentliche sei, offen bleibt, zugleich aber die Frage nach dem Selbstverständnis des Menschen sichtbar wird — eine Frage, die — wie Brunner sagt — nicht mehr „rein rational" lösbar sei, sondern in „metaphysische und Glaubensgründe” hineinführe. Aus dem christlichen Grunddogma von der Gottebenbildlichkeit

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des Menschen entwickelt er dann den Grund der Gleichheit und Ungleichheit des Menschen und darauf aufbauend eine Reihe „unveräußerlicher Grundrechte” des Menschen, die er jedoch als vorläufige, nur beispielhaft gemeinte Aussagen über den notwendigen Inhalt der Gerechtigkeit seiner eigentlichen Untersuchung voranstellt11.

Erst im Anschluß hieran nimmt Brunner das Problem des Naturrechts selbst auf. Er geht hierbei aus von einer Definition dessen, was allen bisherigen Erscheinungen des Naturrechts gemeinsam sei und was er demnach zunächst unter dem Begriff des Naturrechts verstanden wissen will12:

Naturrecht habe zu allen Zeiten die Verwirklichung einer Gerechtigkeit gemeint, die über aller menschlichen Willkür und Konvention stehe.

Naturrecht erhebe den Anspruch, nicht nur eine formale Idee der Gerechtigkeit als einen gestaltlosen Richtpunkt, sondern gewisse grundlegende inhaltliche Normen gerechter Ordnung in sich zu schließen.

Naturrecht wolle — richtig verstanden — nicht eine Sanktionierung des Natürlichen schlechthin, sondern gerade die Unterwerfung des menschlichen Naturtriebes (Machttrieb, Erwerbstrieb usw.) unter die Instanz sittlicher Werte.

 

II.

Das Grundprinzip der reformatorischen Lehre, das Prinzip der Rechtfertigung allein aus dem Glauben, scheint zu fordern, daß eine Antwort auf die Frage, was wir tun sollen, — wenn überhaupt — nur vom Zentrum des christlichen Glaubens, dem geschichtlich geoffenbarten Wort Gottes aus versucht wird.

Dieser Weg ist insbesondere und mit aller Energie von Karl Barth als der allein gangbare behauptet worden13. Nach ihm sind die Grundsätze weltlicher Gerechtigkeitsordnung in Analogie zu den geoffenbarten Forderungen, d.h. als unmittelbares Spiegelbild von Glaubensinhalten zu denken und zu entwickeln. So sagt er etwa in „Christengemeinde und Bürgergemeinde”: „Die Gerechtigkeit des Staates in christlicher Sicht ist seine Existenz als ein Gleichnis, eine Entsprechung, ein Analogon zu dem in der Kirche geglaubten und von der Kirche verkündigten Reich Gottes”14. Im Anschluß hieran gibt er Beispiele für unmittelbare Folgerungen rechtlicher oder politischer Art aus Glaubenssätzen, deren existenzieller, nicht nur orientierender Grund die geschichtliche Offenbarung sei.

Den damit bezeichneten Weg zur Grundlegung des Rechts lehnt jedoch Brunner grundsätzlich ab mit dem Einwand, justitia civilis und justitia evangelica seien zweierlei und könnten nicht unmittelbar aufeinander bezogen werden. Bei der einen gehe es um Rechte und Pflichten, die andere aber bestehe in dem göttlichen Liebesgebot, das zur Pflicht gemacht seinen wahren Inhalt verfehle: „Was im

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Zentrum der biblischen Verkündigung als Gerechtigkeit Gottes gelehrt wird, die Botschaft von der Versöhnung des Sünders durch Jesus Christus, hat offenbar zur Frage, was gerechter Lohn, gerechte Strafe, gerechte Staatsordnung usw. sei, nur eine indirekte Beziehung”15. „Der Imperativ der Nächstenliebe kann nicht das Fundament der Gerechtigkeitslehre sein. Das Liebesgebot als solches kennt keine Ansprüche und Rechte . . . Es sagt nichts davon, was einem jeden zukommt . . .16”. Umgekehrt aber „ist die Gerechtigkeit immer die Voraussetzung für die Liebe; nie darf die Gerechtigkeit von der Liebe übersprungen werden . . . Liebe beginnt erst da, wo die Gerechtigkeit schon erfüllt ist, denn sie ist ein Darüberhinaus”17. Und konkret zur Frage der Freiheitsrechte sagt er: Die aus der Selbstverantwortlichkeit des Menschen vor Gott folgende Glaubensfreiheit „liegt noch nicht im Bereich der Gerechtigkeitslehre, sondern oberhalb derselben . . .” „Es ist darum auch nicht möglich, aus dieser libertas christiana die Freiheitsrechte abzuleiten”18.

Die im Rahmen jeder protestantischen Rechtsbegründung so sehr umstrittene Beurteilung des Verhältnisses von natürlichem Sittengesetz und geschichtlich geoffenbartem Liebesgebot — auf eine Formel gebracht: von „Gesetz” und Bergpredigt19 — ist, wie unter anderem Brunner selbst bemängelt, auf erhebliche Unklarheiten der Naturrechtslehre der Reformatoren zurückzuführen20. Die Frage, inwieweit er sich gleichwohl mit Recht auf diese beruft, wenn er zwischen den rationalen Prinzipien der Gerechtigkeit, den „Ordnungen” einerseits und dem christlichen Liebesgebot andererseits unterscheidet, ist Sache der Exegese und kann hier nicht weiter untersucht werden21. Es gilt lediglich festzuhalten, daß Brunner in der hier behandelten Vorfrage einen Standpunkt bezieht, der in theologischer Hinsicht allein die Möglichkeit eröffnet, die Lösung des Problems der materialen Gerechtigkeit primär in immanenten Prinzipien, also in einem Naturrecht zu suchen22.

 

Brunner ist somit auf einen Weg gewiesen, der hinsichtlich seines Anknüpfungspunktes dem Vorgehen Barths entgegengesetzt ist: seine Gerechtigkeitslehre wird mit folgendem, hier nur kurz zu umreißenden Gedankengang im Begriff der „Schöpfungsordnung” verankert.

Bei der formalen Analyse der Gerechtigkeit ging Brunner von der Feststellung aus, daß Gerechtigkeit nicht nur eine bestimmte Qualität menschlichen Handelns, also etwas unmittelbar Persönliches, sondern auch eine Qualität von Verhältnissen, Einrichtungen usw. bezeichne23. Gerechtigkeit habe es in dem von ihm im Anschluß an Aristoteles gebrauchten Sinn mit der Person in Beziehung auf „etwas” zu tun, wie es die Formel „Jedem das Seine” zum Ausdruck bringe. Damit sei gesagt, daß der Begriff der Gerechtigkeit ohne den der Ordnung nicht zu denken sei24. Und zwar bestehe der

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Zusammenhang von Gerechtigkeit und Ordnung in dem Sinne, daß Gerechtigkeit ihrem Begriff nach auf die Verwirklichung der wahren, allgemeingültigen Ordnung ziele. Dies geschehe aber eben dadurch, daß durch sie das im Sein erkennbar angelegte „Gesetz”25, die „Unordnung” zur Norm erhoben werde: „Das Gesetz der Gerechtigkeit spricht nicht nur etwas aus, das sein soll, sondern auch etwas, das ist. Es weist zurück auf eine Ordnung des Seins, kraft deren jedem Geschöpf sein Bereich, sein Spielraum, seine Freiheit und seine Schranke zugewiesen wird. Gott, der Schöpfer, gibt jedem Geschöpf mit seinem Sein und So-sein das Gesetz seines Seins und Soseins . . . Schöpfung ist Urzuteilung, materiale Lebensvorschrift26.” Im Sinne dieses Grundgedankens bilden also für Brunner jeweils die konkreten Seinssachverhalte, d.h. also die empirische Welt, das Ausgangsmaterial, aus dem er die schöpfungsmäßige und darum zugleich normative „Urordnung” der Dinge in einer später noch darzulegenden Weise herauszuinterpretieren sucht.

Die Auffassung Brunners läßt sich nach dem bisher Gesagten dahingehend zusammenfassen: Das Gesetz, das Allgemeine, ist im Sein angelegt und daher auch in ihm vorfindbar. Aber nicht die Natur schlechthin, sondern nur, soweit sich in ihr der Wille des Schöpfers manifestiert, kann als normgebende Ordnung anerkannt werden. Dementsprechend ist „der Zusammenhang von kreatürlichem Sein und Recht in der Schöpfungsordnung und nur in ihr begründet und begründbar”27. Mit dem Begriff der Schöpfungsordnung wird somit der dogmatische Grund der Brunnerschen Naturrechtslehre bezeichnet28.

Bis hierher bestehen zwischen der Auffassung Brunners und der katholischen Lehre keine Unterschiede, die im Rahmen des Naturrechtsproblems grundsätzliche Bedeutung hätten. Zwar ist die Vorstellung eines im Sinne fortschreitender Abstraktion sich gradweise realisierenden Wesens preisgegeben29, aber der fundamentale Gedanke der analogia entis wird von ihm jedenfalls als Realprinzip, wenn auch nicht — wie noch zu zeigen sein wird — als Erkenntnisprinzip anerkannt30. Und ferner ist auch bei Brunner der Ausdruck „Natur” — jedenfalls in der Wortverbindung „Naturrecht” — als Normbegriff gemeint, insofern als er damit die „Schöpfungskonstanten” bezeichnen will, die Geltungsgrund und zugleich absoluter Inhalt des Naturrechts seien31.

 

III.

Brunner unterscheidet von diesem „objektiven oder ontologischen” einen „subjektiv-erkenntnistheoretischen” Sinn des von der christlichen Tradition gebrauchten Wortes „Naturrecht”. Gemeint ist nichts anderes als die Unterscheidung der Frage nach dem Realgrund und nach dem Erkenntnisgrund, von ratio essendi und ratio cognoscendi32.

Seine Stellungnahme zu der erkenntnistheoretischen Seite des Naturrechtsproblems sei zunächst durch eine grundsätzliche Stelle

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aus „Offenbarung und Vernunft”33 gekennzeichnet: Auf die Frage, was der „natürliche Mensch”, d.h. der von der geschichtlichen Offenbarung unberührte Mensch, kraft seiner immanenten Vernunftmöglichkeiten vom Gesetz Gottes wissen könne, sei die einhellige Antwort der gesamten kirchlichen Tradition dies: „Der Mensch kann Gottes Gesetz, sofern es nur Gesetz, nur fordernde Lebensregel ist, von sich aus erkennen, wenn auch diese Erkenntnis vielfach getrübt und verdunkelt ist. Im Anschluß an die antik-philosophische Terminologie und einzelne Aussprüche des Apostels Paulus34 hat die kirchliche Theologie dieses der Vernunft bekannte Gottesgesetz als lex naturae, d.h. als das dem Menschen von Natur bekannte Gottesgesetz oder als das dem Menschen mit seiner Vernunftnatur gegebene Prinzip der Unterscheidung von Gut und Böse bezeichnet.”

Auf der anderen Seite aber wird Brunner nicht müde zu betonen, daß gegen die katholische Doktrin mit den Reformatoren an der Erkenntnis von der Totalität der Sünde und des sola gratia festzuhalten sei. Der Anerkennung einer biblischen „Nebenlinie”, die neben das sola gratia die Eröffnung eines anderen Zugangs zur wahren, heilvollen Gotteserkenntnis stellt, sei zu widersprechen35. Die Tatsache, daß durch die Sünde die Vernunftnatur des Menschen alteriert und vom Gegensatz mitbestimmt sei, dürfe nicht unterschlagen werden. Allein durch die geschichtliche Offenbarung des Alten und Neuen Bundes werde der Mensch in die Lage versetzt, die Manifestation des Gotteswillens in der Schöpfungsordnung, das ist die „Schöpfungsoffenbarung”, zu erkennen36. Brunners Antwort auf die Frage nach der Erkennbarkeit allgemeinverbindlicher Naturrechtsnormen wird also im Spannungsfeld dieser beiden, in gewisser Hinsicht widerstreitenden Aussagen zu suchen sein. Hierzu ist Brunner vorweg gewiß darin zuzustimmen, daß die Frage der grundsätzlichen Rationalität einer Erkenntnis von der ihres allgemeinen Vorhandenseins zu unterscheiden ist37.

Theologisch gesehen geht es bei der vorliegenden Frage nach der Möglichkeit und Tragweite rationaler Erkenntnis um das oben schon genannte Problem der theologia naturalis. Unter natürlicher Theologie wird eine rein rational begründete, von der geschichtlichen Heilsoffenbarung unabhängige und darum mit dieser erst in Beziehung zu setzende Seins- und damit zugleich Gottes-Erkenntnis verstanden. Sie findet ihre vollkommene Ausbildung in der Scholastik, die dem credo ut intelligam des Augustin folgend eine Harmonisierung von Offenbarung und Vernunft versucht hat: über dem Fundament einer rationalen Gotteslehre, die in den Gottesbeweisen ihren sprechendsten Ausdruck findet, wurde als Überbau eine die übernatürliche Wissensmitteilung der Heilsoffenbarung verarbeitende Theologie errichtet. Über die Möglichkeit einer natürlichen Theologie besteht indessen in der protestantischen Dogmatik durchaus keine Einigkeit, insbesondere seit Kierkegaard und in

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letzter Zeit die von ihm beeinflußte dialektische Theologie den Gegensatz von Philosophie und Theologie, von Vernunft und Offenbarung erneut geltend gemacht hat.

 

Brunner vertritt die Auffassung, daß die in der Schrift vielfach bezeugte und „in keiner Weise wegzudiskutierende Tatsache der Schöpfungsoffenbarung”38 die Anerkennung der analogia entis als eines nur den Realgrund, nicht hingegen den Erkenntnisgrund zutreffend bezeichnenden Begriffs notwendig mache. Eine in dieser Weise eingeschränkte Anerkennung der analogia entis reiche darum nicht aus, um darauf eine natürliche Theologie aufzubauen. Mit anderen Worten: zwischen Existenz und Wesen bestehe zwar Analogie insofern, als alles konkret Geschaffene seine Grundbestimmung als Geschöpf Gottes in sich trage39; aber für den im Widerspruch zu seinem Ursprung lebenden sündigen Menschen sei es gleichwohl nicht möglich, kraft seiner Vernunftnatur diese Analogien voll aufzudecken und demnach das Wesen in der Existenz zu erkennen. Denn von dem gottgeschaffenen Wesen des Menschen sei als „formales humanum” neben der Personhaftigkeit nur die Vernunftnatur, nicht aber die rechte, gottgemäße Vernunftgesinnung erhalten40.

Nun führt Brunner aber den schon in sich nicht widerspruchsfreien Gedanken einer nur „formal”, nicht aber „material” gegebenen Erkenntnisfähigkeit des „natürlichen Menschen” nicht streng durch. Denn er zweifelt zunächst ebensowenig wie die katholische Lehre an der prinzipiellen Möglichkeit einer rein rationalen Erkenntnis des allgemeinen „Gesetzes”41, sofern eben nur dessen Inhalt und die Tatsache seines Gebotenseins in Frage stehe42. Dann aber entwertet er diese Aussage wieder, indem er feststellt, daß der Vernunft als solcher die Erkenntnis Gottes selbst — des Urhebers der normativen Schöpfungskonstanten —, von welcher allein alles rationale Wissen „den Stempel der Untrüglichkeit erhalte”, nicht möglich sei43: nur die rechte Gotteserkenntnis könne Inhalten der Vernunft jeweils die Autorisation verleihen, die für ihre unbedingte Verbindlichkeit als Sittengesetz oder Rechtsnorm Gewähr leiste, während umgekehrt da, wo diese Gotteserkenntnis fehle oder verloren sei, die „Sehkraft der sittlichen Vernunft bis zum Grenzwert Null absinke”44.

Dieser Umweg verrät den Rationalismus Brunners, dem er selbst so heftig widerstreitet. Denn die Ablehnung natürlicher Theologie, die sich bei ihm — wie schon festgestellt — auf die reine Gotteserkenntnis, d. h. also auf den Bereich des Religiösen im ausdrücklichen Sinne beschränkt, hat demnach nur die Bedeutung einer Grenzbestimmung von Vernunft und Offenbarung, und zwar in der Weise, daß der Vernunft innerhalb der Grenzen einer von Brunner angenommenen Schöpfungsgesetzlichkeit grundsätzlich Eigenständigkeit zuerkannt wird, während dem Glauben unmittelbar

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nur der Bereich des nicht mehr Gesetzmäßigen und damit „Übervernünftigen” zugewiesen wird: „Das Übergesetzliche ist . . . das nicht mehr vernunftmäßig, sondern nur noch glaubend zu Erfassende”45.

Im ganzen bleibt die Brunnersche Stellungnahme zum Problem der theologia naturalis widerspruchsvoll und unentschieden: wenn er unter dem Aspekt der Grenzbestimmung von Vernunft und Offenbarung eine an sich eigenständige Vernunfterkenntnis des Wahren und Guten und eine dem natürlichen Menschen zwar nicht material, aber doch „formal” (d.h. hier soviel wie potentiell) zugängliche Gotteserkenntnis feststellen zu können glaubt, so ist seine Betonung, daß die theologia naturalis keine brauchbare Basis für eine sie ergänzende theologia relevata sein könne46, nicht überzeugend. Denn bei dem Streit um die theologia naturalis geht es ja doch eigentlich nicht darum, ob die speziell christliche Gotteserkenntnis spekulativ gewonnen werden könne oder nicht, sondern um die Eigenständigkeit von Vernunfterkenntnis überhaupt47. Wenn also Brunner trotz ihrer Anerkennung gleichwohl sagt, daß der Mensch als ein im Widerspruch Befangener nur im Glauben an die geschichtliche Offenbarung die Schöpfungsordnung — und das ist, wie oben schon ausgeführt wurde, zugleich das Naturrecht — zu erkennen vermöge48, so kann dies nicht mehr in einem strengen, konstitutiven Sinne verstanden werden. Die Tatsache der geschichtlichen Offenbarung gewinnt bei Brunner zwar nicht, wie in der katholischen Lehre, nur eine die Vernunfterkenntnis notfalls ergänzende, sondern vielmehr eine den existenziell gegebenen Widerstreit der Vernunft schlichtende und damit eine die (nichtsdestoweniger eigenständige) Vernunfterkenntnis notwendig bestätigende, sanktionierende Bedeutung49. Nicht hingegen wird sie als Ermöglichung von Erkenntnis schlechthin verstanden, so daß die Auffassung Brunners schließlich doch nicht in dem sola gratia, sondern — trotz mancher Unterschiedlichkeit zur katholischen Lehre — in dem schon angeführten Satz des Aquinaten „gratia non tollit, sed perficit naturam” ihren zutreffenden Ausdruck findet.

So unbefriedigend und kompromißhaft die Vorstellung einer Perfektion von Vernunfterkenntnis durch die Gnade der geschichtlichen Offenbarung auch immer ist: die früher von Barth vertretene Auffassung, daß an die Stelle der analogia entis eine „analogia fidei” zu setzen sei, erscheint darum nicht weniger zweifelhaft, auch wenn sie der grundlegenden Einsicht in die Unverfügbarkeit der Wahrheit und damit dem sola gratia voll Rechnung zu tragen scheint. Denn mit diesem dem Rationalismus entgegengesetzten Extrem wird alle Vernunfterkenntnis nur völlig verneint und verworfen und unser Denken von vornherein und ausschließlich einer konkreten, in diesem Falle christlichen Glaubensentscheidung unterworfen50. Sich hiergegen einstellende Bedenken sind im Rahmen dieser Arbeit nicht darzulegen. Eine Stellungnahme zu der von

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Barth bekämpften Ansicht Brunners wird jedoch nicht an der Frage vorbeigehen können, ob nicht vielleicht der hier umstrittene, bereits in der Alternative des Satzes „gratia non tollit, sed perficit naturam” angelegte Gegensatz selbst fehl geht, ob nicht schon diesem Entweder-Oder Voraussetzungen zugrunde liegen, die den zur Diskussion stehenden Sachverhalten nicht gerecht werden. Auf diese, den Kern unseres Problems berührende Frage wird im Anschluß an die Behandlung des Erkenntnisproblems von seiten der Philosophie zurückzukommen sein. Hier gilt es zunächst nur den Sinn und das Gewicht der betreffenden Aussagen Brunners zu bestimmen.

Ist auch dem Hinweis Brunners auf den Anteil der Gnade an menschlicher Erkenntnis nichts von seinem Ernst abzusprechen, so bleiben doch bei dem von ihm vertretenen Offenbarungsverständnis Glauben und Wissen im tiefsten unverbunden. Denn die dem Glauben als unmittelbares Zeugnis der Heilswahrheit anempfohlene geschichtliche Offenbarung behält in Brunners Lehre trotz aller Betonung ihrer Notwendigkeit gleichwohl nur den Charakter einer irrationalen Aushilfe. Sie wird zumindest demjenigen kaum annehmbar erscheinen, der „objektive” Sachkenntnis für die allein verbindliche Grundlage allen Urteilens und Entscheidens hält, so sehr er auch immer an der Tragweite und Sicherheit menschlichen Wissens zweifeln mag.

Denn entweder hat die Haltung des Glaubens für unsere Erkenntnis schlechthin eine strukturelle Bedeutung, oder sie wird für den Versuch einer erkennenden Durchdringung weiter Bereiche mehr oder weniger belanglos (und zwar eben in dem Maße, in dem der Rationalismus seiner Irrationalität nicht inne wird) und nicht mehr als „jedermann unbedingt angehend” empfunden51. Diese grundlegende Alternative dürfte dem gegenwärtigen Bewußtsein zum Kriterium für jede Theologie und damit zugleich auch für jeden grundsätzlichen Beitrag christlicher Theologie zum Problem der Rechtsbegründung geworden sein.

Die Brunnersche Antwort auf die Frage nach dem Erkenntnisgrund wahrer Gerechtigkeit soll zusammenfassend durch einen Vergleich mit der von Barth im Widerspruch zu Brunner vertretenen Auffassung gekennzeichnet werden52:

Während der Barthsche Vorschlag in „Christengemeinde und Bürgergemeinde” eine Projektion christlicher Dogmatik auf profane Gegenstände darstellt, unternimmt Brunner eine Deutung des Empirischen nach christlichem Glaubens Verständnis. Für ihn ist die Natur (im Sinne von Dasein) gleichsam das Grundmaterial, aus dem der Glaube bestimmte Elemente auswählt und als Norm sanktioniert. Das heißt: Brunner nimmt zwar das empirisch Gegebene zum Ausgangspunkt, er läßt jedoch das, was die Vernunft als solche in ihr als „Gesetz” zu erkennen vermeint, nicht unmittelbar gelten. Er verlegt vielmehr in jedem Falle die eigentliche Entscheidung in den Bereich jenseits rationaler Einsicht, indem er die Beweislast

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dafür, ob ein empirischer Sachverhalt als normativ anzuerkennen sei, dem Glauben zuschiebt53. Wenn im Hinblick auf diesen Unterschied an früherer Stelle gesagt wurde, daß die Auffassungen Barths und Brunners in ihrem Ausgangspunkt entgegengesetzt seien, so stehen doch beide Lösungen hinsichtlich ihrer Beweiskraft auf einer Ebene: religiöse Glaubenssätze dienen bei Barth unmittelbar als Maßstab, während sie bei Brunner zur Gewinnung rechtlicher Normen axiomatisch verwandt werden54.

 

IV.

Da es in der vorliegenden Arbeit nicht um die konkrete Frage geht, wieweit jeweils festgestellte Naturrechtsnormen als unerläßliche Grundsätze unseres geltenden Rechts Anerkennung verdienen, sondern vielmehr nur um die prinzipielle Vorfrage nach der Möglichkeit allgemein verbindlicher Rechtsnormen, bedarf es hier nicht einer eingehenden Darstellung dessen, was Brunner im einzelnen dem Bild seines „Naturrechts” einfügt.

Da er unter dem Naturrecht als „absoluter Gerechtigkeit” die Schöpfungsordnung versteht, die er durch eine an der geschichtlichen Offenbarung orientierten Interpretation der Wirklichkeit in ihren Umrissen herauszuarbeiten und in einem zweiten Teil seiner Gerechtigkeitslehre vorläufig zu formulieren unternommen hat, wird man an sein Ergebnis eben nur den Maßstab seiner eigenen, inhaltlichen Glaubensentscheidung anlegen können. Um einen Eindruck zu vermitteln, wie weitgehend substanziiert sich das Brunnersche „Naturrecht” darstellt — ganz im Unterschied zur katholischen Lehre, die ja den Anspruch rationaler Allgemeingültigkeit nicht preisgibt — lassen sich beliebige Beispiele anführen:

„Der Föderalismus ist der gerechte Aufbau der Ordnungen, nämlich der Aufbau von unten. Das ist die Schöpfungsordnung . . .”55. „Das Patriarchat, nicht das Matriarchat entspricht der Schöpfungsordnung”56. „Die Unauflöslichkeit und Exklusivität der Ehe ist das Gesetz der Schöpfungsordnung”57. „Die Eltern entziehen dem Kind (durch das grundsätzliche Unrecht der Ehescheidung) etwas, was ihm von Rechts wegen zukommt, und das Recht, vermöge dessen es ihm zukommt, ist das Recht der Schöpfungsordnung, kein menschliches Gesetz”58. „Die von der Bibel vielfach und ausnahmslos gelehrte Hierarchie der Familienordnung Vater-Mutter-Kind stimmt mit dem unverdorbenen natürlichen Gefühl überein. Sie beide lehren die väterliche Autorität, die bis zur Zeit der Volljährigkeit in Geltung steht. Eine gerechte Zivilrechtsordnung gibt dieser Schöpfungsordnung gesetzlichen Ausdruck . . .”59. „Da es ohne Eigentum keine Freiheit gibt, ist . . . das Privateigentum ein Schöpfungsrecht60.” „Nach der göttlichen Schöpfungsoffenbarung hat grundsätzlich jeder Mensch das Recht auf den Boden, aus dem er leben kann”61. „Es ist ungerecht, wenn derjenige, der den Boden nicht bearbeitet, ihn besitzt und derjenige, der ihn bearbeitet, ihn nicht besitzt. Eine gerechte Eigentumsordnung durch den Staat wird darum immer

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nach dieser Schöpfungsordnung sich auszurichten haben62,” „Mitbeteiligung am Eigentum und an der Verteilung des Nationaleinkommens kommt der Gemeinschaft kraft göttlicher Schöpfungsordnung zu”63.

Zugleich als Hinweis auf bestehende Unterschiede zur katholischen Lehre sei hier schließlich noch Brunners Stellungnahme zum Dekalog wiedergegeben: „Der Dekalog ist für uns immer wieder ein unvergleichliches Mittel des Unterrichts, nicht aber eine Quelle sozial-ethischer Wahrheitserkenntnis. Wenn wir wissen wollen, was im Staat, in der Wirtschaft, in der Gesellschaft, in Ehe und Familie das Gerechte ist, so erhalten wir vom Dekalog her keine Belehrung, sondern wir können nur an seine Gebote anknüpfen, was uns anderswo (nämlich in der Schöpfungsoffenbarung) zu erkennen gegeben wird . . . Es bleibt also grundsätzlich bei Luthers von Calvin ausdrücklich wiederholtem Urteil, daß das alttestamentliche Rechtsgesetz, als der Juden Sachsenspiegel', für uns keine direkt-normative Bedeutung haben kann”64.

Aus alledem wird deutlich, daß die von Brunner aufgewiesenen materialen Grundnormen die Verbindlichkeit seines Bekenntnisses haben, nicht aber mit Notwendigkeit aus der „Natur der Sache” folgen. Das Glaubensbekenntnis als solches ist rationaler Kritik entzogen. Die Frage aber, ob es einen prinzipiell anderen Weg gibt, ob wir ohne Glaubensentscheidung durch ein ausschließlich am Gegenstand orientiertes Erkenntnisverfahren über das, was material gerecht ist, eine unbedingt und zeitlos gültige Auskunft erlangen können, wird an späterer Stelle noch eingehend zu prüfen sein.

 

V.

Als letzter Punkt ist wiederum die Lösung der Frage des Verhältnisses von „absoluter” und „relativer Gerechtigkeit”, von Naturrecht und positivem Recht zu behandeln. Sie betrifft — wie schon festgestellt wurde — die Anwendbarkeit „absoluter” Gerechtigkeitsprinzipien und ist somit neben der Erkenntnisfrage das entscheidende Kriterium für die Realisierbarkeit eines Naturrechts im hier gemeinten Sinne des Begriffs. An diesem Punkt wird der ideologische Zug allen Naturrechts sehr deutlich. Denn wie man auch immer das Faktum der geschichtlichen Existenz des Menschen ausdeuten mag65: das im abstrakten Normensystem des Naturrechts fixierte Gerechtigkeitsideal muß in notwendigen Widerspruch zur Lebenswirklichkeit treten, um deren Gestaltung es allem Recht schließlich geht. Damit aber wird der praktische Wert des Naturrechts in Frage gestellt.

Brunner findet für die bestehende Schwierigkeit selbst den stärksten Ausdruck wenn er sagt: „Im staatlich-rechtlichen Bereich läßt sich nicht einfach die Schöpfungsordnung Gottes als Gesetz aufstellen. Hier muß auf den faktischen Zustand des Menschen Rücksicht genommen werden, wenn nicht durch abstrakten

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Gerechtigkeitsfanatismus mehr geschadet als gebessert werden soll66.” Und an anderer Stelle: „Die Modifikation des menschlichen Lebensstandes durch das Böse verlangt eine Modifikation der Gerechtigkeitsordnung nicht nur in dem Sinne, daß es jetzt eine zwingende Ordnung, eine positive Rechtsordnung' ist, sondern auch in dem Sinne, daß eben dieses positive Recht seinem Inhalt nach nicht dasselbe sein kann wie das ,Naturrecht’ der Schöpfungsordnung. Das ist der Grund, warum zwischen ,Naturrecht’ und positivem Recht ein Unterschied, wenn nicht sogar ein Gegensatz sein muß67”.

Obwohl Brunner das Doktrinäre und Illusionäre des Naturrechts nicht verkennt, so erscheint ihm „die ermäßigende Anspannung an das Tatsächliche”, auf der — wie er zugesteht — „die ganze Tauglichkeit der positiven Rechtsordnung beruht", doch nicht mit einer Preisgabe des Naturrechts gleichbedeutend. Denn dieses verliere als materiale Wertordnung, an dem sich das positive Recht richten und richten lassen könne68, nicht seinen Wert: „jede positive Gerechtigkeitsordnung sei ein Kompromiß zwischen dem wahrhaft Gerechten und dem Möglichen”69. Dieser Kompromiß erfordere, daß man das geschichtlich Gegebene und die Grundlagen absoluter, schöpfungsmäßiger Gerechtigkeit gleichermaßen im Auge behalte70.

Wie hoch man auch immer den grundsätzlichen Wert eines solchen Umwegs über ein abstraktes, vermeintlich absolutes Naturrecht für die zur Gestaltung und Beurteilung positiven Rechts notwendigen Einzelentscheidungen veranschlagen mag: entscheidend ist, daß es nicht anders als bei der katholischen Naturrechtslehre an einem eindeutigen Prinzip des Übergangs von absolut zu relativ fehlt. Denn der Hinweis Brunners, „daß nicht eine abstrakte maximale Ähnlichkeit mit dem an sich Guten” die beste Lösung sei, sondern „diejenige Anpassung, die unter den gegebenen Verhältnissen dem Sinn der Gerechtigkeitsforderung am besten entspreche”71, vermittelt — so beachtenswert er auch sonst sein mag — doch eben gerade nicht den festen, zweifelsfreien Rückhalt eines Maßstabs, den man von dem Naturrecht im Streben nach materialer Gerechtigkeit erwartet.