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Vorwort

 

Mit dem Niedergang einer Formaljurisprudenz, die in der Konstruktion begrifflicher Figuren eine normativistische Scheinwelt des Rechts errichtete und die wirklichen Ordnungszusammenhänge des sozialen Lebens verdeckte, hat sich das rechtswissenschaftliche Interesse den materialen Gehalten und den überpositiven Bedeutungszusammenhängen der Rechtsordnung und ihrer einzelnen Institutionen zugewandt. Die Forderung nach einer geisteswissenschaftlichen Methode auf dem Gebiete des Rechts wurde erhoben. Mit der allmählichen Durchsetzung dieser Forderung hat sich das rechtswissenschaftliche Arbeitsfeld in ungeahntem Maße erweitert. Die Aufgaben, die früher im Vordergrund gestanden hatten, Systematisierung, logische Verarbeitung, Begriffsbildung, Auslegung, traten zurück hinter die heute vordringlich erscheinenden Aufgaben der gegenständlichen Erforschung und Beschreibung lebendiger Wirklichkeitszusammenhänge und ihrer immanenten Ordnungsstruktur, der Ergründung konkreter Gemeinschaftsformen, typischer Gestalten des Gemeinschaftslebens, der Aufdeckung geistiger Sinnzusammenhänge und der Feststellung der rechtsbildenden Kräfte eines Volkes überhaupt.

Die Frage nach Wesen und Inhalt der Gerechtigkeit, die viele Generationen hindurch undurchdacht und unbeantwortet geblieben war, steht im Mittelpunkt dieser neuen Forschungsgegenstände. Die Antwort auf diese Frage kann sich nicht mehr in einer abstrakten Formel wie dem „suum cuique tribuere” erschöpfen; sie wird in der Form einer Zeichnung der konkreten Gestalt des gerechten Richters gegeben werden1). Die Antwort kann aber nicht gegeben werden, ohne daß zugleich


1) Vgl. dazu das demnächst erscheinende Buch von E. Forsthoff.

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das gerechte Urteil von der Begnadigung abgegrenzt wird. Auch auf die Frage nach dem Wesen der Gnade kann nicht anders geantwortet werden als mit der Aufzeichnung konkreter Herrschaftsformen und herrscherlicher Gestalten, denen die Gnade zugeordnet erscheint. Diese Aufgabe steht daher im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit.

Das erste, was der Rechtswissenschaft bei dieser Neubestimmung des Arbeitsfeldes verlorengegangen ist, ist jene fiktive „Methodenreinheit”, deren Unfruchtbarkeit heute nicht mehr dargetan zu werden braucht. Es versteht sich von selbst, daß sich die Rechtswissenschaft mit dieser Wendung auf das stärkste in den Gesamtzusammenhang des wissenschaftlichen Denkens und Forschens hineinstellen mußte und daß sie in besonderem Maße auf die Heranziehung der Ergebnisse anderer Disziplinen und Hilfswissenschaften angewiesen war. Das Thema der vorliegenden Arbeit nötigte in besonderer Weise zu umfangreichen Rückgriffen auf die Ergebnisse philologischer, historischer, theologischer, soziologischer und geistesgeschichtlicher Forschungen. Der Verfasser kann nicht den Anspruch erheben, neues Material hierzu beigetragen zu haben, ebensowenig wie er in der Lage war, ein umfangreiches unmittelbares rechtsgeschichtliches Quellenstudium zu treiben. Seine Aufgabenstellung beschränkte sich auf eine dogmatische Auswertung des Materials für eine am Gegenstand orientierte Darstellung der rechts-philosophischen und rechtssoziologischen Problematik des Gnadenrechts. Eine Auseinandersetzung mit den Fragen des geltenden Rechts in Gnadensachen konnte in diesem Rahmen nicht beabsichtigt werden. Die zu Konstruktionsproblemen überleitende Erörterung des Dispensationsbegriffes gewinnt ihre prinzipielle Bedeutung daher, daß der Gesetzesbegriff ebenso eine Abgrenzung zur Dispensation fordert, wie es im Verhältnis von Gerechtigkeit und Gnade der Fall ist.

Bei der Gliederung des Stoffes haben diejenigen Gesichtspunkte in besonderem Umfang Berücksichtigung gefunden, die in der bisherigen Erörterung des Gnadenproblems nicht oder nur ungenügend beachtet wurden. Dazu rechne ich vor allem die Einbeziehung der hellenistischen Rechts-und Geisteswelt in die historische Betrachtung des Begnadigungsrechts. Ganz überwiegend hat man sich bisher darauf beschränkt, die

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Begnadigung bis in das römische Recht zurückzuverfolgen, obwohl die römische „indulgentia” in ihrem tieferen geistigen Sinngehalt nicht ohne die Grundlagen und Voraussetzungen der hellenistischen Entwicklung zu verstehen ist. — Ferner gehört zu diesen bisher vernachlässigten Gesichtspunkten besonders die Heranziehung theologischer Parallelen, die doch bei einer Untersuchung über das Problem der „Gnade” besonders naheliegt. Die Notwendigkeit und Fruchtbarkeit solcher Parallelen hat neuestens Michaelis an konkreten Beispielen erwiesen1).

Die Abhandlung ist im Arbeitszusammenhang des Seminars für öffentliches Recht und Staatslehre der Hansischen Universität entstanden. Sie hat der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Hansischen Universität als juristische Doktordissertation vorgelegen.

Ich widme dieses Buch meinem Lehrer, Professor Ernst Forsthoff, in aufrichtiger Dankbarkeit und freundschaftlicher Verbundenheit.

W.G.


1) „Wandlungen des deutschen Rechtsdenkens seit dem Eindringen des fremden Rechts”, in den „Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft”, 1935.