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Kapitel I
Gemeindezucht

 

Nur Unkenntnis oder Gedankenlosigkeit kann behaupten, das Motiv der Kirchenzucht sei Luther fremd geblieben. Von dem Augenblick an, wo der Reformator den Aufbau eines evangelischen Kirchenwesens begann, bis zum Ende seines Lebens finden wir es vielmehr in unveränderter Klarheit ausgesprochen. Wir berücksichtigen hier vornehmlich solche Äußerungen, die zeitlich vor die Entstehung unserer beiden hessischen Ordnungen fallen oder nachher direkt mit ihnen in Verbindung gesetzt werden können. Schon so läßt sich zeigen, daß das in ihnen zutage tretende Verständnis der Kirchenzucht dasselbe ist wie bei Luther.

Der Aufbau eines evangelischen Kirchenwesens beginnt in Wittenberg und Umgebung nach Luthers Rückkehr von der Wartburg mit der Einführung evangelischer Abendmahlsfeiern. Und sofort ist evangelische Kirchenzucht da; sie entsteht im Zusammenhang mit dem Sakrament.

Wie einst im Urchristentum sich kirchliche Ordnung und kirchliches Recht aus dem Sakrament entwickelt haben7), so geschieht es jetzt von neuem. Und wiederum erhält das Kirchenrecht sein eigentümliches Gepräge vom Verständnis des Sakramentes aus. Nicht mehr steht in seinem Mittelpunkte der Spender des Sakraments; es ist kein hierarchisches Kirchenrecht, das in dem Priester den gegenwärtig handelnden Christus achten und ehren heißt. Sondern es ist auf die Gemeinde gerichtet, an der der im Sakrament gegenwärtig handelnde Christus wirksam ist. Evangelische Kirchenzucht ergibt sich aus dem Gemeinschaftscharakter der sakramentalen Feier.

Schon 1521, noch mitten in der Auseinandersetzung mit der hierarchischen Befehls- und Banngewalt der Papstkirche, hat Luther im Anschluß an Matth. 18 das Programm einer evangelischen Gemeindezucht entwickelt8).


7) Ich verweise dafür auf meine Untersuchung: Bekenntnis und Sakrament. Bd. I: Über die treibenden Kräfte in der Bekenntnisentwicklung der abendländischen Kirche bis zum Ausgang des Mittelalters, 1939.
8) Von der Beicht, ob die der Bapst macht habe zu gepieten. An Franz von Sickingen. 1521. WA 8, 138 ff. Hier wird nach Matth. 16 und 18 und nach Joh. 20 eine evangelische Beichtordnung entwickelt: „Dißer ordnung nach sollts nu alßo tzu gehen: Das ynn eyner iglichen Pfarr oder gemeyn, wo yemand offentlichen sundigte, von seynen nehsten brüderlich gestrafft wurd, darnach offenlich mit mehr tzeugen gestrafft, tzu letzt offentlich in der kirchen unter der meß nach dem Euangelio fur dem Pfarrer und ydermann und gantzem gemeyn erfurtzogen, ➝

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Als er dann in der kritischen Fastenzeit des Jahres 1522 unter vorläufiger Wiederherstellung des Abendmahls in einerlei Gestalt in Wittenberg wieder äußerliche Ruhe geschaffen hatte, faßte er zugleich mit der Einrichtung einer evangelischen Abendmahlsfeier die Durchführung der Kirchenzucht ins Auge9). Die Ausführung dieses doppelten Vorhabens erfolgt schon 1523. In der berühmten Gründonnerstagspredigt dieses Jahres hat er für alle Folgezeit seinen unumstößlichen Entschluß verkündet, das Sakrament fortan nur nach persönlicher Glaubens- und Sittenprüfung und nach erfolgtem Glaubensbekenntnis zu spenden10); noch vor Jahresende ist dieser Entschluß in die Tat umgesetzt11). Gleichzeitig erscheint die


➝ vorklagt und übertzeugt, wollt er sich denn besseren, ynn gemeyn fur yhn bitten eyntrechtlich, wie hie der herr leret und erhorung zusagt. Wollt er nit, das man yhn von der gemeyn thett und hett niemant mit yhm zu schaffen: das heyst die der herr ,gebundenn werden’, und das ist auch recht ynn den bann gethan.” (173 f.) Man achte auf den seelsorgerlichen Ton und auf die enge Verbindung zwischen priesterlicher Absolution (die gar nicht ausdrücklich erwähnt wird) und der Fürbitte der Gemeinde (die allein hervorgehoben wird). Zur Sakramentszucht vergleiche auch aus dem Sermon von der würdigen Empfahung des heiligen wahren Leichnams Christi, Gründonnerstag 1521, WA 7, 692 2 ff.
9) An Nikolaus Hausmann, 26. März 1522; WA. Br. 2, Nr. 465: Utranque enim speciem liberam fecimus, Sed iis, qui digni et timorati fuerint. — Als unerläßliche Voraussetzung für solchen ehrfürchtigen und würdigen Empfang des Sakraments sieht er die evangelische Predigt von der Sündenvergebung an. Als ihr Ziel und ihre Frucht betrachtet er schon 1522 die evangelische Abendmahlszucht; Von beiderlei Gestalt des Sakraments zu nehmen, WA 10, II, S. 39 6: „Ach herr gott, wenn man diße lere wol triebe, da soltistu sehen, das wo itzt tausent tzum sacrament gehen, da wurden yhr kam hundert hyn gehen . . . . ßo kemen wyr zu letzt wider tzu eyner Christlichen versamlung, die wyr itzt fast eyttel heyden sind unter christlichem namen. Dan kundten wyr von unß sundern, die wyr an yhren wercken erkenneten, das sie nicht glewbten noch liebten, das uns itzt noch unmuglich ist.” Solange diese Abendmahlszucht noch nicht durchgeführt ist, gibt Luther dem Gläubigen zwei Hilfsmittel an die Hand: gewissenhafte Selbstprüfung anhand von 1. Kor. 11 28 (a.a.O. 38 16 ff.) und gewissenhafte Anwendung der Privatbeichte, a.a.O. 32 18 ff.; besonders 32 24: „Aber wie wol ich nicht dringe, so radt ich doch datzu, das Du mit lust beychtist, ehe Du tzum sacrament gehist odder yhe nicht sie verachtist.”
10) WA 12, 476 ff. Beim Osterabendmahl 1523 geht es noch einmal ohne Zucht ab. Indessen kündigt Luther an 481 5 ff.: „Darumb wil ich euch das fur hyn gesagt haben: Diß iar wollen wir ewer schonen. Aber fort hin muß es also geen, das man niemand das Sacrament gebe, man wisse denn, wie er gleub unnd das er ein sollich gefeß sey, das es fassen kann und er wisse sein glauben anzuzeigen.” Vgl. a.a.O. 478 1: „aber ein ander mal muessen wirs also ordnen, das man nieman zum Sacrament geen lasse, man frage yn dan vor und erkunde, wie seyn hertz steet, ob er auch wisse, was es sey unnd warumb er hinzu gehe.”
11) In der Predigt vom 2. Advent 1523 (WA 11, 207 ff.) kündigt er mit der Einführung der Formula missae et communionis zugleich die Durchführung der Abendmahlszucht an. Vor der Feier sollen sich die Kommunikanten vor den Augen der Gesamtgemeinde präsentieren, damit diese die Unwürdigen erkennen und der Pfarrer die ausschließen kann: a.a.O. 210 11: Et ii quid sacramentum accedunt ut in uno sint hauffen, non quod velim ita fieri propter ostentationem, cum dominus etiam in angulo videat. Paulus: propter nos hoc fieri debet, ut nosceremus eos qui accedunt, qui palam impii sunt avari, foeneratores etc. ➝

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Formula missae et communionis und regelt die Abendmahlszucht fürs erste endgültig. Vor den Augen der ganzen Gemeinde sollen sich die Abendmahlsgäste im Chor der Kirche aufstellen; und jeder soll zurückgewiesen werden, der nach Leben und Lehre nicht zu ihr gehören kann. Dieser durch die ganze Gemeinde geübten Zucht geht die durch den einzelnen Pfarrer voraus. Jeder einzelne Kommunikant hat sich bei ihm anzumelden und über sein Verständnis der evangelischen Heilslehre und der Heilswirkungen der Sakramente sowohl wie über seine Lebensführung Rechenschaft abzulegen. Und dieses Abendmahlsverhör, das völlig an die Stelle der überlieferten Privatbeichte getreten ist und ihr neuen Inhalt und neue Bedeutung gegeben hat, hat sich auf dem Wege über den „Unterricht der Visitatoren” von 1528 in den lutherischen Kirchenordnungen der nächsten Jahre allgemein durchgesetzt, ist auch in der C.A. bekenntnismäßig verankert12). In Hessen ist es seit der Homberger Kirchenordnung von 1532


➝ Hos episcopus increpare solet et abigere. — Zur Einleitung der Karwoche von 1524 im Blick auf das kommende Osterabendmahl schärft er in der Palmsonntagspredigt vom 20. März die Notwendigkeit des Abendmahlsverhörs noch einmal ein; WA. 15, 495 27 ff. — In der anfangs Dezember 1523 hrsg. Formula missae et communionis wird die persönliche Anmeldung der Kommunikanten vor dem Pfarrer gefordert: „ut eorum et nomina et vitam cognoscere queat”. Sie sollen da das Bekenntnis ihres christlichen Glaubens und besonders ihres Sakramentsverständnisses ablegen. Im allgemeinen soll ein einmaliges Glaubensverhör für jedes Jahr bei jedem Kommunikanten genügen. Bei der Feier selbst sollen sich alle im Chor angesichts der Gemeinde aufstellen, um nochmals von denen, die nicht kommunizieren, geprüft zu werden: „Nam huius communio caenae est pars confessionis, qua coram deo, angelis et hominibus sese confitentur esse Christianos”. WA 12, 215 f.
12) Unterricht der Visitatoren an die Pfarrherren im Kurfürstentum Sachsen, WA 26, 195 ff. Hier 216 9 ff.: „Zum ersten sollen die Pfarher die leute unterrichten, wie grosse sunde es ist das Sacrament unehren und nicht recht brauchen . . . . Darümb sollen auch die nicht zum Sacrament gelassen werden, so ynn offentlichen sunden, Ehebruch, füllerey und der gleichen ligen und davon nicht ablassen. Zum andern, Sol niemant zu dem Sacrament gelassen werden, er sey denn vorhin bey dem Pfarher gewesen, der sol hören, ob er vom Sacrament recht unterricht sey, ob er auch sonst rats bedürffe etc. Darnach sol man leren, das die allein wol geschickt zum Sacrament sind, die rechte Rew und leid uber yhre sunde tragen und erschrocken gewissen haben, Denn rohe, forchtlose leute sollen nicht darzu gehen.” — Auf die umstrittene Frage, wie diese Abendmahlszucht mit der „dritten Weise” nach der Vorrede der deutschen Messe von 1526 zusammenhängt, gehe ich hier nicht ein; ich beschränke mich auf die landeskirchliche Entwicklung.
Schon Bugenhagens Braunschweigische Kirchenordnung von 1528, die sich ausdrücklich auf den „Unterricht” bezieht, nimmt die Forderung der Abendmahlszucht auf; Ae.L. Richter: Die evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, I,2 1871. S. 111: „Nemand schal ock tom sacramente gelaten werden, sonder se habbe tom ringesten to vorne dem predicanten edder prestere, dem dar benalen is, rekenschop vnde berichtinge gegeuen synes teuens, dat nicht dorch oere versuemenisse etlike unwerdich unde tor vordoemenisse tom sacramente gaen.” Ähnlich in den anderen auf Bugenhagen zurückgehenden Kirchenordnungen. —
Daß die private Abendmahlszucht auch das eingeführt war, wo sie nicht ausdrücklich kirchenordnungsmäßig festgelegt war, zeigt das Beispiel der ➝

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gesetzlich eingeführt13). Überall, wo das geschah, erfolgte die Bildung evangelischer Gemeinden in der Weise, daß die einzelnen sich dieser kirchlichen Zucht unterwarfen.

Aus welchen theologischen Erwägungen ist nun diese lutherische Kirchenzucht erwachsen? Sie ergibt sich zunächst aus der Ehrfurcht vor dem Sakrament. Die Heiligkeit des hier wirksamen Gnadenhandelns Gottes erfordert es, „das niemant zum Sacrament gehe, man hor dann, ob er eyn sollich gefeßs sey, das ers muge fassen, das mans nicht eym unreynen thier in halß stosse14).”

Nicht nur den Sakramentsverächter bewahrt der Ausschluß von einer neuen Lästerung; auch der Sakramentsspender, der einen Unwürdigen


➝ Gottesdienstordnung von Frankfurt a.M. 1530 (Richter I S. 141). Danach müssen sich die Kommunikanten, nach Geschlechtern getrennt, die Jugend voran, angesichts der Gemeinde aufstellen, damit die Exkommunikation geübt werden kann; „und uns auch darzu diente, das wir vnederschidlich möchten acht haben, wenn wir das Nachtmal reichten, ob er sich hette angezeigt oder nit; dann es werdet sich der Sathan gewaltig in diesen Handel legen, als der dem Sacrament über die mass feind ist.”
C.A. Artikel 25 stellt diese Abendmahlszucht ausdrücklich unter den Gesichtspunkt der Privatbeichte: Confessio in ecclesiis apud nos non est abolita. Non enim solet porrigi corpus Domini nisi antea exploratis et absolutis.” Luther hatte 1523 in der Formula missae et communionis noch zwischen Abendmahlsverhör und herkömmlicher Privatbeichte einen Unterschied gemacht (WA 12, 216 31 ff.), war freilich, indem er bei jenem das Bekenntnis der eigenen Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit in den Mittelpunkt stellte, für die Verquickung verantwortlich.
13) Richter I S. 164: „Nimant sol zu gelassen werden zum Nachtmal Christi, er hab sich dan zuuor seinem Pharhern mit namen angeseygt, vff das er seiner sele fur gar bekant sey. Auch verhoret werde, was er verstehe vnd wisse vom glauben, vnd wo es imant von notten, getrostet vnd vnderweiset werde.
Darumb aber sollen sich vornemlich mit namen anzeygen, die da durch die entpfahung des libs und bluts Christi sich vor Christen ausgeben dem Pfarhern, vff das, ob sie sich im wandel nicht Christlich hielten, vermanet, vnd wo sie sich nicht besserten, verbannet werden mogen. Solcher verzeichniß abgescrift sol der Pharher bey sich halten (Kommunikantenverzeichnis!), nach dem wandel seines Pharvolckes als eyn fleyssiger vff seher mit ernst fraghen.
Die aber sich nicht angeben wollen, auch vff die furnemste fragstuck Chatecismi zu antworten nicht wissen oder wollen, sollen vom gehore Gotlichs worts nicht verstoßen seyn, ob sie villicht durch gehore desselbigen zu recht bracht vnd selig werden mochten. Zumb Nachtmal aber sollen sie nicht gelassen werden, nicht zwar auß Tyranischem furhaben, sonder viel mehr darumb, das wir das heilichthumb nicht fur die hunde werffen vnd der schatz vnsers himelischen reichthumbs nicht verlestert, Viel mere aber die lere vnsers heilants Christi in allen stucken auch mit seiner ordenung gepreisset werd. Amen.” — Vgl. dazu Sohm a.a.O. S. 123 f. S. 73 weist er aus einem Brief der Marburger Prädikanten vom 10. Juni 1529 nach, daß in der Universitätsstadt mindestens schon seit Ostern des Jahres nach Luthers Vorbild Abendmahlszucht geübt wurde, mithin schon vor dem Erlaß jener allgemeinen Homberger Bestimmungen von 1532, hinter denen wir also wohl Adam Krafft als treibenden Faktor vermuten dürfen.
14) Gründonnerstagspredigt 1523, WA 12, 478 16; vgl. auch oben Anm. 10.

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wissentlich zuläßt, nimmt dessen Sünde damit auf sich und muß mit ihm in die Hölle15).

Zu diesen seelsorgerlichen Gründen kommen nun noch die, die sich aus dem Gemeinschaftscharakter des Sakraments ergeben. Sein Empfang ist ein Bekenntnisakt; die Gemeinschaft der gläubigen Christen konstituiert sich darurch öffentlich vor der Welt. Um der Reinheit ihres Zeugnisses willen muß sie daher öffentliche Sünder aus ihrer Mitte ausschließen.

Aus diesen Motiven für die Einführung lutherischer Abendmahlszucht ergibt sich nun ihre theologische Eigenart.

Sie gehört ausschließlich in die kirchliche Sphäre, kann und darf also keine bürgerlich schädigenden Folgen haben. Kommt es zur Verhängung des Bannes, so kann es nur der früher sog. kleine Bann sein. Er hat allein kirchliche Berechtigung. Der große Bann, den der Papst sich angemaßt hat, ist nichts anderes als die Reichsacht; seine Handhabung ist ausschließlich Sache der weltlichen Obrigkeit. Auf diesen Unterschied zwischen kirchlicher Bann- und obrigkeitlicher Strafgewalt legt Luther allen Nachdruck. Unermüdlich hat er ihn bis zum Ende seines Lebens immer wieder hervorgekehrt. Und jedesmal geht sein eigentliches Interesse dahin, die Eigenständigkeit kirchlicher Zucht gegenüber der politischen zur Geltung zu bringen16).


15) Predigt von Invokavit (23. Febr.) 1539, WA 47, 669 13: „Ich hab eigen sünd genug, mein jugent, die ich verloren hab, deinde Monachatus. Si te admitto ad Sacramentum, so neme ich deine sünde auff mich und mus mit dir in die helle.”
16) Im Briefe an Herzog Karl III. von Savoyen vom. 7 Sept. 1523 (W.A. Br. 3, Nr. 657 Z. 80 ff.) wendet sich Luther gegen deterrimam illam tyrannidem excommunicationis; der Papst habe kein anderes Amt quam verbi ministerium, nec est locus excommunicationis quam si quispiam contra fidem vel charitatem peccet. —
In der Einleitung zur Ausgabe des Kleinen Katechismus von 1531 (WA 30 I, 349 10 ff.) will Luther die Sakramentszucht auf die Verächter der evangelischen Lehre ausgedehnt wissen: „Welche es aber nicht lernen wollen, das man den selbigen sage, wie sie Christum verleugnen und keine Christen sind. Sollen auch nicht zum Sacrament gelassen werden, kein kind aus der tauffe heben, Auch kein stück der Christlichen freiheit brauchen, sondern schlechts dem Bapst und seinen Officialen, dazu dem Teufel selbs heim geweisset sein.” Ursache des Kirchenbannes ist also die Verleugnung Christi. Wenn Luther hier gleichzeitig noch bürgerliche Strafen gegen die Ungläubigen verhängt wissen will, so ist doch die Begründung charakteristisch verschieden: nicht weil sie ein religiöses Vergehen sich haben zu schulden kommen lassen, sondern weil sie nicht „das Stadtrecht wissen und halten” (a.a.O. 349 20). — In dem berühmten Briefe an den ehemaligen Pfarrer von Gießen, damaligen Dresdener Superintendenten Daniel Greser vom. 22. 10. 1543 (Enders 15, Nr. 3329) verurteilt Luther aus gegebenem Anlaß mit scharfen Worten die Eingriffe der weltlichen Obrigkeit in die kirchliche Banngewalt: „Wenn es nämlich dahin kommen sollte, daß die Höfe nach ihrem Belieben die kirchlichen Verhältnisse regieren wollen, wird Gott keinen Segen dazu geben und wird das Ende schlimmer werden, als der Anfang war; denn was ohne Glauben geschieht, ist nicht Gottes. Was aber außerhalb des eigentlichen Berufs geschieht (absque vocatione), das geschieht ohne Zweifel ohne Glauben und ist ungültig. ➝

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In der bindenden und lösenden Gewalt des göttlichen Wortes, in der Gemeinschaft stiftenden und versagenden Kraft des Sakraments liegt diese Eigenart evangelischer Kirchenzucht begründet. Da bedarf es keiner äußeren Gewalt; alle Wirkung beruht auf der Macht des göttlichen Geistes, der im Worte mächtig ist. Darin liegt der Unterschied von der politischen Acht, die auf der obrigkeitlichen Strafgewalt beruht. Neben diese tritt die geistliche Gewalt des Wortes, das ja kein unverbindliches Wort ist, sondern von dem scheidende und das heißt rechtlich greifbare Wirkungen ausgehen. Diese Gewalt kann aber nur da wirksam werden, wo sie im Glauben bejaht wird; die Gemeinde kann also christliche Zucht nur da üben, wo man sich ihr freiwillig unterwirft. Ihr Freiwilligkeitscharakter scheidet also die kirchliche Zucht von der der weltlichen Obrigkeit.

Die besten und größten Gedanken Luthers, um mit Walter Sohm zu reden, bestehen also nicht darin, daß er eine kirchliche Zucht und damit ein besonders kirchliches Recht von vornherein abgelehnt habe, sondern darin, daß er aus Wort und Sakrament seine Eigenständigkeit begründet hat.

Und zwar nicht im Gegensatz zum staatlichen Erziehungsanspruch, sondern nur neben ihm und unter seiner Voraussetzung. Wenn darum Luther 1526 beim Antrag auf Durchführung der Visitationen den Landesherrn als „obersten Vormund der Jugend und aller, die es bedürfen”, auf seine Zuchtaufgabe hin anspricht17), so will er damit eine besondere Kirchenzucht nicht als überflüssig hinstellen, sondern vielmehr die Vorbedingung dafür schaffen.

Denn die reine Wortgewalt des kirchlichen Bannes kann nur da zur Geltung kommen, wo ihm nicht das Moment der Strafe und Achtung eignet. Das kann aber nur da der Fall sein, wo die weltliche Obrigkeit ihre Straffunktion in ganzem Umfang und mit rechtem Ernst schon vorher durchgeführt hat. Da bleibt dann der kirchlichen Zucht ihre eigentliche seelsorgerliche Aufgabe, dem straffällig Gewordenen seine bürgerliche Verfehlung als Übertretung des göttlichen Gebotes und als Bruch mit der geistlich-sakramentalen Gemeinschaft der Kirche vor das Gewissen zu stellen, ihn zur Reue zu führen und ihm die Möglichkeit zu bieten,


➝ Mögen sie drum selbst Pfarrer werden, predigen, taufen, Kranke besuchen, Abendmahl austeilen und alle kirchlichen Dienste verrichten; oder aber, sie sollen aufhören, die Berufe durcheinander zu bringen, sollen ihre Hofgeschäfte besorgen und die Gemeinden denen überlassen, die dazu berufen sind, die Gott dafür Rechenschaft geben müssen. Es ist unerträglich, daß andere den Bann verhängen und wir mit der Verantwortung dafür beladen werden. Unterschieden wissen wollen wir die Ämter der Kirche und des Hofes, oder wir werden beide verderben. Sathan fährt fort, Sathan zu sein. Unter dem Papste hat er die Kirche in die Politik gemischt, zu unserer Zeit will er die Politik in die Kirche mischen. Aber wir werden mit Gottes Hilfe Widerstand leisten und Fleiß tun, nach unserm Vermögen die Berufe auseinanderzuhalten.”
17) Brief an Kurfürst Johann von Sachsen vom 22. November 1526 (W.A. Br. 4, Nr. 1052) mit dem Antrag auf Einführung der Visitationen.

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durch das Wort der Vergebung von seiner Schuld frei zu werden. Fehlt dagegen die vorherige obrigkeitliche Bestrafung, so wirkt das kirchliche Verfahren entweder als ihr Ersatz oder als Denuntiation, um sie noch nachträglich herbeizuführen.

So kann kirchliche Ordnung und Zucht im Sinne Luthers in die Befugnisse der weltlichen Obrigkeit garnicht störend eingreifen. Ihre eigentliche Intention liegt ausschließlich auf dem seelsorgerlichen Gebiete. Indem sie die Heiligkeit des Sakraments durch das zweischneidige Schwert des Wortes schützt, bewahrt sie den offenbaren Frevler vor neuer Schuld. Indem sie ihn von der durch Wort und Sakrament gestifteten Gemeinschaft der Kirche ausscheidet, handelt sie in der seelsorgerlichen Verantwortung für ihn und deren Glieder, die ja auch alle von denselben Sünden angefochten werden. Das innerkirchliche Recht der Zucht ist ein Liebesrecht; es setzt den Ernst des obrigkeitlichen Strafrechts voraus, aber es ersetzt es nicht.

Das ist der erste, auch für die Neubegründung eines kirchlichen Rechtes in der Gegenwart entscheidende Grundgedanke lutherischer Kirchenzucht. Damit ist aber ohne weiteres ein zweites Moment gegeben, das für sie kanonische Bedeutung hat. Christliches Bannrecht ist im Unterschied von der obrigkeitlichen Acht ein Ausdruck der durch das Sakrament gewirkten brüderlichen Gemeinschaft. Das heißt aber: die bindende und lösende Gewalt des Wortes ist nach Matth. 18 nicht dem Priester allein, sondern der ganzen Gemeinde anvertraut. Dieser Gesichtspunkt, unter dem Luther schon seine Verteidigung gegen die päpstliche Hierarchie durchgeführt hatte, ist von ihm auch beim Aufbau des evangelischen Kirchenwesens geltend gemacht worden. Matth. 16 wird durch Matth. 18 erklärt.

Von 1521 ab ist dieser Grundsatz für die lutherische Kirchenzucht maßgebend geblieben; bis in seine letzten Jahre hinein kommt der Reformator immer wieder auf ihn zurück. Nur darf er nicht im naturrechtlichen Sinne mißverstanden werden, als ob es sich hier um eine Übertragung von Zuchtrechten handele, die der Amtsträger von der Gemeinde übernommen habe. Das Amt der Schlüssel ist der Gemeinde vielmehr eingestiftet. Zugleich aber ist sie eine rein geistliche Gemeinschaft, in der alle — einschließlich der Amtsträger — gemeinsam unter dem Liebeshandeln Gottes in Wort und Sakrament stehen; und darum ist sie eine Gemeinschaft seelsorgerlicher Liebe. Das Amt der Schlüssel handelt darum nicht ohne die Gemeinde, noch viel weniger gegen sie. Sondern alle ihre Glieder tragen für die Kirchenzucht die gleiche seelsorgerliche Verantwortung; nur dann ist der etwa ausgesprochene Bann ein christlicher Bann.

Wie weit sind nun die hier ausgesprochenen Grundsätze lutherischer Kirchenzucht in Hessen verwirklicht worden?

Auch hier gilt vom Anfang evangelischer Gemeindebildung an der Kampf und die Sorge der Reinheit der Abendmahlsgemeinde. Mit dem Abensmahlsverhör allein war es ja nicht getan. Es mußten auch Mittel

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und Wege gefunden werden, die sich hierbei als notwendig ergebenden Zuchtmaßnahmen wirksam durchzuführen. Hatten dazu die Pfarrer ohne weiteres die Macht, etwa auch gegen den Grundadel, der seine kirchlichen Rechte in dem kirchlichen Umbruch rücksichtsloser geltend machte als je, oder gegen die landgräflichen Amtleute, die wohl selber die obrigkeitliche Sittenzucht ausübten, sich aber ihr für ihre Person zu unterwerfen wenig geneigt waren und sich noch weniger einer Kirchenzucht fügen würden? War solchen Widerständen gegenüber die Gewalt des Wortes stark genug? Und wenn sie hier nicht ausreichte, war sie dann nicht noch viel weniger mit innerem Recht gegen die einfachen Gemeindeglieder geltend zu machen?

So stößt in Hessen der kirchliche Anspruch auf eigenständige Zucht- und Rechtsgestaltung mit der obrigkeitlichen Sittenpolizei zusammen. Zumal die unteren Regierungsorgane empfinden die Kirchenzucht als Rechtsanmaßung und lassen sie nicht aufkommen. Umgekehrt aber kontrollieren die kirchlichen Amtsträger die obrigkeitlichen Zuchtmaßnahmen und suchen sie möglichst weit vorwärts zu treiben, um dadurch die äußeren Voraussetzungen für die Kirchenzucht zu schaffen.

Einen verlockenden Ausweg aus diesen Schwierigkeiten gab es für Staats- und Kirchendiener: konnte die obrigkeitliche Sittenzucht nicht auch die Funktionen der kirchlichen übernehmen? Dann gab es nur einerlei Recht im Territorium. Ausschließlich von der christlichen Obrigkeit ging es aus; und Amtleute und Pfarrer zogen an einem Strange, um es durchführen zu helfen. Freilich verzichtete die Kirche damit auf die eigentümliche Gewalt der Gnadenmittel von Wort und Sakrament, die ihr Stifter ihr anvertraut hatte. Aber sie brachte dadurch die staatliche Gewalt auf ihre Seite und gewann damit die Aussicht auf eine ersprießliche sittenzuchtliche Wirksamkeit.

Zweimal sind die hessischen Kirchenführer der hier drohenden Versuchung erlegen, von der Linie lutherischer Kirchenzucht und -gestaltung abzuweichen; aber beide Male sind sie daraus gerettet worden.

Das erste Mal geschah es 1532, im Zusammenhang mit der schon erwähnten Kirchenordnung dieses Jahres, die das Abendmahlsverhör anordnete18). Anfang Dezember baten die hessischen Superintendenten den Landgrafen, im Einvernehmen mit den Landständen eine Bannordnung im Lande einzuführen und ihr durch obrigkeitliche Gewalt Geltung zu verschaffen. Eindeutig hat der Landgraf dieses Ansinnen abgelehnt. Wir gehen hier nicht auf die persönliche Gründe seiner Weigerung ein, so aufschlußreich sie auch für seine innere Haltung sind. Sachlich verteidigt der Fürst hier Luthers Gedanken gegen die hessischen Theologen: jeder Pfarrer soll mit ganzem Eifer in seiner Gemeinde Abendmahlszucht üben und den Bann handhaben. Denn „wo Christen


18) Vgl. oben Anm. 13.

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sein wollen, da muß notwendigerweise auch der christliche Bann sein”. Aber er als obrigkeitliche Person will damit nichts zu schaffen haben; „sonst wird ein Tyrannei und kein brüderlicher Bann daraus”19).

Aber die hessischen Superintendenten und Pfarrer gaben sich noch nicht geschlagen. Im Juni 1533 sind sie wiederum in Homberg zusammen, wiederholen ihre vorjährige Bitte an den Landgrafen und wenden sich hilfesuchend zugleich an Luther. Aber der Reformator gibt ihnen dieselbe Antwort wie ihr Landesherr. Es begrüßt ihren Eifer für die Kirchenzucht, hält aber deren allgemeine gesetzliche Einführung noch für verfrüht. Jeder Pfarrer soll vielmehr treue Sakramentszucht üben und Unbußfertige von Abendmahl und Patenamt ausschließen; alles weitere wird sich dann von selbst ergeben. Keinesfalls aber darf die staatliche Exekutive mit der Angelegenheit vermengt werden; mit allen Mitteln muß hier eine klare Trennung der Gewalten und Befugnisse durchgeführt werden20).

Die Ziegenhainer Zuchtordnung bildet den Abschluß dieser Entwicklung. Auf der Grundlage der Abendmahlszucht hat sie jenes lutherische


19) Brief Landgraf Philipps an Johann Campis den Superintendenten in Kassel, vom 14. Dezember 1532, abgedruckt bei Friedrich Rüch: Die Stellung des Landgrafen Ph. zum Kirchenbann im Jahre 1532 = Ztschr. v. Ver. f. hess. Gesch. u. Landesk. 1904, S. 243 ff.
20) W.A. Br. 6, Nr. 2033. — Daß die Kirchenzuchtfrage in der hessischen Geistlichkeit weiterhin lebhaft erörtert wurde, zeigt folgende Briefstelle vom Mai 1536 aus der Widmung, mit der Antonius Corvinus seine Loci in Evangelia dem Kanzler Feige übergab (Pl. Tschackert: Briefwechsel des Antonius Corvinus, Qu. u. Darst. z. Gesch. Ndrsachsens IV, 1900, S. 21). C. schlägt Maßnahmen gegen die Täufer vor: Quid igitur facto opus sit, quaeris? Ante omnia de emendandis peccatis nostris consilium ineamus oportet. Deinde diligenter advigilandum, ut ne venenatis istis dogmatis corda simplicium inficiantur. Officium autem hic suum non tam concionatores quam magistratum facere oportebit. Opponatur pravae doctrinae verbum, perditioni magistratus, et dubium non est, quin melius aliquanto habiturae sint tot modis afflictae res mortalium. In dem genannten Buche kommt C. übrigens nicht auf die Kirchenzucht zu sprechen. Offenbar erwartet er immer noch alle Initiative von der weltlichen Obrigkeit. — Rein kirchliche Bestimmungen enthält der Abschnitt „Von Christlicher zucht vnd straff der Pfarherrn vnd irer gemein” (Ri I 285) in der Visitationsordnung von 1537: „Der weg vnd zugang, dadurch man mit Gottis hilff zu besserung der jhenigen, so streflich seint, oder in offenlichen lastern erfunden werden, Christlicher nutzlicher wesse kommen vnd handlen möchte, ist bedacht, das tzum ersten die Prediger, als fürgenger der Christlichen gemein, sich vnter einander vnd auch gegen iren Pfarkindern, des gleychen die Pfarkinder gegen jnen, brüderliche ermanung, Matthei 18 angezeigt, auß Gotßförchtigem freuntlichem herzen anfahen vnd treyben. Darnach, wo man aus Gottes gnaden besserung vnd gute volge spürete, vnd aber sich etliche mit der ersten ermanung, an gemeltem capitel Matthei bsolhen, nicht corrigirn lassen wölten, als dann die andere ermanung daselbs in bey sein etlicher gutherziger Christen, aber alles in geheim fürneme vnd auch ein zeit lang treibe.” Auf der dritten Stufe soll dann das Bußverfahren auf der Diözesansynode weitergeführt werden; über Ausschluß von Taufe und Abendmahl in einer Gemeinde darf nur unter Beteiligung des Superintendenten verhandelt werden. Vergl. dazu Sohm a.a.O. 150 ff., bes. 157 f.

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Anliegen einer eigenständigen brüderlich-seelsorgerlichen Zucht- und Rechtsordnung in der hessischen Kirche erfüllt.

Nach ihr ist Kirchenzucht die Sache der Gemeinde. Die handelt dabei im Auftrag ihres himmlischen Herrn und in geistlicher Gemeinschaft mit den Hirten und Dienern, die er ihr gesetzt hat. Alle ihre Maßnahmen tragen seelsorgerlichen Charakter; zu retten, nicht strafende Vergeltung zu üben ist ihr Ziel. Auch der Bann, der nur im äußersten Ausnahmefall verhängt werden soll, darf keine bürgerlichen Folgen haben. Die Rechtssphären des Staates und der Kirche bleiben säuberlich voneinander geschieden. Das eigenständige Recht der Kirche ist Liebesrecht, erwachsend aus der heiligenden und scheidenden Gewalt von Wort und Sakrament und bestimmt, diese Heiligkeit vor der Profanisierung zu schützen und dadurch, wenn auch nur negativ, zum Heil der Seelen beizutragen.

Aber diese auf Luther zurückgehende Scheidung bedeutet auch in Hessen keine Ablehnung der sittenzuchtlichen Befugnis der Obrigkeit. Vielmehr ergänzen sich beide Gewalten aufs beste. Die Durchführung der Ziegenhainer Zuchtordnung setzt eine geordnete obrigkeitliche Sittenpolizei voraus; andererseits ist auch der Staat an der Kirchenzucht interessiert.

Dem entspricht auch die Entstehung der beiden Ordnungen. Beide, die Ziegenhainer zumal, sind durch das Zusammenwirken von Staatsmännern und Theologen zustande gekommen21).

So war es ein außergewöhnlich günstiger geschichtlicher Augenblick, der durch den Dienst dieser Männer Luthers Zuchtgedanken zu ihrer ersten Verwirklichung verhalf. Die weltliche Obrigkeit gab der Kirche die Freiheit ihrer eigenen Gestaltung von Wort und Sakrament her. Sie schenkte ihr damit das Vertrauen, daß sie ihr eigenes Recht nicht zur Störung, sondern zur Erhaltung und Festigung der Einheit des Landes anwenden werde. Eben erst war diese Einheit durch das Täufertum aufs schwerste gefährdet worden. Indem der Landgraf seiner Landeskirche die Durchführung einer lutherischen Kirchenzucht ermöglichte, machte er sie innerlich stark gegen die zersetzenden Kräfte einer religiösen Individualismus, der soziale und kirchliche Ordnung in gleicher Weise zu zerstören drohte. Wie hätte er es dulden können, wenn die Kirche sich in diesem Augenblick — wenn auch nur indirekt — jenen täuferischen Einflüssen innerlich geöffnet hätte?

An dieser Stelle wird uns die innere Unmöglichkeit aller der Versuche klar, die die Eigentümlichkeit unserer Kirchenordnungen durch sektiererhafte Einflüsse erklären wollen. Nicht nur die weltliche Obrigkeit hätte sich ihrer zu erwehren gewußt; auch Butzer und seine Mitarbeiter hatten keinen Anlaß, beim Täufertum Anleihen zu machen. Gewiß, sie haben sich dessen


21) Vgl. Sohm a.a.O. S. 163 Anm. 1 und die von ihm zitierte Literatur. Über die Geschichte des Druckes der Ordnungen hat inzwischen Alfred Uckeley in der Einleitung zu dem von ihm veranstalteten Neudruck (Marburg 1939) gehandelt.

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Kritik nicht völlig verschlossen, sondern anerkannt, was an ihr Berechtigtes war. Aber sie folgten bei dieser Billigung nicht taktischen Rücksichten, sondern ihrem Verständnis lutherischen Evangelium und lutherischer Kirchenzucht. Hier lag alles, was die Täufer rechtmäßig fordern konnten, längst vor; und schon seit Jahren bemühte man sich, es in fester Ordnung zu gestalten. Daß das jetzt geschah, ist das Verdienst Butzers und seiner hessischen Amtsgenossen. Und daß es im Einvernehmen mit der Landesobrigkeit und unter deren lebhaftester Anteilnahme geschehen konnte, darin liegt das Verdienst des Landgrafen und seiner politischen Berater beschlossen. Obrigkeitliche Zuchtgewalt, die verbindliche Volksordnung und -sitte schaftt, und kirchliche Zuchtübung, die rein aus Wort und Sakrament Auftrag und Norm empfängt, haben in Hessen unter Luthers Einfluß und durch Butzers Wirken ihren inneren Ausgleich gefunden.

Und nur, solange sich die beiden Gewalten in solcher inneren Harmonie gegenseitig ergänzten, konnte sich jener lutherische Zuchtgedanke behaupten. Und nur so lange blieb es möglich, die innere Spannung zu überwinden, mit der der Protestantismus steht und fällt, und die im Täufertum gleich im Anfang seiner Geschichte zur latenten, bis heute fortwirkenden Krisis geführt hat, die Spannung zwischen Volkskirche und Freiwilligkeitskirche. Kein geringerer als Karl Holl hat nachgewiesen, und zwar gerade im Hinblick auf Luthers Forderung der Abendmahlszucht, daß jene Spannung zu seinem Kirchenbegriff gehört und daß wie sie nicht gewaltsam weginterpretieren dürfen22). Daß wir ihr in unseren hessischen Ordnungen begegnen, ist also kein Beweis gegen ihren lutherischen Charakter. Ja, indem in Wittenberg wie in Hessen die Abendmahlsgemeinde sich durch das persönliche Bekenntnis des einzelnen im Abendmahlsverhör und angesichts der gesamten Predigthörerschaft konstituierte, nähern wir uns sogar dem Begriff einer Bekenntniskirche23), der in dieser Form jedenfalls nicht dem Gedankenreservoir der Aufklärung entspringt und der darum auch nicht gegen den der Volkskirche ausgespielt werden darf. Luther hat beide Anschauungen vereinigen können, weil und solange er eine Obrigkeit hinter sich wußte, die aus christlicher Verantwortung heraus rein in ihrer weltlichen Sphäre die Voraussetzungen für rechte geistliche Zucht schuf und zugleich sich solche kirchliche Ordnung als willkommene Ergänzung gefallen ließ.

Diesen günstigen Augenblick in der Geschichte des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche haben unsere beiden hessischen Ordnungen bei ihrer


22) Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte I. Luther 19232.3 S. 358; hier unter Bezugnahme auf die oben Anm. 11 angeführten Stellen aus der Formula missae et communionis. A.a.O. S. 359: „Volkskirche und Freiwilligkeitskirche, beides hat Luther gewollt . . . . Beides wurzelt gleichmäßig in seinen reformatorischen Grundgedanken: die Volkskirche in seiner Überzeugung von der sieghaften Macht des Worts, die Freiwilligkeitskirche in seiner Forderung persönlicher Gewissenhaftigkeit.”
23) Holl a.a.O. S. 358.

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Entstehung angetroffen und rechtlich festzuhalten versucht. Aber er bot keine Gewähr für künftige Dauer, ja, er wollte sich anderwärts garnicht so leicht einstellen wie in Hessen. Indem sich die christliche Obrigkeit in den sonstigen evangelischen Gebieten der Forderung der Kirche nach eigner Zucht und eignem Recht mehr oder weniger entzog, bahnten sich die Unterschiede an, die die beiden evangelischen Konfessionen in der Frage der kirchlichen Gestaltung künftig voneinander trennen sollten. Und unsere beiden hessischen Ordnungen liegen genau auf dem Scheitelpunkt, von dem aus die beiden Linien auseinanderstreben.

Schon bei dem älteren Luther gewahren wir eine merkwürdige Resignation, wenn er, und sei es nur im Blick auf seine Wittenberger Gemeinde, auf die Einführung einer Kirchenzucht zu sprechen kommt, die mehr ist als ein Aufsagen von Katechismusformeln in der Privatbeichte beim Abendmahlsverhör, die etwa gar mit dem Banne ernst macht. Die Welt ist zu fromm geworden dafür, klagt er ironisch. Obwohl sie von Sünden überschwemmt ist, will sie doch keine gestehen; sie bedarf keines Bannes und keiner Absolution24). Besonders entbrennt Luthers Zorn gegen die Zentauren und Harpyen am Hofe, die zwar dauernd in die Kirche hineinregieren, eine kirchliche Bannordnung aber nicht zulassen wollen. Und in seiner großen Unbekümmertheit zieht er sich wieder wie in den Anfangstagen der Reformation zurück auf das Wort. Das Wort allein muß es tun. Wenn es nur recht gepredigt wird, wird es den christlichen Bann schon einmal zuwege bringen25).

Das soll also kein grundsätzlicher Verzicht sein. Nach Christi Anordnung gehört die Zucht notwendig zur Kirche; und daß sie in ihr geübt wird, ist Luther ein großer Trost. Mag auch die Zucht des Lebens unter den


24) Aus einer 1537 gehaltenen Predigt über Matth. 18; WA 47, 289 38 ff.: „Es ist aber die Welt (Gott lob) itzt so from, das man des bannens nicht darff, ob sie gleich mit sunden uberschwemmet ist. Den sie stickt vol Geitzes, Hasses, neidts, betrugs, ja voller schande und laster. Noch ist keine sunde da, die man bannen kondte. Es heisset itzt alles redlich und ehrlich gehandelt, narung gesucht, es muß alles Heiligkeit sein, und sind ins Teuffels namen alle from worden. Darumb hat dieser unser Ban des lebens halben nicht mehr stadt. Wir konnen diesen Ban nicht auffrichten. Aber so wir nicht konnen die Sunde des lebens bannen und straffen, so bannen wir doch die sunde der lehre. Den Ban haben wir dennoch behalten, das wir sagen, die Widderteuffer, Sacramentirer und andere Ketzer solle man nicht horen, Bannen und scheiden sie von uns. Dieses ist das notwendigste Stucke. Den wo die lehre falsch ist, do kan dem leben nicht geholffen werden. Wo aber die Lehre rein bleibet und erhaltten wirdt, do kan man dem Leben und dem Sunder noch wohl rathen. Den do hat man die Absolution und die Vergebung, wens zur lehre kompt. Ist aber die lehre hinweg, so gehet man irre und findet man wider Bannen noch lösen. Da ists den alles verloren. Lest ihnen dornach die Obrigkeit ungestrafft hingehen, do frage ich nichts nach. Ich bin entschuldiger und hab sie ihres ampts vermanet. Sie mags verantworten.”
25) Vgl. den Brief an Anton Lauterbach vom 2. April 1543, unten Anm. 28.

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geschilderten Verhältnissen nicht durchgeführt werden können, die Lehrzucht gegen Irrlehrer und Ketzer ist wenigstens vorhanden; und das ist für ihn die Hauptsache. Denn wo die Reinheit der Lehre gesichert ist, da bleibt auch die Absolution wirkungskräftig; und um derentwillen ist die ganze Kirchenzucht da26).

Also auch die lutherische Kirche ist eine Kirche der Zucht; und die erstreckt sich ursprünglich auf Leben und Lehre. Der Not gehorchend hat dann das Luthertum, gedrängt von dem werdenden Staat des patriarchalischen Absolutismus, die Zucht des Lebens aus den Händen geben müssen, in der vergeblichen Hoffnung, wenigstens die Lehrzucht zu behalten. Aber man sollte aus dieser Not keine Tugend, kein konfessionsscheidendes Kriterium machen. Es ist nicht das Wesen des Luthertums, die Liebe vom Glauben zu trennen. Zwar sind die Werke der Liebe nicht Bedingung der Seligkeit, aber Früchte des Glaubens. Daher muß die Kirche nicht nur Irrglauben und Unglauben bekämpfen, sondern auch den Mangel an Liebe und die Werke der Lieblosigkeit in ihre geistliche Zucht nehmen.

So lehrt mit Luther die Ziegenhainer Zuchtordnung, und so ist es — wenigstens grundsätzlich — in der hessischen Kirche anerkannt. Und darin liegt kein ausgesprochenes Entgegenkommen gegen die reformierte Kirche. Im Blick auf sie ist anfänglich die Zuchtfrage — so eng sie auch mit der Abendmahlsfrage zusammenhängt — gar kein konfessionsbestimmendes Element. Auch wenn wir von dem zwinglischen Typus einmal absehen, ist die Behauptung falsch, daß sich die reformierte Kirche dadurch von der lutherischen unterscheide, daß für sie neben Wort und Sakrament auch die Zucht ein konstituierender Faktor sei. Denn weder hat das Luthertum je grundsätzlich oder praktisch auf Kirchenzucht verzichtet, noch hat etwa Calvin sich geweigert, eine Kirche ohne Zuchtübung dennoch als Kirche Christi anzusehen27). Der Unterschied besteht vielmehr darin, daß der Calvinismus im Kampf gegen widerstrebende Obrigkeiten sich eine eigene kirchliche Zuchtübung und damit ein eigenes kirchliches Recht zu erstreiten suchte, während das Luthertum diesem Kampf in seiner ganzen Strenge und Ausdehnung sich entzog und sich mit bloßer Lehrzucht begnügte. Daß in jenem Ringen sowohl die in diesem Verzicht ursprüngliche Gedanken Luthers sich verhärtet und gewandelt haben, berührt uns in unserem Zusammenhang deshalb nicht, weil der hessischen Kirche in diesem Stücke von Anfang an ein glücklicheres Erbe mitgegeben worden ist.


26) Vergl. Anm. 24.
27) Karl Holl: Ges. Aufsätze zur Kirchengesch. III. Der Westen, 1928, S. 268, Anm. 3: „Auch eine Kirche, die keine Zucht übt, will er (Calvin) doch noch als Kirche angesehen wissen.” Für die Behauptung des folgenden Satzes vgl. die Schilderung bei Holl a.a.O. S. 268 ff.

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Die hessischen Kirchenordnungen von 1538/39 stehen also außerhalb des protestantischen Konfessionsgegensatzes, weil sie vor ihm entstanden sind. In ihnen hat Butzer ursprüngliche Gedanken Luthers in rechtliche Form gebracht.

So können wir es verstehen, daß der Wittenberger Reformator, als 1543 eine Zuchtordnung für das albertinische Sachsen geplant war, empfehlend auf das hessische Beispiel hinwies. Placet exemplum Hassiacae excommunicationis — so hat er damals geschrieben,28) so wird man heute gerade auch vom Standpunkt seiner Theologie aus mit innerer Berechtigung sagen dürfen.


28) Luther an Anton Lauterbach in Pirna, 2. April 1543, Enders 15, Nr. 3258 „De Ceremoniis cudendis mihi nulla spes est, nec ferendum, ut impii nobis leges praefigant, qui ipsi nulla lege tenentur. Si primum verbi puritas ubique regnarit, de Ceremoniis facile esset consilium. Quid Ceremoniae sine verbo?” In der Zeremonienfrage ist er bei Wahrung grundsätzlicher Freiheit bereit „rursus erigere et omnia facere pro usu Ecclesiarum et pro libertate conscientiae defendenda, quam semper et ubique per ceremonias insidisissime Satan petevit, tentavit et saepius in servitutem lege ipsa graviorem redegit. Placet exemplum Hassiacae excommunicationis: si idem potueritis statuere, optime facietis. Sed Centauri et Harpyae aulicae aegre ferent. Dominus adsit nobis. Ubique grassatur licentia et petulantia vulgi; sed ea culpa magistratus est, qui nihil facit nisi quod tirbuta exegit, et facti sund Principatus quaesturae et telonia. Ideo vastabit nos dominus in ira sua. Utinam dies ille veniat redemptionis nostrae cito. Amen.” An diesem Lob der Ziegenhainer Kirchenordnung ist besonders wichtig, daß Luther an ihr hervorhebt, was heute an ihr bestritten wird bzw. sie anstößig macht: nämlich daß in ihr die freie Gewalt des Wortes Gottes gewahrt und jeder gesetzliche Zwang ausgeschlossen sei, und daß sie eigene kirchliche Ordnung in innerer Freiheit vom staatlichen Recht und doch nicht ohne Beziehung darauf begründe.