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Der geistvollste und gründlichste Geschichtsschreiber der hessischen Reformation, der auf dem Felde der Ehre gefallene Marburger Historiker Walter Sohm, hat das Urteil ausgesprochen, in den beiden hessischen Kirchenordnungen von 1538/39 seien die besten und größten Gedanken Luthers aufgegeben1). Hier sei an die Stelle des religiös-sittlichen Erziehungsauftrags der christlichen Obrigkeit ein neues, religiös begründetes Kirchenrecht getreten2). Und damit sei zugleich dem von Luther neu verstandenen Amt der Wortverkündigung eine ihm wesensfremde Aufgabe zugeschoben worden, die Pflicht der Zuchtübung3).

Der unlutherische Charakter der beiden Kirchenordnungen wird also auf doppelte Weise bewiesen: Einmal sei durch sie ein Eingriff in die Würde des Staates erfolgt, die Luther eben von neuem entdeckt hatte. Und zum anderen sei mit ihnen die Reinheit und Zartheit des kirchlichen Handelns verletzt, das nur dem göttlichen Wort, nicht dem Rechte verpflichtet sei und nur durch das Mittel des Wortes wirksam werde.

Sohm ist geneigt, diesen Abfall der hessischen Kirche vom Geiste Luthers aus ihrer inneren Infektion durch das Täufertum zu erklären; um sich gegen die von ihm drohende Gefahr immun zu machen, habe sie dessen Gedankengut teilweise übernommen.

Was Sohm vorsichtig abwägend vorträgt, haben längst vor ihm andere in viel derberer Weise ausgesprochen. Gewöhnlich muß Martin Butzer die Schuld auf sich nehmen. Er wird zu einem intriganten Kirchenpolitiker


1) Walter Sohm: Territorium und Reformation in der hessischen Geschichte 1526-1555. S. 164, Anm.. Dieses zunächst auf die Ziegenhainer Zuchtordnung (ZZO) sich beziehende Urteil gilt bei der engen Verwandtschaft der beiden Ordnungen sinngemäß auch für die Kasseler Kirchenordnung (KKO) mit. — Sohms Buch, dessen geistvolle Thesen auch da fesseln, wo man ihnen nicht zustimmen kann, bildet die Grundlage für die künftige Geschichtsschreibung der hessischen Reformation.
2) a.a.O. S. 165: „Neben das christliche Landrecht trat ein neues Kirchenrecht in religiösem Sinne. Das öffentliche Recht des Territoriums mußte von nun an sich zurechtfinden mit einem öffentlichen Recht der Kirche. Das durch die Reformation gewonnene einheitliche Rechtsleben des christlichen Körpers war wiederum gestört.”
3) a.a.O. S. 163: „Das unterlegene Wiedertäufertum hauchte ein etwas von seinem Geiste in den Leib des hessischen gemeinen Nutzes, in das Leben des hessischen Kirchenwesens. In verfeinerter Gestalt wurde durch den Sieg über die Rottengeister eine Art permanenter und legitimer Revolution in das Territorium hineingetragen, wurde die Idee des allein durch das Wort wirkenden Predigtamtes eingeengt durch eine unlutherische Zuweisung von Zuchtaufgaben an die Kirche Christi.”

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gemacht, der in seiner theologischen Prinzipienlosigkeit die Täufer durch den taktischen Kniff der Übernahme ihrer Ideen äußerlich besiegt habe, um ihnen innerlich um so mehr zu verfallen. Andere wieder haben in Butzer in erster Linie den Vorläufer Calvins gesehen und in den beiden auf ihn zurückgehenden Kirchenordnungen die Grundsätze reformierter Kirchenverfassung finden wollen. Gleichzeitig aber haben sie darin Reste sakramentalen Denkens entdeckt und Butzer einen heimlichen Katholiken gescholten. So schwankt das Urteil hin und her, ob die 1538/39 neu geschaffenen eigentümlichen Ordnungen der hessischen Kirche einen Rückfall ins Mittelalter darstellen, oder ob sich hier schon die fortschrittlichen Ideen einer modernen Gemeindeverfassung ankündigen4).


4) Der für dieses Durcheinander eigentlich Verantwortliche ist Theodor Kliefoth in Liturgische Abhandlungen III 1: Die Konfirmation, 1856. Er hat die Anregungen, die Joh. Wilh. Fr. Höfling (Das Sakrament der Taufe, Bd. II, 1848, S. 347 ff.) und Joh. Friedrich Bachmann (Die Geschichte der Einführung der Konfirmation innerhalb der evangelischen Kirche, 1852) gegen hatten, als erster systematisiert. Seine Unterscheidung zwischen katechetischer, sakramentaler und kirchenrechtlicher Konfirmation bestimmt bis heute die Erörterung über die Konfirmation; ja, während er noch diesen Typen eine gemeinsame Grundlage zuerkennt, die sich nur durch verschiedene Betonung allgemein vorhandener Stücke unterscheiden, sind sie inzwischen zu unvereinbaren Gegensätzen geworden. Für die hessischen Ordnungen soll dabei eine Verquickung von sakramentaler und kirchenregimentlicher Auffassung maßgebend sein. Während erstere im allgemeinen aus den Unionsversuchen mit den Katholiken stammen soll (a.a.O. S. 65 ff.), wird sie für die KKO „aus halber Hinneigung zu reformirten Principien” abgeleitet (S. 85) und aus Hyperius und den Ordnungen von 1566 bzw. 1574 in die früheren zurückinterpretiert. Andrerseits wird die „kirchenregimentliche” Seite der KKO vom Vorbild der Reformatio ecclesiarum Hassiae von 1526 her verständlich gemacht; freilich sollen deren Grundsätze dadurch ermäßigt sein, „daß man die Gemeinde ihr Urrecht nur durch die Erwählung von Ältesten ausüben ließ und auf diese Ältesten dann als auf die erwählten Repräsentanten der Gemeinde die Kirchengewalt . . . legte” (S. 87). Die Konfirmation ist dann „der Act der Aufnahme in die engere, vollberechtigte, zur Handhabung der Kirchengewalt, ob auch nur in der Form des Wahlrechts, legitimierte Gemeinde” (S. 89). Ihr Ziel soll sein, „die Gemeinde möglichst rein herzustellen, die schon für die Wahlprozeduren gefährlich werdenden Elemente auszumerzen” (S. 88). Man hätte diese völlig ungeschichtlichen, dem kirchenpolitischen Arsenal des Restaurationsluthertums entstammenden Vorstellungen nicht in der Weise ernsthaft nehmen sollen, daß man nun wirklich über die Mittel und Wege nachsann, auf denen der Sektentypus sich in die hessischen KKO hätte einnisten können. Und man hätte sich die krampfhaften Versuche sparen sollen, das von Kliefoth aufgeworfene „Problem” zu lösen, wie sich die angeblich katholisierenden, sakramentalen Neigungen der hessischen Ordnungen mit den in ihnen angeblich ausgesprochenen sektiererhaften vertrugen. Gewöhnlich wird man in diesem Zusammenhang über den vorreformatorischen Charakter des Sektentums im 16. Jahrh. belehrt, wenn man nicht gar mit C.A.G. von Zezschwitz (System der christlich kirchlichen Katechetik I, 1863, S. 637) dem consolamentum der Katharer (!) „die entscheidende Anregung für die sacramentale Fassung der Confirmation, wie sie im 16. Jahrh. von Straßburg, Hessen und andern Orte ausging,” zubilligen soll. Man kann sich nicht genug wundern, solchen Phantastereien — wenn auch in vorsichtiger Form — heute immer noch zu begegnen.

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Gegenüber diesen in sich widerspruchsvollen Meinungen wollen wir unsere These begründen. Sie lautet: Der Lutherschüler Martin Butzer hat in unsern beiden Ordnungen entscheiden Anliegen, die Luther für die Gestaltung der evangelischen Kirche bewegten, verwirklicht. Und er hat sie zugleich mit starken geistigen und rechtlichen Tendenzen seiner Zeit verbunden und sie dadurch für die Entwicklung der werdenden Konfessionskirchen — der lutherische sowohl wie der reformierten — wirksam gemacht.

Zwei geschichtliche Grundsätze bilden die Voraussetzung für diese These.

Der erste: Es gilt, die verhängnisvolle Neigung zu überwinden, die die konfessionelle Entwicklung des deutschen Protestantismus nicht aus ihrem Werden, sondern aus ihrem Gewordensein verstehen will. Hier werden die völlig entwickelten Gegensätze der beiden evangelischen Konfessionen, die die Kontroverstheologie mit virtuoser Fertigkeit herausgearbeitet hat, in die Entstehungszeit der evangelischen Kirche zurückgetragen, in der ganz andere Fähigkeiten als jene Virtuosität gefordert und entbunden wurden. Durch jene Neigung ist gerade an unserer hessischen Kirche — innerhalb und außerhalb ihrer Grenzen — besonders viel gesündigt worden; und es wird allgemach Zeit, daß mit ihr schnell und gründlich gebrochen werde. Wir lehnen es darum ab, von vornherein eine Norm aufzustellen für das, was rein lutherisch oder rein reformiert sei; — es ist das eigentümliche Schicksal des deutschen Protestantismus, daß es diese reinen Formen nirgends gibt und nie gegeben hat. Wir können deshalb von jener Alternative aus über unsere beiden Ordnungen keiner richtiges geschichtliches Urteil fällen. Wir müssen sie vielmehr mitten hineinstellen in die Entwicklung des 16. Jahrhunderts, an dessen Ende erst — mehr in der Theorie als in der Wirklichkeit — jene beiden Idealtypen fertig ausgebildet auseinandertreten, in dessen Verlauf aber noch die mannigfaltigsten Kräfte miteinander ringen. Als das Ergebnis solcher geistigen Auseinandersetzungen und zugleich als Ausgangspunkt für neue Entwicklungen verstehen wir unsere Ordnungen; erst so machen wir uns ihre Bedeutung im Prozeß der Konfessionalisierung des deutschen Protestantismus deutlich.

Und damit wehren wir uns zum andern gegen eine Meinung, die von de Historischen Rechtsschule des 19. Jahrhunderts auf die kirchliche Bekenntnis- und Verfassungsentwicklung übertragen worden ist5). Danach wird jede deutsche Landeskirche als ein in sich geschlossener geistlicher Organismus betrachtet und jede ihrer Kirchenordnungen als der Ausdruck des ihr eigentümlichen Geistes. Widersprüche unter diesen kann es darum nicht geben. Jede von ihnen muß vielmehr von ihren Vorgängerinnen aus


5) Vgl. das 3. Kapitel im 2. Bande meines Buches: Aufklärung, Idealismus und Restauration. Studien zur Kirchen- und Geistesgeschichte in besonderer Beziehung auf Kurhessen, 1936; meinen Vortrag über: Kirche und Recht be August Vilmar und für die Gegenwart, 1931; sowie: Bekenntnis und Recht in der Kurhessischen Kirche des 19. Jahrh. = Ztschr. für Theologie und Kirche 1937.

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verstanden werden und ist von ihren Nachfolgerinnen authentisch interpretiert worden.

Groteske Irrtümer sind aus dieser Konstruktion entstanden und werden bis heute für wahr gehalten. Immer wieder stößt man z.B. auf den Versuch, die Ziegenhainer Zuchtordnung von der Homberger Kirchenordnung von 1526 aus zu deuten, die auf den in Hessen völlig gescheiterten Lambert von Avignon zurückgeht und nie geschichtlich wirksam geworden, sondern erst im Zeitalter der Aufklärung aus ihrem papierenen Aktendasein erlöst worden ist6). Und ebenso oft sehen wir die Ideen von 1538/39 verquickt mit den Anschauungen der Hessischen Kirchenordnung von 1566 und den Theorien des 4 Jahre vor deren Veröffentlichung verstorbenen Andreas Hyperius. Durch solche Methoden sind Verwicklungen entstanden, die keine geschichtliche Besinnung zu lösen vermag, weil sie unsinnig sind. die man nur mit dem Schwerte zerhauen kann.

Dadurch ist Jahrzehnte hindurch das Verständnis für die geschichtliche Eigenart der hessischen Landeskirche gehemmt worden. Deren eigentümlicher Charakter in der Reformationszeit liegt ja gerade darin beschlossen, daß sie die verschiedenartigsten Einflüsse von allen Seiten auf sich wirken ließ. So ist sie das Versuchsfeld für die kirchliche Gestaltung des deutschen Protestantismus geworden. Und gerade unsere beiden Ordnungen sind ausgezeichnet durch die Fülle von Anregungen, die sie von auswärts in sich aufgenommen und dann neugestaltet an andere Landeskirchen weitergegeben haben. Sie haben dadurch zur Vereinheitlichung des deutschen Protestantismus wesentlich beigetragen.

Wir verfolgen diese Anregungen auf drei Gebieten: dem der Zucht, der kirchlichen Ämterverfassung und der kirchlichen Jugendunterweisung im Zusammenhang mit der Konfirmation. Auf allen drei Gebieten ist die hessische Landeskirche dem Protestantismus führend vorangeschritten.


6) Vgl. meinen Aufsatz über Franz Lambert von Avignon und das Verfassungsideal der Reformatio Ecclesiarum Hassiae von 1526 = Ztschr. für Kirchengesch. 48, 1929. — Die Reformatio wurde zuerst gedruckt von Schminck in der Monimenta Hassiaca II, Kassel 1748, S. 588 ff.