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I.

Die Gnade im rechtsphilosophischen Denken des neunzehnten Jahrhunderts

 

Das Begnadigungsrecht als Ausfluß einer metaphysisch oder religiös begründeten Gnadengewalt ist notwendigerweise ein Fremdkörper im Aufbau des modernen, auf berechenbarem Recht und spezialisiertem Fachbeamtentum beruhenden rationalen Staates. Rituell-religiöse und magische Gesichtspunkte stören die funktionalistische Berechenbarkeit des ihm eigenen technisch-formalisierten Rechts1). Die neuzeitliche Rechtstheorie sucht daher immer wieder, entweder das Begnadigungsrecht seines spezifischen Inhalts zu entkleiden, es in irgendeiner Weise normativ zu erfassen und in das Funktionssystem des rationalen Rechts einzubeziehen, oder aber sie greift das Begnadigungsrecht grundsätzlich an und bestreitet, unter Anerkennung seiner positiv-rechtlichen Existenz, von einem höheren philosophischen Standpunkt aus seine Berechtigung.

Die Theoretiker und Philosophen des Naturrechts und der Aufklärung im achtzehnten, vereinzelt auch noch im neunzehnten Jahrhundert, haben das Begnadigungsrecht prinzipiell bekämpft. Stets erscheint es als letzte Ausflucht einer mangelhaften Gesetzgebung, die eines aufgeklärten und zivilisierten Staates nicht würdig ist2). Nicht zuletzt beruhte dieses Urteil auf dem rationalistischen Glauben an die


1) M. Weber, Wirtschaftsgeschichte, 1924, S. 293.
2) C. Beccaria, Dei delitti e delle pene, Milano, 1801. § 20: „A misura che le pene divengono più dolci, la clemenza, ed il perdono diventano meno necessarj. Felice la nazione nell quale sarebbero funesti! La clemenza, dunque quella virtù che è stata tavolta per un sovrano il supplemento di tutti i doveri del trono dovrebbe esser esclusa in una perfetta legislazione dove le pene fossero dolci ed il metodo di giudicare regolare e spedito.”

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Möglichkeit einer vollkommenen, für jeden Einzelfall eine gerechte Lösung verbürgenden gesetzlichen Kodifikation. Kritische Bemerkungen zum Begnadigungsrecht finden sich insbesondere bei den italienischen naturrechtlichen Strafrechtslehrern des achtzehnten Jahrhunderts, Beccaria und Filangieri1), dann bei Kant, der die Gnade das schlüpfrigste unter allen Rechten des Souveräns nennt, um den Glanz einer Hoheit zu beweisen und dadurch doch in hohem Grade unrecht zu tun2), Feuerbach3) und W. v. Humboldt4). Bentham vergleicht das Gnadenrecht mit einem Zauberstab, bei dem man infolge seiner mangelhaften Gesetzgebung Zuflucht suchen müsse5). Besonders charakteristisch formuliert R. v. Mohl die aufklärerischen Einwendungen gegen den irrationalen Gehalt der Gnade: „Einzelne Begnadigungen schaden immer, wenn sie verkehrt, d.h. unverdient sind und kein allzu harter Spruch aus billigen und menschlichen Gründen zu beseitigen


1) Scienza della legislazione, L. III, 2, c. 57.
2) Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, § 49. (Metaphysik der Sitten, I. Teil; 3. Aufl., herg. v. K. Vorländer. 1919.) „In Ansehung der Verbrechen der Untertanen gegeneinander steht es schlechterdings ihm (dem Souverän) nicht zu, es auszuüben; denn hier ist Straflosigkeit (impunitas criminis) das größte Unrecht gegen die letzteren. Also nur bei einer Läsion, die ihm selbst widerfährt (crimen laesae majestatis), kann er davon Gebrauch machen. Aber auch da nicht einmal, wenn durch Ungestraftheit dem Volke selbst in Ansehung seiner Sicherheit Gefahr erwachsen könnte.”
3) System des peinlichen Rechts, §§ 62, 63.
4) Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. XIII.
5) Traités de législation civile et pénale, 1820, II, S. 190-192: „Si les lois sont trop dures, le pouvoir de faire grâces est un correctif nécessaire; mais ce correctif est encore un mal. Faites de bonnes lois, et ne créez pas une baguette magique, qui ait la puissance de les annuler. Si la peine est nécessaire, on ne doit pas la remettre; si elle n’est pas nécessaire, on ne doit pas la prononcer.” Constitutional Code, 1843, Bk. 1: „Das Wort „Begnadigen” gehört auch in das Wörterbuch der Tyrannei. Wo Raum für Begnadigung ist, da wird statt Gerechtigkeit Grausamkeit geübt. Das Recht der Begnadigung dient dazu, dem Tyrannen das Lob der Milde zu verschaffen und zugleich die Grausamkeit der Gesetze zu verschleiern. Die Tyrannen werden auf jeden Fall gepriesen. Wenn ihr persönliches Interesse oder ihre Laune die Strafe vollziehen läßt, so heißt es, sie lassen Gesetz und Gerechtigkeit walten. Wenn sie aus Interesse, aus Laune, oder unter dem Einfluß ihrer Räte — die ihre eigenen Geschäftchen betreiben — die Strafe aufhalten, so heißt es: sie üben Milde und Menschlichkeit. Je härter die Strafen, um so mehr Gelegenheit für Gnade. Schon darum führt man immer härtere Strafen ein.” (Engelmann, Meisterwerke der Staatsphilosophie, 1923, S. 225.)

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ist; doppelt natürlich, wenn sie sehr häufig oder in Masse vorkommen. Die Wirksamkeit der Strafgesetze wird dadurch erschüttert, und zwar nicht nur bei den zu Verbrechen geneigten Klassen der Bevölkerung, welche eine weitere Aussicht auf Straflosigkeit erhalten, sondern überhaupt, weil man sieht, daß das Staatsoberhaupt selbst denselben entgegentritt. Außerdem kommen die Gerichte in eine falsche Stellung, indem es den Anschein erhält, als seien ihre Urteile häufig unbillig und unverständig. Damit aber wird eine der Hauptsäulen der bürgerlichen Ordnung untergraben1).” Diese aus der Logik des bürgerlich-rechtstaatlichen Denkens abgeleiteten Argumente bezeichnen sogleich den politischen Hintergrund der Frage: das Gnadenrecht ist im neunzehnten Jahrhundert spezifisches Königsrecht2), dessen Ausübung in gewisser Weise die Teilung der Gewalten aufhebt und die Akte der unabhängigen Justiz — als der berufenen Hüterin und Vorkämpferin bürgerlicher Herrschafts- und Freiheitsansprüche — durchkreuzt. Neben und vor diesen staatsrechtlich-politischen Bedenken ist es jedoch vor allem der letzte metaphysische Sinn der Gnade, der allen diesen Theoretikern von den Italienern bis zu R. v. Mohl problematisch geworden ist. Überall, wo sie nach diesem Sinn suchen, finden sie bestenfalls den Begriff der Billigkeit, wie er der abendländischen Geisteswelt seit Aristoteles vertraut ist, als das Gerechte, sofern es vom Gesetz abweicht, das in seiner allgemeinen Regelung nur den durchschnittlichen, typischen Fall berücksichtigt, wegen der Besonderheit des konkreten Falles aber Ungerechtigkeit schaffen kann und daher durch die Billigkeit berichtigt werden muß3). Billigkeit und Gnade aber sind grundverschiedene Dinge. Billigkeit soll im höchsten Sinne Erfüllung des Rechts sein. Die Gnade aber ist etwas vom Recht Wesensverschiedenes, aus einer anderen, höheren Sphäre Herkommendes. Mittelalterliche Rechtssprichwörter wie „Gnade geht vor Recht”, „Gnade steht beim Recht” bringen diese Auffassung zum Ausdruck. Isidor von Sevilla deutet das Bild von der


1) Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, II, 1, 1862, S. 87.
2) Anders in der mittelalterlichen Auffassung, vgl. S. 92 ff.
3) Aristoteles, Eth. Nicom., V, 1-3, 5, 9, 13.

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Waage der Gerechtigkeit so, daß der Richter in die eine Schale das Recht lege zur Bemessung der Strafe, in die andere die Barmherzigkeit zur Gewährung der Gnade. Der Brauch, bei glückhaften Ereignissen Gnade walten zu lassen ohne Ansehung der Verdienste des Begnadigten, entspricht dieser Erhabenheit der Gnade über alle Rechtsgründe. Jede rationale Rechtstheorie muß an dieser Übung Anstoß nehmen. Auch hier sind die Formulierungen R. v. Mohls ideal-typisch: „Unter allen Umständen dürfen sie [die Begnadigungen] mit persönlichen Ereignissen und Schritten der Fürsten in keine Verbindung gebracht werden, also etwa mit einer Heirath, einer Kindtaufe, einem Geburtstage, einer Reise und dergleichen. Einmal stehen solche Ereignisse in gar keinem logischen Zusammenhange mit der Rechtspflege und namentlich mit der Billigkeit oder Unbilligkeit gerichtlicher Urtheile, so daß es gegen alles verständige Denken in Staatsangelegenheiten geht, beides zusammenzubringen und die Verbindung gar als etwas höchst Löbliches darzustellen. Dann aber mögen die Fürsten wohl bedenken, daß sie durch solchen Zusammenhang ihrer Person mit den Strafurtheilen ihrer Popularität unendlich mehr schaden als nützen. Sie gewöhnen durch solche Begnadigungen, welche sie nicht aus Sachgründen, sondern nach ihrer persönlichen Stimmung aussprechen, die Menge daran, die Erstehung einer Strafe als einen Akt persönlicher Willkühr, mindestens als die Folge unfreundlicher Härte und schlechten Willens zu betrachten.”

Die Wesensverschiedenheit von Recht und Billigkeit auf der einen Seite, Gnade auf der anderen Seite, wird im neunzehnten Jahrhundert nur noch vereinzelt erkannt und verstanden, im wesentlichen nur von Hegel und von ihm beeinflußten Denkern. In Hegels rechtsphilosophischem System findet sich eine der tiefsten Deutungen des Gnadenrechts, das er als eine der höchsten Anerkennungen der Majestät des Geistes bezeichnet und das zu den „Anwendungen oder Reflexen der Bestimmungen einer höheren Sphäre auf eine vorhergehende” gehöre1). Die Sphäre der Gnade wird ausdrücklich als eine andere als die des Rechts bezeichnet2). Der von Hegel beeinflußte Gans begreift diese Auffassung


1) Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, herausg. v. G. Lasson, 1911 § 282.
2) A.a.O. § 132.

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vom Wesen der Gnade als einen spezifisch christlichen Gedanken1). Die Lehre von der Gnade, die eigentlich ihrem wahren Werte nach dem gesamten Altertum fremd sei, sei die einzige wahrhafte Spur des Christentums, welche im römischen Recht vorkomme. Sie setze die Einsicht voraus, daß das Recht nicht der höchste Standpunkt sei, daß es einen inneren Richterstuhl gebe, vor dem der des äußeren Rechts notwendig verschwinde. Diese Tiefe der Gnade als vom Recht spezifisch verschieden sei erst das Erzeugnis des Christentums, welches überhaupt der Rechtswelt zum erstenmal die Welt der Innerlichkeit entgegengestellt habe. Faktisch seien wohl auch früher durch die Macht der Fürsten Strafen verwandelt und Verbrechen in integrum restituiert worden, aber dieses habe dann die Bedeutung einer richterlichen Abänderung gehabt. Die Gnade habe nichts mit dem Recht zu tun: sie beruhe nicht auf Gründen; sie sei bloß der Ausdruck dafür, daß die Welt des Rechts nicht das Letzte sei. Deshalb sei sie in einer republikanischen Verfassung kaum denkbar, weil sie selbst nicht das Resultat eines durch eine Majorität gefaßten Beschlusses sein könne, sondern wie religiös in der Persönlichkeit Gottes, so auch weltlich in der Persönlichkeit des Fürsten wurzele. Es handele sich bei der Gnade nicht um eine Abänderung des bestehenden Rechtes, sondern um eine vollkommene Anerkennung desselben, die aber wie alles Weltliche in der unendlichen Barmherzigkeit Gottes verschwinde oder doch verschwinden könne.

Bei Fr.J. Stahl ist die Hegeische Unterscheidung von Recht und Gnade bereits gebrochen und nicht mehr in voller Klarheit durchgeführt2). Für ihn ist die Begnadigung „ihrem Wesen nach ein Akt der Liebe zum Individuum, der Barmherzigkeit, die im Verhältnis zum Gesetze und zur Gerechtigkeit Gnade ist, aber eben nicht der bloßen Liebe und Barmherzigkeit, sondern in unauflöslicher Verbindung und Beziehung zur Gerechtigkeit”. Die Begnadigung nämlich könne zwar niemals von der Gerechtigkeit selbst gefordert sein, denn die Gerechtigkeit als solche enthalte nicht die Gnade. Aber die wahre Gerechtigkeit sei


1) Das Erbrecht in weltgeschichtlicher Entwicklung, 1824, S. 11 ff.
2) Rechts- und Staatslehre auf der Grundlage der christlichen Weltanschauung, II, 2, 5. Aufl., 1878, § 187, S. 706 ff.

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immer — wie das göttliche Urteil dieses zeige — auch von der Gnade begleitet. Umgekehrt dürfe die Gnade, wiewohl sie aus einer eigenen selbständigen Quelle entspringe, doch die Gerechtigkeit nicht aufheben und verletzen. Sie dürfe daher nur dort eintreten, wo sich Anhaltspunkte fänden, nicht zwar die Strafe als minder gerecht zu bezeichnen — denn die Gerechtigkeit solle ja nicht durch die Gnade erfüllt werden—, sondern die Forderungen der anderen, die Rücksicht auf das Individuum als ebenso gewichtig neben denen der Gerechtigkeit zu erkennen.

Hegels rechtsphilosophisches System hatte die Begriffe der Strafe und der Gnade auf der Achtung gegenüber dem Recht der „moralischen Subjektivität” des Verbrechers aufgebaut1). Der Verbrecher soll nach dem Rechte und der Ehre des Menschen behandelt werden, die Strafe wird als die Ehre des weiterhin als Rechtsperson anerkannten Täters verstanden. Der Abstieg des Denkens, der von Hegels Achtung der moralischen Subjektivität des Verbrechers hin zu Stahls „Liebe zum Individuum” führt, bezeichnet den unabmeßbaren Abstand zwischen diesen beiden Männern. Stahls Gedankengänge bilden unmittelbar den Ansatz für ein moralisch-humanitäres Verständnis der Gnade. Sie soll nach seiner Auffassung „nicht eine willkührliche Barmherzigkeit”, „nicht etwa grundlos” sein; andererseits ist sie „aber auch keineswegs ein bloßes Mittel für die Gerechtigkeit, die materiellen Anforderungen derselben zu befriedigen im Gegensatze gegen die formalen, obwohl sie dies nebenbei auch leistet, sondern sie hat ihren eigentümlichen Boden im Gebiete der Liebe und Barmherzigkeit . . .”. Eine Liebe und Barmherzigkeit, die nicht „grundlos” und „willkürlich” sein soll, gibt es dann nur vom Standpunkt einer humanitären Moral aus. So findet Stahl einen Anhaltspunkt für die Gewährung von Begnadigungen vor allem in der „tiefer liegenden sittlichen Empfänglichkeit des Verbrechers, durch die er seiner Persönlichkeit nach einen Anziehungspunkt für die Liebe und Gnade bietet”. In dieser Idee einer nach sittlichen Verdiensten bemessenen Gnade liegt bereits implicite die ganze moderne humanitäre Strafrechtsauflösung samt Besserungsgedanken, Stufenstrafvollzug und psychologischer Gesinnungsforschung. Auch der sentimentale Einschlag


1) A.a.O., § 132.

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fehlt nicht: ein Beispiel spricht davon, daß der Täter „durch unheilvolle Umstände ohne tief verbrecherische Natur” zur Tat gebracht worden sein könne, etwa dadurch, „daß er einer großen, vielleicht edlen Versuchung (z.B. Elternliebe) unterlegen” sei1).

In der Spätzeit des liberal-demokratischen Staates ist diese Auffassung des Gnadenrechts zum systematisch gehandhabten Instrument der humanitären Auflösung des Strafrechts ausgebaut worden. In einem lediglich seiner idealtypischen Bedeutung wegen beachtenswerten Aufsatz von R. Métall aus dem Jahre 1931 wird die Begnadigung als einziges unter den Mitteln genannt, „die die Spannung zwischen der Masse des Volkes und der ihm heute leider nur mehr so wenig sozial und ideologisch verbundenen Schicht seiner Richter mildern können”. Die segensvolle Funktion des Begnadigungsrechts, die auch der Demokratie nicht erlaube, es zu missen, bestehe eben darin, jene Spannung auszugleichen: „Das, was einem individualistischen Gesichtspunkt als Milderung von Härten des Gesetzes im Mitleid erheischenden Einzelfall erscheint, ist nichts anderes als die Beseitigung des Widerspruchs, in den sich das Urteil des eine soziale Minorität des Volkes vertretenden Richters gegen die sozial anders eingestellte, anderen Rechts- und Moralbegriffen nachlebende Mehrheit gestellt hat.” Aber auch andere Divergenzen zwischen dem modernen Rechtsbewußtsein und der mehr oder minder zufällig zusammengesetzten, weniger fortschrittlich und kulturell („Im Sinne einer Geisteskultur . . .”!) ungesiebten Richterbank habe das Gnadenrecht im Sinne und zugunsten des ersteren zu lösen. Dabei wird an die „gar nicht so seltenen Fälle der richterlichen — und nicht nur berufsrichterlichen — Voreingenommenheit, die aus ständischen, rassischen oder nationalen Motiven entspringt”, gedacht. „Hier der Humanität, der Menschenwürde an sich zum Siege zu verhelfen”, sei eine der vornehmsten Aufgaben des Gnadenrechts. Es handelt sich hier um jene spezifische Auffassung von „Humanität” und „Menschenwürde”, hinter der sich in der Nachkriegszeit die politischen Absichten der Destruktion und


1) Anders als Mohl und in einem gewissen Widerspruch zu dem Gesichtspunkt des sittlichen Verdienstes — freilich keinem unlösbaren Widerspruch — erklärt Stahl, daß „unser sittliches Gefühl daran nicht Anstoß nimmt”, daß bei freudigen öffentlichen Ereignissen Gnade geübt zu werden pflegt.

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der Anarchie verbargen. Die praktische Konsequenz dieser Anschauung, die die Gnade als „sozialen Spannungsausgleich”, als Kassation gesetzlich begründeter, aber „sozial verfehlter” Urteile bezeichnet1), kam in jenem staatsrechtlich höchst problematischen Antrag zum Ausdruck, dem der Hessische Landtag am 29. September 1927 stattgab, nach dem generell jedes in Hessen ausgesprochene Todesurteil im Gnadenwege in eine Freiheitsstrafe umgewandelt werden sollte2). Die Bezeichnung dieser Strafumwandlung als „Gnade” ist nur noch eine Farce.

Der bei Stahl angelegte Gedanke des sittlichen Verdienstes als eines für die Gewährung der Begnadigung maßgeblichen Gesichtspunktes ist in der neueren Gesetzgebung mannigfach zum Ausdruck gekommen. Einmal in dem Institut der sog. „Bewährungsbegnadigung”, die man der „Ausgleichsbegnadigung” gegenübergestellt hat und bei der „das In-Aussicht-Stellen der Begnadigung benutzt wird, um dadurch eine soziale Besserung des Verurteilten herbeizuführen”3). Zum anderen in der Handhabung des Gnadenrechts. Eine Allgemein-Verfügung des Preußischen Justizministers vom 19. Oktober 1920 (JMinBL, S. 565) spricht z.B. folgende Grundsätze für die Ausübung des Gnadenrechts aus: der Beamte für Gnadensachen soll bei seinen Vorschlägen die Umstände der Straftat, insbesondere die Motive, die der Tat nachfolgenden Umstände (z.B. Reue, gute Führung in der Straf haft), das öffentliche Interesse an der Bekämpfung gemeingefährlicher Vergehen und — bei militärischen Vergehen — das Interesse an der Aufrechterhaltung der Disziplin, sowie die Persönlichkeit und das Vorleben des Täters berücksichtigen. Daneben ist es Pflicht des Beamten für Gnadensachen, für die gnadenweise Beseitigung der aus Rechtsirrtümern für den Verurteilten sich ergebenden Nachteile zu sorgen4).

In der Rechtsphilosophie des neunzehnten Jahrhunderts ist überwiegend weder an der Ablehnung des Gnadenrechts überhaupt noch an dem Hegelschen Begriff der Gnade als eines transzendent begründeten außerrechtlichen Elements festgehalten. Durchgängig ist vielmehr die


1) Der heutige Sinn der Gnade, Ztschr. f. soziales Recht, 3. Jahrg., Nr. 2.
2) Vgl. Angersbach, Parlament und Begnadigungsrecht, DJZ. 1928, Sp. 378 ff.
3) Gerland, Art. „Begnadigung” in HdRW., I. Bd., 1926.
4) Fricke, Begnadigung aus Rechtsgründen, DJZ. 1928, Sp. 660.

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Identifizierung der Gnade mit der Billigkeit. „Nur durch den Mangel einer richtigen Begründung dieses Rechts”, sagt Welcker1), „und durch falsche Ansichten von demselben seit dem Mittelalter, z.B. durch seine Zurückführung auf das: von Gottes Gnaden, und auf die schon so in der Theologie verwirrende Lehre von göttlicher Gnade hat dasselbe viele und bedeutende Gegner gefunden.” Dagegen hat die „Rechtsphilosophie in der Begnadigung ein statthaftes Mittel erblickt, das strenge Recht mit den höheren Anforderungen der Humanität auszusöhnen, und das positive Recht diese Ausgleichung zwischen dem formellen und dem materiellen Recht anerkannt2)”. Dabei wird diese Ausgleichung aus Humanität überwiegend nicht als außerrechtliche Erwägung betrachtet, sondern durchaus auf die Idee der Gerechtigkeit bezogen und aus ihr gerechtfertigt. Einen interessanten Übergang stellt die Lehre C. Reinh. Köstlins3) dar: Die Begnadigung drückt in ihrer reinrechtlichen Funktion nur die das Gesetz in seiner Wahrheit erklärende Idee der Gerechtigkeit selbst aus. Sie soll das Gesetz in allen denjenigen Fällen ergänzen, in welchen seine Strenge dem Zwecke der Gerechtigkeit widersprechen würde. Der Begriff der Begnadigung erschöpft sich jedoch nicht auf dem reinrechtlichen Standpunkt. Es muß sich in ihr zugleich ein höherer, über den der abstraktrechtlichen Vergeltung hinausgreifender sittlicher Standpunkt, der absolut sittliche, geltend machen. Diesem entspricht es, bei der Beurteilung einer Gesetzesübertretung nicht bei dem objektiv-sittlichen (rechtlichen) Maßstab der Schuld stehenzubleiben, sondern mit der bestimmten Handlung zugleich die gesamte Subjektivität zu würdigen und die unendlichen Modifikationen des Sittlichen, welche durch Rechtsnormen ihrem Wesen nach nie erschöpft werden können noch dürfen, zu ihrem Recht kommen zu lassen. Von diesem höheren sittlichen Standpunkt aus hat nun die Gnade von vornherein gar nicht mehr die Bedeutung einer bloßen Herstellung der vollkommen adäquaten rechtlichen Vergeltung. Es ist eine höhere Gerechtigkeit,


1) Rotteck-Welcker, Staatslexikon, II. Bd., 1846, Art. „Begnadigung”.
2) Brauer, Art. „Begnadigung” im Deutsch. Staatswörterbuch, v. Bluntschli-Brater, 1857.
3) System des deutschen Strafrechts, 1. Abteilg., Allg. Theil, 1855, S. 632 ff., §§ 144, 145.

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welcher die Gnade zum Organ dient, und die die Aufgabe der Ausgleichung der Kollision des strengen Rechts mit dem Prinzip der Humanität hat. In der neueren Rechtsphilosophie wird immer stärker die unmittelbare Begründung der Gnade in der Rechtsidee selbst betont. Man stimmt mit den Kritikern des Naturrechts und der Aufklärung darin überein, daß das Gnadenrecht lediglich die Konsequenz einer mangelhaften Gesetzgebung sei und unterscheidet sich nur darin von ihnen, daß man in diesen Mängeln eine durch die Schwäche und Unvollkommenheit der menschlichen Natur bedingte Zwangsläufigkeit1) sieht. Das Gesetz in seiner notwendigen Allgemeinheit kann nicht jedem konkreten Einzelfall gerecht werden. Deshalb bedarf es eines „Sicherheitsventils”, einer „Selbstkorrektur der Gerechtigkeit”2); diese Korrektur zu vollziehen, ist die Funktion der Gnade. In diesen klassischen Formulierungen von Ihering kommt die Auffassung zum Ausdruck, die in der Begnadigungslehre bis heute fast unbestritten anerkannt worden ist3). Stammler definiert sie als das „Betätigen von richtigem Rechte ohne Rechtszwang nur auf Grund der sittlichen Pflicht4)”. Binder erklärt, daß „das Begnadigungsrecht gar nicht anders als aus der Rechtsidee selbst begründet werden kann und nur insofern gerechtfertigt ist, als es im Dienste dieser Idee selbst steht. Die Begnadigung darf also nicht erfolgen aus Gründen des Mitleids oder der Liebe oder um irgendwelcher empirischer Zwecke willen, sondern nur zur Herstellung des richtig


1) Binder, Rechtsphilosophie, S. 681.
2) R. v. Ihering, Der Zweck im Recht, I, S. 33, 428.
3) Feuerbach, System des peinlichen Rechts, § 63; Welcker, Art. „Begnadigung” in Rotteck-Welckers Staatslexikon, II. Bd., 1846; Brauer, Art. „Begnadigung” in Deutsches Staatswörterbuch von Bluntschli-Brater, 1857; R. Köstlin, System des deutschen Strafrechts, I. Abt., 1855, S. 632; Lueder, Das Souveränitätsrecht der Begnadigung, 1860; v. Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 1899, S. 293; Berolzheimer, System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, 1905, V. Bd., S. 264; Binder, Rechtsphilosophie, 1925, S. 679 ff.; Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, 2. Aufl., 1926, S. 208; Radbruch, Rechtsphilosophie, 1932, S. 172; Binding, Strafrecht, I. Bd., S. 861; v. Bar, Gesetz und Schuld, 1907, III. Bd., S. 457 ff.; Gerland, Art. „Begnadigung” in Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, I. Bd., 1926; Delaquis, Art. „Begnadigung und Rehabilitation” in Wörterbuch des deutschen Staats-und Verwaltungsrechts, 1910; Eberhard Schmidt, Art. „Begnadigung und Amnestie” in Handbuch des deutschen Staatsrechts, 1932, § 100.
4) Stammler, a.a.O., S. 108.

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verstandenen Rechts, zur Erhärtung der Rechtsidee, wenn diese selbst nämlich durch die Strenge des Gesetzes oder die Härte des Richterspruchs im einzelnen Falle bedroht erscheint1)”.

Die in diesen Äußerungen ausgesprochene Gleichsetzung von Billigkeit und Gnade stellt sich als tiefgreifende Verkennung des wahren Inhalts dieser beiden prinzipiell unterschiedenen Rechts- und Ordnungsbegriffe dar. Das wird im folgenden geistesgeschichtlich und rechtsdogmatisch zu erweisen sein.


1) Zu den entsprechenden Bemerkungen Stahls und R. v. Mohls — S. 20 und S. 23 Anm. 1 — vgl. die folgenden Sätze bei Binder: „Vor allem ist es verwerflich, das Begnadigungsrecht des Staates oder des Herrschers zu politischen Zwecken zu verwenden, wie z.B. zur schöneren Dekoration von Fürstenjubiläen, obwohl es hier immer noch als Ausdruck der Herrlichkeit des Staates, seiner souveränen Macht erscheint, oder gar zu Zwecken der politischen Agitation oder als politisches Kampfmittel, wie das in Zeiten sinkenden Staatsbewußtseins vorzukommen pflegt, z.B. in der Zeit des Todeskampfes der römischen Republik oder in der deutschen Revolution von 1918.” (S. 681.)