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V.

Der Begnadigungsakt als Dispensation

 

Daß die Begnadigung systematisch nur mit dem staatsrechtlichen Begriff der Dispensation zu erfassen ist, ist eine alte juristische Erkenntnis, die nur im Staats- und verfassungsrechtlichen System des bürgerlichen Rechtsstaats verlorengehen konnte. Dieser rechtslogische Zusammenhang ist von Esmein klar formuliert worden: Der rechtsstaatliche Gesetzesbegriff versteht unter dem Gesetz eine generelle, für alle gleichmäßig verbindliche Regel, die von keiner Öffentlichen Gewalt in einem speziellen Fall außer Anwendung gesetzt werden kann. Die gesetzgebende Gewalt kann zwar ein Gesetz überhaupt abschaffen, aber sie kann es nicht, solange es unverändert in Kraft ist, in einem besonderen Fall suspendieren. Anders der mittelalterliche Gesetzesbegriff: Zwar wurde auch nach ihm das Gesetz als eine generelle Norm verstanden, vor der alle gleich sind; aber der Fürst, der die Fülle der Staatsgewalt in seinen Händen vereinigte, konnte unter der Voraussetzung des Vorliegens einer justa causa hinsichtlich einer einzelnen Person oder eines bestimmten Tatbestandes von der Anwendung des Gesetzes dispensieren, wobei gleichwohl die Geltung des Gesetzes und seine generelle Verbindlichkeit unberührt blieb1).


*) Esmein, Cours de droit constitutionnel, Bd. II, S. 148 ff.: „Aujourd’hui la loi nous apparaît comme une règle uniforme pour tous et inévitable; en ce sens qu’aucun des pouvoirs publics ne saurait, en-droit, en écarter l’application dans un cas particulier . . . Le pouvoir législatif peut bien abroger une loi, mais il ne doit pas tant qu'elle reste en vigueur et non modifiée en suspendre ou écarter l’application dans une hypothèse spéciale, rentrant exactement dans la règle qu’elle édicte. Tel est du moins le principe.” Zum mittelalterlichen Begriff: „La loi était bien conçue en principe comme une règle générale, uniforme pour tous; mais on admettait que le prince, qui réunissait dans ses mains le pouvoir législatif, exécutif et judiciaire, pouvait, quand ➝

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An diesen Gesetzesbegriff, der zugleich als rechtslogische Ergänzung die Dispensation einbegreift, habe sich das Recht der Gnade und der Amnestie geknüpft. Die verfassungstheoretischen Auseinandersetzungen in der Französischen Nationalversammlung1) bestätigen diesen Zusammenhang. Das Begnadigungsrecht wurde hier vor allem unter dem Gesichtspunkt der Unvereinbarkeit des revolutionären Gesetzesbegriffes mit dem Dispensationsrecht des Königs angegriffen.

Über den Ursprung jenes die Dispensation voraussetzenden Gesetzesbegriffes sagt Esmein, daß er einige Elemente aus dem Römischen Recht rezipiert habe, jedoch insbesondere vom kanonischen Recht inspiriert worden sei. Der Begriff der Dispensation entstammt allerdings dem kanonischen Recht2). Sohm hat seine Entstehung auf die dem altkatholischen Kirchenrecht gestellte Aufgabe der „concordia discordantium canonum” zurückgeführt3): Dem Altkatholizismus war alles kanonische Recht unmittelbar aus dem Geiste Gottes geflossenes Recht. Daher entstand die praktische Schwierigkeit: „Was der Geist Gottes durch das Evangelium (Christus), durch die Apostel, durch die Väter der Rechtsordnung für das Leben des Volkes Gottes gesetzt habe, mußte, weil derselben göttlichen Quelle entsprungen, trotz der verschiedenen Zeugen und Zeiten stets desselben einheitlichen göttlichen Inhalts sein. Wie könnte der Geist Gottes mit sich selbst in Widerspruch geraten4)!” Die


➝ il avait une juste cause, dispenser de l’application de la loi quant à une personne ou à un fait déterminé, tout en laissant à la loi sa force et sa portée générale; cette dispense pouvait être accordée ou pour l’avenir ou même pour le passé (ce qui était plus frequent) et alors avec effet rétroactif.”
1) Vgl. oben 32 ff.
2) Dispensator ist in der Antike der Titel für die Beamten der Finanzvermögensverwaltung und die Berufsbezeichnung der Verwalter privaten Grundeigentums; G. Krüger, Die Rechtsstellung der vorkonstantinischen Kirchen, 1935 (Kirchenrechtl. Abhdlg., herg. v. Stutz u. Heckel). Im römischen Recht gibt es der Sache nach, aber unter anderem Namen die Rechtsfigur der Dispensation; Steinitz, Dispensationsbegriff und Dispensationsgewalt auf dem Gebiete des deutschen Staatsrechts, 1901, S. 4.
3) Nach Stiegler, Dispensation und Dispensationswesen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Arch. f. kath. Kirch. R. 1897, 1898, ist Dispensation ursprünglich im Anschluß an den antiken Begriff οἰκονομία jede Abweichung der Vorsehung von den menschlichen Verhaltensregeln, dann im Rechtssinne jede beliebige Abweichung von einer rechtlichen Vorschrift. Weitere Theorien vgl. Steinitz a.a.O.
4) Rudolf Sohm, Kirchenrecht, Bd. II, S. 91 ff.

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damit gestellte Harmonisierungsaufgabe führte zu der Unterscheidung zweier formae canonum: die einen bringen das strenge Gesetz, die anderen üben Nachsicht. Nach Hinkmar von Reims bestimmen die canones insofern Verschiedenes, als sie je nach Zeitumständen oder Art des Falles in der Handhabung des göttlichen Gesetzes bald Strenge, bald Gnade zur Anwendung bringen1). Die scheinbaren Widersprüche beruhen lediglich auf gnadenweiser Dispensation von der gemeingültigen Regel. Die späteren Kanonisten, insbesondere Ivo und Gratian, wiederholen diese Lehre. Im einzelnen besagt sie: Kein Satz des kanonischen Rechts gilt ausnahmslos. Von allen canones kann „pro necessitate” dispensiert werden. In der Dispensationsgewalt, ebenso wie in der Aufstellung des Gesetzes, findet, wie in allem Handeln der Kirche, unmittelbares Handeln Gottes statt. Daher ist die Dispensationsgewalt grundsätzlich unbegrenzt2). Sie schließt jedoch keine Änderungsgewalt ein. Sobald die Not beseitigt ist, stellt sich die göttliche Regel von selbst wieder her3).

Auf den Inhalt dieser kanonistischen Lehre ist nicht weiter einzugehen. Zweifellos war sie begriffsgeschichtlich von großer Bedeutung. Indessen findet sich die Dispensation schon bei Thomas von Aquino als ein allgemeiner Rechtsbegriff, der auch außerhalb des kanonischen Rechts Gültigkeit hat. Thomas stellt in seiner Gesetzeslehre ganz allgemeine Grundsätze für den Dispens auf. Er geht von der Bedeutung des Wortes „dispensatio” gleich „Verteilung” aus. Der Ausdruck solle eine Tätigkeit bedeuten, wodurch irgend etwas Gemeinsames zum einzelnen ins Verhältnis gesetzt werde; deshalb heiße das Oberhaupt der Familie „dispensator”, weil es unter alle Glieder der Familie „nach Maß und Gewicht”, also nach richtigem Verhältnis, Aufgaben und Unterhaltsmittel verteile; ebenso bestimme der „dispensator” einer Menge, wie eine gemeinsame Vorschrift von den einzelnen zu erfüllen sei4). Der Gesetzgeber kann nicht alle einzelnen Fälle vor Augen haben, er stellt daher ein Gesetz auf gemäß dem, was sich in den meisten Fällen


1) De praedestinatione. Dissert. posterior, cap. 37, 11, p. 411. Vgl. Sohm a.a.O.
2) A.a.O., S. 95.
3) A.a.O., S. 98.
4) O. Schilling, Die Staats- und Soziallehre des hl. Thomas von Aquin, 2. Aufl., 1930, S. 182 ff.

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zuträgt, indem er seine Absicht auf den gemeinsamen Nutzen richtet. Taucht deswegen ein Fall auf, in dem die Beobachtung eines solchen Gesetzes für das gemeine Heil schädlich wäre, so ist es nicht zu beobachten1). Die Leiter einer Vielheit können Entbindung von den Gesetzen geben, sofern sie nur klug und nicht ohne Ursache geschieht2). Abgesehen von offenbarer und plötzlicher Gefahr wäre es aber bedenklich, dem Einzelnen die Entscheidung zu überlassen; darum hat nur der Leiter der Gemeinschaft die Gewalt, vom menschlichen Gesetz, das auf seiner Autorität beruht, zu dispensieren3). Erteilte er die Erlaubnis, das Gesetz nicht zu erfüllen, grundlos und rein willkürlich, so wäre er ein untreuer oder unkluger Verwalter, untreu, sofern seine Absicht nicht auf das Gemeinwohl gerichtet ist, unklug, weil er ohne Grund von seiner Gewalt Gebrauch macht. Die Dispensation bedeutet keinen Verstoß gegen die Gerechtigkeit, denn es ist kein Ansehen der Person, wenn man Ungleiche nicht gleich behandelt; ist es also in den Verhältnissen einer Person begründet, daß eine Ausnahme gemacht und eine Vergünstigung gewährt wird, so ist dieses berechtigt. Auf das sittliche Naturgesetz erstreckt sich die Dispensationsbefugnis nicht, soweit die allgemeinen, unfehlbar zutreffenden Vorschriften in Frage stehen, anders hinsichtlich der Sätze, die sich dazu wie entferntere Schlußfolgerungen verhalten; davon wird zuweilen menschlicherseits dispensiert, indem etwa bestimmt wird, daß dem Verräter des Vaterlandes das Darlehen nicht zurückzugeben sei. Eine Dispensation vom Dekalog gibt es nicht4); zum göttlichen Gesetz steht jeder Mensch im selben Verhältnis, wie eine Privatperson zum öffentlichen Recht, dem sie unterstellt ist; wie daher hier nur dispensieren kann, wer über den Gesetzen steht oder die Befugnis, zu dispensieren, erhalten hat, so kann bei den Vorschriften des göttlichen Rechts nur Gott dispensieren oder von ihm speziell Beauftragte5).

Die thomistische Lehre zeigt, daß die Dispensation ein allgemeiner Rechtsbegriff ist, der zwar seine Ausbildung im kanonischen Recht


1) Summa theol. 1, 2 qu. 96 a. 6.
2) Summa theol. 1, 2 qu. 97 a. 4.
3) Summa theol. 1, 2 qu. 96 a. 6.
4) Summa theol. 1, 2 qu. 100 a. 8.
5) Summa theol. 1, 2 qu. 97 a. 4.

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erfahren hat, darüber hinaus aber der Sache nach auch auf anderen Rechtsgebieten, insbesondere im Staats- und Verwaltungsrecht, gilt. In der modernen juristischen Fachsprache wird ein Staats- und verwaltungsrechtlicher und ein kirchenrechtlicher Dispensationsbegriff unterschieden1).

In der Entwicklung des staatsrechtlichen Dispensationsbegriffes spiegelt sich auf das genaueste der Wandel der Staatsideen im Laufe der Jahrhunderte. Denn der Dispensationsbegriff bezeichnet eine spezifische Struktur des geistig-politischen Weltbildes; er läßt sich nur da systematisch rechtfertigen, wo man von der staatstheoretischen, welt-anschaulichen und theologischen Grundvorstellung ausgeht, daß es einen Herrn über die Gesetze gibt. Die von Esmein betonte Verschiedenheit des mittelalterlichen von dem rechtsstaatlichen Gesetzesbegriff2) beruht im Grunde auf einer Verschiedenheit der politischen, weltanschaulichen und religiösen Vorstellungen in diesem Punkte. Das mittelalterliche Weltbild ist theistisch, es beruht auf dem Glauben an die außer- und überweltliche Existenz des persönlichen Gottes, der die Welt nicht nur geschaffen hat und erhält, sondern auch durch unmittelbare Eingriffe die Naturgesetze durchbricht. Auf diese Übereinstimmung der sozialen Struktur einer Epoche mit ihrem metaphysischen Weltbild hat insbesondere Carl Schmitt aufmerksam gemacht, der in seiner „Politischen Theologie” den Satz aufstellt: „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe3).” Dem allmächtigen Gott entspricht der omnipotente Gesetzgeber; der Ausnahmezustand hat für die Jurisprudenz eine analoge Bedeutung wie das Wunder für die Theologie. Wie die monarchische Staatslehre den theistischen Gott mit dem König identifiziert, so setzt sich die Idee des modernen Rechtsstaates mit dem Deismus durch, mit einer Theologie und Metaphysik, die das Wunder aus der Welt verweist und die darin enthaltene Durchbrechung der Naturgesetze ebenso


1) Vgl. Handwb. d. R. W., II. Bd., 1927, S. 70, 72. Stengel-Fleischmann, Handwb. d. dt. St.- u. Verw. R., I. Bd., S. 568.
2) S. oben S. 120.
3) C. Schmitt, Politische Theologie, Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 1922, S. 37 f., 42 ff.

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so ablehnt wie den unmittelbaren Eingriff des Souveräns in die geltende Rechtsordnung. Der ausnahmslos geltenden Naturgesetzlichkeit entspricht die generelle Geltung des Gesetzes1).

Dispensation ist nur möglich, wenn eine Durchbrechung der generellen Geltung der Gesetze durch einen über den Gesetzen stehenden Herrn gedacht werden kann. Thomas von Aquin stellt seinen Gedanken über die Dispensation eine Überlegung voran, inwiefern es einen solchen Herrn über die Gesetze gebe. An den römischen Satz „princeps legibus solutus” anknüpfend, erklärt er auf die Frage, ob alle dem Gesetze unterworfen sind, daß eine Unterworfenheit unter das Gesetz in einem doppelten Sinne gedacht werden müsse. Das Gesetz sei einmal eine Richtschnur für die menschlichen Handlungen; der Mensch könne also dem Gesetz unterworfen sein, wie das Gerichtete der Richtschnur. Sodann aber habe das Gesetz zwingende Kraft; und auf diese Weise sind alle jene dem Gesetz Untertan, die der Gewalt Untertan sind, von welcher das Gesetz erfließt. Ein Fürst ist nun vom Gesetz entbunden, insoweit es auf die zwinghafte Kraft des Gesetzes ankommt. Aber was die Richtkraft des Gesetzes angeht, so ist der Fürst dem Gesetz mit eigenem Willen Untertan2). Am Schlüsse dieser Überlegungen steht der Ausspruch „Es steht aber auch der Fürst über dem Gesetz, insoweit er nach Ort und Zeit, wenn es förderlich ist, das Gesetz ändern und Entbindungen von ihm aussprechen kann.”

Auch die großen Theoretiker des säkularen Naturrechts im siebzehnten Jahrhundert nehmen prinzipiell noch diesen Standpunkt ein. Nach Grotius ist der Gesetzgeber zwar in gewisser Weise an seine Gesetze gebunden, insoweit er nämlich selbst als dem Staate eingegliedert anzusehen ist (pars civitatis spectatur); insoweit er jedoch Träger des Staates selbst und seiner Autorität ist (civitatis ipsius personam atque auctoritatem sustinet), kann er das Gesetz im ganzen aufheben, weil es zum Wesen des menschlichen Gesetzes gehört, daß es sowohl in seinem Ursprung wie in seinem Fortbestand vom menschlichen Willen


1) Über ein interessantes Einzelproblem der politischen Theologie neuestens E. Peterson, Der Monotheismus als politisches Problem. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theologie im Imperium Romanum. 1935.
2) Summa theol. 1, 2 qu. 96 a. 5.

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abhängig ist. Er soll es freilich nur aus einem triftigen Grunde aufheben, da sonst gegen die Gerechtigkeit der Herrschaft verstoßen würde. Wie er in-dessen das ganze Gesetz aufheben kann, so — nach Gottes eigenem Vorbild — auch seine Verbindlichkeit gegenüber einer bestimmten Person und in einem individuellen Falle, wobei das Gesetz im übrigen fortbesteht. (Sicut autem totam legem tollere potest, ita etiam vinculum eius circa personam aut factum singulare, manente de cetero lege, Dei ipsius exemplo)1). — Deutlicher kann die Bedeutung der metaphysischen Parallele zwischen Gott und König nicht zum Ausdruck gebracht werden. Grotius läßt „Dei ipsius exemplo” die individuelle Durchbrechung des Gesetzes zu2); die cartesianische Lehre, daß Gott nur generelle, nicht partikulare Willensäußerungen von sich gibt3), führt ebenso unmittelbar zu der rechtsstaatlichen Konsequenz der unverbrüchlichen Herrschaft des generellen Gesetzes, die Dispensationen eines über den Gesetzen stehenden Herrschers nicht zuläßt. Pufendorf teilt die Ansicht des Grotius; er wiederholt, wenn es dem Gesetzgeber erlaubt sei, das Gesetz vollkommen abzuschaffen, so könne er es mit gleicher Wirkung auch für eine bestimmte Person suspendieren. Regelmäßig verpflichte das Gesetz alle dem Gesetzgeber Unterworfenen, aufweiche die ratio legis zutreffe und auf die der Inhalt des Gesetzes angewendet werden könne, da anders Unruhe und Verwirrung unter den Bürgern erregt würde, was zu vermeiden gerade der Sinn der Gesetze sei. Insoweit wird niemand als vom Gesetz ausgenommen erachtet, wenn er nicht ein besonderes Privileg nachweisen kann. „Dispensare” nenne man es, wenn jemand nachträglich von der Verbindlichkeit des Gesetzes ausgenommen werde4).

Nach dem Siege der rechtsstaatlichen Ideen wird die prinzipielle staatstheoretische Struktur der Frage in der Staatslehre der


1) De jure belli ac pacis, 1 II, cap. 20 § 24.
2) Grotius führt eine Äußerung des Lactanz an, daß Gott selbst das Beispiel dafür gegeben habe, denn als er die Rechtsordnung begründet habe, habe er nicht alle Gewalt abgegeben, sondern habe sich das Recht vorbehalten, frei zu verzeihen. (Damit wird die Dispensation bereits am Beispiel der Begnadigung exemplifiziert.)
3) C. Schmitt, Politische Theologie, S. 44, Diktatur S. 107.
4) De Jure naturae et gentium Libri octo, Amstelaedami MDCCIV. L. I cap. VI, § 17.

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monarchischen Restauration noch einmal erkannt und erörtert. Unter der Überschrift „Ausnahmen von Gesetzen, Privilegien und Gnaden” behandelt K.L. v. Haller die Dispensation. Gleichwie jedes landesherrliche Gesetz nur eine verbindliche Willensäußerung des Fürsten sei, aus seinen Befugnissen fließe und durch dasselbe beschränkt werde: so könne er auch die von ihm gegebenen Gesetze nicht nur wieder aufheben und abändern, sondern auch, während sie bestehen, davon einzelne Ausnahmen machen; und solche Dispensationen seien für denjenigen, den sie begünstigen, ein Privilegium oder eine Gnade, gleichwie man überhaupt jede Wohltat, die man nicht zu erteilen schuldig ist, eine Gnade zu nennen pflege. Ein Fürst sei gleich jedem anderen Menschen befugt, von seinem Recht zu zedieren in Dingen, die von seiner Willkür abhängen, einzelne Untertanen vor den anderen zu begünstigen, überhaupt seinen Willen zu ändern, insofern er dadurch keine fremden Rechte beleidige; auf dieser seiner Freiheit beruhe sowohl das Privilegienrecht als auch die Schranke seiner Ausübung. Von hier aus könne man auch die viel bestrittene Frage beurteilen, ob ein Fürst über die Gesetze sei oder nicht, eine Frage, die man wegen der Zweideutigkeit des Wortes „Gesetz” unbedingt weder mit ja noch mit nein beantworten könne, weil man dabei teils die göttlichen Gesetze mit den menschlichen verwechsele, teils auch zwischen den letzteren nicht gehörig unterscheide. So viel verstehe sich von selbst, daß ein Fürst nicht über die göttlichen (natürlichen) Gesetze sei, weder über die Gesetze der äußeren Natur noch über die Gesetze der Pflicht, weil sie nicht von ihm, sondern von höherer Macht und Weisheit gegeben seien. Ebensowenig sei der Fürst über die Freiheiten, Verträge, Statuten und Gewohnheiten anderer Menschen, die bisweilen auch Gesetze genannt werden. Hingegen sei er allerdings über die von ihm selbst gegebenen Gesetze, weil er seinen Willen bei veränderten Zwecken und Umständen ändern könne, und in diesem Sinne sei die alte Regel wahr: princeps legibus solutus. Über natürliche Gesetze sich hinwegsetzen oder davon dispensieren zu wollen, sei Vermessenheit, Gottlosigkeit; Privatgesetze, Urkunden, Verträge nicht zu achten, sei Despotismus, Ungerechtigkeit, folglich abermals dem natürlichen Gesetz zuwider. Die Dispensation von

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eigenen Gesetzen hingegen sei nicht nur erlaubt, sondern oft Liebe, Wohltat, wahre Menschlichkeit1).

Man trifft eine prinzipielle und grundlegende Einteilung der Staatsformen, wenn man diese Systeme, die eine Durchbrechung der Rechtsordnung durch einen persönlichen, über den Gesetzen stehenden Herrscher zulassen, einer Gruppe staatstheoretischer Systeme gegenüberstellt, die diese Durchbrechung nicht zulassen und von der unverbrüchlichen Geschlossenheit der durch allgemeine Normen bestimmten Rechtsordnung ausgehen. Es ist die in der Staatslehre stets beachtete und neuerdings wieder besonders betonte Unterscheidung2) zwischen personalen Herrschafts- oder Führungsstaaten und legalitären Rechts- und Gesetzesstaaten, „government of men” und „government of law”, wie man in den Anfängen der amerikanischen Verfassungslehre unterschied. Selbstverständlich ist diese Unterscheidung in gewisser Weise nur eine theoretische und ideologische. Denn faktisch gibt es nur eine Herrschaft von Menschen, nie eine reine Herrschaft der Gesetze. Gleichwohl bezeichnet diese Unterscheidung eine Wirklichkeit, insofern der legali-täre Staat, der reine Gesetzesstaat, eine spezifische, eigentümliche Form der Herrschaft von Menschen darstellt. Die tiefsten geistesgeschichtlichen Wurzeln dieser Verschiedenheit und der Übergang von der einen zur anderen Auffassung beruhen auf jenem Wandel des metaphysischen Weltbildes, auf den oben schon hingewiesen wurde3), und der, um ein Beispiel herauszugreifen, an den theologischen und politischen Anschauungen von Calvin und Leibniz verdeutlicht werden kann. Der theologische Gottesbegriff Calvins, der einen starken Einfluß auf die staatlichen Souveränitätsvorstellungen des sechzehnten Jahrhunderts, namentlich auch Bodins, ausgeübt hat4), kennt eine Bindung Gottes an die den Geschöpfen gegebenen Gesetze nicht, sondern verneint sie ausdrücklich. Gott setzt sich selbst über die Prinzipien des Naturrechts


1) K.L. v. Haller, Restauration der Staatswissenschaften, II, Bd., 1817. 33 cap., S. 207 ff.
2) Vgl. C. Schmitt, Die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, S. 13 ff.
3) S. 124 f.
4) C. Schmitt, Drei Arten, S. 27.

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hinweg, er ist sich selbst Gesetz. Durch die aus seinem Herrscherwillen fließende Nichtachtung des Naturrechts wird aber die natürliche Ordnung auf keine Weise umgestoßen. Vielmehr soll dieser außerordentliche Weg die Menschen daran erinnern, daß die himmlischen Güter aus seiner reinen Gnadenquelle fließen1). Die Konsequenzen, die Calvin selbst aus diesen Vorstellungen gezogen hat, haben sich im Laufe der Entwicklung seiner Anschauungen stark verändert. Während er in seinem frühen, stark humanistischen Charakter tragenden Seneca-Kommentar den Satz „princeps legibus solutus” durchaus anerkennt und den Herrscher als „lex animata” versteht, hat er später unter dem Einfluß seines eigentümlichen Gedankens von der „Souveränität Gottes”, die eine konkurrierende, die majestas Gottes verdunkelnde Fürstensouveränität ausschließt, diese Folgerungen verworfen2). In dieser Wendung liegt bereits eine Abkehr von den mittelalterlichen Anschauungen.

Von ganz anderen metaphysischen Voraussetzungen geht Leibniz aus. In seiner Lehre vom Gottesstaat entwickelt er in scharfer Polemik gegen Hobbes und Pufendorf die Ansicht, daß die göttliche Regierung an das Recht gebunden sei. „Notre but est d’éloigner les hommes des fausses idées qui leur représentent Dieu comme un prince absolu, usant d’un pouvoir despotique, peu propre à etre aimé, et peu digne d’être aimé3).” Zwar kann Gott seinem Wesen nach nie durch äußere Dinge beschränkt sein, sondern nur durch sich selbst. Seine Gerechtigkeit aber ist abhängig von den ewigen Regeln seiner Weisheit und Güte. Weisheit und Güte aber sind nicht von Gott geschaffen, sonst könnte er sie auch vernichten oder ihre Natur verändern, sondern sie sind in der abstrakten Vernunft begründet von Ewigkeit her und zwingen Gott, bestimmte physische und moralische Gesetze zu beachten4).

Die Theorie des irdischen Staates trägt die gleiche gedankliche Struktur. Auch die Fürsten — die verschiedentlich ausdrücklich als Ebenbilder Gottes bezeichnet werden — stehen unter dem Gesetz: „Les


1) J. Bohatec, Calvin und das Recht, 1934, S. 87 ff.
2) Beyerhaus, Studien zur Staatsanschauung Calvins, 1910, S. 128.
3) Théodicée I N. 6.
4) Théodicée III N. 283 zit. nach Ruck, Die Leibnizsche Staatsidee, 1909, S. 18, 20.

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souverains et les peuples doivent estre retenus par le respect des lois1).”

Nur in gewisser Weise sollen sie sich über das Gesetz erheben, insofern sie sich nämlich nicht starr an den Buchstaben des Gesetzes halten, sondern ein der „souveraine loi” der Vernunft entsprechendes Ergebnis durch Erforschung des Gesamtsinnes und der Sachlage gewinnen und neben der Gerechtigkeit „la clémence” üben sollen. Freilich ist hier die Grenze eng gezogen durch den anderen Satz: „Le pouvoir arbitraire est ce qui est directement opposé à l’Empire de la raison.” Eine strenge Gesetzmäßigkeit des Staates, der definiert wird als „une grande société, dont le but est la seureté commune”, zeichnet Leibniz als politisches Ideal. Es ist das Ideal eines Rechtsstaates, der auf der „Herrschaft der Gesetze” beruht. Recht und Gesetz werden unterschieden; das Gesetz kann auch ungerecht sein, aber es verpflichtet stets kraft der hinter ihm stehenden Macht. Der oft wiederholte Grundgedanke des gesetzesstaatlichen Denkens2) wird in der Bemerkung ausgesprochen:


1) Ruck, a.a.O., S. 86-91.
2) Eine Äußerung, die einen eindrucksvollen Begriff von dem ethischen Pathos dieses Gedankens gibt, findet sich in den Schriften J.G. Hamanns (Ausgabe von Widmaier, 1921, Nr. 250, S. 185 ff.): „Je mehr ich dem Begriff der Freiheit nachdenke, desto mehr scheint er mir mit allen Beobachtungen derselben übereinzukommen. Ich will zwei anführen. Man kommt überein, daß es keine Freiheit ohne Gesetze geben könne; und man erklärt diejenigen für freie Staaten, wo die Untertanen sowohl als der Fürst von Gesetzen abhängen. Gesetze haben alle ihre Kraft bloß durch den Grundtrieb der Selbstliebe, der Belohnungen und Strafen als Beweggründe wirksam macht. Ein Gesetz ist niemals so beunruhigend und so beleidigend, als ein Richterspruch, der auf Billigkeit gegründet ist. Das erste rührt meine Eigenliebe gar nicht und erstreckt sich auf meine Handlung allein, macht daher alle diejenigen mit mir gleich, die im gleichen Falle stehen. Der letzte, ein willkürlicher Spruch ohne Gesetz, ist aus entgegengesetzten Bewegungen der Selbstliebe allemal als eine Knechtschaft für uns. Durch ein Gesetz sind mir die Folgen meiner Handlung bekannt; die Einbildungskraft kann daher durch keine Schmeicheleien oder argwöhnische Überlegungen von der Gerechtigkeit unseres Fürsten oder Richters uns hintergehen. Ja, der Richter in einer freien Republik zeigt mir selbst durch sein Beispiel, daß ihm das Gesetz so gut befiehlt, dies gegen mich auszusprechen, als es mir befiehlt, das, was er ausspricht, zu leiden. Hierin bestehen also alle die Vorzüge der politischen Freiheit, jeder weiß die Folgen seiner Handlungen, und niemand kann selbige ungestraft übertreten, weil nichts als der Wille des Gesetzes mich einschränken kann, und dieser Wille ist mir so wohlbekannt wie unwandelbar, ja der Wille des Gesetzes ist in allen Fällen für mich eine Stütze meiner Selbsterhaltung und Selbstliebe. Daher berufen wir uns auf Gesetze, daher fürchten wir selbige. Man füge noch hinzu, daß die Gesetze, die wir uns selbst geben, aus eben dem Grunde der Selbstliebe uns niemals ➝

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„Effectivement j’estimerois les Anglais heureux en ce qu’ils n’obéissent qu’aux loix, si leurs loix estoient bonnes1)”. Das metaphysische Bild der in praestabilierter Harmonie geordneten Welt, deren Gesetzlichkeit auch durch ihren Schöpfer nicht unterbrochen wird, ist das klassische Modell des politischen Systems des bürgerlichen Rechtsstaates2).

Der Widerstreit zwischen rechtsstaatlichem Denken und Dispensationsprinzip läßt sich durch die Jahrhunderte der Verfassungskämpfe, von der Bill of Rights bis zum preußischen Verfassungskonflikt und zu den innerpolitischen Kämpfen des Zweiten Reiches, verfolgen. Der zweite Artikel der Bill of Rights vom 13. Februar 1689 bestimmte, „daß die angebliche Gewalt der königlichen Autorität, von Gesetzen oder von der Ausführung von Gesetzen zu dispensieren, wie sie in der Vergangenheit usurpiert und ausgeübt worden war, ungesetzlich ist". Auf die Auseinandersetzungen in der Französischen Nationalversammlung muß auch hier wieder verwiesen werden3).

Die prinzipielle politische Bedeutung der Frage tritt besonders deutlich in den verfassungsrechtlichen Auseinandersetzungen des neunzehnten


➝ schwer vorkommen, und daß es eben das größte Vorrecht freier Staaten ist, ihre eigenen Gesetzgeber zu sein. Gesetze schränken also nicht Freiheit ein, sondern geben mir die Fälle zu erkennen und die Handlungen, die vorteilhafte oder nachteilige Folgerungen für meine Selbstliebe haben sollen und diese Einsicht bestimmt daher unsere Neigungen.”
1) Zitiert nach Ruck, a.a.O., S. 91, der darauf hinweist, daß Leibniz hier freilich betone, „daß er der Herrschaft schlechter Gesetze, par lesquelles il est aisé de faire périr un innocent, die eines im allgemeinen gerechten christlichen Herrschers vorziehe, und daß eine ,liberte excessive’ dem wahren Wohle des Volkes entgegen sei”. (Ebenda Anm. 255.)
2) Vgl. dazu besonders die Ausführungen von C. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. Aufl. 1926, über die öffentliche Diskussion als Prinzip des parlamentarischen Systems. Das Parlament ist der Platz, an dem die unter den Menschen verstreuten, ungleich verteilten Vernunftpartikeln sich sammeln und zur öffentlichen Herrschaft bringen. Die ökonomische Schlußfolgerung, daß aus der freien wirtschaftlichen Konkurrenz privater Individuen, aus Vertragsfreiheit, Handelsfreiheit, Gewerbefreiheit die soziale Harmonie der Interessen und der größtmögliche Reichtum sich von selbst ergeben, ist nur ein Anwendungsfall des allgemeinen liberalen Prinzips, das als ein konsequentes, umfassendes metaphysisches System gesehen werden muß. Es ist dasselbe, daß aus dem freien Kampf der Meinungen die Wahrheit entsteht als die aus dem Wettbewerb von selbst sich ergebende Harmonie. (S. 44-46.)
3) S. oben S. 32 ff.

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Jahrhunderts hervor. Unter dem Eindruck der absolutistischen Lehren und der gewohnheitsrechtlichen Übung wurde auch in der Literatur des konstitutionellen Staatsrechts zunächst daran festgehalten, daß dem Monarchen auch ohne gesetzliche Ermächtigung das Recht zustehe, von bestehenden Gesetzen zu dispensieren1). Diese Meinung wird noch von R. v. Mohl 1840 und von H.A. Zachariä 1867 vertreten2). In diesen Anschauungen hat sich namentlich unter dem Einfluß einer Abhandlung v. Gerbers über „Privilegienhoheit und Dispensationsgewalt im modernen Staate” von 18713) ein vollständiger Umschwung vollzogen4). Seitdem ist es fast unbestrittener Grundsatz, daß sich das Dispensationsrecht mit dem Prinzip der formellen Rechtskraft nicht vertrage, wie v. Gerber ausgeführt hatte, und daß der Monarch daher nur auf Grund einer gesetzlichen Ermächtigung „dispensieren” könne — wobei noch zu prüfen ist, ob unter dieser Voraussetzung von Dispensation sinnvollerweise überhaupt noch die Rede sein kann.

Die Frage der Verfassungsmäßigkeit königlicher Steuererlasse in Preußen hat den Meinungsstreit über das Dispensationsrecht noch einmal in weiterem Umfang in Gang gebracht5). In einem Aufsatz von 1892 über „Das Gnadenrecht in Finanzsachen nach preußischem Recht6)” nahm Laband in Anknüpfung an einen speziellen, im preußischen Abgeordnetenhaus erörterten Fall (Sitzung vom 21. Januar 1891. Stenogr. Berichte S. 413 f.) zu dieser Frage Stellung und entwickelte die Theorie eines besonderen, unbeschränkten königlichen Gnadenrechts für Steuer- und Gebührensachen, das durch die Preußische Verfassung


1) Meyer-Anschütz, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 7. Aufl. 1919, S. 763 N. m.
2) R. v. Mohl, Württembergisches Staatsrecht § 34; H.A. Zachariä, Deutsch. St. u. Bundes-R., II. Teil, 3. Aufl. 1867 § 163, S. 184.
3) Tübinger Zeitschrift f. d. gesamte Staatswissenschaft 1871, S. 430 ff.
4) Meyer-Anschütz, a.a.O., S. 763. — G. Meyer, Die Verhandlungen d. preuß. Abg.-Hauses über d. Erlaß v. Stempelsteuern f. Fideikommisse. Neue Heidelb. Jahrb. 1, S. 336 ff.
5) Daß sich der Meinungsstreit historisch gerade an dieser Frage entzündet hat, ist für die Verfassungslage des neunzehnten Jahrhunderts besonders charakteristisch: Armee und Finanzen sind die typischen Gegenstände des konstitutionellen Konflikts; vgl. C. Schmitt, Staatsgefüge und Zusammenbruch des Zweiten Reiches, 1934.
6) Arch. öff. R. 1892, 7. Bd., S. 169 ff.

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nicht aufgehoben oder angetastet worden sei. Sie gründete sich auf die Auffassung, daß die Gnade ihrem Begriff und Wesen nach auch außerhalb des Strafrechts in ausgedehntem Maße Platz greife und daß sie eine unentbehrliche Ergänzung des Rechts überhaupt bilde. Von praktischer Bedeutung seien außer dem Begnadigungsrecht in Strafsachen vorzugsweise die Gnadenakte finanziellen Inhalts. Der daran geknüpften Streitfrage komme neben ihrer staatsrechtlichen Bedeutung eine hohe politische Wichtigkeit zu, da ihre Lösung auf das Machtverhältnis zwischen Krone und Volksvertretung von Einfluß sei. Unzweifelhaft habe der König vor Einführung der Verfassung auch in Steuer- und Gebührensachen das unbeschränkte Gnadenrecht gehabt und ausgeübt. Gegen den Fortbestand dieses Rechts ist insbesondere der Art. 62 der Preuß. Verf.-Urk. angeführt worden: da zu jedem Gesetz die Übereinstimmung des Königs und beider Kammern erforderlich sei, könne der König das Gesetz allein nicht außer Kraft setzen, weder allgemein noch für einen einzelnen Fall. Laband billigt ausdrücklich die aus dem Art. 62 Preuß. Verf.-Urk. abgeleitete prinzipielle Schlußfolgerung, daß der König von Preußen nicht die rechtliche Befugnis habe, von der Befolgung von Gesetzen zu dispensieren, weil die preußische Verfassung keine Ausnahme von dem im Art. 62 sanktionierten Prinzip enthalte; das Dispensationsrecht aber, welches in der absoluten Monarchie dem Monarchen ohne ausdrückliche Anerkennung von selbst zustehe, weil es in dem in seiner Hand vereinigten Inbegriff der Staatsgewalt enthalten ist, ihm im konstitutionellen Staate aber nur insoweit zustehen könne, als es ihm durch die Verfassung ausdrücklich übertragen sei. Er stützt infolgedessen seine Theorie des Gnadenrechts in Finanzsachen damit, daß er dieses Recht ausdrücklich von der Dispen-sationsbefugnis unterscheidet. Der Unterschied soll darin bestehen, daß der Gnadenakt im Gegensatz zur Dispensation kein das objektive Recht ändernder Akt, kein Akt der Gesetzgebung, keine lex specialis sei1). Die Gnade ist „gesetzesfreies Gebiet”. Der konstitutionelle Monarch kann „in einer ihm vorbehaltenen Sphäre staatlichen Wollens, bis zu welcher die erwähnten Funktionen nicht heranreichen, innerhalb der aus dem


1) a.a.O. S. 193.

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Begriff der Gnade selbst sich ergebenden Schranken der Gunsterweisung, ohne Verletzung der Rechte Dritter, die suprema potestas des Staates ausüben1)”. Nur der Gnadenerlaß — nicht die Dispensation — soll ein Regierungsakt sein, der durch die Regeln der Gesetzgebung nicht betroffen wird.

Gegen diese Theorie ist bereits von G. Meyer eingewandt worden, daß die scharfe Unterscheidung von Dispensation und Gnadenakt nicht überzeuge. Was Laband Gnade nenne, sei in Wahrheit nichts anderes als Dispensation, seine Gnadentheorie lediglich eine Wiederaufnahme der alten Lehre von der unbeschränkten Dispensationsgewalt des Monarchen. Meyer führt dagegen das rechtsstaatliche Prinzip der Herrschaft des Gesetzes an, dessen Logik zweifellos für seine Argumentation und gegen Laband spricht2). Das Institut der Begnadigung, welches seine anerkannte Stellung in der Strafrechtspflege — und nur dort — habe, könne nicht beliebig auf andere Gebiete des Staatslebens übertragen werden. Auf Grund der Labandschen Behauptungen lasse sich fast jede Durchbrechung der Verwaltungsgesetze durch einen Akt des Monarchen rechtfertigen; wo sie zur Anerkennung gelangten, würde nicht mehr das Gesetz, sondern die Willkür herrschen . . .3).

In der Tat ist das, was Laband Dispensation nennt, nichts anderes als eine lex specialis. Daß diese Begriffe nicht identisch sind, ist bereits ausgesprochen worden.

Der von Laband und anderen Schriftstellern vertretenen Gnadentheorie4) steht eine andere, besonders von G. Meyer verfochtene Ansicht gegenüber, welche die begriffliche Verschiedenheit von Dispensation und Gnade nicht anerkennt und demgemäß auch im Steuererlaß


1) S. 194 f.
2) Meyer-Anschütz, II. Teil, 3. Bd., S. 764 N. m.; S. 762 wird für die Privilegien ausgesprochen, was in gleicher Weise für Dispensationen gilt: „Im modernen Verfassungsstaat ist an die Stelle der Privilegien die Herrschaft des Gesetzes getreten. Wenn ein Gegenstand in einer für alle Untertanen gleichartigen Weise gesetzlich geregelt und dabei dem Ermessen der Verwaltungsorgane kein Spielraum gelassen ist, kann eine Erteilung von Privilegien nicht stattfinden . . .”
3) Meyer-Anschütz, II. Teil, 3. Bd., S. 764 N. m.
4) Außer Laband: Joël, Annalen d. Dt. R. 1888, S. 808 ff., 1891, S. 418 ff., 1892, S. 283 ff.; Arndt, Deutsch. Wochenblatt 1890, S. 610 ff; Curtius, Annalen, 1893, S. 670 ff, 686 ff.

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eine Dispensation erblickt, die nach den allgemeinen, für diese Rechtsfigur geltenden Grundsätzen zu behandeln ist1).

Der Schlüssel zu diesem Widerstreit mannigfach variierter Theorien liegt ausschließlich in einer politischen Betrachtungsweise. Ursprung aller Schwierigkeiten ist die Notwendigkeit oder der Wunsch, die Unvereinbarkeit des Dispensationsbegriffes mit dem rechtsstaatlichen Legalitätsschema zu verdecken, weil das Dispensationsrecht im konstitutionellen Staat tatsächlich von der Krone ausgeübt wird. Auch diejenigen Autoren, die sich nicht dazu entschließen können, dem Monarchen das Recht des Steuererlasses abzusprechen, sind doch im gleichen gesetzesstaatlichen Denkschema befangen wie ihre Gegner, sind wie diese der Meinung, daß dem Monarchen ein Dispensationsrecht nicht zustehe und suchen daher eine besondere Theorie des Gnadenaktes in Finanz- und Steuersachen zu konstruieren. Insofern gehört auch diese Frage der Steuererlasse zu den typischen Konfliktsfällen, die das Gesicht der Verfassungsentwicklung des neunzehnten Jahrhunderts bestimmen, in den Zusammenhang der Auseinandersetzung zwischen Krone und Parlament, monarchischem Staat und bürgerlicher Gesellschaft.

Eine staatsrechtlich zutreffende Würdigung des Dispensationsbegriffes ist nur möglich von einem Staatsdenken aus, das jenseits dieser Auseinandersetzungen steht und in ihnen den Ausdruck einer einmaligen historisch-politischen Situation erkennt, deren eigentümliche Strukturgesetze bedingt sind von polemischen Spannungen, die mit dem Ausgang des Weltkrieges und den damit verbundenen politischen und sozialen Umschichtungen im wesentlichen gegenstandslos geworden sind. Eine Staatslehre, die sich noch an dem Gewaltenteilungsprinzip orientiert, ist mit logischer Notwendigkeit außerstande, das unübersichtliche Durcheinander der Dispensations- und Gnadentheorien zu klären.

Vom Standpunkt einer modernen Staatslehre, die sich auch in ihrer begrifflichen Struktur von den Voraussetzungen eines metaphysischen Systems gelöst hat, für das wir Leibniz als prägnantes Beispiel ausgewählt hatten, ergeben sich meines Erachtens folgende Grundsätze:


1) Außer G. Meyer: Bornhak, Arch. öff R. Bd.VI., S. 314 ff; v. Rönne, Preuß. St. R., 4. Aufl. IV, S. 744, 745, Anm. 1.

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Dispensation ist die Aufhebung der Wirksamkeit einer allgemeinen Rechtsnorm für eine bestimmte Person oder einen bestimmten konkreten Tatbestand. Sie äußert sich entweder als Nichtanwendbarkeit des Rechtssatzes auf den nach der Dispensation eintretenden Tatbestand, welcher vor der Dispensation von dem Rechtssatz ergriffen, nachher aber von ihm nicht mehr getroffen zu werden vermag — ursprüngliche Dispensation — oder aber als Aufhebung der bereits aus einem Rechtssatz eingetretenen Wirkungen — nachträgliche Dispensation. Die Dispen-sationsgewalt kann mit dem Dreiteilungsschema der klassischen Gewaltenlehre nicht erfaßt werden, sie ergibt sich weder aus der gesetz-gebenden noch aus der exekutiven oder richterlichen Gewalt, sondern ist vielmehr Bestandteil einer allen anderen übergeordneten Gesamtgewalt, in der die Fülle und die Einheit der Staatsgewalt in Erscheinung tritt1). Sie kann daher prinzipiell nur von der realen und in einer lebendigen Person verkörperten Herrschaftsspitze des Staates ausgeübt werden, in der die organisatorisch unterschiedenen Staatsfunktionen zu einer realen Einheit zusammengefaßt werden. Die Gnade steht zur Dispensation in einem ähnlichen Verhältnis wie die Gerechtigkeit zum Gesetz. Die Dispensation ist nur eine formale Rechtsfigur, die ihre Rechtfertigung dadurch erhält, daß sie Ausdruck von bestimmten materialen, ethischen, politischen oder metaphysischen Prinzipien ist. Als solche kommen neben der Gnade auch die Billigkeit, die Staatsräson und das Prinzip der Güterabwägung in Betracht. Die Gnade ist nur eine von mehreren denkbaren Motivationen der Dispensation. Die Begnadigung — d.h. die Betätigung der Gnade auf strafrechtlichem Gebiet — verwirklicht sich also, rechtslogisch gesehen, in der Form der Dispensation, und zwar einer nachträglichen Dispensation2). — Diese Thesen bedürfen einer näheren Ausführung.

Erstens. In der formallogischen Bestimmung des Dispensationsbegriffes besteht insoweit allgemein Übereinstimmung, als man darunter


1) In der neuesten deutschen Staatsrechtslehre wird die „politische Führung” als eine solche umfassende Gesamtgewalt bezeichnet; vgl. unten S. 140.
2) Selbstverständlich dürfen diese der begrifflichen Ordnung dienenden Thesen nicht dazu verwandt werden, durch logische Ableitung Rechtsnormen für den Einzelfall aus ihnen zu gewinnen.

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die Nichtanwendung einer im übrigen fortgeltenden allgemeinen Rechtsnorm in einem speziellen Falle versteht. Neben diesem Moment der Spezialität wird das der Negativität erfordert, das die Unterscheidung dem Privileg gegenüber begründet: während die Dispensation gegen den Inhalt allgemein verbietender Gesetze einer bestimmten Person als jus singulare favorabile speciale1) verliehen wird, erfüllt das Privileg die positive Funktion, daß es neues, und zwar Spezialrecht an die Stelle des beseitigten gemeinen Rechts setzt2). Umstritten ist dagegen, ob es einer korrekten Begriffsbildung entspricht, die nachträgliche Aufhebung bereits eingetretener Rechtswirkungen unter den Dispensationsbegriff zu ziehen. In der neueren Staats- und kirchenrechtlichen Literatur wird insbesondere im Anschluß an Hinschius3) diese Frage überwiegend verneinend beantwortet und um eine a priori wirkende Dispensation als solche anerkannt4), obwohl für das Gebiet des Kirchenrechts die Verwendung des weiteren Begriffes im Codex juris canonici entgegensteht5). Hinschius macht geltend, es werde von dieser Ansicht verkannt, daß das von ihr als Dispensation bezeichnete Spezialgesetz, wenn es sich auch gegen das allgemeine Recht richte, doch für einen konkreten Tatbestand ein für allemal besondere Rechtswirkungen setze, welche durch die einmalige Aufhebung oder Hemmung der Rechtswirksamkeit des allgemeinen Gesetzes niemals hätten erzeugt werden können. Widerspreche es einer richtigen Methode der Begriffsbildung, wesentlich verschiedene Dinge unter einem einheitlichen Begriff zusammenzufassen,


1) Zöpfl in Rotteck-Welcker, Staatslexikon, II. Bd., 1848, S. 153 f.
2) Hinschius, Das Kirchenrecht der Katholiken und Protestanten in Deutschland, III, 3, 1883, S. 805. — Vgl. ferner: Scheidemantel, Repertorium des Teutschen Staats- und Lehnrechts, herausg. v. C.F. Häberlin, Leipzig 1795, 4. Teil, Nr. 57, S. 283 f.; Zöpfl a.a.O., S. 153 f.; J.L. Klüber, Öffentl. Recht d. Teutschen Bundes u. d. Bundesstaaten, 4. Aufl. 1840, T. 483, S. 704 f.; G.J. Ebers, Handwb. d. R. W., Bd. 2, 1927, S. 72; Meyer-Anschütz, a.a.O., S. 763.
3) Kirchenrecht, III, S. 790 ff.; Handwb. d. Dt. St. u. Verw. R., Art. Dispensation, S. 568 ff.
4) Stier-Somlo, Handwb. d. R. W., Art. Dispensation, S. 70 f.; Ebers, das. S. 72.
5) Can. 2236 bezeichnet den Erlaß einer verhängten Strafe als Dispensation. Can. 80 definiert die Dispensation als „legis in casu speciali relaxatio”.

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so sei der durch die moderne Doktrin aufgestellte Begriff der Dispensation nicht, wie v. Scheurl meint1), ein zu enger, sondern der korrekte, und es sei ein methodischer Fehler, nicht ein wissenschaftlicher Fortschritt, einen Begriff der Dispensation zu bilden, welcher auch die auf die Aufhebung von bereits eingetretenen Wirkungen des geltenden Rechts gerichtete Tätigkeit des Gesetzgebers umfasse. Demnach scheidet Hinschius die unechte oder fälschlich so bezeichnete Dispensation aus dem Gebiet der echten Dispensation aus. Er fügt zur Unterstreichung seiner Ansicht hinzu, daß man unter Zugrundelegung der weiteren Auffassung auch die Begnadigung mit demselben Rechte als Dispensation auffassen könne. Auch hier handele es sich um die Beseitigung der Rechtswirkungen, welche das verletzte Strafgesetz in seiner Anwendung durch das Strafurteil auf einen speziellen Fall herbeigeführt hat2).

Diese Bezugnahme auf die Begnadigung bestätigt nur, daß Hinschius eine unzutreffende Verengung des Dispensationsbegriffes vorgenommen hat. Es besteht kein Grund, denselben auf die „Nichtanwendung” einer geltenden Rechtsnorm zu beschränken. Begriffs-geschichtlich gehört auch die Beseitigung einer bereits eingetretenen Wirkung eines Gesetzes dazu. Die Begriffsschärfe ist durch die Einführung eines unterscheidenden Zusatzes gewahrt3). Die Begnadigung als Dispensation aufzufassen, entspricht einer alten juristischen Tradition4).

Es ist nicht richtig, daß die Begnadigung positive Rechtswirkungen setze, insofern der Rechtssatz auf einen Tatbestand bereits Wirkungen ausgeübt habe und diese nun wieder aufgehoben werden müßten. Wie


1) Hinschius, Kirchenrecht III, S. 792.
2) Ebenda Anm. 2.
3) Steinitz, Dispensationsbegriff und Dispensationsgewalt auf dem Gebiete des deutschen Staatsrechts, 1901, S. 13, unterscheidet Dispensation „a priori” und „a posteriori”, Zachariä, II, § 163, S. 185, Dispensation „ante factum” und „post factum”, Ebers, S. 72, Dispensation „im eigentlichen” und „im uneigentlichen Sinne”.
4) Thomas von Aquino, S. th. 2, 2 qu. 67 a. 4; Grotius, De jure belli ac pacis, lib. II, cap. 20; Theodoricus, Judicium criminale practicum, 1671, cap. X, aphor. VII, Nr. 5-28; v. Haller, II, cap. 33; Weiß, System des dt. Staatsrechts, 1943, § 314 S. 689; G. Meyer, Neue Heidelb. Jahrb. I, S. 347; Bornhak, Arch. öff. R., Bd. VI, S. 322; Preuß. Staatsrecht, I, S. 351 ff.; Steinitz, S. 26 f.

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Steinitz in einer wenig beachteten Kritik1) bereits ausgeführt hat, werden bei der Begnadigung jene Wirkungen als von vornherein nicht eingetreten behandelt. Unrichtig ist es auch, die Verschiedenheit von Dispensation und Begnadigung darauf zu gründen, daß bei der „Begnadigung” nur eine bestimmte Wirkung, welche kraft der Rechtsordnung an einen Tatbestand geknüpft wird, im einzelnen Falle durch einen Akt der Staatsgewalt aufgehoben werde2). Die Begnadigung eines Mörders ist zweifellos keine Dispensation von der Vorschrift des §211 StGB. Insofern ist es richtig, daß Strafverfolgung und Verurteilung als Rechtswirkungen der Anwendung des § 211 StGB, durch die Begnadigung nicht berührt werden. Indessen enthält eine Vorschrift wie §211 StGB, mehrere Rechtsnormen, von denen eine die Vollstreckung der erkannten Strafe anbefiehlt. Von dieser speziellen Norm wird mit der Begnadigung dispensiert, ihre Anwendung wird demnach vollständig ausgeschlossen oder aufgehoben3).

Zweitens. Die bereits für die Begnadigung erwähnte Streitfrage, ob dieselbe gesetzgeberischer, exekutivischer oder richterlicher Akt sei, kehrt für die Dispensation wieder. Zum Teil wird sie als Spezialgesetz4), zum Teil als Verwaltungsakt5) angesehen; endlich findet sich die Ansicht, daß sie je nach Lage der Sache beides sein könne6).

Die erstere Meinung hat den alten und prima facie einleuchtenden Satz für sich: „Potestas ferendi leges est etiam mensura potestatis dispensandi; facultas dispensandi est sequela potestatis legislatoriae7).” Für das rechtsstaatliche Denken ist dieser Satz bei konsequenter Durchdenkung unannehmbar. Die rechtsstaatliche Garantie der individuellen Freiheit wird gerade darin gesehen, daß der Gesetzgeber nur generelle


1) a.a.O., S. 12 ff.
2) Laband, Arch. öff. R. Bd. VII, S. 193.
3) Steinitz, S. 24 ff, bildet diesen Fall als instruktives Beispiel.
4) v. Gerber, Hinschius, E. Meier, Kahl, Steinitz; vgl. Hinschius-Kahl, S. 569.
5) G. Meyer, St. R., S. 652; Friedberg, Lehrb. d. Kirchenrechts, S. 275; Klüber, Öff. R. d. Deutsch. Bundes, S. 709 ff; Weiß, S. 684; Zachariä, II, S. 186, Anm. 11.
6) Anschütz in Meyer-Anschütz, H. 7. Aufl. 1919, S. 763 f.
7) J.H. Boehmer, a.a.O.

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Anordnungen trifft und selbst daran gebunden ist1). Im souveränen Fürstenstaat mit seiner Identifikation von Herrscherwillen und Gesetz mag der Satz zutreffen. Vom Standpunkt einer modernen Gesetzeslehre bestehen gewichtige Bedenken, die Dispensationsgewalt als Bestandteil der gesetzgebenden Gewalt aufzufassen.

Gesetz und Dispens gehören verschiedenen Ordnungsreihen an. Wenn man nach Überwindung der Gewaltenteilungslehre davon ausgeht, daß eine Unterscheidung verschiedener Staatsfunktionen überhaupt nur sinnvoll ist unter dem Gesichtspunkt einer Gliederung des staatlichen Handelns nach Ordnungsbegriffen, die aus der Natur der Sache abgeleitet sind und als Grundlage einer sachgemäßen und zweckmäßigen organisatorischen Zuständigkeitsordnung dienen können, so ist es systematisch eine Sinnwidrigkeit, die Dispensationsgewalt der Gesetzgebung zuzurechnen. Das Wesen und unterscheidende Merkmal der Gesetzgebung gegenüber anderen Staatsfunktionen wird stets in dem generellen Charakter der in Form des „Gesetzes” ergehenden Anordnungen bestehen, die sich als objektive Rechtsregeln darstellen. Dispensation dagegen bezeichnet die typisch individuelle Ausnahme, durch die eine objektive Rechtsregel nicht begründet wird und die regelmäßig von spezifisch außerrechtlichen Erwägungen motiviert ist. Diese Abweichung von der das ganze staatliche Leben durchdringenden Recht-und Gesetzmäßigkeit muß naturgemäß auf eine Stelle des Staates, muß auf eine Person beschränkt bleiben, um nicht einen Widerstreit sich durchkreuzender Tendenzen in den komplizierten Mechanismus des staatlichen Lebens hineinzutragen. Die Dispensation ist ihrem Wesen nach daher Bestandteil jener umfassenden Gesamtgewalt, die im modernen Führerstaat wie in der vorkonstitutionellen Monarchie „alle Einzelfunktionen und Kompetenzen zusammenhält und gegenüber allen organisatorischen Trennungen und begrifflichen Unterscheidungen die Einheit der Staatsgewalt verbürgt2)”.

Drittens. Insofern die Dispensation einem bestimmten Gesetzesbegriff und damit einem bestimmten politischen Weltbild zugeordnet


1) Vgl. oben S. 120.
2) Huber, Die Einheit der Staatsgewalt, DJZ. 1934, Sp. 954.

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ist, ist sie keine beliebig vertauschbare, rein technische Rechtsfigur. Dennoch ist sie insoweit formaler Natur, als sie nur einen begrenzten in sich selbst begründeten Sinn hat und regelmäßig auf konkrete, inhaltlich bestimmte rechtspolitische Motivationen zurückgeht.

Dispensationen können aus rein politischen Gründen erteilt werden: aus Gründen der inneren oder äußeren Staatsräson wird der Rechtsvollzug im Einzelfall ausgesetzt. Typisches Beispiel hierfür sind politische Amnestien und Niederschlagungen1). Rechtssoziologisch muß die politische Dispensation von der Begnadigung unterschieden werden. Positivrechtlich wird eine solche Unterscheidung nie gemacht werden können, weil sich die politische Dispensation stets als Gnadenerweis ausgibt und ausgeben muß und daher auch in den Formen des Gnadenrechts vollzogen wird. — Denkbar sind ferner neben echten Begnadigungen Dispensationen aus Gründen der Güterabwägung und der Billigkeit. Auf das Prinzip der Güterabwägung als Dispensationsmotiv zielt offenbar ein von Pufendorf im Zusammenhang des Gnadenrechts behandeltes Beispiel hin: „Sic si gubernator in navi facinus admisisset nec alterius foret copia, omnium vectorum salutem destrueret, qui poenas ab ipso exigeret2).” Pufendorf weist auch daraufhin, daß dispensatio und aequitas verschieden voneinander seien und nicht verwechselt werden dürfen. „Adeoque dispensatio ex mera legislatoris gratia, aequitas autem ex officio judicis dependet3).” Diese Bemerkung weist daraufhin, daß die Billigkeit regelmäßig als Prinzip richterlicher Rechtsschöpfung und Gesetzesanwendung verstanden wird.

Daß die Dispensation auch aus reiner Gnade erfolgen könne, und daß umgekehrt der Begnadigungsakt als Dispensation zu verstehen sei, ist eine traditionelle Lehre der Gnadenrechtsliteratur. Thomas von Aquino, Grotius, Pufendorf, Theodoricus, K.L. v. Haller und noch einzelne Schriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts haben sie vertreten. Die begrifflichen Einwände, die gegen sie vorgebracht worden sind,


1) Vgl. Pufendorf, LVIII, c. III, § 17: „Sic et multa peccata magistratui dissimulanda sunt ex quorum vindicatione ruina reipublicae procurari posset, est quibus maculati homines ad conservationem Status nostri sunt necessarii.”
2) Ebenda.
3) L. I, cap. VI, § 17.

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haben sich als nicht stichhaltig erwiesen1). Soweit diese Einwände aus der Logik des bürgerlich-rechtsstaatlichen Denkens abgeleitet sind und sich gegen die Zulässigkeit von Dispensationen überhaupt richten, sind sie schon durch die moderne politische Entwicklung gegenstandslos geworden. Ihre Bedeutung gewinnt die Lehre vom Begnadigungsakt als einer besonderen Form der Dispensation dadurch, daß sie die bisherigen ungelösten und unlösbaren Konstruktionsprobleme gegenstandslos macht und die formell-rechtliche Struktur des Begnadigungsaktes und seine Eingliederung in das System des modernen Verfassungsrechts erläutert. Es handelt sich demnach um einen reinen Ordnungsbegriff, aus dem materiell-rechtliche Konsequenzen im einzelnen nicht abgeleitet werden sollen. Die Bildung solcher systematischer Ordnungsbegriffe ist nicht bedeutungslos oder unwichtig, sondern vermag zur Klärung und Erforschung des Bedeutungsinhalts einer Rechtsinstitution beträchtlich beizutragen. Die Untersuchung des Gnadenrechts gewinnt erheblich an Präzision, wenn man die formelle Seite des Dispensationsbegriffes von der inhaltlichen der eigentlichen Gnadengesinnung unterscheidet. Wenn Kohler in seiner Untersuchung über die Gnade einmal von einem sakralen Ursprung der Gnade spricht und zum anderen erklärt: „Unser Institut der Begnadigung ist aus dem Königtum hervorgegangen, zunächst natürlich aus der göttlichen Natur des Königtums, sodann aber aus dem Gedanken, daß der König der Gesetzgeber und Richter zugleich ist . . .2)”, so handelt es sich einmal um das Problem der inhaltlichen Gnadenmotivation, zum anderen um die Frage des Dispensationsrechts. Beide Fragen sind nicht identisch. Die Entstehung eines Dispensationsrechts, die man, wenn auch nicht der Bezeichnung, so doch der Sache nach möglicherweise mit dem Königtum in Zusammenhang bringen kann, besagt noch nichts für die Entstehung eines Begnadigungsrechts. Die vorliegende Arbeit beschränkt sich ihrer Aufgabenstellung nach auf das erstere Problem. Der Dispensationsbegriff war hier deshalb nur insoweit zu erörtern, als es zur genauen Abgrenzung jener Fragestellung erforderlich war.


1) S. oben S. 137 ff.
2) a.a.O., S. 167.