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10. Kritische Stimmen zu den Schlussthesen.

 

Bis zum Abschluss der Redaktion dieses Berichtes lagen die folgenden kritischen Äusserungen zu den Schlussthesen der Konferenz vor; die Studienabteilung beabsichtigt, später weitere Stimmen zu veröffentlichen.

 

a) Prof. Afanassieff (russisch-orthodoxes Institut St. Seorgius) schreibt: 1)

Paris, 14.10.1950.

Mir scheint — und ich glaube, dass Herr Bischof Cassian meinen Standpunkt teilt —, dass es einem orthodoxen Theologen einige Schwierigkeit bereiten wird, zu dem Bericht der Treysaer Konferenz über das Recht Stellung zu nehmen. Soweit ich aus dem Informationsbrief ersehen habe, stützen sich die Mitglieder dieser Konferenz auf bestimmte dogmatische Grundgedanken, insbesondere im Blick auf die Christologie und Ekklesiologie. Ich zweifle nicht daran, dass diese Grundgedanken im Grossen und Ganzen der orthodoxen und der protestantischen Theologie gemeinsam sind. Sie werden aber verschieden behandelt, und zwar wäre das besonders für die ekklesiologischen Fragen zu betonen. Solange auf ökumenischem Boden nicht ein Mindestmass an “ekklesiologischem Konsensus” erreicht wird, wird das gemeinsame Gespräch über Fragen wie “Gerechtigkeit” oder “Recht” zwischen Vertretern verschiedener Konfessionen schwierig bleiben, insonderheit wenn dieses Gespräch ohne persönlichen Kontakt durchgeführt wird.

Wenn die orthodoxen Theologen auf der einen Seite mit einigen Vorbehalten dem Teil des Berichtes, in dem die Lehre der Hl. Schrift über die Gerechtigkeit behandelt wird, wohl zustimmen können, lassen sich andererseits gegen die Schlussthesen der Konferenzteilnehmer hinsichtlich der biblischen Lehre über das menschliche Recht doch viele Bedenken erheben. Was mich persönlich betrifft (und ich möchte ausdrücklich hervorheben, dass ich keineswegs den Anspruch erhebe, im Namen aller orthodoxen Theologen zu sprechen), so würde ich sagen, ob die Schrift die Quelle des menschlichen Rechts ist, ist durchaus noch strittig (“discutable”); wohlgemerkt: die Frage, ob der Wille Gottes die Quelle des menschlichen Rechts ist oder nicht, ist mit jener anderen Frage nicht gleichzustellen. Obgleich ich vielleicht nicht genug darüber unterrichtet bin, was in der vorangehenden Konferenzen ausgearbeitet wurde, scheint es mir doch, als könne über die Frage des Rechts nicht entschieden werden, ohne vorher die Frage über das Wesen und die Funktion des Rechts geklärt zu haben. Dies ist wohl das schwierigste


1) Aus dem Französischen übersetzt.

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und am meisten umstrittene Problem, aber von seiner Lösung vom kirchlichen Standpunkt aus hängt das Urteil über der Wert des Rechts im allgemeinen und seine Rolle im öffentlichen Leben ab. Ausserdem hängt der Einsatz der Kirche für das menschliche Recht in grossem Masse davon ab, welchen Raum das Recht im Leben der Kirche einnimmt.

Wir lesen auf S. 52: “Der Kirche geht es nicht in erster Linie um das Gesetz sondern um die Gnade!” Damit wird bezeugt, dass das Gesetz seinen Raum in der Kirche neben der Gnade hat. Ich habe keineswegs die Absicht, auf die Lehre von R. Sohm zurückzugreifen, umsomehr als ich mit seinem Feststellungen nicht einig gehe; aber selbst wenn man ganz kategorisch das Vorhandensein des Rechts in der Kirche bejaht, wird damit das Problem des Verhältnisses von Geist und Recht noch keineswegs entschieden. Auf alle Fälle aber entspricht der Raum, den das Recht in der Kirche einnimmt, keinesfalls dem Raum des Rechts in der Gesellschaft.

Für mich bedeutet das Recht eine Erscheinung des empirischen Lebens der gefallenen Menschheit. Es ist mir der Agape nicht identisch, es ist nur ihr “Ersatz”. Im empirischen Leben hat das Recht der Zweck, den Menschen vor den Übergriffen anderer in seine persönliche Sphäre zu schützen, denn die Agape ist in den Menschen erkaltet; eine andere Seite dieser Aufgabe ist die Bewahrung des Menschen und des Staates voreinander, wegen der gegenseitigen zu starken Expansionsgelüste. An diesem Punkt stimmt die Aufgabe des Rechts mit der der Kirche überein, denn nur in der Kirche und durch die Kirche wird die menschliche Persönlichkeit geschützt.

Alle orthodoxen Theologen werden darin einzig sein, dass die Kirche ihren Einfluss auf das menschliche Recht ausüben muss, damit es seine unmittelbarer Aufgabe durchführen kann, die menschliche Persönlichkeit zu schützen und zu erhalten, anstatt zu ersticken. Der Dienst der Kirche in dieser Welt hängt in erheblicher Weise von dem Masse ab, in dem das Recht diese Funktion ausübt. Daraus folgt, wie mir scheint, dass die Kirche dem übertriebenen Anwachsen der positiven Normen entgegenarbeiten muss. Das empirische Gewissen sieht im Staate die Quelle des menschlichen Rechts; in welchem Masse darf die Kirche es dann zulassen, dass dieser Staat von seinem Gliedern positive Handlungen verlangt? Diese Frage müsste bis ins Einzelne hinein untersucht werden. Die grundlegende Aufgabe der Kirche gegenüber der Gesellschaft und dem Staate muss meiner Meinung nach darin bestehen, dass sie vom Staat und der Gesellschaft die Anerkennung des unbedingten Vorranges der menschlichen Persönlichkeit fordert. Nur auf Grund dieser Anerkennung wird ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden Gedankengängen zu erreichen sein:

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dass das menschliche Recht dem sittlichen Gesetz nicht entgegensteht und dass es dieses moralische Gesetz nicht “paragraphiert” (vgl. S. 55).

In einer letzten Bemerkung möchte ich auf das Verhältnis Christi zum menschlichen Recht zu sprechen kommen. Ich stimme ganz mit dem Gedanken überein, dass Christus sich dem menschlichen Recht unterstellt hat (S. 50); durch diese Unterordnung hat er aber die tragischen Widersprüche innerhalb des Rechts aufgedeckt. Wenn wir die Tatsache beiseite lassen, dass der Tod Jesu Christi im göttlichen Plan lag, müssen wir feststellen, dass Christus nach dem Gesetz gekreuzigt wurde, sowohl nach dem alttestamentlichen Gesetz (“wir haben ein Gesetz (Thora) und nach dem Gesetz (Thora) muss er sterben” (John. 19, 7) als auch nach dem römischen Recht. Pilatus hat das römische Gesetz nicht übertreten, sondern hat es buchstäblich genommen. Das Gesetz, dem sich Christus unterstellt hat, hat ihn zum Tode verurteilt. Man kann, ja man darf diese Tatsache nicht verschweigen, wenn man den Standpunkt der Kirche im Blick auf das menschliche Recht durchdenkt. Wohlverstanden: wir dürfen den Unterschied zwischen der Thora und dem römischen Recht nicht vernachlässigen; und doch ist die Thora Recht, allerdings ein Recht sui generis. Die Bergpredigt (“Ich aber sage euch . . .”) tritt an die Stelle der Thora, indem sie sie in der Agape erfüllt, und gleichzeitig ersetzt sie das menschliche Recht durch diese selbe Agape; denn was Christus aufgehoben hat, war die vollendetste Ausdrucksform des Gesetzes. Diese Ersetzung geschah in der Kirche, denn das “Ich” Christi enthält die Kirche, die “in Christus” ist. Die Kirche aber gehört, obgleich sie sich noch in diesem Aeon befindet, bereits dem zukünftigen an; daher vermischt das menschliche Recht, das den Anspruch erhebt, das Gesetz der Agape und das, was die Agape vorschreibt, zum Ausdruck zu bringen, den gegenwärtigen und den zukünftigen Aeon. Hier muss ich aber abbrechen, denn ich fange an, Ekklesiologie zu treiben, mit der sich die Treysaer Konferenz ja nicht abgegeben hat. Das ist aber ganz natürlich, denn ich arbeite die ganze Zeit auf diesem Gebiet und bin im Begriff, mein Buch über “Die Grenzen der Kirche” zu beendigen.

 

b) Prof. Jacques Ellul schreibt: 1)

Bordeaux, den 1.10.50.

Ich habe den Bericht der Treysaer Konferenz mit grossem Interesse gelesen. Er ist ausserordentlich klar und gut aufgebaut. Ich habe keine kritischen Äusserungen dazu zu machen, denn es scheint mir fast unmöglich, ein Urteil über eine so kurz zusammengefasste und gemeinsam verfasste Arbeit abzugeben.


1) Wir geben eine Übersetzung aus dem Französischen.

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Ich möchte nur mein Bedauern über die folgenden Punkte aussprechen:
Zunächst scheint es mir, als wenn zwischen dem ersten und zweiten Teil kein genügend enger, den Juristen befriedigenden Zusammenhang besteht.
Ferner scheint mir der Unterschied zwischen Recht und Staat nicht klar genug herausgestellt zu sein, was doch wesentlich ist.
Endlich bin ich nicht sicher, dass die Juristen aus diesen Sätzen konkrete Folgerungen im Blick auf das heute geltende Recht werden ziehen können. Das angeführte Beispiel der Ehe ist etwas zu klassisch!

Ich glaube nicht, dass ich nach der Lektüre dieses Berichts meine eigenen Darlegungen in meinem kleinen Buch ändern werde. Ich bin — wenn auch nur langsam — dabei, einen zweiten Teil vorzubereiten, in dem ich die Schlussfolgerungen aufzeige, die Juristen aus dem von mir im ersten Teil dargelegten Gedanken ziehen können.

Im Grunde glaube ich, dass es nützlich und wirklich wegweisend sein würde, in einer zweiten Konferenz, die Bedeutung dieser Grundlagen konkret herauszustellen. 2)

 

c. Prof. D. Erik Wolf schreibt: 3)

Freiburg, den 9.9.50.

1. S. 46 ist gesagt, wir dürften heute nicht einfach “das wiederholen, was vom Worte Gottes her zur Zeit der Abfassung der biblischen Schriften zu den damaligen Rechtsfragen zu sagen war”. Das ist grundsätzlich richtig. Vielleicht wäre ergänzend dazu zu bemerken:
a) Es ist zu unterscheiden zwischen dem, was die Hl. Schriften zu historisch veränderlichen Rechtsinstitutionen (z.B. Steuerpflicht, Umfang des Eigentumsrechts, Dienstverhältnisse, Arbeitslohn) jeweils sagten und demjenigen Grundproblemen des Rechts, die (zwar in jeweils anderer Situation, aber doch im Wesentlichen gleichbleibend) durch das gesellschaftliche Dasein des Menschen selbst bestehen (z.B. Freiheitssphäre der Person, Eigentum überhaupt, Vertragstreue, richterliche Willkür, etc.). Letztere sind zwar auch nicht wörtlich zu wiederholen, aber sie erhalten grundsätzliche Weisungen und Richtschnuren, Begrenzungen und Verbote, die auch heute noch zu beachten sind.
b) Es ist zu unterscheiden zwischen dem, was Rechtssatz ist und dem, was Rechtsgrundsatz ist, z.B. bestimmten Opferriten und Vorschriften über Sklavenfreilassung etc. einerseits und dem, was oben unter a. grundsätzliche Weisung genannt ist,


2) Eine solche Konferenz ist in der Tat von der Studienabteilung geplant.
3) Vgl. dazu das oben S. 3 Gesagte.

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andererseits, z.B. richtet nicht ohne Gehör, lasst euch nicht bestechen, beugt das Recht nicht um eines Mächtigen willen etc.
c) Es ist zu bedenken, dass ein gewisser qualitativer Unterschied der Autorität besteht zwischen blossen Geschichtserzählungen und Berichten über tatsächliche Zustände im Rechtsleben der Israeliten und den Weisungen der Propheten oder gar Christi selber (z.B. Ehescheidungsverbot), die ja mehrfach im Widerspruch zur zeitgenössischen israelitischen Rechtsübung stehen.

2. S. 46 ist ferner gesagt, dass wir nur “als Glieder der Kirche” etwas über die Gerechtigkeit Gottes und ihre Beziehung zum menschlichen Recht sagen dürfen. Auch das ist richtig, bedarf aber vielleicht näherer Erläuterung dahin:
a) “Glieder der Kiriche” sind nicht nur Theologen. Es ist also missverständlich, wenn im Text fortgefahren wird: man könne die Antwort auf die Frage des Christen nach der Gerechtigkeit “nicht in der Rechtsphilosophie noch in einer anderen Disziplin der Rechtswissenschaft finden”, dabei aber anscheinend angenommen wird, für die Beantwortung dieser Frage sei die Theologie zuständig. Die Theologie ist eine (säkulare) Wissenschaft, wie jede andere; sie hat als solche keinerlei geistliche Autorität. Es ist durchaus möglich, dass eine im Glauben gegründete und durch den Glauben begrenzte (“unter dem Wort stehende”) Arbeit eines christl. Rechtsphilosophen oder Rechtshistorikers (p.e. Elluls) mehr biblische Sicht zu öffnen vermag, als die entsprechende Arbeit eines Theologen, der sich nicht durch das Wort, sondern durch ein System oder eine Schule “weisen” lässt.
b) Die uns aufgegebene Arbeit darf also nicht nur auf die Methoden und Hilfsmittel der Theologie als Fachdisziplin beschränkt werden; sie ist weithin “Laienarbeit”, d.h. aber nicht: dilettantisches Gerede, sondern wissenschaftliche Forschung von Christen, die nicht Theologen sind.

3. Allem unter A. Ausgesprochenen stimme ich voll zu. Ebenso den Formulierungen Ziffer B 1-8, wobei ich zu 8 hinzufügen möchte: nicht nur durch die Einwirkung der Agape, sondern auch durch die Erkenntnis des Dikaion, wie es in den grundsätzlichen Weisungen des AT und NT zum menschlichen Im-Recht-Sein, wie Gott es will, wird menschliches Rechtsleben bestimmt. Die Paradoxie, dass desungeachtet der Mensch mit “seinem” Recht immer vor Gott im Unrecht bleibt (und deshalb der iustificatio durch Christi Opfertod bedürftig) wird durch diese Aussage nicht berührt.

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4. Zu II, 2 wäre zu sagen: Die Ausdrücke “Krongewalt, Schwertgewalt, Richtergewalt” sind dunkel und missverständlich. Gerade diese Worte binden das Rechtsverständnis der Hl. Schrift zu sehr an vergangene oder eben jetzt vergehende historische Erscheinungsformen menschlichen Rechts. Was heisst “Kron”gewalt? Exekutive? aber das wäre ja eher mit “Schwertgewalt” anzudeuten! Es wäre zweckmässiger, mit den heute anerkannten allgemeinen und klaren Begriffen zu operieren wie: Gesetzgebung, Rechtssprechung, Verwaltung, Regierung. In dieser Frage ist nichts verwirrender, wie ein Festhalten am “Lutherdeutsch”, das ja gerade bemüht war, die griechisch-römischen und judaistischen Rechtsbegriffe in zeitgenössische Formeln des 16. Jhs. wiederzugeben. Diese Formeln sind heute aber bedeutungslos oder unverständlich.

5. Zu C I 2 (S. 53) möchte ich zustimmen, aber es gilt hier besonders sorgsam zu erwägen, was es heissen soll, wenn gesagt wird: ein “Staatsgesetz” darf nichts verbieten, “was Gott gebietet, noch gebieten, was er verbietet”. Denn:
a) soll das nur für den “Staat” gelten, nicht auch für das (viel zahlreichere) Recht der (“wirtschaftlichen” Privatautonomie, für das Recht der Verbände und Korporationen, für die Vereinbarungen und Vertragsnormen?
b) was gebietet und verbietet Gott? Darauf sehe ich nur die eine Antwort: er gebiete, das Recht in gewissen grundsätzlichen Schranken zu üben und auf gewisse grundsätzliche Ordnungsziele auszurichten, aber er gebietet nicht, im Einzelfall etwas Bestimmtes zu regeln oder zu entscheiden (z.B. eine Frau, die Männerkleidung trägt, zu steinigen). Hier ist der Ort für die Theorie der “Biblischen Weisung”, die zwischen Gesetz und Liebe, zwischen nomos und agape, zwischen Rechtssatz und Verzicht auf Ordnung steht.
c) Wie notwendig eine Lehre von der biblischen Weisung ist, scheint mir das Beispiel S. 56 von der Ehescheidung zu zeigen. Freilich wäre es “unbarmherzig, die Unauflöslichkeit der Ehe zum Inhalt menschlichen Rechtes machen zu wollen” (vor allem für Nicht-Christen). Das wäre ja auch ein “Rechtssatz”. Wir brauchen aber den “Rechtsgrundsatz”. Dieser, als biblische Weisung, die das Wort Christi gibt, zeigt uns: das Eherecht soll in die Richtung nicht der möglichsten Erleichterung der Scheidung gedrängt werden, sondern die Scheidung als seltene Ausnahme ansehen. Das ist die Weisung, der Grundsatz, nach dem Legislatoren und Richter sich bei der Anwendung der pos. Gesetze über Ehescheidung ausrichten sollen. “Der begehrende Blick nach der anderen Frau” kann freilich nicht unter Strafe gestellt werden, wohl aber der Ehebruch (vgl. § 173 StGB). Es geht also nur um die Frage: Soll der Ehebruch ganz straflos sein? Dagegen spricht die “biblische Weisung”. Nach ihr muss der Gesetzgeber sich richten.

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d) Prof. D. Ernst Wolf schreibt:

Göttingen, 19.9.50.

Ich beschränke mich darauf, Punkt für Punkt einige Fragen und Bedenken zu nennen, ohne mich auf eine Stellungnahme zum Ganzen als solchem einzulassen.

Zu A: allgemein: Die folgenden Punkt sind nach meinem Empfinden keine präzise Antwort auf die sehr präzise Fragestellung nach der “Offenbarung” der Gerechtigkeit (gen. obj.) Gottes. Sie antworten einer Frage nach der offenbarten Gerechtigkeit selbst.
Zu den einzelnen Punkten nenne ich nur meine Fragen und Bedenken. Wo und soweit das nicht der Fall ist, ist sachliche Zustimmung anzunehmen.
ad 2 empfinde ich die “Abgrenzung” in der Form “für Kirche und Menschheit” etwas fatal. Beide sehen so aus wie abstrakte Räume. Gemeint sind augenscheinlich alle Menschen innerhalb und ausserhalb bezw. eben nicht nur ausserhalb der Kirche. Dem ist sachlich zuzustimmen.
ad 3 habe ich ein gewisses Bedenken gegenüber der Kategorie der Vollendung. Der Neue Bund ist nicht Vollendung der voraufgegangenen als ob diese nicht bedroht und zerstört worden wären, sondern nur ein Unvollkommenes gegenüber einem Vollkommenen. Der Neuheitscharakter des Neuen Bundes ist das Offenbartsein der Kräfte des Alten.
ad 6: der dritte Satz scheint mir lediglich eine Wiederholung von Punkt 5 zu sein und würde dessen Aussage durch seine “Rangordnung” in 6 nur abschwächen. Sollte man ihn nicht streichen?
ad 7: hier habe ich ganz schwere Bedenken. Wie kommen wir dazu, das Reich Gottes im Sinn der augustinischen Civitas als societas perfecta zu interpretieren? Es ist mir sehr die Frage, ob das Vollendungsreich ein im strengen Sinne “soziales” Gefüge ist. Jedenfalls fehlt in diesem Reich das “soziale” Gebilde der Ehe! der mit ihr u.U. verbundenen Familie! Das Gottesvolk ist als “Volk” sui generis unterschieden von irdischen Sozialstrukturen “Volk”. — Und ebenso bin ich bedenklich gegen den “heilsgeschichtlichen Aufmarsch”, wie er im 2. Satz dieses Punktes beschrieben wird. Das Bedenken wird nicht gemildert durch den m.E. richtigen und sehr wichtigen 3. Satz. Dass Gott selbst im Handeln der “Bundesglieder” sein Werk tut, stellt die Einheit dieses Handelns dar, aber nicht das Entgegenschreiten durch die geschichtliche Bewährung hin auf eine Vollendungstat Gottes. Christus ist bereits die Vollendungstat Gottes. Das neue Leben ist Gegenwart! Bedenklich ist auch der letzte

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Satz: Das Gesetz der Freiheit ist — der Christusglaube. Er kann keineswegs eine Verwandlungsgestalt des äusserlich zwingenden Gesetzes sein und hebt dieses zeit des irdischen Daseins nicht auf. Die “neue Menschheit” ist — wenn man schon den Ausdruck beibehalten will — eschatologisch zu begreifende Wirklichkeit und eben als “aufbauende Macht” — wohl nur auf Erden gedacht und denkbar — eben nicht “sichtbar”. Wir stehen hier, fürchte ich, wieder vor einem missverständlichen social gospel! Ich sage das, weil ich selbst an der Idee des social gospel mehr Positives empfinde, als Sie wahrscheinlich vermuten. Aber es ist eine verhüllte, unverfügbare Wirklichkeit.

Zu B: I Punkt 2 und Punkt 3 stehen gewiss unter dem Vorzeichen von Punkt 1; es ist aber zu fragen, ob nicht doch in P. 2 und P. 3 so etwas wie eine von Christus unabhängige wenigstens partielle “Offenbarung” des Willens Gottes hintenherum wieder behauptet wird oder werden könnte! Zumindest sind 2 und 3 zu ungeschützt formuliert.
I Punkt 9: Frage: Inwiefern ist das Interim zwischen den beiden Adventen ein “heilsgeschichtlicher Ort”? Ist seine Qualifikation als “nicht mehr oder noch nicht” von einer heimlichen Progression von jenem “nicht mehr” zu dem fortschreitend sich verkürzenden “noch nicht” durchwaltet?
II, 2: Ich habe Bedenken gegen die Meinung, dass das Verborgenhalten des Weltregiments Christi und die Zurückhaltung seines Gerichts “zum Zweck” der Schaffung einer Gnadenfrist des Dienstes am Evangelium geübt werden. Ist das Evangelium wirklich jenes Wort “schärfer als ein zweischneidiges Schwert”, dann kann sich Verborgenheit und Zurückhaltung nur darauf beziehen, dass das Wirken innerhalb der irdischen Wirklichkeit von Raum und Zeit sich in jener Gestalt vollzieht, die Glauben verlangt und auf das Schauen hoffen lässt. Die Unterscheidung der exousia irdischer Schwertgewalt und kirchlichen Handelns hinsichtlich eines verschiedenen Ursprungs gerät in einen gewissen Widerspruch zu B I, aber auch zu dem folgenden II, 3! auch II, 4. Die exousiai können lediglich hinsichtlich ihrer “Bestimmung” unterschieden werden. So kann ich den Schluss von II 2 nur dahin verstehen, dass die Unterscheidung der Gewalten die Möglichkeit einer imperialen Ueberordnung der Kirche über den Staat ausschliessen soll. Das ist gewiss zu bejahen. Geht aber darüber nicht die kritische Funktion der “kirchlichen” exousia gegenüber der “weltlichen” verloren? Tritt nicht an die Stelle der Gewaltenunterscheidung eine Gewaltentrennung?
III: Damit stehen wir freilich schon bei der zweiten Gruppe, zu der ich mich selbst im Grossen und Ganzen zähle. Nur

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dass ich eben auch hier die Unterscheidung der Gewalten festhalten will, d.h. also in Abs. 2 sagen würde: “soll . . . nicht grundsätzlich geschieden (statt “unterschieden”) werden . . .”

Zu C: bei I, 1 möchte ich zu bedenken geben, dass auch “Wort” diakonia und dass auch “Tat” kerygma ist, d.h. dass “Wort und Tat” nicht so einfach mit “kerygma und diakonia” gleichgesetzt werden darf. Die diakonoi waren primär “Diener am Wort”! Bei I, 2 scheint mir die “prophetische” Weise einer Verwechslung des Wächteramts der Kirche mit dem munus propheticum zu entspringen. Man beachte, dass die kritische Prophetenrede jeweils gegen das Volk Gottes selbst gerichtet ist. Das Wächteramt der Kirche ist insoweit auch Ausübung des munus propheticum, als es sich in der Selbstkritik der Kirche bewegt, und nur insoweit!
Bei I 4 leuchtet mir die “pädagogische” Limitierung des kirchlichen Handelns durch die Tragfähigkeit der öffentlichen Meinung nicht ganz ein. Diese Grenzziehung kann nicht in einem Atem mit der durch die Gewaltanwendung markierten genannt werden. Gegen den Schlusssatz von 4 a) muss ich sogar protestieren. Die dort vorgeschlagene “sinngemässe” Übersetzung ist m.E. ganz unmöglich! Die für den hier “übersetzten” Satz konstitutive Voraussetzung der Christushörigkeit der Kinder Gottes hat keine Analogie!
Bei 4 b müsste das gemeinte Lebensgebiet doch genauer umschrieben werden. Vorläufig bedeutet dieser Satz m.a. eine groteske Verharmlosung der heutigen Situation.
Bei 4 c spürt man m.E. stark die Verlegenheit, eine zutreffende Formulierung des Gemeinten oder Geahnten zu finden. Ich würde für die “heidnische Gesellschaft” die zur wahren Freiheit rufende Funktion der Evangeliumspredigt in den Vordergrund stellen und die damit gebotene Möglichkeit zu einem echten Neubau der Verhältnisse, unbelastet durch die Menge des Schuttes pseudochristlicher Traditionen und Hemmungen.
C II ist als Paradigma gewiss gut gewählt, leidet aber stark unter mehr oder minder formalistischen Forderungen. Das “gottgewollte Wesen der Ehe” ist nicht präzise umschrieben. Die “unauflösliche Gemeinschaft zwischen einem Mann und einer Frau” als “Gebot Gottes des Schöpfers” genügt dazu auf keinen Fall! Eph. 5 wird im folgenden Satz m.E. der Sicht der Ehe als “Schöpfungsordnung” eingeordnet und nicht sozusagen vorgeordnet.

Die Einleitung des Schlusses würde mit der im ersten Satz etwas resigniert umschriebenen Fragestellung bzw. Aufgabenstellung nun freilich eine auf das Ganze gehende kritische Stellungnahme provozieren. Aber gerade hier meine ich, dass die

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Formulierung nicht zu stark mit Gegenfragen belastet werden darf. Was Sie und was die Konferenz wollten, wird man so nicht gut formulieren können — “das menschliche Gesetz vollständig mit dem Gesetz Gottes in Einklang zu bringen” —, und es geht auch im Blick auf Vorarbeiten und Programm der Konferenz nicht um diese Frage. 4)

Damit will ich schliessen. Nehmen Sie diese Zeilen als eine Aeusserung der “Reaktion” auf die Eindrücke, die ich von der Lektüre des Berichts bei mehrmaligen Durchlesen und Durchdenken zunächst gewonnen habe und die ich Ihnen auf Ihren Wunsch hin einfach mitteilte. Und dabei ist es nur der kritische Teil der Eindrücke! Die Zustimmungen stehen in alle dem, was ich ausgelassen habe.


4) Diesem Bedenken wird die Konferenz fraglos zustimmen: Der Einleitungssatz ist nicht so zu verstehen, als sei die Konferenz resigniert darüber, dass jener “Einklang” nicht erreichbar ist; insofern man das herauslesen kann, ist er missverständlich. — Der Satz ist gerade umgekehrt als Warnung gegenüber aller Schwärmerei in dieser Sache gemeint und seine Annahme durch alle Teilnehmer ist deshalb beachtlich. — W. Sch.