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Aber ist es nun auch noch von den lutherischen Voraussetzungen aus zu begreifen, daß die hessischen Ordnungen ein eigenes Amt der Zucht geschaffen haben, das Ältestenamt? Es hat seine große Geschichte in der reformierten Kirche gehabt. Ist das nicht ein Zeichen dafür, daß die hessische Kirche mit seiner Erschaffung den Boden lutherischer Kirchenverfassung grundsätzlich verlassen hat? Die Antwort auf diese Frage wird uns in Untersuchungen hineinführen über Einheit und Mannigfaltigkeit des geistlichen Amtes in der lutherischen Kirche und uns achten lehren auf die Ansätze eines evangelischen Gemeindeamtes, die in ihr vorhanden sind. Sie wird uns zugleich zeigen, daß die Alternative, unter der man landläufig den Unterschied in der Amtslehre zwischen lutherischer und reformierter Kirche betrachtet hat, zu einfach ist, um wahr zu sein: als ob nämlich die lutherische nur das Gnadenmittelamt, die reformierte neben dem der Wortverkündigung auch noch das der Zucht kenne.
Was bedeutet denn hier Wortverkündigung? Doch nicht ein unverbindliches Reden über die Dinge und an der Wirklichkeit vorbei, nicht die bloße Weitergabe eines geschichtlichen Berichts, nicht ein Dozieren über allgemeine Wahrheiten. Das Wort, das der Kirche anvertraut ist, ist wirkendes Wort, das die Taten ausrichtet, um derentwillen es gesandt ist. Wortamt ist darum nach gemeinreformatorischer Auffassung ein Tatamt, das hineingreift in die irdischen Verhältnisse und in ihnen Gottes Willen geltend macht.
Freilich stoßen wir nun hier gleich wieder auf den lutherischen Unterschied der beiden Gewalten, der weltlichen und der geistlichen. Das Wortverkündigungsamt verfügt nicht über die äußeren Machtmittel, die Gott der weltlichen Obrigkeit gegeben hat; es kann und darf die Welt nicht beherrschen. Es beschränkt sich vielmehr auf die Sphäre, in der das göttliche Wort gehört wird. Rein geistlich regiert es die Kirche durch das Wort. Aber als Tatamt ist es eben doch ein Regieramt. Auch im geistlichen Bereich des Wortes wird im Namen Gottes befohlen und gehorcht, je nachdem in welches Amt einer von Gott berufen ist; auch hier in der hörenden Kirche gibt es ein Verhältnis der Über- und Unterordnung. Damit ist der Unterschied zwischen geistlichem Amt als Gnadenmittelamt und als kirchenregimentlichem Amt, der vom 19. Jahrhundert her heute noch uns quält, für die Reformatoren grundsätzlich nicht vorhanden.
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Das Wortverkündigungsamt ist als solches zugleich ein pneumatisches Regieramt. Es ist nicht nur Predigtamt, sondern birgt in sich, natürlich nicht ohne Beziehung darauf, aber doch über den Rahmen des Lehrvortrages weit hinausgehend, eine Fülle von Funktionen. Wir wollen diese Erkenntnis jetzt nicht im Blick auf die geistliche Leistung der Kirche weiter verfolgen, so sehr es im Augenblick reizen möchte zu zeigen, daß die lutherische Gleichsetzung von Bischofsamt und Pfarramt nicht nur eine negative Seite hat gegenüber Rom, sondern auch positive Bedeutung besitzt für den rechtlichen Aufbau der evangelischen Kirche.
In unserm Zusammenhang liegt uns ob, die Mannigfaltigkeit des geistlichen Amtes in der lutherischen Einzelgemeinde anhand der lutherischen Kirchenordnungen nachzuweisen. Wie verträgt sie sich mit der Alleingültigkeit des göttlichen Wortes? Ist hier nicht auf dem Boden des Luthertums, soziologisch gesehen, ein Schrumpfungsprozeß, theologisch gesehen, eine Verkürzung des Amtsbegriffs eingetreten? Das würde eine Entwicklung bedeuten, die man als verhängnisvoll bezeichnen müßte und die wieder auszugleichen heute unsere ernste Sorge sein sollte.
Von Anfang an gehören zu jeder Pfarrstelle auf dem Lande mindestens zwei geistliche Personen, nämlich Pfarrer und Küster1). Eine Stadtgemeinde zählt entsprechend mehr, aber immer so, daß der einzige Pfarrer die oberste Leitung hat. So führt etwa die Wittenberger Kirchenordnung von 1533 für die dortige Stadtgemeinde mindestens 11 Kirchendiener mit verschiedenen geistlichen Funktionen auf2).
Wichtig ist für uns, unter welchen Prinzipien diese Ämterfülle einheitlich zusammengefaßt wird. Da finden wir neben dem Predigtamt selbst in den einfachsten Verhältnisse auf dem Lande das Amt der Kinderzucht und des kultischen Küsterdienstes3), beide meistens in der Person des
1) So rechnet Luther 1530 in der „Predigt, daß
man Kinder zur Schulen halten solle”, WA 30 II, 549
28: „Auff ein igliche pfarrhe gehören zum wenigsten
zwo person, nemlich ein Pfarher und Küster, ausgenommen, was inn
stedten Prediger, Caplan, Helffer, Schulmeister und Collaboranten
sind.”
2) Sehling I, S. 700 ff. Wittenberg hat einen Pfarrer
(Bugenhagen), drei Diakone, einen Dorfkaplan für die
eingepfarrten Dörfer, einen Schulmeister der Lateinschule mit
drei Gehilfen, einen Mädchenschulmeister mit einem Gehilfen, der
zugleich Küster ist. Zu diesen geistlichen Personen im engeren
Sinne kommen dann noch die sechs Kastenvorsteher oder „Diakone”.
Die Pfarrdiakone bzw. der Kaplan sind Gehilfen des Pfarrers, vorn
diesem im Einvernehmen mit den Bürgermeistern ernannt. Der
Schulmeister kommt auf demselben Wege in sein Amt. Wie er dem
Pfarrer verantwortlich ist, so unterstehen ihm die drei
„Collaboratores”. Das Ganze ist eine abgestufte Hierarchie,
innerhalb deren die Befugnisse des Pfarrers und des Rates
beständig — der Theorie nach, sich gegenseitig helfend —
ineinandergreifen.
3) Daß das Amt eines Küsters oder Kirchners an sich
vorreformatorischen Ursprungs ist, zeigt die Bestimmung aus dem
„Bericht der Visitatoren an die Pfarrer und Dorfschaften im
Herzogtum Heinrichs von Sachsen”, datiert vom 11. Oktober 1540,
also unmittelbar nach Einführung der Reformation im
albertinischen Sachsen entstanden (Sehling I, 286): „Dagegen sol
man inn gelt, korn, ➝
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Schulmeisters miteinander verbunden. In einzelnen städtischen Kirchenordnungen, die unter Wittenberger Einfluß entstanden sind, finden wir nebeneinander das Predigtamt der Helfer und Kapläne, das Kinderzuchtamt und das Diakonenamt, und über allen das Pfarramt als das
➝ brot, eier, sprengpfennig und alles, was inn zuvor
gereicht ist, geben”.
Ähnlich heißt es schon in der Ordnung für die Dörfer des Klosters
Plötzke/Sa von 1529 (Sehling I, 646): „Darumb sol inen dasjenige,
so vor alders allzeit gegeben worden”, weiterhin als
Lohn werden; vgl. auch a.a.O. 647 für Gommern 1529, a.a.O. 648
für Pollersdorf bei Wittenberg 1528.
Aufgabe der reformatorischen Kirchenordnungen aber ist es nun,
der geistlichen Würde dieses Amtes auch in seiner äußerlichen
Stellung Geltung zu verschaffen. Das hängt natürlich auch von
wirtschaftlichen Voraussetzungen ab. Darum bestimmt die
Kirchenordnung Heinrichs IV. von Reuß vom 30. August 1552
(Sehling II, 154): „So viel immer müglich, sol man auf den
Dörfern eigne kirchner haben, und nicht solch amt den feuhirten
befehlen. Were auch gut, das dieselben kirchner, weil sie
gemeiniglich schulmeister genannt werden, solchen titel
nachsetzten, schul hielten und die jugent mit lesen und anderm
unterweisen, wie dann in etzlichen Dörfern geschieht.”
So arbeiten sich die Küster im Laufe des Reformationsjahrhunderts
in den Landgemeinden zu der Stellung eines Vertreters des
Pfarrers hinauf. Nicht nur vom Schul- und Katechismusunterricht
gilt das, sondern auch von der Wortverkündigung im
Lesegottesdienst. Wie wenig sich dieser damals von einem
Pfarrgottesdienst zu unterscheiden brauchte, wird klar, wenn man
an die Bedeutung denkt, die den Postillen damals auch für viele
ordinierte Pfarrer zukam. Daß die Küster selbst die ihnen
gezogene Grenze zu verwischen trachteten, zeigen die oft
wiederholten Predigtverbote; vgl. aus den Beschlüssen der
Leipziger Laetarekonferenz von 1544 (E. Sehling: Die
Kirchengesetzgebung unter Moritz von Sachsen und Georg von
Anhalt, Lpg. 1899, S. 140): Die Küster „sollen sich offentlichs
vnd heymlichs predigen enthalten, Bissolange sie herczu, wie
gebürlich, erfordert.” Die Schwierigkeiten entstanden dadurch,
daß auch das Dorfküsteramt eine Durchgangsstufe darstellte zum
Pfarramt. Darum fordert die Visitationsinstruktion des Markgrafen
Johann von Küstrin vom 1. November 1551 (Sehling III, 38) nicht
nur die Dorfpfarrer, sondern auch ihre Küster, „die gedenken
prister zu werden”, auf, an den städtischen Wochengottesdiensten
nach Möglichkeit teilzunehmen, um daran ein Vorbild zu haben.
Beiden Gruppen von Untergebenen sollen die städtischen
Superintendenten theologische Belehrung zuteil werden lassen.
Ja, es ist sogar möglich, noch nach der Ordination zum Pfarramt
Küster zu bleiben. So ist der Oberküster von Köln a.d. Spree
ordinierter Geistlicher und hat als solcher das Hospital von St.
Gertrud mit Predigt und Sakramentsverwaltung zu versorgen, auch
darüber hinaus in der Gemeinde Seelsorgerdienste zu leisten (vgl.
den dortigen Visitationsabschied von 1544, Sehling III, 194).
Eine ähnliche Stellung hat nach der Kirchenordnung von Frankfurt
a.d. Oder vom 11. Sept. 1540 (a.a.O. 208) der dortige Oberküster.
Auch noch in späterer Zeit, aus den Albertinischen
Generalartikeln Kurfürst Augusts von 1557 (Sehling I, 323), ist
diese Personalunion erkennbar: Kein Glöckner darf predigen; ist
er aber examiniert und ordiniert, so ist er einem Pfarrdiakon
gleichzuachten und hat nicht nur das Recht der Wortverkündigung,
sondern auch der Sakramentsverwaltung. Wenn man bedenkt, wie
energisch die Reformation den Träger des geistlichen Amtes von
allen bürgerlichen Berufen fern hielt, findet man in dieser
Personalunion den stärksten Beweis für den geistlichen Charakter
des Küsteramtes.
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pneumatische Regieramt. Die Annäherung an das vierfache Amt der calvinischen Kirchenverfassung ist offenkundig. Am deutlichsten tritt sie in der von Melanchthon verfaßten und von Luther mitunterschriebenen sog. Wittenberger Reformation von 1545 zutage. Da ist — wohl nicht ohne Beeinflussung durch die Ziegenhainer Ordnung — das Moment der Zucht verselbständigt und von dem der lehrhaften Unterweisung getrennt4). Es treten somit Gnadenmittelamt, Lehramt, Zuchtamt und Diakonat auseinander.
Freilich schließt nach lutherischer Anschauung diese äußere Nebeneinanderstellung einen wesentlichen Unterschied der einzelnen Ämter nicht aus. Geistliches Amt im eigentlichen Sinn ist nur das Gnadenmittelamt; es gehört allein wesensnotwendig zur Kirche. Die anderen Ämter sind geistlich nur in einem weiteren Sinne. Sie gehören ursprünglich in die Hierarchie der Familie bzw. der weltlichen Obrigkeit.
An dieser Stelle greift die lutherische Unterscheidung von weltlicher und geistlicher Gewalt wiederum in unsern Zusammenhang ein, eine Unterscheidung,
4) Die Einleitung der Wittenberger Reformation faßt (Sehling I, 209) die „rechte christliche Kirchenregierung” in 5 bzw. 6 Stücken zusammen. Davon umfaßt 1 bis 3 das Gnadenmittelamt „in rechter reiner Lehre, die Gott der Kirche gegeben, geoffenbart und befohlen hat” (1) und „im rechten Brauch der Sakramente” (2); es wird dabei der von Gott gebotene Gehorsam gegen das ministerium evangelii besonders hervorgehoben (3). Dann folgen 4. die „Erhaltung rechter Zucht”, 5. die Erhaltung nötiger Studien und Schulen” und 6. äußere Unterhaltung und Schutz der Kirche. — Ähnliche Versuche, die verschiedenen Funktionen des geistlichen Amtes sachgemäß zu entfalten, finden sich schon früher: Die Visitationsordnung von Kemberg in Sachsen, am 29. Oktober 1528 unter Luthers Anteilnahme zustande gekommen, kennt ein dreifaches Amt: „Die Seelsorge, Zucht der Jugend samt Unterhaltung der Armut” (Sehling I, 584). Entsprechend gliedert sich die unter Luthers Zustimmung von Nikolaus Medler verfaßte Naumburger Kirchenordnung von 1537 ff. als Kasten-, Gottesdienst- und Schulordnung; sie umfaßt damit das Diakonen-, Predigt- und Lehramt (Sehling II, 61 ff.; die einzelnen Stücke sind nacheinander entstanden; wann, ist nicht mehr im einzelnen festzustellen; vgl. WA Br. 8, S. 129, 133; WA 35, S. 56-69). Darüber setzt sie — als viertes bzw. dem Range nach als erstes — das Amt des Pfarrers „als eines aufsehers und pastorn der ganzen gemein in geistlichen sachen zuestendig . .” Wenn sie dann hinzufügt: „Darneben geburt ihme auch das predigamt”, so will sie den Pfarrer, trotz seiner Aufsichtspflicht über Prediger und Kapläne, mit diesen in seiner — in Wort und Sakrament begründeten — geistlichen Amtsgewalt grundsätzlich gleichstellen. — Alle diese Systematisierungsversuche zeigen, wie wenig es berechtigt ist, in Calvins Ausführungen über das vierfache Amt an sich ein konfessionsmäßig scheidendes Moment zu sehen. Das Besondere seiner Amtstheorie liegt vielmehr in ihrer formalbiblizistischen und humanistisch-traditionalistischen Begründung sowie im Begriff des göttlichen Rechte, den er damit verbindet. Damit ist der Unterschied der beiden Reiche, der für Luthers Amtslehre konstitutiv ist, grundsätzlich aufgehoben. Das vierfache Amt im lutherischen Sinne gehört nur im Gnadenmittelamt unmittelbar in das geistliche Reich, entstammt aber im übrigen mit allen seinen Funktionen zugleich der weltlich-bürgerlichen Sphäre. Insofern ist sein Auftrag geistlich, sein Werk weltlich. Das vierfache Amt des Calvinismus ist eine sichtbare Repräsentation des Reiches Gottes auf Erden.
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die ja bekanntlich ein praktisches Zusammenwirken nicht ausschließt5). Alle verschiedenen Arten des geistlichen Amtes haben ihre Einheit in der gemeinsamen Bezogenheit auf Wort und Sakrament. So können auch die Träger eines Amtes in Familie und Obrigkeit mit den diesem ihrem Amte eigentümlichen Funktionen unmittelbar der Kirche dienen und dadurch die Wirkung der kirchlichen Wortverkündigung unterstützen. Der Lehrer übt in der Erziehung der ihm anbefohlenen Kinder hausväterliche und obrigkeitliche Gewalt. Indem er Katechismusunterricht treibt, steht er zugleich im Dienste der kirchlichen Wortverkündigung; sein Amt ist damit ein geistliches Amt im weiteren Sinne und wird als solches kirchlich bekräftigt6).
Ähnlich steht es mit dem Diakonat nach lutherischem Verständnis. Wer unter seinen Mitbürgern kraft seiner obrigkeitlichen Stellung und durch besondere haushälterliche Gaben hervorragt und zugleich sich als evangelischer Christ bewährt hat, kann seine besonderen Fähigkeiten in den Dienst der kirchlichen Haushaltsführung stellen. Er empfängt dafür mit dem besonderen Auftrag zugleich ein besonderes geistliches Amt.
So beruht die Existenz dieses geistlichen Amtes im weiteren Sinne nach lutherischen Verständnis auf dem Zusammenwirken von weltlicher und geistlicher Gewalt im Dienste Gottes. Sie steht also unter derselben Voraussetzung, die wir oben für die lutherische Kirchenzucht geltend gemacht haben. Zugleich verwirklicht sich hier das allgemeine Priestertum aller Gläubigen. Es macht ja das besondere Wirken des geistlichen Amtes nicht etwa überflüssig, ebensowenig wie dadurch der einzelne aus den Grenzen seines bürgerlichen Berufs herausgerissen wird. Beides würde zur Anarchie führen, zur politischen und zur kirchlichen. Die Lehre vom allgemeinen Priestertum der Gläubigen kann erst vom Hintergrund der Lehre vom Amt und Beruf richtig verstanden werden. Sie ermöglicht es jedem, der aus der Taufe gekrochen ist, nicht nur, seine alltägliche Arbeit als Gottesdienst zu führen, sondern auch, seine besonderen Amtsfunktionen in den Dienst der Kirche zu stellen und damit ein besonderes geistliches Amt im weiteren Sinne zu übernehmen.
Machen wir uns diese allgemeinen Erörterungen klar an dem konkreten Amt der Diakonen; von hier aus läßt sich auch der Übergang zum Zuchtamt am leichtesten vollziehen.
5) Maßgebend für das Verständnis von Luthers
Lehre über die drei Hierarchien sind die Ausführungen von Ferd.
Kattenbusch: Die Doppelschichtigkeit in Luthers Kirchenbegriff,
1928, S. 117 ff.
6) Vgl. die oben in Anm. 3 angezogenen Stellen und
Luthers Äußerung von 1530, Anm. 1, S. 24. Wenn, wie Wilhelm
Diehl immer wieder gezeigt hat, in Hessen bis über den
Dreißigjährigen Krieg hinaus der Pfarrernachwuchs durch den
Dienst der Volksschule hindurchgehen mußte bzw. der ursprüngliche
Volksschullehrerstand wenigstens in den größeren Orten
akademisch-theologisch gebildet war, dann war damit hier eine
Forderung erfüllt, die im Sinne Luthers liegt und der
Einschätzung entspricht, die der Lehrerstand in den Ordnungen
seiner Kirche findet.
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Die lutherischen Kirchenordnungen kennen Altarmänner, Kirchväter, Gotteshausvorsteher, Kirchgeschworene, Kirchbaumeister, Kirchmeister, Heiligenmeister, Kastenmeister, Prokuratoren, Leviten7). Hinter all diesen verschiedenen Namen birgt sich dasselbe Amt, das Verwaltungsamt der Einzelgemeinde. Ursprünglich ist es nur zur Pflege des kirchlichen Vermögens und der Baulichkeiten bestimmt. Als solches geht es weit in vorreformatorische Zeit zurück. Altarmänner bzw. Kirchväter werden schon in den Magdeburger Synodalstatuten von 1266 erwähnt8). In den lutherischen Kirchenordnungen der ersten Zeit wird ihre Existenz überall vorausgesetzt, werden nur ihre Dienstobliegenheiten neu geordnet. Der Name Heiligenmeister, der sich z.B. im Schmalkaldischen noch lange erhalten hat, deutet diese mittelalterlichen Zusammenhänge noch an9).
Man darf sich die Selbständigkeit der mittelalterlichen Pfarrgemeinden nicht allzu gering vorstellen. Weithin haben sie das Pfarrwahlrecht behauptet und in Städten und Dörfern die finanzielle Verwaltung des Kirchenvermögens hinzuerobert. In Fragen der Sittenzucht entscheiden sie selbständig; auch die Lebensführung der Pfarrer unterliegt oft ihrer Kontrolle10).
Alle diese Rechte sind Überbleibsel oder Neubildungen
7) Mehr als 80 synonyme Bezeichnungen in
deutscher und mehr als 20 in lateinischer Sprache führt auf —
unter Benutzung des Archivs des deutschen Rechtswörterbuches —
Sebastian Ströcker: Die Kirchenpflegschaft, 1934.
8) Jacobson in RE3 X, 462. Freilich werden
sie hier nicht von der Gemeinde gewählt, sondern von den
kirchlichen Oberen ernannt; doch vgl. Anm. 10.
9) Vgl. die Kirchenordnung von Schmalkalden vom 2.
Sept. 1555, Sehling II, 348; für andere Orte der Grafschaft
Henneberg a.a.O. 329, 336.
10) Über die Selbständigkeit der mittelalterlichen
Pfarrgemeinde ihrem Pfarrer gegenüber — nicht nur in Verwaltung
des Pfarreivermögens, sondern auch in Fragen der Sittenzucht —
sowie den germanischen Ursprung dieser an sich unkanonischen
Rechte siehe Ulrich Stutz in RE3 XV, 243 f.: „Sie
sorgte mit für Kirchen- und Sittenzucht, ja, sie überwachte sogar
die Lebens- und Amtsführung des Pfarrgeistlichen und seiner
Hilfspriester.” Diese Darstellung wird bestätigt von A.
Werminghoff: Verfassungsgesch. d. dtsch. Kirche im MA,
19132, S. 165 f. Ebendort S. 109 über die finanzielle
Verwaltung der Kirchenfabrik durch städtische Organe im
ausgehenden MA. Alfred Schultze (Stadtgemeinde und Kirche im MA,
Festschrift für Rudolf Sohm, 1914, S. 105) urteilt über die
kirchliche Tätigkeit der spätmittelalterlichen Stadtgemeinde:
„Hier erfolgte der genossenschaftliche Einbruch großen Stils in
die hierarchische Anstaltsverfassung der katholischen Kirche.”
Und er sieht in den lutherischen Kirchenordnungen diese
Entwicklung sich vollenden. Er beurteilt sie freilich rein nach
juristischen Gesichtspunkten; die Frage, ob und wieweit sich hier
eigene Ansätze eines neuen kirchlichen Rechtes
feststellen lassen, ist völlig ausgeschaltet. Über die
städtischen Kirchpfleger s. a.a.O. S. 129 ff., über die
Zuchtbefugnisse des Rates gegenüber dem niederen Klerus a.a.O. S.
137 ff.; in dem Zusammenwirken zwischen Pfarrer und
Ratsmitgliedern in diesen städtischen Zuchtkommissionen ist die
spätere Stellung des lutherischen städtischen Pfarrherrn schon
vorgebildet. Aber wieviel tiefer ist die Begründung, die die
Reformation diesem Zusammenwirken gab!
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germanisch-genossenschaftlichen Denkens und stehen als solche fremdartig mitten im Rechtssystem der hierarchisch verfaßten Kirche. Erst die Reformation hat jene germanische Rechtspraxis kirchlich legitimiert. Sie hat sie, die im Kanonischen Recht eigentlich keine Existenzberechtigung hatte, neu begründet, hat dem hausväterlichen und obrigkeitlichen Amt einen göttlichen Auftrag in der Kirche gegeben. Sie hat aus den Ansätzen genossenschaftlichen Denkens, die sich in der mittelalterlichen Kirche finden, ein geistliches Amt entwickelt. Mit dem Erlaß der ersten reformatorischen Kastenordnungen werden die Kirchväter mit der kirchlichen Armenpflege und Liebestätigkeit betraut. Und damit wird ihr Amt als Wiedererweckung eines neutestamentlichen Amtes verstanden; in etwa der Hälfte der von mir durchgesehenen lutherischen Kirchenordnungen wird es dem biblischen Diakonat gleichgesetzt. Die Neubegründung des Diakonenamtes erfolgt also nicht erst durch Wichern; für sie darf heute nicht die altkirchliche Ordnung vorbildlich sein — der von hier ausgehende Klerikalisierungsprozeß hat sich als Fehlentwicklung längst herausgestellt. Die Reformation hat den biblischen Diakonat neu begründet.
Schon Luther hat in einer am Stephanustage 1523 gehaltenen Predigt den Verfall dieses neutestamentlichen Amtes in der mittelalterlichen Kirche bedauert und seine Erneuerung in den evangelischen Gemeinden proklamiert. Die von den bürgerlichen Gemeinden eingesetzten Spitalmeister und Armenvormünder sind in seinen Augen die wahren Nachfolger des Stephanus; und von den neu zu schaffenden Kastenordnungen erwartet er, daß sie noch mehr solcher hervorbringen werden11).
Die lutherischen Kirchenordnungen haben diese Erwartung bestätigt. Ich greife einige Beispiele heraus. Die Wittenberger Kirchenordnung von 1533 kennt „sechs Vorsteher oder Diakone”, von denen zwei aus dem
11) WA 12, 693 33: „Es wer wol gut, das mans noch anfing, wann leut darnach weren, da ein statt als diße hie geteilt würd in vier oder fünff stück, geb yeglichem ein prediger und Diaconum, die da güter außteylten und versorgten kranck lewt und drauff sehen, wer da mangel leyde. Wir haben aber nicht die person darzu, darum traw ichs nicht anzufahen, so lang biß unser herr gott Christen macht. Ietz hatt man mit der zeyt Epistler und Euangelier gemacht auß den Diaconis.” Diese Anwendung des Diakonennamens auf die Pfarrgeistlichkeit setzt Luther mit der Verderbnis des Bischofsamts in der Römischen Kirche in Parallele und fährt dann fort: „So welet man auch Diacon nicht zu dem ampt, das sie da zur zeyth furtten, Sonder daß steen beym altar, lören Epistel und Euangelium daher; was gehört zu predigen und betten, das hat man meß genannt, was gehört lewt zuversorgen, das hat man Epistler, Euangelier genannt. Es haben noch wol ein stuck oder bild von den Diaconis die spittelmeyster, nonnenpröbst und der armen vormunde. Und ir, wann ir ein gemeyn casten auffricht, so fecht ir was Bischöff und Diacones (!) seind. Bischoff heyßt ein amptman gotes, der sol diener haben, er sol die götliche güter außteilen, das Euangelion, Die diacon aber, das ist die diener, söllen das register haben über arm lewt, das die versorget werden.”
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Rat, vier aus der Bürgerschaft bestellt werden12). Auch nach der Lübecker von 1531 gehen die Diakone aus den politischen Körperschaften hervor. Zur Wahl aber wird am Sonntag vorher im Gottesdienst Fürbitte getan. Die Wahlkörperschaft selbst wird wiederum zur Gebetsgemeinschaft, in der nach dem Vorbild der Apostelwahl von Apg. 1 der göttliche Beistand angerufen wird. Ergibt sich keine Einstimmigkeit, „so befehle man Gott die Sache und werfe das Los darum”13): Gott selbst setzt also in
12) Sehling I, 708. Es sollen sein „fromme,
gottesfürchtige, wohlbesessene Bürger”. Sie haben nicht nur die
Unterstützungsempfänger ,,auf Leben, Wandel und Unvermögen” zu
prüfen, sondern auch darüber hinausgehende Zuchtbefugnisse: sie
sollen „auf Ärgernis und Untugend heimlich und öffentlich Achtung
geben und die zu weiterer Strafe dem Pfarrer oder Predigern
angeben”.
13) Sehling V, 335 ff. Bugenhagen stellt ihnen hier
das Beispiel des Stephanus und des römischen Diakonen Laurentius
vor Augen und fordert von ihnen (a.a.O. 361): „De wile nu de
Diakene also, wo gesecht is, der armot heimelick unde apenbar
möten vorstan, so möten se fram sin; dar se gerne geven und sick
der anderen nodt annemen, wedderumme möten se ock sin vorsichtich
unde vorstendich, dat se weten, wem se geven schölen.”
Nicht nur die Armenpfleger, sondern auch die Kirchväter werden
mit dem biblischen Diakonennamen ausgezeichnet. Daß das Amt trotz
seines geistlichen Charakters vom Rate besetzt wird, dafür die
Begründung a.a.O. S. 363 (wörtlich schon so in der Hamburger
Kirchenordnung von 1529): „De wile dit göttlike ampt
gelt unde gut andrept unde vele schaffendes in disser guden
stadt, so kan und schal id ock nicht bestaen ane des erbare rades
vuldort, bevehl unde bekrestinge, also idt ock rede tom dehle,
godt si gelavet, mit bevele des erbarn rades im werke geit.” Über
das Wahlverfahren mit Gebet a.a.O. S. 364, 366; ähnliche
Vorschriften in der Wahlordnung für die Altarmänner von
Halberstadt aus dem Jahre 1543, Sehling II, 487 ff.
Besonders stark wird dieser biblische Charakter des Diakonenamtes
von Bugenhagen in der Hamburger Kirchenordnung von 1529
hervorgekehrt. Die biblischen Vorschriften, die den Diakonen
gelten, werden auf sie angewandt: sie sollen „sulcke erlicke,
redelike, uprichtige, christlike menne mit orem gesinde (so vele
bi en is) sin, alse van den Diakenen geschreven steit.” „Und
sulck schollen se nicht alleine doen, sunder ock helpen frede
maken und dem unfrede weren. Twedrechtigen schollen se gerne
helpen to der christliken versoninge, hemelick, apenbar, wo sick
dat up dat alder limpelikest mit christliker meticheit schicken
wil, achterkosent und dar hader ut werden mach, schollen se
vlitich vormiden, und tovormidende den andern ein gut exempel
geven.” Die Seligpreisung von Matth. 5 9 findet auf
sie besondere Anwendung: „Kumpt sulck ein sproke Christi to den
gemenen christenen, vele meer sunder twivel sulcken
christenen, welcke sunderge christlike ampte in der
gemene alse dussen diakenen werden bevalen.”
Die Neumärkische Kastenordnung von 1540 schreibt zur Wahl der
hier „Kastenherrn” genannten Diakonen ein Gebet folgenden
Wortlautes vor (Sehling III, 30): „Daß seine göttliche
Allmächtigkeit ihren Segen dazu gnädiglich wollte geben, daß
diejenigen gewählet, welche solchen Ämtern treulich mögen
vorstehen, dadurch der Kirchendienst gefördert, die Diener der
Kirche versorget und (da)durch das Wort Gottes fleißig gepredigt,
daß sein göttlicher Name gepreiset, auch daneben die Armen aus
den Werken des Glaubens durch Dartuung der Almosen
christgläubiger Menschen möchten notdürftig versorget und
unterhalten werden.” Hier wird also der Diakonat als das Amt der
Liebe mit dem Wortamt, das den Glauben weckt, in direkte
Beziehung gesetzt.
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dieses Amt ein; kann es einen stärkeren Beweis für seinen geistlichen Charakter geben?
Ihm entspricht es auch, daß den Diakonen Zuchtbefugnis zukommt. Zunächst haben sie die von ihnen unterstützten Gemeindearmen nach christlichem Bekenntnis und Lebenswandel zu kontrollieren. Aber der Kreis erweitert sich bald auf alle heimlichen und öffentlichen Laster, die ihnen zu Ohren kommen14). An dem kirchlichen Zucht- und Mahnverfahren, das nach Matth. 18 der Verhängung des Bannes vorauszugehen hatte, hat Luther selbst sie beteiligt wissen wollen. Bei der Vorbereitung und Durchführung der Kirchenzuchtfälle wirken sie mit, und die Pfarrer sind ausdrücklich an ihre Mitentscheidung gebunden15). Ja, selbst über die Verkünder des Wortes erstreckt sich ihre Zuchtbefugnis. Die Visitationsprotokolle legen uns reichlich Zeugnis dafür ab, selbst noch aus der Zeit der werdenden Orthodoxie, als der Schrumpfungsprozeß des geistlichen Amtes schon voll eingesetzt hatte16).
14) Vgl. das Zitat oben Anm. 12. Ähnlich schon
in der Verordnung der Visitatoren für Liebenwerda vom 9. 4. 1529
(Sehling I 613); in der Verordnung für Schmiedeberg vom 29. 10.
1528 (Sehling I 664) ist nur von einer Überwachung der
Unterstützungsempfänger die Rede.
15) In der Invocavitpredigt vom 23. Februar 1539 hat
Luther sich ausführlich über seine Grundsätze in der Frage der
Kirchenzucht ausgesprochen, veranlaßt durch gleichzeitige
Vorfälle in der Wittenberger Gemeinde (WA 47, 669 f.). Als
wichtigstes Kennzeichen eines christlichen Bannes nach Matth. 18
erscheint ihm da die aktive Beteiligung der Gemeinde: „Ego non
pro persona mea aliquem excommunico. Sed alle Christen müssen
dazu thun mit ewerm gebet, ut Paulus 1. Cor. 5: cum spiritu
vestro et nos, das ein vater unser gesprochen werd contra
aliquem. Et si büsset, ut widerumb eins gesprochen werde, ut
iterum recipiatur.” Dementsprechend verläuft dann das Verfahren
in drei Stufen: 1) Zwei „e presbyteris et Diaconis” überbringen
dem Straffälligen die Aufforderung der Buße. 2) Ist sie
vergeblich, wird der Bann ausgesprochen. 3) Lassen sich Anzeichen
der Buße feststellen, so erfolgt die Vergebung. Die Überlieferung
der Predigt in den Tischreden (T.R. IV 273 ff.) fügt, wie das der
Sache entsprach, vor der Exkommunikation noch ein
seelsorgerliches Verhör in der Sakristei ein (275 24)
im Beisein der Kapläne, „zwen vom rath vnd castenherrn und zwene
erlicher menner von der gemein.”
16) Neben den Kastenmeistern haben gelegentlich auch
die Küster solche Zuchtbefugnis gegenüber dem Pfarrer.
In Mecklenburg hält sie sich ganz in der
kultisch-seelsorgerlichen Sphäre: Die dortige „Ordeninge der
misse” von 1540/45 (Sehling V, 150) kennt am Anfang der Liturgie
ein Sündenbekenntnis des Pfarrers und dessen Absolvierung durch
„den Küster oder einen anderen Christen”, der mit ihm vor dem
Altar kniet; ähnlich in der mecklenburg. Ordnung von 1552, a.a.O.
S. 198. — Die brandenburgische Visitationsordnung von 1558
(Sehling III, 123) legt den Küstern eine Anzeigepflicht
auf gegen die Pfarrer, die der genannten Ordnung nicht
nachkommen.
Der sittenpolizeiliche Gesichtspunkt tritt bei dieser
Kirchenzucht je länger je mehr in den Vordergrund: Die
Kirchväter haben dafür zu sorgen, daß die Eltern ihre
Kinder zur Taufe bringen (Visitationsabschied für Grobin,
Kurland, vom 26. Juli 1560; Sehling V, 115). Um das Volk, vor
allem das slawische, zum Gottesdienst zu zwingen, soll jedes
Kirchspiel in Quartiere eingeteilt werden; die Obrigkeit soll
„sonderliche gottfürchtige menner von den eltisten rechfindern
➝
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Wir sehen nun ohne weiteres, wie sich die Ziegenhainer Zuchtordnung in diese Entwicklung des Luthertums einordnet. Sachlich, der Amtsfunktion nach, ist das, was sie als ein besonderes Amt und unter dem besonderen Namen der Ältesten einführt, schon längst vorhanden. Und wie in dieser ganzen auf Luther zurückgehenden Tradition, so bildet auch bei
➝ oder freien darzu bestellen”, den Gottesdienstbesuch zu
kontrollieren (Kurländische Kirchenordnung von 1570, Sehling V,
93). Und wo den Pfarrern gegenüber ein Kontrollrecht
über Leben und Lehre geltend gemacht wird, wird es nicht aus
einer spezifisch geistlichen Verantwortung, sondern wie im
ausgehenden Mittelalter mit dem Stiftungszweck der kirchlichen
Pfründen begründet: Die Kirchenvorsteher sollen vor den
Visitatoren bekennen, ob die Diener ihrer Kirche „irer besoldung
wirdig oder unwirdig sein, solche kirchen güter mit fleißiger
lehr und godtseligem leben verdienen, ob sie sich auch der gebür
ihrem bevohlenen amte gemeß allezeit gegen jdermenniglich
verhalten” (a.a.O. S. 78).
Aber der geistliche Charakter des Amtes ist doch nicht gänzlich
verloren gegangen. Wenn nach den Querfurter Visitationsartikeln
von 1555 die Altarmänner von den Visitatoren gefragt
werden, was die Pfarrleute dem Pfarrherrn für ein Zeugnis geben
(Sehling II, 460), so setzt dies doch ein seelsorgerliches
Verhältnis zwischen Pfarrer und Gemeinde und bei denen, die ein
solches Urteil wiedergeben sollen, ein geistliches
Unterscheidungsvermögen voraus. So werden auch nach der
Visitationsinstruktion des Herzogs Johann Wilhelm für den
Weimarer Bezirk vom 31. Oktober 1569 (Sehling I, 247) nicht nur
Geldfragen behandelt, sondern die Altarleute haben auch über die
sittlichen Zustände in der Gemeinde sowie über Leben und Lehre
von Pfarrer und Küster Auskunft zu geben. Nach der anhaltischen
Visitationsinstruktion von 1560 (Sehling II, 560) ist das
Verhältnis doppelseitig: Pfarrer und Küster bringen ihre
Beschwerden gegen die Gemeinde vor die Altarmänner, diese
wiederum zeigen an, was gegen jene vorzubringen ist. Bei
Zwistigkeiten im städtischen geistlichen Ministerium sind die
Kirchväter die gegebenen Schlichter; durch sie gelangt eine
Streitsache zur endgültigen Beilegung an den Rat (Magdeburg,
Ordnung vom 17. Jan. 1569, Sehling II, S. 454; Erfurt, Formula
pacificationis vom 30. Dezember 1580, a.a.O. S. 368).
Eine ganz besondere Stellung nimmt in allen diesen Fragen die
Grafschaft Mansfeld unter dem Einflusse des Erasmus Sarcerius
ein. Wie schon Johannes Brenz 1526 bzw. 1531 den Versuch gemacht
hatte, das mittelalterliche Sendgericht auf dem Boden
reformatorischen Kirchentums zu erneuern (vgl. A.M. Koeniger:
Brenz und der Send = Renaissance und Reformation, Festschrift für
Joseph Schlecht, 1917, S. 208 ff.), so kennt auch die „Form und
Weise einer Visitation für die Grafschaft Mansfeld” von 1554
(Sehling II, 192) in jeder Gemeinde vier Sendschöffen (scabini
synodales), die fortdauernd die kirchenzuchtliche Aufsicht üben
sollen. Erasmus Sarcerius selbst stellt in seinem „Pastorale oder
Hirtenbuch” (Vom Ampt, Wesen vnd Disciplin der Pastoren vnd
Kirchendiener, 1559, S. XVIII) neben die Sendschöffen besondere
„Älteste”, „die durch ihr ansehen, Rath, Lere vnd Autoritet der
Kirichen vorstehen und behülfflich sein, die man auch in dem
Consistorio oder Geistlichen Gerichten gebrauchen kan. Item sonst
in einer jeden Gemeinde, die dan jre Elstesten und Rethe haben
sol, neben den Senschepffen, Pastor vnd andern Kirchendienern”;
das Verhältnis beider Instanzen tritt nicht klar hervor. Jedoch
ist deutlich, daß Sarcerius durch das altkirchliche Vorbild
stärker als durch das mittelalterliche gebunden ist. Wenn er auch
nicht die Siebenzahl der Ämter sklavisch übernimmt, auch eine
➝
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ihr die Bewährung in einem obrigkeitlichen Amt die Vorbedingung für den Eintritt in ein solches geistliches Amt im weiteren Sinne. Die hessischen Ältesten sollen teils dem Rat, teils der Gemeinde entnommen werden17). In Kassel hat der Landgraf offenbar selbst das erste Ältestenkollegium zusammengesetzt18); hier gehören ihm anfänglich sogar der landgräfliche Statthalter und Kanzler an, um die Zuchtübung erst einmal in Gang zu bringen.
Und doch ist dieses Amt durchaus als geistliches Amt verstanden. „Nach der alten Ordnung des Heiligen Geistes” ist es aufgerichtet. Vom Amt der Lehrer wird es mit klaren Worten unterschieden und als
➝ besondere sakramentale Ordination ausdrücklich ablehnt,
so ist er doch davon überzeugt, daß „allezeit vnterschiedliche
Kirchendiener vnd Kirchenempter in der Kirchen gewesen sein und
das es noch billig, recht vnd nützlich ist, das man solchen
vnterscheidt der Personen vnd Empter noch habe.” Dabei gehört ihm
der Presbyterat zu den notwendigen Ämtern der Kirche.
Bei Sarcerius begegnet uns zum ersten Male eine rein
literarisch-traditionalistische Auffassung vom geistlichen Amt;
der lebendige Fortschritt einer volkstümlich-rechtlichen
Entwicklung, die das Mittelalter angebahnt und die die
Reformation durch eine theologische Neubegründung zu einer neuen
Stufe geführt hatte, wird hier jäh unterbrochen. Vgl. unten S. 36
ff.
17) Ae.L. Richter: Die evangelischen Kirchenordnungen
des 16. Jahrh., Neue Ausg., 1871, I S. 290 b (= A. Uckeley: Die
Kirchenordnungen von Ziegenhain und Kassel 1539, Neudruck 1939,
Bl. A V): „Vnd möcht besserlich sein, das solche eltesten eins
theils auß des Raths oder gerichts herren, eyns theyls von der
gemeyn gewelt würden.” Von einem selbständigen Wahlrecht der
Kultgemeinde kann gar keine Rede sein. Den politischen Gremien
wird ohne weiteres geistliches Unterscheidungsvermögen
zugebilligt. Denn daß es sich um ein geistliches Amt handelt,
wird ausdrücklich erklärt. Auf „die alte Ordnung des heiligen
Geists” wird es zurückgeführt und als der „notwendigste und
heilsamste dienst und ampt” gewürdigt, „so nach dem ampt der leer
in der kirchen seyn mag.” Die Presbyter sollen sein „die
verstendigsten, bescheidensten, eyfrigsten und Frömbsten im
Herren, vnd die auch bey der Gemeine die best vertrautesten und
wohlgemeintesten sein, so man immer in jeder gemeyn haben mag”.
Darum soll auch die Wahl „mit getrewem vff sehen vff den Canonem
Pauli” vollzogen werden. Das geistliche Anliegen ist ganz in die
weltliche Organisationsform eingebettet, ein Zeichen dafür, wie
dieses geistliche Amt im weiteren Sinne in den Hierarchien von
Obrigkeit und Familie verwurzelt ist, aber gerade dadurch fähig
ist zum Dienst innerhalb der Kultgemeinde.
18) So muß m.E. das „auch” aus der Stelle im Briefe
Butzers an den Landgrafen vom 27. Dezember 1538 (Max Lenz:
Briefwechsel Landgraf Philipps des Großmütigen von Hessen mit
Bucer, I, 1880, S. 60) verstanden werden: „Ich habe gestern
vergessen, e.f.g. zu bitten, das sie zu den erweleten eltisten
der kirchen zu Kassel hatten auch verordnete e.f.g.
stadhalter und cantzler, nit das sie allemal zu derselbigen rath
komen, sondern inen in den hoheren, notigern sachen berather sein
solten und das doch allein in anfang, damit die erweleten nit zur
sachen zu kleinmutig sien. Davon werden e.f.g. die prediger zu
Cassel weiter berichten.” Wie der Wortlaut lehrt, werden hier
„wählen” und „verordnen” völlig gleichwertig gebraucht.
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gleichwertig neben dasselbe gestellt. In feierlichem Gottesdienst werden die Ältesten unter Handauflegung in ihr Amt eingeführt19).
In der Tat besteht der einzige Unterschied zwischen der bisher im Luthertum aufgewiesenen Entwicklung und den hessischen Ordnungen darin, daß hier die Zuchtfunktion sich zu einem eigenen geistlichen Amte verselbständigt hat. Für diesen Fortschritt wird gewöhnlich Butzer verantwortlich gemacht. Er greift damit zurück auf das Straßburger Institut der Kirchspielpfleger, das seit 1531 bestand. Auch hier handelte es sich um Männer, die aus Rat und Bürgerschaft zur Lehr- und Sittenzucht bestellt waren. Auf die Verwandtschaft mit ähnlichen Wittenberger Einrichtungen hat Holl schon hingewiesen20).
Wir sind inzwischen durch Walther Köhlers Forschungen über das frühprotestantische Eherecht in den Stand gesetzt, die Entwicklung des Ältestenamtes in Südwestdeutschland noch etwas weiter zurückzuverfolgen. In Basel sind 1529 gleichzeitig mit der Einrichtung einer besonderen Kirchenzucht unter Oekolampads Einfluß sog. Bannherrn als Träger eines besonderen kirchlichen Amtes eingeführt worden; auf Vorschlag Oekolampads heißen sie seit 1530 Presbyter oder Senioren. Diese Baseler Entwicklung muß gedeutet werden als ein Protest gegen das nackte Staatskirchentum, das sich in Zürich unter Zwinglis Duldung und Mitwirkung herauszubilden begonnen hatte. Es handelt sich in ihr um einen Gegenschlag, der vom Standpunkt lutherischer Soziallehren aus geführt wurde. Sie gehört damit hinein in den Zusammenhang der inneren Kämpfe, die damals in der deutschen Schweiz zwischen Luthertum und Zwinglianismus ausgefochten wurden und die nicht nur das Gebiet der Abendmahlslehre betreffen. Indem man die Eingriffe der weltlichen Obrigkeit in die seelsorgerliche Sphäre abzuwehren und die Eigenständigkeit eines kirchlichen Bannrechtes zu wahren suchte, trug man dem lutherischen Grundsatz von der grundsätzlichen Geschiedenheit der beiden Gewalten Rechnung21).
19) Vgl. die Belegstellen in Anm. 17. Beachte
den Unterschied, der zwischen der „Wahl” der Ältesten und ihrer
„Bestätigung” im Gottesdienste a.a.O. gemacht wird: „Diesse
Eltesten solle jede Kirchen wie auch die Diener des wortes mit
getrewem vffsehen vff den Canonem Pauli welen, vnd were auch gut,
das man sie in der kirchen mit öffentlichem gebet und vermanung —
zu inen, den Eltesten, jres Ampts vleissig zu warten, zu der
gemein, denselbigen Eltesten im herrn hertzlich zu gehorchen —
befestigte vnd jr ampt also heyligte.”
20) Johann Adam: Evangelische Kirchengeschichte der
Stadt Straßburg, 1922, S. 177 f. — Karl Holl, Ges. Aufs. III S.
269 verweist darauf, daß die Wittenberger Viertelsmeister von
1521/22 als Vorbilder der Straßburger Kirchspielspfleger
anzusehen seien.
21) Walther Köhler: Züricher Ehegericht und Genfer
Konsistorium. I. Das Züricher Ehegericht und seine Auswirkung in
der deutschen Schweiz zur Zeit Zwinglis. 1932. — So dankbar wir
für die Aufhellung dieser komplizierten und wichtigen
Zusammenhänge sein müssen, so sehr müssen wir an einer Stelle
Widerspruch anmelden. Köhler findet S. 284 schon in der
biblischen Begründung ➝
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Trotzdem also unsere hessischen Ordnungen sich auch auf das Vorbild von Straßburg und Basel zurückführen lassen, fallen sie doch nicht grundsätzlich aus der auf Luther zurückgehenden Traditionsreihe. Nur ein Moment gibt es in ihnen, das über diesen Zusammenhang hinausgreift, ohne ihm jedoch ganz fremd zu sein und ohne sich besonders in den Vordergrund
➝ des Ältestenamtes an sich den Anspruch auf göttliche
Legitimation ausgesprochen. Er schreibt darum: „Nicht also Martin
Bucer hat das Ältestenamt als Gottes Ordnung, als ius divinum, in
den evangelischen Kirchen begründet, sondern Johannes Oekolampad.
Er ist damit der Begründer eines ius divinum im evangelischen
Kirchenrecht überhaupt. Die Rückprojektion einer gegenwärtigen
Kirchenverfassung ins Urchristentum wird von ihm erstmalig
vollzogen. Es handelt sich hier nicht um schlichte Laien, die im
Auftrag und Vollmacht des Magistrats die Aufsicht führen über ihr
Kirchspiel und die Angelegenheiten der Kirche, sondern um Organe
der Kirche als der göttlichen Heilsanstalt, die im Namen, Auftrag
und Vollmacht des Herrn in Kraft des Geistes reden, strafen, die
Binde- und Lösegewalt üben, mit einem Wort: ,geistliche
Personen’. — In diesen Ausführungen wird das eigentümliche Wesen
des lutherischen geistlichen Amtes in weiterem Sinne verkannt:
das nämlich „schlichte Laien” als „Organe der Kirche” und in
deren „Namen und Auftrag” geistliche Amtsfunktionen ausüben
können und zwar so, daß sie die Gaben und Kräfte, die ihnen ihr
Stand innerhalb der politischen Gemeinschaft verleiht, in den
Dienst der kirchlichen stellen. Wie unmöglich es ist, mit der
Entgegensetzung von „Laienkirche” und „Anstaltskirche” im 16.
Jahrh. zu arbeiten, zeigen die lichtvollen Bemerkungen Johannes
Heckels (Recht und Gesetz, Kirche und Obrigkeit in Luthers Lehre
vor dem Thesenanschlag = Ztschr. d. Savignystiftung für
Rechtsgeschichte, Kanonist. Abtlg. 26, 1937, S. 358 f.) über jene
um die Wende des 18. zum 19. Jh. entstandene Konstruktion. Daß
man für zeitgeschichtliche bedingte Formen kirchlichen
Verfassungslebens eine biblische Begründung sucht, bedeutet doch
an sich noch nicht die Einführung eines ius divinum in der
evangelischen Kirche. — Ernst Staehelin: Das theologische
Lebenswerk Johannes Oekolampads, 1939, S. 506 ff. hält sich mit
solchen allgemeinen Urteilen zurück, bezeichnet indessen sehr
richtig S. 511 f. das Baseler Ältestenamt als „ein neben der
Pfarrersynode überaus wichtiges Organ der Eigenständigkeit der
Kirche.” Ohne Frage ist hierfür neben Luther die Alte Kirche für
Oek. vorbildlich gewesen. Seit 1518 hat er sich mit der
altkirchlichen Bußdisziplin quellenmäßig vertraut gemacht; vgl.
seine darauf bezüglichen Übersetzungen griechischer Väter a.a.O.
S. 89 ff.
Jedoch tritt in seiner großen, Mai/Juni 1530 vor dem Baseler Rat
gehaltenen Programmrede über die Einführung der Kirchenzucht in
Basel (Briefe und Akten zum Leben Oek.’s hrsg. von E. Staehelin
II, 1934, Nr. 750, S. 448 ff.) das altkirchliche Vorbild völlig
zurück. Mit Luthers Gedanken wird die Polemik gegen die entartete
spätmittelalterliche Kirchenzucht durchgeführt (S. 452), wird
aber auch die Einführung einer neuen besseren begründet. Sie
entstammt der christlichen Liebe, die den Nächsten nicht verloren
gehen lassen will, auch wenn er schuldig geworden ist, die aber
unter allen Umständen den Unschuldigen vor Ansteckung aus seiner
Umgebung zu bewahren trachtet (S. 430). Sie ist ein Heilmittel,
der greisenhaft gewordenen Kirche (humanistische
Geschichtsbetrachtung und die eschatologische Erwartung der
Reformatoren reichen sich hier die Hand) von Gott aus besonderer
Barmherzigkeit verordnet (S. 452). Daß sie nur von der Gemeinde
als einer Stätte brüderlicher Liebe gehandhabt werden kann, wird
ausdrücklich hervorgehoben; die Pfarrer müssen um ihrer
seelsorgerlichen Verantwortung willen mit an ihr beteiligt sein,
haben sie doch über die Reinheit der Sakramentsspendung zu wachen
und die Absolution ➝
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zu drängen. Es ist der humanistische Traditionalismus, der das Bild des Presbyters in unsern Ordnungen mit geformt hat. Butzer und mit ihm seine humanistisch gebildeten Freunde unter den Reformatoren wie Capito und Oekolampad sind allen Ernstes der Meinung, ihre Ansicht vom Ältestenamt decke sich mit der der ursprünglichen Kirche und lasse sich aus Neuem Testament und Kirchenvätern belegen. Trotzdem sie in der Praxis Ältestenamt und Diakonat mit Trägern entsprechender obrigkeitlicher Ämter besetzen, neigen sie in der Theorie dazu, sie mit dem Gnadenmittelamt in ihrem geistlichen Charakter gleichzusetzen, also den reformatorischen Unterschied von geistlichem Amt im engeren und weiteren Sinne aufzuheben22).
Wird mit dieser Auffassung ernst gemacht, dann ist die lutherische Lehre vom geistlichen Amt grundsätzlich verlassen. Dann handelt es sich bei dem Ältestenamt nicht mehr um einen geistlichen Hilfsdienst, den die Träger
➝ auszusprechen (S. 453). Mit aller Schärfe aber wird der
seelsorgerliche Charakter dieser kirchlichen Zucht im Unterschied
von der obrigkeitlichen Strafgewalt herausgearbeitet (S. 455 f.).
Leidenschaftlich werden hier in Rede und Gegenrede die Einwürfe,
die gegen ein kirchliches Zuchtinstitut im Namen der politischen
Ordnung erhoben werden könnten, zurückgewiesen. In diesen
Ausführungen ist der Höhepunkt der Rede erreicht, ist zugleich
Luthers Lehre von den beiden Reichen gewahrt und die Würde und
Eigenständigkeit der Kirche als einer sakramentalen
Liebesgemeinschaft gesichert; mit der Heiligkeit von Taufe und
Abendmahl wird die Notwendigkeit der Kirchenzucht begründet. Aber
hier ist zugleich den Punkt getroffen, der die Politiker,
zunächst auf dem Burgrechtstag zu Aarau am 27. Sept. 1530 (vgl.
das Referat über die hier von Oek. gehaltene Rede, Staehelin
a.a.O. Nr. 782) die der Gesamtschweiz, schließlich auch die
Baseler, zur Ablehnung des Zuchtprogramms Oek.’s veranlaßte.
Im Ältestenamt erscheinen nun alle diese bei Oek. wirksamen
Motive lutherischer Kirchenzucht zusammengefaßt (S. 454). Die
Ältesten repräsentieren die Gemeinde, fällen aber ihre
Entscheidungen nicht nach dem Willen der Mehrheit, sondern gemäß
dem Geist der Liebe, der das Ganze beseelt: Non quod propterea ab
omnibus, qui in ecclesia sunt, petenda sint suffragia (magna enim
ex parte populus affectibus vehitur et iudicio destituitur; et
quis non videt, quantam confusionem pareret, si audire oporteat
sententias omnium mulierum ac puerorum boneque partis vulgi, quae
illis non rero imprudentior est?), sed quod designentur, sicut
apostolorum temporibus seniores quidam, qui olim πρεσβύτεροι
dicti, quorum sententia, utpote prudentiorum, totius quoque
ecclesie mens constet. Tales enim illos esse decet, quos ob bonum
testimonium nemo contemnere queat. Sie sind als Träger des
kirchlichen Amtes zugleich hervorragende Vertreter ihres
bürgerlichen Berufs, sei es nun als „Senatoren” oder als
„Plebejer” (S. 454).
22) Vgl. Martin Butzer: Pastorale, das ist Von der
waren Seelsorge vnd dem rechten Hirtendienst (1538, hier benutzt
in der Ausgabe Heidelberg 1574) cap. IV: Wie mancherlei Diener
vnser Herr Jesus in seiner Kirchen hat vnd gebrauchet (S. 24
ff.). Da wird unterschieden das Amt der Hirten und Lehrer, durch
das das Predigtamt der Apostel fortgesetzt wird, und das Amt der
Diakonen, dem der Dienst der leiblichen Notdurft anvertraut ist.
Bischöfe, im Sinne der Reformatoren den Pfarrern gleichgesetzt,
und Älteste haben den gleichen seelsorgerlichen Dienst; keiner
ist dabei dem andern übergeordnet — so wird unter Berufung auf
das altkirchliche Vorbild behauptet.
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eines Amtes in Familie und Obrigkeit der Kirche und ihrem Gnadenmittelamt leisten. Dann steht die grundsätzliche Scheidung der beiden Gewalten nicht mehr im Hintergrunde der Amtslehre und gibt der Satz vom allgemeinen Priestertum der Gläubigen nicht mehr die Begründung für sie ab. Sondern für jenen humanistischen Biblizismus und Traditionalismus handelt es sich um völlig gleichwertig nebeneinander stehende Ämter, deren Einführung durch das Vorbild der heiligen Schrift schlechterdings geboten ist und die kraft göttlichen Rechtes wirksam sind. Erst wo diese humanistische Ämtertheorie sich durchsetzte — und bei dem älteren Butzer sowie bei Calvin ist sie bereits voll entwickelt —, da ist die lutherische Linie trotz aller Abhängigkeiten im einzelnen grundsätzlich bereits verlassen. Aber die privaten Äußerungen Butzers aus den dreißiger Jahren lassen diesen Abfall erst andeutungsweise erkennen. In unseren hessischen Ordnungen ist nichts enthalten, das ihn ausdrücklich hervortreten ließe. Sie lassen sich noch ganz aus dem Zusammenhang heraus verstehen, der durch Luthers Gedanken umgrenzt ist23).
Das zeigt sich auch daran, wie sie in andere lutherische Gebiete hinübergewirkt haben. Wir sprachen oben von den Äußerungen Luthers, mit denen er 1543 die Ziegenhainer Zuchtordnung für das albertinische Sachsen als empfehlenswertes Vorbild hingestellt hat24). Sie sind nicht ohne Folgen geblieben. Von 1544 an nimmt Herzog Moritz von Sachsen, der Schwiegersohn des hessischen Landgrafen, unterstützt von dem Magdeburger Dompropst und evangelischen Koadjutor des Bistums Merseburg, dem Fürsten
23) Vgl. a.a.O. in der ZZO die
Charakterisierung des Ältestenamtes als des notwendigsten und
heilsamsten Dienstes und Amtes, „so nach dem amt der
leer in der kirchen seyn mag”. Damit ist deutlich ein
Qualitätsunterschied ausgesprochen. Wenn daher auch das
Ältestenamt bezeichnet wird als „alte Ordnung des heiligen
geists, wie wir die in den apostolischen Schriften haben”, so ist
damit noch kein göttliches Recht ausgesprochen, sondern die
biblische Begründung geliefert für ein geistliches Amt, das als
Amt der seelsorgerlichen Liebe dem Amt der Glauben weckenden
Wortverkündigung zur Hand geht, das also theologisch-sachlich,
nicht biblizistisch-formalistisch als notwendig begründet wird,
und das in der praktischen Ausgestaltung den zeitgeschichtlich
gegebenen Verhältnissen Rechnung trägt. Aber wir bewegen uns
damit an der haarscharfen Grenze, die Luther von seinen Schülern,
den Reformator von den biblizistisch-traditionalistischen
Späthumanisten, trennt. Jedoch darf man auch bei Butzer selbst
die Beweiskraft seiner biblizistischen Argumentation nicht
überschätzen. Sie bleiben bei ihm immer eingebettet in das
lutherische Verständnis des geistlichen Amtes und seines
Verhältnisses zu Obrigkeit und Familie. Er hat zwar auch später
einmal in dem „Bedacht” von 1546, den Gust. Anrich im Archiv f.
Ref. Gesch. Erg. Bd. V, 1929, S. 46 ff. veröffentlicht hat, wegen
der Schäden inbezug auf das Ältestenamt die kirchlichen
Verhältnisse seiner Heimatstadt „mehr für ein sudlerey und
confusion den ein form der ersten christlichen kirchen” erklärt,
ohne jedoch die Vorbildlichkeit der neutestamentlichen Gemeinde
als absolute rechtliche Norm zu verstehen, von deren Erfüllung
die Christlichkeit seiner Straßburger Kirche abhängig sei.
24) Vgl. den oben Anm. 28 S. 22 erwähnten Brief an
Anton Lauterbach in Pirna vom 2. April 1542, Enders 15, Nr.
3258.
|38|
Georg von Anhalt, die kirchliche Neuordnung in seine Hand. An zwei Punkten wird dabei der hessischen Einfluß offenkundig: bei der Einführung der Kirchenzucht und der Einrichtung eines Konsistoriums25).
In allen Städten bzw. Superintendentensitzen soll ein senatus ecclesiasticus eingerichtet werden, zusammengesetzt aus Senioren, die aus Rat und Bürgerschaft genommen werden sollen. Diesem Ältestenkollegium wird die Zucht über Leben und Lehre übertragen26). Sie erstreckt sich nicht nur über das Volk, sondern auch über die Pfarrer der Stadt bzw. der Landdiözese, hier im Zusammenwirken mit dem zuständigen Superintendenten27).
25) Die folgenden Ausführungen stützen sich auf
das Quellenmaterial, das in Emil Sehling: Die Kirchengesetzgebung
unter Moritz von Sachsen und Georg von Anhalt, 1899, verarbeitet
ist. Wahrscheinlich sind die hessischen Einflüsse auf die darin
zutage tretende sächsische Entwicklung vermittelt durch Daniel
Greser, der seinerzeit als Pfarrer von Gießen an den Ziegenhainer
Beratungen vom November 1538 teilgenommen hatte. Das Vertrauen
von Herzog Moritz hat ihn dann als Superintendenten von Dresden
zum Mitglied der Leipziger Lätarekonferenz vom 23. März 1544
berufen, auf der die Grundlagen für die weitere sächsische
Entwicklung gelegt wurden. Greser ist auch späterhin an ihr
führend beteiligt. — Eine wörtliche Übereinstimmung zwischen ZZO
und den Beschlüssen der Leipziger Lätarekonferenz findet sich
z.B. in der Beschreibung vom Ältestenamt als „dem notwendigsten
und heylsamsten Dienst, so nach dem ampt der lere in der kirchen
seyn magk”. Vgl. dazu oben Anm. 23 und Sehling a.a.O. S. 127.
26) Sehling a.a.O. S. 20: „senatus ecclesiasticus, das
ist ein Zal erlicher Leute von Kirchendienern, Rats Mennern vnd
von den erlichsten Burgern, alles semptlich in acht oder zehen
personen, welche als Censores vnd Zuchtmeister doruf achtung
geben sollen, daß Jdermann sich von Lastern hueten, vnd vf
vorgehende vermanung In furcht etlicher straf vnd letztlich des
Bannes, so der Bischof vf ihr angeben mit Rat des Consistorij zu
fellen hette, dauon abstehen mussen, dadurch warlich grosse
furcht vnd meidung Ins volck gebracht vnd rechte Zucht nach
Ebenbilt der alten kirchen mit verhuetung vieler arbeit und böses
konte angerichtet werden; die konte mahn mit Jren namen wol
nennen Seniores ecclesie.”
27) Durch die hervorragende soziale Stellung dieser
Kirchenältesten soll einerseits den Pfarrern die Durchführung des
Kirchenbannes erleichtert werden; andererseits wird dadurch auch
die Autorität der Ältesten gegenüber den Pfarrern gestärkt, die
genau wie in ZZO vom lutherischen Gemeindegedanken aus zu
verstehen ist; a.a.O. S. 51 (aus einem Gutachten der sächsischen
Superintendenten [Greser!] vom Juni 1545): „Es wurde auch ein
senatus ecclesiasticus gut dazu sein, daß ein jeder pfarrherr
seine aufseher bey ihm hette, nichts aus eigenem gutdünken
anzufahen, und da er wolt hinlessigk und faul sein, wurde er
dessen seine straff und vndersager haben.” Georg von Anhalt hat
diese von den Gemeinden an den Pfarrern geübte Kirchenzucht
abgelehnt und dafür die der jährlichen Superintendentursynoden
als ausreichend erachtet (a.a.O. s. 55 f.). Auf den Fürsten ist
es also wohl schließlich zurückzuführen, daß sich die hessischen
Anregungen in Sachsen nicht durchführen ließen.
Die Leipziger Konferenz vom 25. August 1545 hat dann einen
Mittelweg beschritten. Sie ließ jene Ältestenkollegien fallen,
ordnete aber in Disziplinarfällen, die Stadtpfarrer betrafen, den
geistlichen Ministerien Ratsmitglieder zur Beschlußfassung zu.
➝
|39|
Über den städtischen Kirchensenaten erhebt sich indessen noch eine oberste Zuchtinstanz; und in ihr liegt der eigentliche Unterschied zwischen der sächsischen Neuordnung und ihrem hessischen Vorbild beschlossen. In Hessen waren schon 1537 durch die Visitationsordnung die Superintendenten allein bzw. als Kollegium zur obersten Instanz in Kirchenzuchtfällen erklärt worden28). Die Ziegenhainer Zuchtordnung hatte diese Bestimmungen ausdrücklich wiederaufgenommen und verschärft; Pfarrer und Älteste waren zwar nicht in ihrem seelsorgerlichen Dienst, aber im Falle einer effektiven Verhängung des Bannes zu bloßen Statisten geworden29).
In Sachsen dagegen wird jetzt das Konsistorium oberste Zuchtinstanz. Es steht über den örtlichen Kirchensenaten und ist wie sie aus Pfarrern und Nichttheologen zusammengesetzt. Die seelsorgerliche Entscheidung schwieriger Kirchenzuchtfälle liegt damit nicht mehr dem einen Superintendenten als dem obersten Seelsorger seiner Pfarrer und Gemeinden ob, sondern einer kollegialen Behörde, in der bald die Jurisprudenz die Theologie und die staatliche Sittenpolizei die kirchliche Seelsorge ablösen sollte. Die künftigen Entwicklungen, die für das Verständnis gemeindlicher Zucht und geistlichen Amtes gleich verhängnisvoll geworden sind, zeichnen sich schon ab.
Und doch ist dieses erste Konsistorium im albertinischen Sachsen in seinen Anfängen viel mehr von lutherischen Zucht- und Seelsorgegedanken bestimmt als das Wittenberger, das seit 1539 unter des Reformators Augen zu wirken begann; und der Unterschied liegt gerade in dem hessischen Erbe, das unter Herzog Moritz sich in den sächsischen Landesteilen, die erst seit 1539 dem evangelischen Glauben sich erschlossen hatten, geltend machte. Das albertinische Konsistorium ist in seinen Anfängen eine rein kirchliche Behörde; sein Beisitzer, auch die Juristen, sind Träger
➝ Daß diese städtischen Kirchenzuchtausschüsse
ursprünglich — nach der Leipziger Lätarekonferenz von 1544 — auch
für die Landgemeinden vorgesehen waren, zeigt die Anordnung
(a.a.O. S. 131), daß straffällig gewordene Pfarrer in leichteren
Fällen nicht vor das weltliche Gericht gebracht werden sollen,
„sundern soll dem Superattendenten vnd senatu ecclesiastico yhr
erbringen angetzeiget werden, die yhnen alleyn zcu straffen ader
dem Consistorio antzutzeigen haben sollen.” Die Dorfgemeinden
haben also — im Unterschiede zu Hessen — keine eigenen Ältesten,
sondern sind von den entwickelteren Stadtgemeinden abhängig. Das
ist indessen kein grundsätzlicher Unterschied; wir müssen ihn
vielmehr aus den kulturell und kirchlich weniger entwickelten
Verhältnissen des östlichen Koloniallandes verstehen.
28) Richter I S. 282: „Was der Superintendenten Ampt
vnd befelh seyn vnd das sie solchs mit fleis außrichten sollen”.
S. 285: „Von Christlicher zucht und straff der Pfarrherrn und
irer gemein”. „Von järlichen Synodis oder versamlung der
Pfarherrn”; vgl. oben S. 17, Anm. 20.
29) Richter I S. 293 = Uckeley B VI: „Damit aber in
dem gegen niemands vnzeitig (vnd also vnbesserlich) gehandelt
werde, soll man auch versehen, das kein kirch yemants den tisch
des Herren vnd Christliche gemeinschaft eher abschlag, es sei
denn dasselbige durch den Superattendenten nach erkantnus der
sachen fur recht vnd billich erkent.”
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eines geistlichen Amtes. Sie sind „Älteste” im Sinne der eben dargestellten Entwicklung. Mögen sie auch sonst ausgezeichnete Inhaber eines obrigkeitlichen Amtes sein, als Konsistoriale sind sie zugleich Diener der Kirche. Ihr Amt ist dem der Ältesten der Städte, mit denen sie ja auch zusammenzuwirken haben, wesensgleich. Durch ihr Wirken bleibt der lutherische Grundsatz gewahrt, daß im Gehorsam gegen Matthäus 18 Kirchenzucht auch in oberster Instanz nur im Zusammenhang mit der christlichen Gemeinde geübt werden dürfe. Damit sichert das hessische Erbe einem Grundgedanken Luthers seine fortdauernde Geltung30).
Das Wittenberger Konsistorium war dagegen zunächst nur Ehegericht, also mit Aufgaben befaßt, die gerade nach Luthers Auffassung ausschließlich in den Bereich der weltlichen Obrigkeit gehörten. Ihm eignete also von Anfang an kein geistlicher Charakter. Den erhielt es aber auch dann nicht, als es in zunehmendem Maße Aufgaben der Kirchenzucht übernahm. Dieser Wittenberger, rein von den Aufgaben der weltlichen Obrigkeit und ihrer polizeilichen Sittenzucht her bestimmte Typus des Konsistoriums hat bald den albertinischen verdrängt; und dabei sind mit dem hessischen Erbe auch wesentliche Grundgedanken Luthers über Kirchenzucht und Gemeindeamt dem deutschen Luthertum verloren gegangen.
30) Die Mitglieder der Konsistorien sind nach
denselben Gesichtspunkten auszuwählen wie die der örtlichen
Kirchensenate; das Kollegium trägt auch denselben Namen wie
diese. Sehling a.a.O. S. 144: Die Konsistorien sollen mit
gottesfürchtigen, verständigen Männern besetzt werden, „die eynen
ehrlichen Senatum ecclesiasticum representiren und prestiren
mögen.” Es soll „an stadt dere gantzen Christlichen kirchen diser
Lande seyn vnd das oberste ampt der Schlüssel tragen.”
Wie das Konsistorium an sich geistlichen Wesens ist, so sind auch
die Mittel seiner Zucht geistlicher Art. A.a.O. S. 146: „Den das
geistlich gericht gebraucht sich keynes weltlichen, geldt ader
leibs straff, sundern steht im gebrauch der von Christo
bevholenen Schlüssel, vnd in dem wort gottis, das die bösen durch
dasselbe zur busse bracht, vnd allenthalben in den kirchen
rechtschaffen lehr und geistliche Zcucht erhalten; die größte
straffe aber ist der Bann, des man sich nicht ehir dan in der
grösten nodt soll gebrauchen.”
Also auch in seinen richterlichen Entscheidungen übt das
Konsistorium seine Strafgewalt aus aufgrund des Wortes Gottes und
mit dem seelsorgerlichen Ziel, die Sünder zur Buße zu bringen.
Diese Grundsätze sind später auch dann noch in Gültigkeit
geblieben, als die Grundlagen, die sonst in den 40er Jahren
gelegt worden waren, auch im albertinischen Sachsen längst
verlassen worden waren. Oberste Rechtsnorm, der alles andere zu
weichen hat, bliebt die Heilige Schrift. So bestimmt die „Ordnung
und reformation ecclesiastici consistorii” zu Jena 1569: „Es
sollen der präsident und die beisitzer im consistorio ires
höchsten und besten verstands und fleis nach dem reinen
Gotteswort Christ, der propheten und apostel lehr, auch der
christlichen keiser konstitutionen und gemeinen keiserlichen
rechten, so gottes wort gemes und nicht zuwider, darzu den
löblichen alten gebreuchen unserer fürstenthumben und landen, bei
iren pflichten und eiden erkennen . . .”
Dem entspricht auch den Eid, den nach der Kirchenordnung des
Kurfürsten August von Sachsen von 1580 sowohl die theologischen
wie die juristischen Beisitzer des Konsistoriums leisten mußten
(Sehling KOO I S. 462): „Ich schwer, das ich in allen und jeden
dieses consistorii fürfallenden sachen, beneben den ➝
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Indessen ist in jenen Anfängen einer Konsistorialverfassung im albertinischen Sachsen auch ein Element enthalten, das in der hessischen Entwicklung keinen Raum hatte. Für den Magdeburger Dompropst Georg von Anhalt hatte das katholische Bischofsideal noch bindende Kraft. Man hat freilich auch im Blick auf die hessischen Superintendenten als die obersten Träger einer seelsorgerlichen Kirchenzucht von einem „Episkopalismus” der hessischen Kirchenverfassung gesprochen31). Aber es handelt sich dabei doch um etwas ganz andere als um die bischöflichen Verfassungsideale, die der stark vom Reformkatholizismus beeinflußte Georg von Anhalt als evangelischer Koadjutor von Merseburg verfocht. Für ihn war das Konsistorium im Sinne des mittelalterlichen Kirchenrechtes die Behörde, die dem Bischof bei der Ausübung der kirchlichen Jurisdiktion zur Seite stand. Von evangelischen Zuchtmotiven konnte dabei keine Rede sein. Aber Herzog Moritz und seine Berater sind auf diese Gedanken nicht eingegangen. Sie haben das überlieferte konsistoriale Verfassungselement dazu benutzt, um das Wiederaufkommen eines monarchischen Episkopates zu verhindern. Damit suchten sie der neu entstehenden Zuchtinstanz eine spezifisch evangelischen Charakter in doppeltem Sinne zu wahren.
Auf der einen Seite machten sie, wie wir gesehen haben, den Weg frei dafür, in den Aufbau ihrer entstehenden Landeskirche die presbyterialen Elemente eines gemeindlichen Kirchenzuchtamtes einzufügen, die auf das Ältestenamt der Ziegenhainer Zuchtordnung zurückgehen. Zum andern aber verstärkte Moritz den geistlichen Charakter des Konsistoriums durch episkopale Elemente, auf die sein bischöflicher Vetter aus Anhalt so großen Wert legte. Durch eine Teilung der Gewalten — der ersten,
➝ andern hierzu verordneten assessorn, getreulich und
fleißig, nach meinem besten verstand und vermögen raten und
bedenken, suchen und befördern helfen wolle, was dem
seligmachenden göttlichen wort, unserer kirchen
christlichem einhelligem bekenntnis, der
erbarkeit und beschriebenen rechten gemeß, auch
zu heiligung und ausbreitung der hohen göttlichen majestet
namens und worts, und dann zu plfanzung und erhaltung
gottesfurcht, eußerlicher zucht, frieden, ruhe und einigkeit in
der kirchen und ganzer christlicher gemein gereichen, fruchtbar,
nutz und dienstlich sein mag.” Am schärfsten ist in den
Kirchenordnungen der späteren Zeit der lutherische Unterschied
zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt auf den konsistorialen
Aufbau angewandt worden in der Mecklenburger Kirchenordnung von
1552. Mit großem Nachdruck begründet sie die Notwendigkeit einer
eigenen kirchlichen Bann- und Strafgewalt; Sehling V S. 193 f.
Noch die Mecklenburgische Konsistorialordnung von 1570 sieht in
den Mitgliedern der Konsistorien Träger eines geistlichen Amtes
und wünscht dazu berufen zu sehen (a.a.O. S. 244) „die furnemsten
gliedmaßen der waren kirchen, nemlich gottselige, christliche,
gelahrte, verstendige menner und elteste, nicht alleine von
pastorn und predigern, sondern auch von andern verstendigen
christen aus allen stenden, denen die gemein gottes der kirchen
gericht befohlen hat.”
31) Zuerst Vilmar und seine Schule; dann aber auch
Karl Müller; vgl. unten Anm. 33.
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von der wir in der Geschichte wissen32) — bekleidete er es mit einem Anteil an der bischöflichen Würde. Nur mit ihm zusammen konnte der Bischof Fragen der Kirchenzucht entscheiden. Je mehr die geistliche Machtbefugnis des Bischofs beschränkt wurde, desto höher erhob sich die geistliche Würde seines Konsistoriums.
Die Wirren des Interims bereiteten nicht nur den Merseburger Bischofsträumen ein jähes Ende, sondern eröffneten auch dem Wittenberger Typus des Konsistoriums die Bahn zur ausschließlichen Herrschaft im lutherischen Deutschland33). Für ein geistliches Amt im weiteren Sinne gab es keinen Raum mehr in den Amtsstuben dieser fürstlichen Behörden; die Ältesten der hessischen Dörfer und Kleinstädte hatten nichts mehr gemein mit den juristisch gebildeten Regierern der Landeskirchen. Das Gemeindeamt der Zucht, wie es sich seit 1539 in Hessen herausbildete, hat nicht vermocht, in anderen lutherischen Ländern Fuß zu fassen, sondern hat seine vom Ursprung weit abführende Bahn in der reformierten Kirche gefunden. Im Gegenteil, die Mannigfaltigkeit des geistlichen Amtes ist dort immer mehr zugunsten des Pfarramtes eingeschränkt worden. Und dieses ist dadurch in beängstigender Weise überfordert, die kirchliche Selbstverantwortung und Eigentätigkeit der Gemeinden ist in gleichem Maße zerstört worden.
Und doch ist das Verlangen danach immer vorhanden gewesen. Und insbesondere ist die Frage nach der geistlichen Stellung der nichtordinierten Mitglieder der Konsistorien brennend geblieben bis zum heutigen Tag. Wir haben den Weg kennen gelernt, der von der lutherischen Amts- und Ständelehre aus die Wiederaufrichtung des Diakonats und des Zuchtamtes in der Reformation ermöglicht hat. Vielleicht wäre dieser Weg, der über die Ziegenhainer Zuchtordnung zu den sächsischen Vorschlägen einer Konsistorialverfassung führte, damals gangbar gewesen; heute ist er hoffnungslos verschüttet. Es muß uns unter unsern neuen Verhältnissen erst einmal wieder gelingen, dem sog. Laienamt in der Einzelgemeinde als geistlichem Amt wahrhaft geistlichen Inhalt, Auftrag und Würde zu geben. Dann können wir auch darangehen, das gesamtkirchliche Verwaltungsamt als ein geistliches Amt zu verstehen und damit eine Frage zu lösen, die für den Aufbau der evangelischen Kirchenverfassung von fundamentaler Wichtigkeit ist.
32) Daß der Grundsatz von der Teilung der
Gewalten sich auf deutschem Boden zunächst auf kirchlichem
Gebiete durchgesetzt hat, hat zuerst Johannes Heckel in seiner
ausgezeichneten Studie: Cura religionis. Ius in sacra. Ius circa
sacra = Kirchenrechtl. Abhandlungen 117/18 = Festschrift Ulrich
Stutz, 1938, S. 224 ff., bes. S. 275, nachgewiesen. Was er da für
das 17. Jahrh. entdeckte, hat also im 16. schon ein interessantes
Vorspiel gehabt und ist aus der Auseinandersetzung zwischen den
Idealen katholischer und evangelischer Kirchenverfassung
herzuleiten.
33) Daß auch in dieser späteren Periode noch einmal
hessischer Einfluß auf die sächsische Konsistorialverfassung
eingewirkt hat, und zwar auf dem Wege über das althessische
Superintendentenamt, hat Karl Müller in seinem wertvollen Aufsatz
über „die Anfänge der Konsistorialverfassung im lutherischen
Deutschland” = Hist. Zeitschr. 102, 1909 nachgewiesen.