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Einleitung

 

Unter Begnadigung wird im folgenden der Straferlaß verstanden, der durch eine spezifische „Gnaden”-Gesinnung motiviert ist. Der Inhalt dieser Gnadengesinnung ist in den verschiedenen Rechtskreisen und Zeitaltern kein einheitlicher und durchgängiger. Es wird eine der Hauptaufgaben der vorliegenden Arbeit sein, den inhaltlichen Wandel der Gnadengesinnung zu verfolgen. Als notwendige Kriterien einer „Gnaden”-Gesinnung wird man dem natürlichen Sprachgefühl nach einige wesentliche Merkmale feststellen können. Erstens: Die Gnade setzt ein Über- und Unterordnungsverhältnis voraus, sie wird von einem Übergeordneten, in „gnädiger” Gesinnung, gewährt1). Zweitens: Die Gnade kann nicht verlangt, sondern nur erbeten werden. Es kann niemals ein Anspruch auf Begnadigung bestehen2). Drittens: Die Gnade enthält eine Begünstigung, keine Benachteiligung3).


1) O. Kirn in Haucks R.E. f. prot. Theologie u. Kirche, 6. Bd., 3. Aufl., 1899, S. 717 ff.: „Gnade bezeichnet ursprünglich das Sichniederbeugen, die Herablassung, darum das Wohlwollen, welches der Höherstehende dem Untergeordneten erweist. In der religiösen Sprache ist Gnade die spontane, unverdiente Betätigung der göttlichen Liebe, auf der die Erlösung des Sünders beruht. Die neutestamentliche Χάρις vertritt beide Begriffe (die göttliche wie die menschliche Liebe), doch so, daß es überwiegend von Gottes Verhalten gebraucht wird. Die Liebeserweisung ist ἔλεος, sofern sie einer Not, einem Elend abhilft; Gnade, sofern sie den Unwert des Empfängers nicht als Hemmnis gelten läßt, sondern überwindet.”
2) Daher setzt die strafrechtliche Begnadigung zum mindesten rechtlich eine Schuld voraus.
3) H. Paul, Deutsches Wörterbuch, 4. Aufl., bearb. v. K. Euling, 1935, S. 220: „Gnade . . . ist die Gewährung einer Schonung oder eines positiven Vorteils, welche über das hinausgeht, was beansprucht werden kann. Sie wird von dem höher Gestellten dem niedriger Stehenden, von dem Sieger dem Besiegten, von dem Inhaber der Rechtsgewalt dem Verurteilten, von Gott dem Sünder und nach der Lehre von der Gnadenwahl dem Menschen überhaupt erwiesen.”

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Die Etymologie des deutschen Wortes „Gnade” führt auf die Grundbedeutung „sich zur Hilfe neigen” zurück. Gnade, ahd. ginâda, gnâda f., mhd. genâde, gnâde, asächs., nāda, gināda f., mnd. gnade, genade, ndl. genade, afries. genāde, gnāde, nāthe, nāde f., anord. nād. f., plur. nâdir (Ruhe, Schlaf), schwed. nåd, dän. naade, hängt zusammen mit dem gotischen Wort niþan, unterstützen, beistehen, als dessen sinnliche Bedeutung neigen, sich niederbeugen angenommen wird, ferner mit air. ar-neithim, ich stütze, halte, aind. nāthám n. Hilfe, Zuflucht, nāthas m. Schutzherr, nādhamānas, Hilfe suchend, bittend1). Um die altnordische Bedeutung „Ruhe” zu rechtfertigen, die noch in der mittelhochdeutschen Wendung „diu sunne gie ze gnāden” erscheint, wird angenommen, daß sich aus der Grundbedeutung „sich zur Hilfe neigen” ein jüngeres „sich neigen” entwickelt habe2). Jedenfalls ist die Bedeutung der Ruhe eine abgeleitete, keine ursprüngliche3). Diese philologische Ableitung des Wortes bestätigt den eigentümlichen Bedeutungsinhalt der „Gnade”, der im Folgenden nachgewiesen wird.

Es gibt verschiedene Rechtsfiguren, die in diesem Sinne Begnadigung, d.h. gnadenweiser Straferlaß sind. Das moderne Recht kennt insbesondere vier Formen: Erstens die Einzelbegnadigung, den gnadenweise Straferlaß oder die gnadenweise Strafmilderung oder Strafumwandlung nach rechtskräftiger Verurteilung im Einzelfall; zweitens die Amnestie, den gnadenweise Straferlaß für eine „generell bezeichnete Vielheit von Fällen4)”, und zwar nach rechtskräftiger Verurteilung, oder (drittens) vorher als generelle Abolition, endlich viertens die Einzelabolition, die gnadenweise Niederschlagung des Strafverfahrens — nicht nur der Strafvollstreckung — im Einzelfall.

Rechtstheoretisch besteht ein wesentlicher Unterschied lediglich zwischen den Abolitionen auf der einen Seite und den übrigen Begnadigungsformen auf der anderen Seite. Denn während die Abolition


1) Fr.L.K. Weigand, Deutsches Wörterbuch, 5. Aufl., herg. v. H. Hirt, 1. Bd., 1909, Sp. 745. M. Heyne, Deutsches Wörterbuch, 2. Aufl., 1905, 1. Bd., S. 1214.
2) Fr. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 11. Aufl., bearb. v. A. Götze, 1934, S. 211.
3) Paul, a.a.O.
4) Anschütz, Verfassung des Deutschen Reiches, 14. Aufl., 1933, Art. 49 Nr. 2.

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mangels einer Verurteilung keinerlei sichtbare Rechtsfolgen für den Betroffenen auslöst, bleiben bei den übrigen Begnadigungsformen wesentliche Rechtsfolgen der Verurteilung bestehen, die sich nicht unmittelbar auf die Strafvollstreckung beziehen1). — Dagegen besteht ein solcher prinzipieller Unterschied zwischen der Einzelbegnadigung und der nach rechtskräftiger Verurteilung ergehenden Amnestie nicht. Es könnte daran gedacht werden, einen solchen Unterschied in der Berücksichtigung des Gleichheitsprinzips zu finden2). Die Amnestie scheint dem Gleichheitsprinzip Rechnung zu tragen, indem der Straferlaß auf eine generell bezeichnete Vielheit von Fällen erstreckt wird. Jeder Rechtsgenosse, der den generell bezeichneten Voraussetzungen der Amnestie genügt, wird durch sie begünstigt. Indessen läßt sich auch auf dieses Wesensmerkmal keine prinzipielle Unterscheidung gründen, da auch die Amnestie materiell das Gleichheitsprinzip verletzt, indem sich ihre Anwendung in engen zeitlichen Grenzen hält, für deren Festsetzung ein Rechtsgrund nicht angegeben werden kann.

Der hier zugrunde gelegte Begnadigungsbegriff bedeutet eine Ausgrenzung von zwei Rechtsphänomenen, die gewöhnlich in der Literatur als Begnadigungen behandelt werden. Einmal die Aussetzung der Strafverfolgung oder Strafvollstreckung aus politischen Gründen, die sich gleichfalls in den technischen Formen des Begnadigungsrechts zu vollziehen pflegt. Besonders politische Amnestien vor und nach rechtskräftiger Verurteilung finden sich zu allen Zeiten auch dort, wo von einem eigentlichen Begnadigungsrecht sonst keine Rede sein kann. Vorgänge wie die solonische Seisachtheia oder die Restitution politischer Verbrecher durch Sulla gehören hierher und müssen von echten Begnadigungen unterschieden werden3). Diese politischen Dispensationen entspringen nicht einer Gesinnung frei schenkender Gnade, sondern beruhen zum Teil auf politischem Zwang, d.h. auf der Undurchsetzbarkeit der


1) Die Abolition sollte daher weniger als Begnadigungsform denn als eine Form der politischen Rechtsaussetzung behandelt werden.
2) Auf die Unvereinbarkeit des Gnadenrechts mit dem Grundsatz der „Gleichheit vor dem Gesetz" hat, soviel ich sehe, nur Ihering, Der Zweck im Recht, I. Bd., 3. Aufl., 1893, S. 427, hingewiesen.
3) Vgl. S. 54 f. 59.

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Rechtsordnung mangels ausreichender Autorität der Staatsgewalt, oder sie bilden ein Tauschobjekt des Koalitionsgeschäfts in einem pluralistischen Parteienstaat1), oder endlich sie werden bedingt durch die Konstituierung einer neuen Rechtsordnung, wie sie in gewissem Umfang mit jedem durch eine Revolution herbeigeführten Verfassungswechsel verbunden zu sein pflegt.

Ebensowenig wie diese unter politischem Zwang erfolgenden Strafbefreiungen können die unter einem magischen Zwang stehenden Rechtsaussetzungen und Rechtsvollziehungen als Begnadigungen angesprochen werden. Die geistige Welt magischer Kulturen bildet einen so geschlossenen und in sich selbst ruhenden Bereich des Denkens, die „psychische Struktur” des magischen Menschen, des „homo divinans”, mit Danzel2) zu sprechen, unterscheidet sich so sehr von derjenigen des modernen technischen Menschen, des „homo faber”, daß man moderne gedankliche Kategorien und Begriffsbildungen nur mit großer Vorsicht und Zurückhaltung zum Vergleich heranziehen kann. Was im Bereich magisch bestimmter Rechtskulturen als Begnadigung erscheint, sind meistens nur Ordalien, d.h. weissagungsähnliche Prüfungsverfahren, die zur Entscheidung irgendwelcher Zweifelsfragen dienen3). Die Eigentümlichkeit des magischen Denkens, das in allen Naturvorgängen und -erscheinungen die Wirksamkeit übernatürlicher Kräfte vermutet, verleiht den Ordalien ihre überzeugende Beweiskraft. Der Verlierer, den das glühende Eisen verbrennt oder der an dem eingenommenen Gift stirbt, wird zweifelsfrei für schuldig gehalten. Ebenso unzweifelhaft erscheint es, daß der Unschuldige bei diesem Verfahren unverletzt bleibt. Die Wirksamkeit der Ordalien beschränkt sich nicht auf die Entscheidung von Rechtsfragen, auf die Feststellung von Schuld und Unschuld,


1) Vgl. zur Amnestiepraxis der Nachkriegszeit Kuß, Die materielle Problematik der politischen Reichsamnestien, Strafrechtl. Abhandlg. Nr. 343, 1934, der u.a. eine charakteristische Äußerung des soz.-dem. Abg. Professor Radbruch zu der Amnestie vom 4. August 1920 zitiert: „Der vorliegende Antrag der Regierungsparteien gibt mehr, als wir gewünscht hatten, und nun müssen wir wiederum infolgedessen mehr verlangen, als der Antrag uns gibt.” (Stenogr. Ber., Bd. 344, S. 522.)
2) Th.W. Danzel, Der magische Mensch. Vom Wesen der primitiven Kultur. 1928. S. 36.
3) Lévy-Bruhl, Die geistige Welt der Primitiven, Dt. Ausgabe 1927, S. 200 ff.

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des Bestehens oder Nichtbestehens eines Anspruchs. Auch dort, wo ein Zweifel nicht mehr besteht, kommen Ordalien als magische Formen des Rechts- und Strafvollzugs zur Anwendung — so bei dem, der der Zauberei für schuldig befunden worden ist — weil die magischen Kräfte des Ordals den Zauber zu bannen vermögen. Die Ordalien sind nicht in vollem Umfang gleichbedeutend mit Gottesurteilen; die Wirkung des Ordals wird nicht immer unmittelbar dem Gott, sondern den selbständig wirkenden magischen Kräften des angewandten Zaubers zugeschrieben. Wo eine unmittelbare Beziehung zur Gottheit hergestellt wird, somit ein echtes Gottesurteil vorliegt, wohnt dem Vorgang zumeist die Bedeutung inne, daß die Annahme der als Opferung verstandenen Hinrichtung durch die Gottheit festgestellt werden soll.

In allen diesen Fällen kann demnach von „Begnadigung” vernünftigerweise nicht die Rede sein.